Antologia per gli studenti Sezione A Storia della letteratura di lingua ...
Antologia per gli studenti Sezione A Storia della letteratura di lingua ...
Antologia per gli studenti Sezione A Storia della letteratura di lingua ...
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
LETTERATURA TEDESCA II<br />
a. a. 2006/07<br />
II semestre<br />
Marco Castellari<br />
marco.castellari@unimi.it<br />
<strong>Antologia</strong> <strong>per</strong> <strong>gli</strong> <strong>studenti</strong><br />
<strong>Sezione</strong> A<br />
<strong>Storia</strong> <strong>della</strong> <strong>letteratura</strong> <strong>di</strong> <strong>lingua</strong> tedesca:<br />
dal romanticismo al realismo<br />
Caspar David Friedrich: Mondaufgang am Meer, 1823 (Berlin, Alte Nationalgalerie)
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A In<strong>di</strong>ce<br />
INDICE<br />
In<strong>di</strong>ce ............................................................................................................................................................................ 2<br />
Avvertenze..................................................................................................................................................................... 3<br />
Programma ufficiale del modulo A ............................................................................................................................... 4<br />
WILHELM HEINRICH WACKENRODER; LUDWIG TIECK .................................................................................................. 5<br />
Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders (Auszüge)....................................................................... 5<br />
FRIEDRICH SCHLEGEL.................................................................................................................................................... 7<br />
Fragmente (Auszüge) ................................................................................................................................................. 7<br />
NOVALIS........................................................................................................................................................................ 9<br />
Fragmente (Auszüge) ................................................................................................................................................. 9<br />
Hyacinth und Rosenblüthe........................................................................................................................................ 10<br />
Die Christenheit oder Europa (Auszüge) ................................................................................................................. 11<br />
Hymnen an <strong>di</strong>e Nacht (Auszug: 5. Hymne) .............................................................................................................. 13<br />
Das Lied der Toten ................................................................................................................................................... 15<br />
BONAVENTURA............................................................................................................................................................ 16<br />
Nachtwachen (Auszug)............................................................................................................................................ 16<br />
CLEMENS BRENTANO .................................................................................................................................................. 18<br />
Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter (Auszug).............................................................................................. 18<br />
Der Spinnerin Nachtlied ........................................................................................................................................... 19<br />
Auf dem Rhein........................................................................................................................................................... 20<br />
ACHIM VON ARNIM; CLEMENS BRENTANO.................................................................................................................. 21<br />
Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder (Auszüge) .................................................................................... 21<br />
HEINRICH VON KLEIST................................................................................................................................................. 22<br />
Das Bettelweib von Locarno..................................................................................................................................... 22<br />
Penthesilea (Auszüge) .............................................................................................................................................. 23<br />
JACOB LUDWIG CARL GRIMM; WILHELM CARL GRIMM ............................................................................................. 27<br />
Kinder- und Hausmärchen (Auszüge)..................................................................................................................... 27<br />
E(RNST) T(HEODOR) A(MADEUS) HOFFMANN ............................................................................................................. 30<br />
Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza (Auszug)............................................................... 30<br />
JOSEPH VON EICHENDORFF.......................................................................................................................................... 33<br />
Frische Fahrt............................................................................................................................................................ 33<br />
Waldgespräch ........................................................................................................................................................... 33<br />
Sehnsucht.................................................................................................................................................................. 33<br />
Mondnacht................................................................................................................................................................ 33<br />
AUGUST VON PLATEN.................................................................................................................................................. 34<br />
Der Hoffnung Schaumgebäude................................................................................................................................. 34<br />
Es liegt an eines Menschen Schmerz... ..................................................................................................................... 34<br />
Tristan....................................................................................................................................................................... 34<br />
Flucht nach Toskana................................................................................................................................................. 34<br />
ANNETTE VON DROSTE-HÜLSHOFF ............................................................................................................................. 35<br />
Im Grase ................................................................................................................................................................... 35<br />
Am letzten Tage des Jahres (Silvester) ..................................................................................................................... 35<br />
NIKOLAUS LENAU........................................................................................................................................................ 36<br />
Schilflieder................................................................................................................................................................ 36<br />
Die Drei .................................................................................................................................................................... 36<br />
EDUARD MÖRIKE......................................................................................................................................................... 37<br />
Peregrina.................................................................................................................................................................. 37<br />
2
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A In<strong>di</strong>ce<br />
LUDOLF WIENBARG..................................................................................................................................................... 38<br />
Ästhetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet (Auszug) ...................................................................... 38<br />
HEINRICH HEINE.......................................................................................................................................................... 39<br />
Ich weiß nicht, was soll es bedeuten ......................................................................................................................... 39<br />
Der arme Peter ......................................................................................................................................................... 39<br />
Deutschland. Ein Wintermärchen (Auszüge) ........................................................................................................... 40<br />
Nachtgedanken ......................................................................................................................................................... 42<br />
Die Schlesischen Weber............................................................................................................................................ 42<br />
GEORG HERWEGH........................................................................................................................................................ 43<br />
Aufruf - 1841............................................................................................................................................................. 43<br />
GEORG WEERTH .......................................................................................................................................................... 43<br />
Das Hungerlied......................................................................................................................................................... 43<br />
GEORG BÜCHNER ........................................................................................................................................................ 44<br />
Lenz (Auszug)........................................................................................................................................................... 44<br />
Brief an <strong>di</strong>e Familie (Auszug) .................................................................................................................................. 45<br />
Wozyeck (Auszug) .................................................................................................................................................... 46<br />
FRANZ GRILLPARZER................................................................................................................................................... 47<br />
Über das Wesen des Drama...................................................................................................................................... 47<br />
JOHANN NEPOMUK NESTROY ...................................................................................................................................... 48<br />
Freihet in Krähwinkel (Auszug) ............................................................................................................................... 48<br />
ADALBERT STIFTER ..................................................................................................................................................... 49<br />
Bunte Steine (Auszug) .............................................................................................................................................. 49<br />
FRIEDRICH HEBBEL ..................................................................................................................................................... 51<br />
Mein Wort über das Drama! (Auszug)..................................................................................................................... 51<br />
THEODOR STORM......................................................................................................................................................... 53<br />
Tiefe Schatten ........................................................................................................................................................... 53<br />
THEODOR FONTANE..................................................................................................................................................... 54<br />
Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland............................................................................................................ 54<br />
CONRAD FERDINAND MEYER ...................................................................................................................................... 55<br />
Auf Goldgrund .......................................................................................................................................................... 55<br />
Der römische Brunnen.............................................................................................................................................. 55<br />
Der Gesang des Meeres............................................................................................................................................ 55<br />
Bibliografia................................................................................................................................................................. 56<br />
AVVERTENZE<br />
Ai materiali antologici qui presentati va aggiunta, <strong>per</strong> la preparazione del modulo A, la lettura integrale <strong>di</strong> uno dei tre blocchi <strong>di</strong> o<strong>per</strong>e elencati nel<br />
programma ufficiale, che segue alla pagina successiva, nonché la preparazione del quadro storico-letterario sulla base <strong>di</strong> una delle storie <strong>della</strong><br />
<strong>letteratura</strong> lì in<strong>di</strong>cate. Per il modulo B si rimanda all’<strong>Antologia</strong> B.<br />
Il docente è a <strong>di</strong>sposizione <strong>per</strong> ulteriori chiarimenti all’in<strong>di</strong>rizzo marco.castellari@unimi.it e a ricevimento, <strong>di</strong> regola il martedì dalle 11:00 alle 12:30<br />
presso la sezione <strong>di</strong> germanistica del DI.LI.LE.FI, P.zza S.Alessandro 1 (si consi<strong>gli</strong>a <strong>di</strong> verificare sempre l’orario <strong>di</strong> ricevimento sul sito <strong>della</strong> sezione:<br />
http://users.unimi.it/<strong>di</strong>lilefi/index_germa.htm).<br />
A<strong>gli</strong> <strong>studenti</strong> non frequentanti è fatto obbligo <strong>di</strong> presentarsi a colloquio prima <strong>di</strong> iniziare la preparazione dell’esame.<br />
Sono elencate in calce all’antologia o<strong>per</strong>e <strong>di</strong> riferimento presenti nella biblioteca <strong>di</strong> sezione, utili a tutti <strong>gli</strong> <strong>studenti</strong> <strong>per</strong> approfon<strong>di</strong>menti <strong>per</strong>sonali e<br />
<strong>per</strong> il recu<strong>per</strong>o <strong>di</strong> eventuali lacune.<br />
L’esame è orale e si svolge in un unico colloquio con il docente: <strong>gli</strong> <strong>studenti</strong> sono tenuti a presentarsi con tutti i testi letterari in programma e devono<br />
essere in grado <strong>di</strong> leggere, commentare e contestualizzare i brani antologici e/o stralci delle o<strong>per</strong>e integrali nonché <strong>di</strong> presentare <strong>gli</strong> autori maggiori e<br />
le correnti storico-letterarie principali del <strong>per</strong>iodo in esame. È fatto obbligo a tutti <strong>gli</strong> <strong>studenti</strong> <strong>di</strong> leggere in <strong>lingua</strong> originale i brani analizzati nel corso<br />
delle lezioni, <strong>per</strong> <strong>gli</strong> altri testi la lettura in tedesco è opzionale e costituisce titolo <strong>di</strong> merito.<br />
3
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A Programma ufficiale – mod. A<br />
LETTERATURA TEDESCA II<br />
a. a. 2005/06<br />
II semestre<br />
Prof. Fausto Cercignani - Dott. Marco Castellari<br />
marco.castellari@unimi.it<br />
PROGRAMMA UFFICIALE DEL MODULO A<br />
(20 ore, 3 CFU)<br />
“<strong>Storia</strong> <strong>della</strong> <strong>letteratura</strong> <strong>di</strong> <strong>lingua</strong> tedesca: dal romanticismo al realismo”<br />
All’esame lo studente dovrà <strong>di</strong>mostrare <strong>di</strong> conoscere le principali correnti, i maggiori autori e le gran<strong>di</strong> o<strong>per</strong>e <strong>della</strong><br />
<strong>letteratura</strong> <strong>di</strong> <strong>lingua</strong> tedesca dell’Ottocento dal romanticismo al realismo. La preparazione, che presuppone una buona<br />
conoscenza <strong>della</strong> storia dei paesi <strong>di</strong> <strong>lingua</strong> tedesca del XIX secolo, prevede lo stu<strong>di</strong>o <strong>di</strong> un manuale <strong>di</strong> storia letteraria,<br />
l’analisi <strong>di</strong> singoli brani antologici, <strong>per</strong>lopiù lirici e teorici, e la lettura <strong>di</strong> tre o<strong>per</strong>e integrali, due narrative e una<br />
drammatica.<br />
1) <strong>Storia</strong> <strong>della</strong> <strong>letteratura</strong><br />
Lo studente può sce<strong>gli</strong>ere uno dei seguenti manuali:<br />
Viktor Žmegač (Hrsg.), Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Königstein/Ts:<br />
Athenäum, 1980 – Bd. I/2 (pp. 92-360) e Bd. II/1 (pp. 1-139);<br />
La<strong>di</strong>slao Mittner, <strong>Storia</strong> <strong>della</strong> <strong>letteratura</strong> tedesca, Torino, Einau<strong>di</strong>, 1964-1977 – vol. II/3 (pp. 693-1001) e vol. III/1 (pp.<br />
1-849).<br />
2) <strong>Antologia</strong><br />
Marco Castellari (cur.): Letteratura tedesca II (2005/06), sez. A (a <strong>di</strong>sposizione all’inizio del corso).<br />
3) Letture<br />
Lo studente può sce<strong>gli</strong>ere uno dei seguenti gruppi <strong>di</strong> testi.<br />
A)<br />
E. T. A. Hoffmann, Der Sandmann;<br />
G. Büchner, Dantons Tod;<br />
Th. Fontane, Effi Briest.<br />
B)<br />
J. v. Eichendorff, Aus dem Leben eines Taugenichts;<br />
A. Stifter, Brigitta;<br />
F. Hebbel, Maria Magdalena.<br />
C)<br />
Novalis, Heinrich von Ofter<strong>di</strong>ngen;<br />
F. Grillparzer, Des Meeres und der Liebe Wellen;<br />
G. Keller, Romeo und Julia auf dem Dorfe.<br />
D)<br />
H. v. Kleist, Prinz Friedrich von Homburg;<br />
H. Heine, Die Harzreise;<br />
Th. Storm, Der Schimmelreiter.
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A WACKENRODER / TIECK<br />
Wilhelm Heinrich WACKENRODER (1773-1798); Ludwig TIECK (1773-1853)<br />
Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders<br />
(1796; Auszüge)<br />
An den Leser <strong>di</strong>eser Blätter<br />
In der Einsamkeit eines klösterlichen Lebens, in der ich nur noch zuweilen dunkel an <strong>di</strong>e entfernte Welt zurückdenke,<br />
sind nach und nach folgende Aufsätze entstanden. Ich liebte in meiner Jugend <strong>di</strong>e Kunst ungemein, und <strong>di</strong>ese Liebe hat<br />
mich, wie ein treuer Freund, bis in mein jetziges Alter begleitet: ohne daß ich es bemerkte, schrieb ich aus einem innern<br />
Drange meine Erinnerungen nieder, <strong>di</strong>e du, geliebter Leser, mit einem nachsichtsvollen Auge betrachten mußt. Sie sind<br />
nicht im Ton der heutigen Welt abgefaßt, weil <strong>di</strong>eser Ton nicht in meiner Gewalt steht, und weil ich ihn auch, wenn ich<br />
ganz aufrichtig sprechen soll, nicht lieben kann.<br />
In meiner Jugend war ich in der Welt und in vielen weltlichen Geschäften verwickelt. Mein größter Drang war<br />
zur Kunst, und ich wünschte ihr mein Leben und alle meine wenigen Talente zu widmen. Nach dem Urteile einiger<br />
Freunde war ich im Zeichnen nicht ungeschickt, und meine Kopien sowohl, als meine eigenen Erfindungen mißfielen<br />
nicht ganz. Aber immer dachte ich mit einem stillen, heiligen Schauer an <strong>di</strong>e großen gebenedeiten Kunstheiligen; es<br />
kam mir seltsam, ja fast albern vor, daß ich <strong>di</strong>e Kohle oder den Pinsel in meiner Hand führte, wenn mir der Name<br />
Raffaels oder Michelangelos in das Gedächtnis fiel. Ich darf es wohl gestehen, daß ich zuweilen aus einer<br />
unbeschreiblichen wehmütigen Inbrunst weinen mußte, wenn ich mir ihre Werke und ihr Leben recht deutlich<br />
vorstellte: ich konnte es nie dahin bringen, – ja ein solcher Gedanke würde mir gottlos vorgekommen sein, – an meinen<br />
auserwählten Lieblingen das Gute von dem sogenannten Schlechten zu sondern, und sie am Ende alle in eine Reihe zu<br />
stellen, um sie mit einem kalten, kritisierenden Blicke zu betrachten, wie es junge Künstler und sogenannte<br />
Kunstfreunde wohl jetzt zu machen pflegen. So habe ich, ich will es frei gestehn, in den Schriften des H. von Ramdohr<br />
nur weniges mit Wohlgefallen gelesen; und wer <strong>di</strong>ese liebt, mag das, was ich geschrieben habe, nur sogleich aus der<br />
Hand legen, denn es wird ihm nicht gefallen. Diese Blätter, <strong>di</strong>e ich anfangs gar nicht für den Druck bestimmt, widme<br />
ich überhaupt nur jungen angehenden Künstlern, oder Knaben, <strong>di</strong>e sich der Kunst zu widmen gedenken, und noch <strong>di</strong>e<br />
heilige Ehrfurcht vor der verflossenen Zeit in einem stillen, unaufgeblähten Herzen tragen. Sie werden vielleicht durch<br />
meine sonst unbedeutende Worte noch mehr gerührt, zu einer noch tiefern Ehrfurcht bewegt; denn sie lesen mit<br />
derselben Liebe, mit der ich geschrieben habe.<br />
Der Himmel hat es so gefügt, daß ich mein Leben in einem Kloster beschließe: <strong>di</strong>ese Versuche sind daher das<br />
einzige, was ich jetzt für <strong>di</strong>e Kunst zu tun imstande bin. Wenn sie nicht ganz mißfallen, so folgt vielleicht ein zweiter<br />
Teil, in welchem ich <strong>di</strong>e Beurteilungen einiger einzelnen Kunstwerke widerlegen möchte, wenn mir der Himmel<br />
Gesundheit und Muße verleiht, meine niedergeschriebenen Gedanken hierüber zu ordnen und in einen deutlichen<br />
Vortrag zu bringen. –<br />
[...]<br />
Von zwei wunderbaren Sprachen und deren geheimnisvoller Kraft<br />
Die Sprache der Worte ist eine große Gabe des Himmels, und es war eine ewige Wohltat des Schöpfers, daß er <strong>di</strong>e<br />
Zunge des ersten Menschen löste, damit er alle Dinge, <strong>di</strong>e der Höchste um ihn her in <strong>di</strong>e Welt gesetzt, und alle geistigen<br />
Bilder, <strong>di</strong>e er in seine Seele gelegt hatte, nennen, und seinen Geist in dem mannigfaltigen Spiele mit <strong>di</strong>esem Reichtum<br />
von Namen üben konnte. Durch Worte herrschen wir über den ganzen Erdkreis; durch Worte erhandeln wir uns mit<br />
leichter Mühe alle Schätze der Erde. Nur das Unsichtbare, das über uns schwebt, ziehen Worte nicht in unser Gemüt<br />
herab.<br />
Die ir<strong>di</strong>schen Dinge haben wir in unsrer Hand, wenn wir ihre Namen aussprechen; – aber wenn wir <strong>di</strong>e Allgüte<br />
Gottes oder <strong>di</strong>e Tugend der Heiligen nennen hören, welches doch Gegenstände sind, <strong>di</strong>e unser ganzes Wesen ergreifen<br />
sollten, so wird allein unser Ohr mit leeren Schallen gefüllt und unser Geist nicht, wie es sollte, erhoben.<br />
Ich kenne aber zwei wunderbare Sprachen, durch welche der Schöpfer den Menschen vergönnt hat, <strong>di</strong>e<br />
himmlischen Dinge in ganzer Macht, soviel es nämlich (um nicht verwegen zu sprechen) sterblichen Geschöpfen<br />
mö<strong>gli</strong>ch ist, zu fassen und zu begreifen. Sie kommen durch ganz andere Wege zu unserm Inneren, als durch <strong>di</strong>e Hülfe<br />
der Worte; sie bewegen auf einmal, auf eine wunderbare Weise, unser ganzes Wesen und drängen sich in jede Nerve<br />
und jeden Blutstropfen, der uns angehört. Die eine <strong>di</strong>eser wundervollen Sprachen redet nur Gott; <strong>di</strong>e andere reden nur<br />
wenige Auserwählte unter den Menschen, <strong>di</strong>e er zu seinen Lieblingen gesalbt hat. Ich meine: <strong>di</strong>e Natur und <strong>di</strong>e Kunst. –<br />
Seit meiner frühen Jugend her, da ich den Gott der Menschen zuerst aus den uralten heiligen Büchern unserer Religion<br />
kennenlernte, war mir <strong>di</strong>e Natur immer das gründlichste und deutlichste Erklärungsbuch über sein Wesen und seine<br />
Eigenschaften. Das Säuseln in den Wipfeln des Waldes, und das Rollen des Donners, haben mir geheimnisvolle Dinge<br />
von ihm erzählet, <strong>di</strong>e ich in Worten nicht aufsetzen kann. Ein schönes Tal, von abenteuerlichen Felsengestalten<br />
umschlossen, oder ein glatter Fluß, worin gebeugte Bäume sich spiegeln, oder eine heitere grüne Wiese von dem blauen<br />
Himmel beschienen, – ach <strong>di</strong>ese Dinge haben in meinem inneren Gemüte mehr wunderbare Regungen zuwege<br />
gebracht, haben meinen Geist von der Allmacht und Allgüte Gottes inniger erfüllt, und meine ganze Seele weit mehr<br />
5
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A WACKENRODER / TIECK<br />
gereinigt und erhoben, als es je <strong>di</strong>e Sprache der Worte vermag. Sie ist, dünkt mich, ein allzu ir<strong>di</strong>sches und grobes<br />
Werkzeug, um das Unkör<strong>per</strong>liche, wie das Kör<strong>per</strong>liche, damit zu handhaben.<br />
Ich finde hier einen großen Anlaß, <strong>di</strong>e Macht und Güte des Schöpfers zu preisen. Er hat um uns Menschen eine<br />
unendliche Menge von Dingen umhergestellt, wovon jedes ein anderes Wesen hat, und wovon wir keines verstehen und<br />
begreifen. Wir wissen nicht, was ein Baum ist; nicht, was eine Wiese, nicht, was ein Felsen ist; wir können nicht in<br />
unsrer Sprache mit ihnen reden; wir verstehen nur uns untereinander. Und dennoch hat der Schöpfer in das<br />
Menschenherz eine solche wunderbare Sympathie zu <strong>di</strong>esen Dingen gelegt, daß sie demselben, auf unbekannten<br />
Wegen, Gefühle oder Gesinnungen, oder wie man es nennen mag, zuführen, welche wir nie durch <strong>di</strong>e abgemessensten<br />
Worte erlangen.<br />
Die Weltweisen sind, aus einem an sich löblichen Eifer für <strong>di</strong>e Wahrheit, irregegangen; sie haben <strong>di</strong>e<br />
Geheimnisse des Himmels aufdecken und unter <strong>di</strong>e ir<strong>di</strong>schen Dinge in ir<strong>di</strong>sche Beleuchtung stellen wollen, und <strong>di</strong>e<br />
dunkeln Gefühle von denselben, mit kühner Verfechtung ihres Rechtes, aus ihrer Brust verstoßen. – Vermag der<br />
schwache Mensch <strong>di</strong>e Geheimnisse des Himmels aufzuhellen? Glaubt er verwegen ans Licht ziehen zu können, was<br />
Gott mit seiner Hand bedeckt? Darf er wohl <strong>di</strong>e dunkeln Gefühle, welche wie verhüllte Engel zu uns herniedersteigen,<br />
hochmütig von sich weisen? – Ich ehre sie in tiefer Demut; denn es ist große Gnade von Gott, daß er uns <strong>di</strong>ese echten<br />
Zeugen der Wahrheit herabsendet. Ich falte <strong>di</strong>e Hände und bete an. –<br />
Die Kunst ist eine Sprache ganz anderer Art als <strong>di</strong>e Natur; aber auch ihr ist, durch ähnliche dunkle und<br />
geheime Wege, eine wunderbare Kraft auf das Herz des Menschen eigen. Sie redet durch Bilder der Menschen und<br />
be<strong>di</strong>enet sich also einer Hieroglyphenschrift, deren Zeichen wir dem Äußern nach kennen und verstehen. Aber sie<br />
schmelzt das Geistige und Unsinnliche, auf eine so rührende und bewundernswür<strong>di</strong>ge Weise, in <strong>di</strong>e sichtbaren Gestalten<br />
hinein, daß wiederum unser ganzes Wesen und alles, was an uns ist, von Grund auf bewegt und erschüttert wird.<br />
Manche Gemälde aus der Leidensgeschichte Christi, oder von unsrer heiligen Jungfrau, oder aus der<br />
Geschichte der Heiligen, haben, ich darf es wohl sagen, mein Gemüt mehr gesäubert und meinem inneren Sinne<br />
tugendseligere Gesinnungen eingeflößet als Systeme der Moral und geistliche Betrachtungen. Ich denke unter andern<br />
noch mit Inbrunst an ein über alles herrlich gemaltes Bild unsers heiligen Sebastian, wie er nackt an einen Baum<br />
gebunden steht, ein Engel ihm <strong>di</strong>e Pfeile aus der Brust zieht und ein anderer Engel vom Himmel einen Blumenkranz für<br />
sein Haupt bringt. Diesem Gemälde verdanke ich sehr eindrin<strong>gli</strong>che und haftende christliche Gesinnungen, und ich<br />
kann mir jetzt kaum dasselbe lebhaft vorstellen, ohne daß mir <strong>di</strong>e Tränen in <strong>di</strong>e Augen kommen.<br />
Die Lehren der Weisen setzen nur unser Gehirn, nur <strong>di</strong>e eine Hälfte unseres Selbst, in Bewegung; aber <strong>di</strong>e<br />
zwei wunderbaren Sprachen, deren Kraft ich hier verkün<strong>di</strong>ge, rühren unsere Sinne sowohl als unsern Geist; oder<br />
vielmehr scheinen dabei (wie ich es nicht anders ausdrücken kann) alle Teile unsers (uns unbegreiflichen) Wesens zu<br />
einem einzigen, neuen Organ zusammenzuschmelzen, welches <strong>di</strong>e himmlischen Wunder, auf <strong>di</strong>esem zwiefachen Wege,<br />
faßt und begreift.<br />
Die eine der Sprachen, welche der Höchste selber von Ewigkeit zu Ewigkeit fortredet, <strong>di</strong>e ewig leben<strong>di</strong>ge,<br />
unendliche Natur, ziehet uns durch <strong>di</strong>e weiten Räume der Lüfte unmittelbar zu der Gottheit hinauf. Die Kunst aber, <strong>di</strong>e<br />
durch sinnreiche Zusammensetzungen von gefärbter Erde und etwas Feuchtigkeit, <strong>di</strong>e menschliche Gestalt in einem<br />
engen, begrenzten Raume, nach innerer Vollendung strebend, nachahmt (eine Art von Schöpfung, wie sie sterblichen<br />
Wesen hervorzubringen vergönnt ward) – sie schließt uns <strong>di</strong>e Schätze in der menschlichen Brust auf, richtet unsern<br />
Blick in unser Inneres, und zeigt uns das Unsichtbare, ich meine alles was edel, groß und göttlich ist, in menschlicher<br />
Gestalt. –<br />
Wenn ich aus dem gottgeweihten Tempel unsers Klosters von der Betrachtung Christi am Kreuz, ins Freie<br />
hinaustrete, und der Sonnenschein vom blauen Himmel mich warm und leben<strong>di</strong>g umfängt, und <strong>di</strong>e schöne Landschaft<br />
mit Bergen, Gewässer und Bäumen mein Auge rührt; so sehe ich eine eigene Welt Gottes vor mir hervorgehen, und<br />
fühle auf eigene Weise große Dinge in meinem Inneren sich erheben. – Und wenn ich aus dem Freien wieder in den<br />
Tempel trete, und das Gemälde von Christo am Kreuze mit Ernst und Innigkeit betrachte; so sehe ich wiederum eine<br />
andre ganz eigene Welt Gottes vor mir hervorgehen und fühle auf andre, eigene Weise sich große Dinge in meinem<br />
Inneren erheben. –<br />
Die Kunst stellet uns <strong>di</strong>e höchste menschliche Vollendung dar. Die Natur, soviel davon ein sterbliches Auge<br />
sieht, gleichet abgebrochenen Orakelsprüchen aus dem Munde der Gottheit. Ist es aber erlaubt, also von dergleichen<br />
Dingen zu reden, so möchte man vielleicht sagen, daß Gott wohl <strong>di</strong>e ganze Natur oder <strong>di</strong>e ganze Welt auf ähnliche Art,<br />
wie wir ein Kunstwerk, ansehen möge.<br />
6
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A SCHLEGEL<br />
Friedrich SCHLEGEL (1772-1829)<br />
Kritische Fragmente<br />
(„Lyceums-Fragmente“; Erstdruck 1797; Auszüge).<br />
[42] Die Philosophie ist <strong>di</strong>e eigentliche Heimat der Ironie, welche man logische Schönheit definieren möchte: denn<br />
überall wo in mündlichen oder geschriebenen Gesprächen, und nur nicht ganz systematisch philosophiert wird, soll man<br />
Ironie leisten und fordern; und sogar <strong>di</strong>e Stoiker hielten <strong>di</strong>e Urbanität für eine Tugend. Freilich gibts auch eine<br />
rhetorische Ironie, welche sparsam gebraucht vortreffliche Wirkung tut, besonders im Polemischen; doch ist sie gegen<br />
<strong>di</strong>e erhabne Urbanität der sokratischen Muse, was <strong>di</strong>e Pracht der glänzendsten Kunstrede gegen eine alte Tragö<strong>di</strong>e in<br />
hohem Styl. Die Poesie allein kann sich auch von <strong>di</strong>eser Seite bis zur Höhe der Philosophie erheben, und ist nicht auf<br />
ironische Stellen begründet, wie <strong>di</strong>e Rhetorik. Es gibt alte und moderne Ge<strong>di</strong>chte, <strong>di</strong>e durchgängig im Ganzen und<br />
überall den göttlichen Hauch der Ironie atmen. Es lebt in ihnen eine wirklich transzendentale Buffonerie. Im Innern, <strong>di</strong>e<br />
Stimmung, welche alles übersieht, und sich über alles Be<strong>di</strong>ngte unendlich erhebt, auch über eigne Kunst, Tugend, oder<br />
Genialität: im Äußern, in der Ausführung <strong>di</strong>e mimische Manier eines gewöhnlichen guten italiänischen Buffo.<br />
[48] Ironie ist <strong>di</strong>e Form des Paradoxen. Paradox ist alles, was zugleich gut und groß ist.<br />
[108] Die Sokratische Ironie ist <strong>di</strong>e einzige durchaus unwillkürliche, und doch durchaus besonnene Verstellung. Es ist<br />
gleich unmö<strong>gli</strong>ch sie zu erkünsteln, und sie zu verraten. Wer sie nicht hat, dem bleibt sie auch nach dem offensten<br />
Geständnis ein Rätsel. Sie soll niemanden täuschen, als <strong>di</strong>e, welche sie für Täuschung halten, und entweder ihre Freude<br />
haben an der herrlichen Schalkheit, alle Welt zum besten zu haben, oder böse werden, wenn sie ahnden, sie wären wohl<br />
auch mit gemeint. In ihr soll alles Scherz und alles Ernst sein, alles treuherzig offen, und alles tief verstellt. Sie<br />
entspringt aus der Vereinigung von Lebenskunstsinn und wissenschaftlichem Geist, aus dem Zusammentreffen<br />
vollendeter Naturphilosophie und vollendeter Kunstphilosophie. Sie enthält und erregt ein Gefühl von dem<br />
unauflöslichen Widerstreit des Unbe<strong>di</strong>ngten und des Be<strong>di</strong>ngten, der Unmö<strong>gli</strong>chkeit und Notwen<strong>di</strong>gkeit einer<br />
vollstän<strong>di</strong>gen Mitteilung. Sie ist <strong>di</strong>e freieste aller Lizenzen, denn durch sie setzt man sich über sich selbst weg; und<br />
doch auch <strong>di</strong>e gesetzlichste, denn sie ist unbe<strong>di</strong>ngt notwen<strong>di</strong>g. Es ist ein sehr gutes Zeichen, wenn <strong>di</strong>e harmonisch<br />
Platten gar nicht wissen, wie sie <strong>di</strong>ese stete Selbstparo<strong>di</strong>e zu nehmen haben, immer wieder von neuem glauben und<br />
mißglauben, bis sie schwindlicht werden, den Scherz grade für Ernst, und den Ernst für Scherz halten. Lessings Ironie<br />
ist Instinkt; bei Hemsterhuys ist's klassisches Stu<strong>di</strong>um; Hülsens Ironie entspringt aus Philosophie der Philosophie, und<br />
kann <strong>di</strong>e jener noch weit übertreffen.<br />
[117] Poesie kann nur durch Poesie kritisiert werden. Ein Kunsturteil, welches nicht selbst ein Kunstwerk ist, entweder<br />
im Stoff, als Darstellung des notwen<strong>di</strong>gen Eindrucks in seinem Werden, oder durch eine schöne Form, und einen im<br />
Geist der alten römischen Satire liberalen Ton, hat gar kein Bürgerrecht im Reiche der Kunst.<br />
Fragmente<br />
(„Athenäums-Fragmente“; Erstdruck 1798; Auszüge)<br />
[24] Viele Werke der Alten sind Fragmente geworden. Viele Werke der Neuern sind es gleich bei der Entstehung.<br />
[116] Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennte<br />
Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen, und <strong>di</strong>e Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen.<br />
Sie will, und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald<br />
verschmelzen, <strong>di</strong>e Poesie leben<strong>di</strong>g und gesellig, und das Leben und <strong>di</strong>e Gesellschaft poetisch machen, den Witz<br />
poetisieren, und <strong>di</strong>e Formen der Kunst mit ge<strong>di</strong>egnem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen, und durch <strong>di</strong>e<br />
Schwingungen des Humors beseelen. Sie umfaßt alles, was nur poetisch ist, vom größten wieder mehre Systeme in sich<br />
enthaltenden Systeme der Kunst, bis zu dem Seufzer, dem Kuß, den das <strong>di</strong>chtende Kind aushaucht in kunstlosen<br />
Gesang. Sie kann sich so in das Dargestellte verlieren, daß man glauben möchte, poetische In<strong>di</strong>viduen jeder Art zu<br />
charakterisieren, sei ihr Eins und Alles; und doch gibt es noch keine Form, <strong>di</strong>e so dazu gemacht wäre, den Geist des<br />
Autors vollstän<strong>di</strong>g auszudrücken: so daß manche Künstler, <strong>di</strong>e nur auch einen Roman schreiben wollten, von ungefähr<br />
sich selbst dargestellt haben. Nur sie kann gleich dem Epos ein Spiegel der ganzen umgebenden Welt, ein Bild des<br />
Zeitalters werden. Und doch kann auch sie am meisten zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden, frei von<br />
allem realen und idealen Interesse auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben, <strong>di</strong>ese Reflexion<br />
immer wieder potenzieren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen. Sie ist der höchsten und der<br />
allseitigsten Bildung fähig; nicht bloß von innen heraus, sondern auch von außen hinein; indem sie jedem, was ein<br />
Ganzes in ihren Produkten sein soll, alle Teile ähnlich organisiert, wodurch ihr <strong>di</strong>e Aussicht auf eine grenzenlos<br />
wachsende Klassizität eröffnet wird. Die romantische Poesie ist unter den Künsten was der Witz der Philosophie, und<br />
7
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A SCHLEGEL<br />
<strong>di</strong>e Gesellschaft, Umgang, Freundschaft und Liebe im Leben ist. Andre Dichtarten sind fertig, und können nun<br />
vollstän<strong>di</strong>g zer<strong>gli</strong>edert werden. Die romantische Dichtart ist noch im Werden; ja das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie<br />
ewig nur werden, nie vollendet sein kann. Sie kann durch keine Theorie erschöpft werden, und nur eine <strong>di</strong>vinatorische<br />
Kritik dürfte es wagen, ihr Ideal charakterisieren zu wollen. Sie allein ist unendlich, wie sie allein frei ist, und das als ihr<br />
erstes Gesetz anerkennt, daß <strong>di</strong>e Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide. Die romantische Dichtart ist <strong>di</strong>e<br />
einzige, <strong>di</strong>e mehr als Art, und gleichsam <strong>di</strong>e Dichtkunst selbst ist: denn in einem gewissen Sinn ist oder soll alle Poesie<br />
romantisch sein.<br />
[216] Die Französische Revolution, Fichtes Wissenschaftslehre, und Goethes Meister sind <strong>di</strong>e größten Tendenzen des<br />
Zeitalters. Wer an <strong>di</strong>eser Zusammenstellung Anstoß nimmt, wem keine Revolution wichtig scheinen kann, <strong>di</strong>e nicht laut<br />
und materiell ist, der hat sich noch nicht auf den hohen weiten Standpunkt der Geschichte der Menschheit erhoben.<br />
Selbst in unsern dürftigen Kulturgeschichten, <strong>di</strong>e meistens einer mit fortlaufendem Kommentar begleiteten<br />
Variantensammlung, wozu der klassische Text verloren ging, gleichen, spielt manches kleine Buch, von dem <strong>di</strong>e<br />
lärmende Menge zu seiner Zeit nicht viel Notiz nahm, eine größere Rolle, als alles, was <strong>di</strong>ese trieb.<br />
[424] Man kann <strong>di</strong>e Französische Revolution als das größte und merkwür<strong>di</strong>gste Phänomen der Staatengeschichte<br />
betrachten, als ein fast universelles Erdbeben, eine unermeßliche Überschwemmung in der politischen Welt; oder als<br />
ein Urbild der Revolutionen, als <strong>di</strong>e Revolution schlechthin. Das sind <strong>di</strong>e gewöhnlichen Gesichtspunkte. Man kann sie<br />
aber auch betrachten als den Mittelpunkt und den Gipfel des französischen Nationalcharakters, wo alle Paradoxien<br />
desselben zusammengedrängt sind; als <strong>di</strong>e furchtbarste Groteske des Zeitalters, wo <strong>di</strong>e tiefsinnigsten Vorurteile und <strong>di</strong>e<br />
gewaltsamsten Ahndungen desselben in ein grauses Chaos gemischt, zu einer ungeheuren Tragikomö<strong>di</strong>e der<br />
Menschheit so bizarr als mö<strong>gli</strong>ch verwebt sind. Zur Ausführung <strong>di</strong>eser historischen Ansichten findet man nur noch<br />
einzelne Züge.<br />
[426] Es ist natürlich, daß <strong>di</strong>e Franzosen etwas dominieren im Zeitalter. Sie sind eine chemische Nation, der chemische<br />
Sinn ist bei ihnen am allgemeinsten erregt, und sie machen ihre Versuche auch in der moralischen Chemie immer im<br />
Großen. Das Zeitalter ist gleichfalls ein chemisches Zeitalter. Revolutionen sind universelle nicht organische, sondern<br />
chemische Bewegungen. Der große Handel ist <strong>di</strong>e Chemie der großen Ökonomie; es gibt wohl auch eine Alchemie der<br />
Art. Die chemische Natur des Romans, der Kritik, des Witzes, der Geselligkeit, der neuesten Rhetorik und der<br />
bisherigen Historie leuchtet von selbst ein. Ehe man nicht zu einer Charakteristik des Universums und zu einer<br />
Einteilung der Menschheit gelangt ist, muß man sich nur mit Notizen über den Grundton und einzelne Manieren des<br />
Zeitalters begnügen lassen, ohne den Riesen auch nur silhouettieren zu können. Denn wie wollte man ohne jene<br />
Vorkenntnisse bestimmen, ob das Zeitalter wirklich ein In<strong>di</strong>viduum, oder vielleicht nur ein Kollisionspunkt andrer<br />
Zeitalter sei; wo es bestimmt anfange und en<strong>di</strong>ge? Wie wäre es mö<strong>gli</strong>ch, <strong>di</strong>e gegenwärtige Periode der Welt richtig zu<br />
verstehen und zu interpungieren, wenn man nicht wenigstens den allgemeinen Charakter der nächstfolgenden<br />
antizipieren dürfte? Nach der Analogie jenes Gedankens würde auf das chemische ein organisches Zeitalter folgen, und<br />
dann dürften <strong>di</strong>e Erdbürger des nächsten Sonnenumlaufs wohl bei weitem nicht so groß von uns denken wie wir selbst,<br />
und vieles was jetzt bloß angestaunt wird, nur für nützliche Jugendübungen der Menschheit halten.<br />
Ideen<br />
(Erstdruck 1798; Auszüge)<br />
[69] Ironie ist klares Bewußtsein der ewigen Agilität, des unendlich vollen Chaos.<br />
8
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A NOVALIS<br />
NOVALIS (Friedrich von Hardenberg; 1772–1801)<br />
Fragmente<br />
Blüthenstaub<br />
(Erstdruck 1798; Auszüge)<br />
49. Das Volk ist eine Idee. Wir sollen ein Volk werden. Ein vollkommener Mensch ist ein kleines Volk. Ächte<br />
Popularität ist das höchste Ziel des Menschen.<br />
109. Nichts ist poetischer, als Erinnerung und Ahndung oder Vorstellung der Zukunft. Die Vorstellungen der Vorzeit<br />
ziehn uns zum Sterben, zum Verfliegen an. Die Vorstellungen der Zukunft treiben uns zum Beleben, zum Verkürzen,<br />
zur assimilirenden Wirksamkeit. Daher ist alle Erinnerung wehmüthig, alle Ahndung freu<strong>di</strong>g. Jene mäßigt <strong>di</strong>e<br />
allzugroße Lebhaftigkeit, <strong>di</strong>ese erhebt ein zu schwaches Leben. Die gewöhnliche Gegenwart verknüpft Vergangenheit<br />
und Zukunft durch Beschränkung. Es entsteht Kontiguität, durch Erstarrung Krystallisazion. Es giebt aber eine geistige<br />
Gegenwart, <strong>di</strong>e beyde durch Auflösung identifizirt, und <strong>di</strong>ese Mischung ist das Element, <strong>di</strong>e Atmosphäre des Dichters.<br />
[Fragment über das Romantisieren]<br />
(1799/1800)<br />
Die Welt muss romantisiert werden. So findet man den ur[sprün<strong>gli</strong>chen] Sinn wieder. Romantisieren ist nichts anderes<br />
als eine qualit[ative] Potenzierung. Das niedre Selbst wird mit einem bessern Selbst in <strong>di</strong>eser O<strong>per</strong>ation identifiziert. So<br />
wie wir selbst eine solche qualit[ative] Potenzenreihe sind. Diese O<strong>per</strong>ation ist noch ganz unbekannt. Indem ich dem<br />
Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten <strong>di</strong>e Würde des<br />
Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es – Umgekehrt ist <strong>di</strong>e O<strong>per</strong>ation für<br />
das Höhere, Unbekannte, Mystische, Unendliche – <strong>di</strong>es wird durch <strong>di</strong>ese Verknüpfung logarithmisiert – es bekommt<br />
einen geläufigen Ausdruck. Romantische Philosophie. Lingua romana. Wechselerhöhung und Erniedrigung.<br />
[Fragmente über den Wilhelm Meister]<br />
(1799/1800)<br />
Wilhelm Meisters Lehrjahre sind gewissermaaßen durchaus prosaisch – und modern. Das Romantische geht darinn zu<br />
Grunde − auch <strong>di</strong>e Naturpoësie, das Wunderbare – Er handelt blos von gewöhnlichen menschlichen Dingen – <strong>di</strong>e Natur<br />
und der Mystizism sind ganz vergessen. Es ist eine poëtisirte bürgerliche und häusliche Geschichte. Das Wunderbare<br />
darinn wird ausdrücklich, als Poesie und Schwärmerey, behandelt. Künstlerischer Atheïsmus ist der Geist des Buchs.<br />
Sehr viel Oeconomie – mit prosaïschen, wohlfeilen Stoff ein poëtischer Effect erreicht.<br />
Gegen Wilhelm Meisters Lehrjahre. Es ist im Grunde ein fatales und albernes Buch – so pretentiös und pretiös –<br />
un<strong>di</strong>chterisch im höchsten Grade, was den Geist betrift – so poëtisch auch <strong>di</strong>e Darstellung ist. Es ist eine Satyre auf <strong>di</strong>e<br />
Poësie, Religion etc. Aus Stroh und Hobelspänen ein wolschmeckendes Gericht, ein Götterbild zusammengesezt.<br />
Hinten wird alles Farce. Die Oeconomische Natur ist <strong>di</strong>e Wahre – Übrig bleibende. Göthe hat auf alle Fälle einen<br />
widerstrebenden Stoff behandelt. Poëtische Maschinerie. Fridrich verdrängt M[eister] v[on] d[er] Philine und drängt ihn<br />
zur Natalie hin. Die Bekenntnisse sind eine Beruhigung des Lesers – nach dem Feuer, Wahnsinn und wilden<br />
Erscheinungen der ersten Hälfte des dritten Theils. Das viele Intriguiren und Schwatzen und Repraesentiren am Schluß<br />
des 4ten Buchs verräth das vornehme Schloß und das Weiberregiment − und erregt eine ärgerliche Peinlichkeit. Der<br />
Abbé ist ein fataler Kerl, dessen geheime Oberaufsicht lästig und lächerlich wird. Der Thurm in Lotharios Schlosse ist<br />
ein großer Widerspruch mit demselben. Die Freude, daß es nun aus ist, empfindet man am Schlusse im vollen Maaße.<br />
Das Ganze ist ein nobilitirter Roman. Wilhelm Meisters Lehrjahre, oder <strong>di</strong>e Wallfahrt nach dem Adels<strong>di</strong>plom.<br />
W[ilhelm] M[eister] ist eigentlich ein Can<strong>di</strong>de, gegen <strong>di</strong>e Poësie gerichtet. Die Poësie ist der Arlequin in der ganzen<br />
Farce. Im Grunde kommt der Adel dadurch schlechtweg, daß er ihn zur Poësie rechnet, und <strong>di</strong>e Poësie, daß er sie vom<br />
Adel repraesentiren läßt. Er macht <strong>di</strong>e Musen zu Comö<strong>di</strong>antinnen, anstatt <strong>di</strong>e Comoe<strong>di</strong>antinnen zu Musen zu machen.<br />
Es ist ordentlich tragisch, daß er den Shakespear in <strong>di</strong>ese Gesellschaft bringt.<br />
Avanturiers, Comoe<strong>di</strong>anten, Maitressen, Krämer und Philister sind <strong>di</strong>e Bestandtheile des Romans. Wer ihn recht zu<br />
Herzen nimmt, ließt keinen Roman mehr. Der Held retar<strong>di</strong>rt das Eindringen des Evangeliums der Oeconomie.<br />
Marionettentheater im Anfang. Der Schluß ist, wie <strong>di</strong>e lezten Stunden im Park der schönen Lili.<br />
[Fragment über <strong>di</strong>e Literaturkritik]<br />
(1799/1800)<br />
Wer keine Ge<strong>di</strong>chte machen kann, wird sie auch nur negativ beurteilen. Zur echten Kritik gehört <strong>di</strong>e Fähigkeit, das zu<br />
kritisierende Produkt selbst hervorzubringen. Der Geschmack allein beurteilt nur negativ.<br />
9
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A NOVALIS<br />
Hyacinth und Rosenblüthe<br />
(Aus: Die Lehrlinge zu Sais. Entstehung 1798; Erstdruck 1802)<br />
Vor langen Zeiten lebte weit gegen Abend ein blutjunger Mensch. Er war sehr gut, aber auch über <strong>di</strong>e Maaßen<br />
wunderlich. Er grämte sich unaufhörlich um nichts und wieder nichts, ging immer still für sich hin, setzte sich einsam,<br />
wenn <strong>di</strong>e Andern spielten und fröhlich waren, und hing seltsamen Dingen nach. Höhlen und Wälder waren sein liebster<br />
Aufenthalt, und dann sprach er immer fort mit Thieren und Vögeln, mit Bäumen und Felsen, natürlich kein vernünftiges<br />
Wort, lauter närrisches Zeug zum Todtlachen. Er blieb aber immer mürrisch und ernsthaft, ungeachtet sich das<br />
Eichhörnchen, <strong>di</strong>e Meerkatze, der Papagay und der Gimpel alle Mühe gaben ihn zu zerstreuen, und ihn auf den<br />
richtigen Weg zu weisen. Die Gans erzählte Mährchen, der Bach klim<strong>per</strong>te eine Ballade dazwischen, ein großer <strong>di</strong>cker<br />
Stein machte lächerliche Bockssprünge, <strong>di</strong>e Rose schlich sich freundlich hinter ihm herum, kroch durch seine Locken,<br />
und der Epheu streichelte ihm <strong>di</strong>e sorgenvolle Stirn. Allein der Mißmuth und Ernst waren hartnäckig. Seine Eltern<br />
waren sehr betrübt, sie wußten nicht was sie anfangen sollten. Er war gesund und aß, nie hatten sie ihn belei<strong>di</strong>gt, er war<br />
auch bis vor wenig Jahren fröhlich und lustig gewesen, wie keiner; bei allen Spielen voran, von allen Mädchen gern<br />
gesehn. Er war recht bildschön, sah aus wie gemahlt, tanzte wie ein Schatz. Unter den Mädchen war Eine, ein<br />
köstliches, bildschönes Kind, sah aus wie Wachs, Haare wie goldne Seide, kirschrothe Lippen, wie ein Püppchen<br />
gewachsen, brandrabenschwarze Augen. Wer sie sah, hätte mögen vergehn, so lieblich war sie. Damals war<br />
Rosenblüthe, so hieß sie, dem bildschönen Hyacinth, so hieß er, von Herzen gut, und er hatte sie lieb zum Sterben. Die<br />
andern Kinder wußtens nicht. Ein Veilchen hatte es ihnen zuerst gesagt, <strong>di</strong>e Hauskätzchen hatten es wohl gemerkt, <strong>di</strong>e<br />
Häuser ihrer Eltern lagen nahe beisammen. Wenn nun Hyacinth <strong>di</strong>e Nacht an seinem Fenster stand und Rosenblüthe an<br />
ihrem, und <strong>di</strong>e Kätzchen auf den Mäusefang da vorbeyliefen, da sahen sie <strong>di</strong>e Beiden stehn, und lachten und kickerten<br />
oft so laut, daß sie es hörten und böse wurden. Das Veilchen hatte es der Erdbeere im Vertrauen gesagt, <strong>di</strong>e sagte es<br />
ihrer Freun<strong>di</strong>nn der Stachelbeere, <strong>di</strong>e ließ nun das Sticheln nicht, wenn Hyacinth gegangen kam; so erfuhrs denn bald<br />
der ganze Garten und der Wald, und wenn Hyacinth ausging, so riefs von allen Seiten: Rosenblüthchen ist mein<br />
Schätzchen! Nun ärgerte sich Hyacinth, und mußte doch auch wieder aus Herzensgrunde lachen, wenn das Eidexchen<br />
gesplüpft kam, sich auf einen warmen Stein setzte, mit dem Schwänzchen wedelte und sang:<br />
Rosenblüthchen, das gute Kind,<br />
Ist geworden auf einmal blind,<br />
Denkt, <strong>di</strong>e Mutter sey Hyacinth,<br />
Fällt ihm um den Hals geschwind;<br />
Merkt sie aber das fremde Gesicht,<br />
Denkt nur an, da erschrickt sie nicht,<br />
Fährt, als merkte sie kein Wort,<br />
Immer nur mit Küssen fort.<br />
Ach! wie bald war <strong>di</strong>e Herrlichkeit vorbey. Es kam ein Mann aus fremden Landen gegangen, der war erstaunlich weit<br />
gereist, hatte einen langen Bart, tiefe Augen, entsetzliche Augenbrauen, ein wunderliches Kleid mit vielen Falten und<br />
seltsamen Figuren hineingewebt. Er setzte sich vor das Haus, das Hyacinths Eltern gehörte. Nun war Hyacinth sehr<br />
neugierig, und setzte sich zu ihm und hohlte ihm Brod und Wein. Da that er seinen weißen Bart von einander und<br />
erzählte bis tief in <strong>di</strong>e Nacht, und Hyacinth wich und wankte nicht, und wurde auch nicht müde zuzuhören. So viel man<br />
nachher vernahm, so hat er viel von fremden Ländern, unbekannten Gegenden, von erstaunlich wunderbaren Sachen<br />
erzählt, und ist drey Tage dageblieben, und mit Hyacinth in tiefe Schachten hinuntergekrochen. Rosenblüthchen hat<br />
genug den alten Hexenmeister verwünscht, denn Hyacinth ist ganz versessen auf seine Gespräche gewesen, und hat sich<br />
um nichts bekümmert; kaum daß er ein wenig Speise zu sich genommen. Endlich hat jener sich fortgemacht, doch dem<br />
Hyacinth ein Büchelchen dagelassen, das kein Mensch lesen konnte. Dieser hat ihm noch Früchte, Brod und Wein<br />
mitgegeben, und ihn weit weg begleitet. Und dann ist er tiefsinnig zurückgekommen, und hat einen ganz neuen<br />
Lebenswandel begonnen. Rosenblüthchen hat recht zum Erbarmen um ihn gethan, denn von der Zeit an hat er sich<br />
wenig aus ihr gemacht und ist immer für sich geblieben. Nun begab sichs, daß er einmal nach Hause kam und war wie<br />
neugeboren. Er fiel seinen Eltern um den Hals, und weinte. Ich muß fort in fremde Lande; sagte er, <strong>di</strong>e alte wunderliche<br />
Frau im Walde hat mir erzählt, wie ich gesund werden müßte, das Buch hat sie ins Feuer geworfen, und hat mich<br />
getrieben, zu euch zu gehn und euch um euren Segen zu bitten. Vielleicht komme ich bald, vielleicht nie wieder. Grüßt<br />
Rosenblüthchen. Ich hätte sie gern gesprochen, ich weiß nicht, wie mir ist, es drängt mich fort; wenn ich an <strong>di</strong>e alten<br />
Zeiten zurück denken will, so kommen gleich mächtigere Gedanken dazwischen, <strong>di</strong>e Ruhe ist fort, Herz und Liebe mit,<br />
ich muß sie suchen gehn. Ich wollt' euch gern sagen, wohin, ich weiß selbst nicht, dahin wo <strong>di</strong>e Mutter der Dinge<br />
wohnt, <strong>di</strong>e verschleyerte Jungfrau. Nach der ist mein Gemüth entzündet. Lebt wohl. Er riß sich los und ging fort. Seine<br />
Eltern wehklagten und vergossen Thränen, Rosenblüthchen blieb in ihrer Kammer und weinte bitterlich. Hyacinth lief<br />
nun was er konnte, durch Thäler und Wildnisse, über Berge und Ströme, dem geheimnißvollen Lande zu. Er fragte<br />
überall nach der heiligen Göttin (Isis) [:] Menschen und Thiere, Felsen und Bäume. Manche lachten [,] manche<br />
schwiegen, nirgends erhielt er Bescheid. Im Anfange kam er durch rauhes, wildes Land, Nebel und Wolken warfen sich<br />
ihm in den Weg, es stürmte immerfort; dann fand er unabsehliche Sandwüsten, glühenden Staub, und wie er wandelte,<br />
10
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A NOVALIS<br />
so veränderte sich auch sein Gemüth, <strong>di</strong>e Zeit wurde ihm lang und <strong>di</strong>e innre Unruhe legte sich, er wurde sanfter und das<br />
gewaltige Treiben in ihm allgemach zu einem leisen, aber starken Zuge, in den sein ganzes Gemüth sich auflöste. Es lag<br />
wie viele Jahre hinter ihm. Nun wurde <strong>di</strong>e Gegend auch wieder reicher und mannichfaltiger, <strong>di</strong>e Luft lau und blau, der<br />
Weg ebener, grüne Büsche lockten ihn mit anmuthigem Schatten, aber er verstand ihre Sprache nicht, sie schienen auch<br />
nicht zu sprechen, und doch erfüllten sie auch sein Herz mit grünen Farben und kühlem, stillem Wesen. Immer höher<br />
wuchs jene süße Sehnsucht in ihm, und immer breiter und saftiger wurden <strong>di</strong>e Blätter, immer lauter und lustiger <strong>di</strong>e<br />
Vögel und Thiere, balsamischer <strong>di</strong>e Früchte, dunkler der Himmel, wärmer <strong>di</strong>e Luft, und heißer seine Liebe, <strong>di</strong>e Zeit<br />
ging immer schneller, als sähe sie sich nahe am Ziele. Eines Tages begegnete er einem krystallnen Quell und einer<br />
Menge Blumen, <strong>di</strong>e kamen in ein Thal herunter zwischen schwarzen himmelhohen Säulen. Sie grüßten ihn freundlich<br />
mit bekannten Worten. Liebe Landsleute, sagte er, wo find' ich wohl den geheiligten Wohnsitz der Isis? Hier herum<br />
muß er seyn, und ihr seid vielleicht hier bekannter, als ich. Wir gehn auch nur hier durch, antworteten <strong>di</strong>e Blumen; eine<br />
Geisterfamilie ist auf der Reise und wir bereiten ihr Weg und Quartier, indeß sind wir vor kurzem durch eine Gegend<br />
gekommen, da hörten wir ihren Namen nennen. Gehe nur aufwärts, wo wir herkommen, so wirst du schon mehr<br />
erfahren. Die Blumen und <strong>di</strong>e Quelle lächelten, wie sie das sagten, boten ihm einen frischen Trunk und gingen weiter.<br />
Hyacinth folgte ihrem Rath, frug und frug und kam endlich zu jener längst gesuchten Wohnung, <strong>di</strong>e unter Palmen und<br />
andern köstlichen Gewächsen versteckt lag. Sein Herz klopfte in unendlicher Sehnsucht, und <strong>di</strong>e süßeste Bangigkeit<br />
durchdrang ihn in <strong>di</strong>eser Behausung der ewigen Jahreszeiten. Unter himmlischen Wohlgedüften entschlummerte er,<br />
weil ihn nur der Traum in das Allerheiligste führen durfte. Wunderlich führte ihn der Traum durch unendliche<br />
Gemächer voll seltsamer Sachen auf lauter reitzenden Klängen und in abwechselnden Accorden. Es dünkte ihm alles so<br />
bekannt und doch in niegesehener Herrlichkeit, da schwand auch der letzte ir<strong>di</strong>sche Anflug, wie in Luft verzehrt, und er<br />
stand vor der himmlischen Jungfrau, da hob er den leichten, glänzenden Schleyer, und Rosenblüthchen sank in seine<br />
Arme. Eine ferne Musik umgab <strong>di</strong>e Geheimnisse des liebenden Wiedersehns, <strong>di</strong>e Ergießungen der Sehnsucht, und<br />
schloß alles Fremde von <strong>di</strong>esem entzückenden Orte aus. Hyacinth lebte nachher noch lange mit Rosenblüthchen unter<br />
seinen frohen Eltern und Gespielen, und unzählige Enkel dankten der alten wunderlichen Frau für ihren Rath und ihr<br />
Feuer; denn damals bekamen <strong>di</strong>e Menschen so viel Kinder, als sie wollten. –<br />
Die Christenheit oder Europa<br />
(Entstehung 1799; Erstdruck 1826; Auszug)<br />
Es waren schöne glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo Eine Christenheit <strong>di</strong>esen menschlich<br />
gestalteten Welttheil bewohnte; Ein großes gemeinschaftliches Interesse verband <strong>di</strong>e entlegensten Provinzen <strong>di</strong>eses<br />
weiten geistlichen Reichs. – Ohne große weltliche Besitzthümer lenkte und vereinigte Ein Oberhaupt, <strong>di</strong>e großen<br />
politischen Kräfte. – Eine zahlreiche Zunft zu der jedermann den Zutritt hatte, stand unmittelbar unter demselben und<br />
vollführte seine Winke und strebte mit Eifer seine wohlthätige Macht zu befestigen. Jedes Glied <strong>di</strong>eser Gesellschaft<br />
wurde allenthalben geehrt, und wenn <strong>di</strong>e gemeinen Leute Trost oder Hülfe, Schutz oder Rath bei ihm suchten, und<br />
gerne dafür seine mannigfaltigen Bedürfnisse reichlich versorgten, so fand es auch bei den Mächtigeren Schutz, Ansehn<br />
und Gehör, und alle pflegten <strong>di</strong>ese auserwählten, mit wunderbaren Kräften ausgerüsteten Männer, wie Kinder des<br />
Himmels, deren Gegenwart und Zuneigung mannigfachen Segen verbreitete. Kindliches Zutrauen knüpfte <strong>di</strong>e<br />
Menschen an ihre Verkün<strong>di</strong>gungen. – Wie heiter konnte jedermann sein ir<strong>di</strong>sches Tagewerk vollbringen, da ihm durch<br />
<strong>di</strong>ese heilige Menschen eine sichere Zukunft bereitet, und jeder Fehltritt durch sie vergeben, jede mißfarbige Stelle des<br />
Lebens durch sie ausgelöscht, und geklärt wurde. Sie waren <strong>di</strong>e erfahrnen Steuerleute auf dem großen unbekannten<br />
Meere, in deren Obhut man alle Stürme geringschätzen, und zuversichtlich auf eine sichre Gelangung und Landung an<br />
der Küste der eigentlichen vaterlän<strong>di</strong>schen Welt rechnen durfte.<br />
Die wildesten, gefräßigsten Neigungen mußten der Ehrfurcht und dem Gehorsam gegen ihre Worte weichen.<br />
Friede ging von ihnen aus. – Sie pre<strong>di</strong>gten nichts als Liebe zu der heiligen, wunderschönen Frau der Christenheit, <strong>di</strong>e<br />
mit göttlichen Kräften versehen, jeden Gläubigen aus den schrecklichsten Gefahren zu retten bereit war. Sie erzählten<br />
von längst verstorbenen himmlischen Menschen, <strong>di</strong>e durch Anhän<strong>gli</strong>chkeit und Treue an jene selige Mutter und ihr<br />
himmlisches, freundliches Kind, <strong>di</strong>e Versuchung der ir<strong>di</strong>schen Welt bestanden, zu göttlichen Ehren gelangt und nun<br />
schützende, wohlthätige Mächte ihrer lebenden Brüder, willige Helfer in der Noth, Vertreter menschlicher Gebrechen<br />
und wirksame Freunde der Menschheit am himmlischen Throne geworden waren. Mit welcher Heiterkeit verließ man<br />
<strong>di</strong>e schönen Versammlungen in den geheimnißvollen Kirchen, <strong>di</strong>e mit ermunternden Bildern geschmückt, mit süßen<br />
Düften erfüllt, und von heiliger erhebender Musik belebt waren. In ihnen wurden <strong>di</strong>e geweihten Reste ehemaliger<br />
gottesfürchtiger Menschen dankbar, in köstlichen Behältnissen aufbewahrt. – Und an ihnen offenbahrte sich <strong>di</strong>e<br />
göttliche Güte und Allmacht, <strong>di</strong>e mächtige Wohlthätigkeit <strong>di</strong>eser glücklichen Frommen, durch herrliche Wunder und<br />
Zeichen. So bewahren liebende Seelen, Locken oder Schriftzüge ihrer verstorbenen Geliebten, und nähren <strong>di</strong>e süße Glut<br />
damit, bis an den wiedervereinigenden Tod. Man sammelte mit inniger Sorgfalt überall was <strong>di</strong>esen geliebten Seelen<br />
angehört hatte, und jeder pries sich glücklich der eine so tröstliche Reliquie erhalten oder nur berühren konnte. Hin und<br />
11
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A NOVALIS<br />
wieder schien sich <strong>di</strong>e himmlische Gnade vorzü<strong>gli</strong>ch auf ein seltsames Bild, oder einen Grabhügel niedergelassen zu<br />
haben. – Dorthin strömten aus allen Gegenden Menschen mit schönen Gaben und brachten himmlische<br />
Gegengeschenke: Frieden der Seele und Gesundheit des Leibes, zurück. Aemsig suchte, <strong>di</strong>ese mächtige friedenstiftende<br />
Gesellschaft, alle Menschen <strong>di</strong>eses schönen Glaubens theilhaftig zu machen und sandte ihre Genossen, in alle<br />
Welttheile, um überall das Evangelium des Lebens zu verkün<strong>di</strong>gen, und das Himmelreich zum einzigen Reiche auf<br />
<strong>di</strong>eser Welt zu machen. Mit Recht widersetzte sich das weise Oberhaupt der Kirche, frechen Ausbildungen<br />
menschlicher Anlagen auf Kosten des heiligen Sinns, und unzeitigen gefährlichen Entdeckungen, im Gebiete des<br />
Wissens. So wehrte er den kühnen Denkern öffentlich zu behaupten, daß <strong>di</strong>e Erde ein unbedeutender Wandelstern sey,<br />
denn er wußte wohl, daß <strong>di</strong>e Menschen mit der Achtung für ihren Wohnsitz und ihr ir<strong>di</strong>sches Vaterland, auch <strong>di</strong>e<br />
Achtung vor der himmlischen Heimath und ihrem Geschlecht verlieren, und das eingeschränkte Wissen dem<br />
unendlichen Glauben vorziehn und sich gewöhnen würden alles Große und Wunderwür<strong>di</strong>ge zu verachten, und als todte<br />
Gesetzwirkung zu betrachten. An seinem Hofe versammelten sich alle klugen und ehrwür<strong>di</strong>gen Menschen aus Europa.<br />
Alle Schätze flossen dahin, das zerstörte Jerusalem hatte sich gerächt, und Rom selbst war Jerusalem, <strong>di</strong>e heilige<br />
Residenz der göttlichen Regierung auf Erden geworden. Fürsten legten ihre Streitigkeiten dem Vater der Christenheit<br />
vor, willig ihm ihre Kronen und ihre Herrlichkeit zu Füßen, ja sie achteten es sich zum Ruhm, als Mit<strong>gli</strong>eder <strong>di</strong>eser<br />
hohen Zunft, den Abend ihres Lebens in göttlichen Betrachtungen zwischen einsamen Klostermauern zu beschließen.<br />
Wie wohlthätig, wie angemessen, der innern Natur der Menschen, <strong>di</strong>ese Regierung, <strong>di</strong>ese Einrichtung war, zeigte das<br />
gewaltige Emporstreben, aller andern menschlichen Kräfte, <strong>di</strong>e harmonische Entwicklung aller Anlagen; <strong>di</strong>e ungeheure<br />
Höhe, <strong>di</strong>e einzelne Menschen in allen Fächern der Wissenschaften des Lebens und der Künste erreichten und der<br />
überall blühende Handelsverkehr mit geistigen und ir<strong>di</strong>schen Waaren, in dem Umkreis von Europa und bis in das<br />
fernste In<strong>di</strong>en hinaus. –<br />
Das waren <strong>di</strong>e schönen wesentlichen Züge der ächtkatholischen oder ächt christlichen Zeiten. Noch war <strong>di</strong>e<br />
Menschheit für <strong>di</strong>eses herrliche Reich nicht reif, nicht gebildet genug. Es war eine erste Liebe, <strong>di</strong>e im Drucke des<br />
Geschäftlebens entschlummerte, deren Andenken durch eigennützige Sorgen verdrängt, und deren Band nachher als<br />
Trug und Wahn ausgeschrien und nach spätern Erfahrungen beurtheilt, – auf immer von einem großen Theil der<br />
Europäer zerrissen wurde.<br />
[...]<br />
Die Christenheit muß wieder leben<strong>di</strong>g und wirksam werden, und sich wieder ein[e] sichtbare Kirche ohne Rücksicht auf<br />
Landesgränzen bilden, <strong>di</strong>e alle nach dem Ueberir<strong>di</strong>schen durstige Seelen in ihren Schooß aufnimmt und gern<br />
Vermittlerin, der alten und neuen Welt wird.<br />
Sie muß das alte Füllhorn des Seegens wieder über <strong>di</strong>e Völker ausgießen. Aus dem heiligen Schooße eines<br />
ehrwür<strong>di</strong>gen europäischen Consiliums wird <strong>di</strong>e Christenheit aufstehn, und das Geschäft der Religionserweckung, nach<br />
einem allumfassenden, göttlichem Plane betrieben werden. Keiner wird dann mehr protestiren gegen christlichen und<br />
weltlichen Zwang, denn das Wesen der Kirche wird ächte Freiheit seyn, und alle nöthigen Reformen werden unter der<br />
Leitung derselben, als friedliche und förmliche Staatsprozesse betrieben werden.<br />
Wann und wann eher? darnach ist nicht zu fragen. Nur Geduld, sie wird, sie muß kommen <strong>di</strong>e heilige Zeit des<br />
ewigen Friedens, wo das neue Jerusalem <strong>di</strong>e Hauptstadt der Welt seyn wird; und bis dahin seyd heiter und muthig in<br />
den Gefahren der Zeit, Genossen meines Glaubens, verkün<strong>di</strong>gt mit Wort und That das göttliche Evangelium, und bleibt<br />
dem wahrhaften, unendlichen Glauben treu bis in den Tod.<br />
12
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A NOVALIS<br />
Hymnen an <strong>di</strong>e Nacht<br />
(Erstdruck 1800; Auszug: 5. Hymne)<br />
5.<br />
Über der Menschen weitverbreitete Stämme herrschte vor Zeiten ein eisernes Schicksal mit stummer Gewalt. Eine dunkle,<br />
schwere Binde lag um ihre bange Seele – Unendlich war <strong>di</strong>e Erde – der Götter Aufenthalt, und ihre Heymath. Seit Ewigkeiten<br />
stand ihr geheimnißvoller Bau. Ueber des Morgens rothen Bergen, in des Meeres heiligem Schooß wohnte <strong>di</strong>e Sonne, das<br />
allzündende, leben<strong>di</strong>ge Licht.<br />
Ein alter Riese trug <strong>di</strong>e selige Welt. Fest unter Bergen lagen <strong>di</strong>e Ursöhne der Mutter Erde. Ohnmächtig in ihrer<br />
zerstörenden Wuth gegen das neue herrliche Göttergeschlecht und dessen Verwandten, <strong>di</strong>e fröhlichen Menschen. Des Meers<br />
dunkle, grüne Tiefe war einer Göttin Schooß. In den krystallenen Grotten schwelgte ein üppiges Volk. Flüsse, Bäume,<br />
Blumen und Thiere hatten menschlichen Sinn. Süßer schmeckte der Wein von sichtbarer Jugendfülle geschenkt – ein Gott in<br />
den Trauben – eine liebende, mütterliche Göttin, empor wachsend in vollen goldenen Garben – der Liebe heilger Rausch ein<br />
süßer Dienst der schönsten Götterfrau – ein ewig buntes Fest der Himmelskinder und der Erdbewohner rauschte das Leben,<br />
wie ein Frühling, durch <strong>di</strong>e Jahrhunderte hin – Alle Geschlechter verehrten kindlich <strong>di</strong>e zarte, tausendfältige Flamme, als das<br />
höchste der Welt. Ein Gedanke nur war es, Ein entsetzliches Traumbild,<br />
Das furchtbar zu den frohen Tischen trat<br />
Und das Gemüth in wilde Schrecken hüllte.<br />
Hier wußten selbst <strong>di</strong>e Götter keinen Rath<br />
Der <strong>di</strong>e beklommne Brust mit Trost erfüllte.<br />
Geheimnißvoll war <strong>di</strong>eses Unholds Pfad<br />
Des Wuth kein Flehn und keine Gabe stillte;<br />
Es war der Tod, der <strong>di</strong>eses Lustgelag<br />
Mit Angst und Schmerz und Thränen unterbrach.<br />
Auf ewig nun von allem abgeschieden,<br />
Was hier das Herz in süßer Wollust regt,<br />
Getrennt von den Geliebten, <strong>di</strong>e hienieden<br />
Vergebne Sehnsucht, langes Weh bewegt,<br />
Schien matter Traum dem Todten nur beschieden,<br />
Ohnmächtiges Ringen nur ihm auferlegt.<br />
Zerbrochen war <strong>di</strong>e Woge des Genusses<br />
Am Felsen des unendlichen Verdrusses.<br />
Mit kühnem Geist und hoher Sinnenglut<br />
Verschönte sich der Mensch <strong>di</strong>e grause Larve,<br />
Ein sanfter Jün<strong>gli</strong>ng löscht das Licht und ruht –<br />
Sanft wird das Ende, wie ein Wehn der Harfe.<br />
Erinnerung schmilzt in kühler Schattenflut,<br />
So sang das Lied dem traurigen Bedarfe.<br />
Doch unenträthselt blieb <strong>di</strong>e ewge Nacht,<br />
Das ernste Zeichen einer fernen Macht.<br />
Zu Ende neigte <strong>di</strong>e alte Welt sich. Des jungen Geschlechts Lustgarten verwelkte – hinauf in den freyeren, wüsten Raum<br />
strebten <strong>di</strong>e unkindlichen, wachsenden Menschen. Die Götter verschwanden mit ihrem Gefolge – Einsam und leblos stand <strong>di</strong>e<br />
Natur. Mit eiserner Kette band sie <strong>di</strong>e dürre Zahl und das strenge Maaß. Wie in Staub und Lüfte zerfiel in dunkle Worte <strong>di</strong>e<br />
unermeßliche Blüthe des Lebens. Entflohn war der beschwörende Glauben, und <strong>di</strong>e allverwandelnde, allverschwisternde<br />
Himmelsgenossin, <strong>di</strong>e Fantasie. Unfreundlich blies ein kalter Nordwind über <strong>di</strong>e erstarrte Flur, und <strong>di</strong>e erstarrte<br />
Wunderheymath verflog in den Aether. Des Himmels Fernen füllten mit leuchtenden Welten sich. Ins tiefre Heiligthum, in<br />
des Gemüths höhern Raum zog mit ihren Mächten <strong>di</strong>e Seele der Welt – zu walten dort bis zum Anbruch der tagenden<br />
Weltherrlichkeit. Nicht mehr war das Licht der Götter Aufenthalt und himmlisches Zeichen – den Schleyer der Nacht warfen<br />
sie über sich. Die Nacht ward der Offenbarungen mächtiger Schoos – in ihn kehrten <strong>di</strong>e Götter zurück – schlummerten ein,<br />
um in neuen herrlichern Gestalten auszugehn über <strong>di</strong>e veränderte Welt. Im Volk, das vor allen verachtet zu früh reif und der<br />
seligen Unschuld der Jugend trotzig fremd geworden war, erschien mit niegesehenem Angesicht <strong>di</strong>e neue Welt – In der<br />
Armuth <strong>di</strong>chterischer Hütte – Ein Sohn der ersten Jungfrau und Mutter – Geheimnißvoller Umarmung unendliche Frucht. Des<br />
Morgenlands ahndende, blüt[h]enreiche Weisheit erkannte zuerst der neuen Zeit Beginn – Zu des Königs demüthiger Wiege<br />
wies ihr ein Stern den Weg. In der weiten Zukunft Namen hul<strong>di</strong>gten sie ihm mit Glanz und Duft, den höchsten Wundern der<br />
Natur. Einsam entfaltete das himmlische Herz sich zu einem Blüthenkelch allmächtger Liebe – des Vaters hohem Antlitz<br />
zugewandt und ruhend an dem ahndungsselgen Busen der lieblich ernsten Mutter. Mit vergötternder Inbrunst schaute das<br />
weissagende Auge des blühenden Kindes auf <strong>di</strong>e Tage der Zukunft, nach seinen Geliebten, den Sprossen seines<br />
Götterstamms, unbekümmert über seiner Tage ir<strong>di</strong>sches Schicksal. Bald sammelten <strong>di</strong>e kindlichsten Gemüther von inniger<br />
Liebe wundersam ergriffen sich um ihn her. Wie Blumen keimte ein neues fremdes Leben in seiner Nähe. Unerschöpfliche<br />
Worte und der Botschaften fröhlichste fielen wie Funken eines göttlichen Geistes von seinen freundlichen Lippen. Von ferner<br />
Küste, unter Hellas heiterm Himmel geboren, kam ein Sänger nach Palästina und ergab sein ganzes Herz dem Wunderkinde:<br />
13
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A NOVALIS<br />
Der Jün<strong>gli</strong>ng bist du, der seit langer Zeit<br />
Auf unsern Gräbern steht in tiefen Sinnen;<br />
Ein tröstlich Zeichen in der Dunkelheit –<br />
Der höhern Menschheit freu<strong>di</strong>ges Beginnen.<br />
Was uns gesenkt in tiefe Traurigkeit<br />
Zieht uns mit süßer Sehnsucht nun von hinnen.<br />
Im Tode ward das ewge Leben kund,<br />
Du bist der Tod und machst uns erst gesund.<br />
Der Sänger zog voll Freu<strong>di</strong>gkeit nach Indostan – das Herz von süßer Liebe trunken; und schüttete in feurigen Gesängen es<br />
unter jenem milden Himmel aus, daß tausend Herzen sich zu ihm neigten, und <strong>di</strong>e fröhliche Botschaft tausendzweigig<br />
emporwuchs. Bald nach des Sängers Abschied ward das köstliche Leben ein Opfer des menschlichen tiefen Verfalls – Er starb<br />
in jungen Jahren, weggerissen von der geliebten Welt, von der weinenden Mutter und seinen zagenden Freunden. Der<br />
unsä<strong>gli</strong>chen Leiden dunkeln Kelch leerte der liebliche Mund – In entsetzlicher Angst nahte <strong>di</strong>e Stunde der Geburt der neuen<br />
Welt. Hart rang er mit des alten Todes Schrecken – Schwer lag der Druck der alten Welt auf ihm. Noch einmal sah er<br />
freundlich nach der Mutter – da kam der ewigen Liebe lösende Hand – und er entschlief.<br />
Nur wenig Tage hing ein tiefer Schleyer über das brausende Meer, über das bebende Land – unzählige Thränen<br />
weinten <strong>di</strong>e Geliebten – Entsiegelt ward das Geheimniß – himmlische Geister hoben den uralten Stein vom dunkeln Grabe.<br />
Engel saßen bey dem Schlummernden – aus seinen Träumen zartgebildet – Erwacht in neuer Götterherrlichkeit erstieg er <strong>di</strong>e<br />
Höhe der neugebornen Welt – begrub mit eigner Hand der Alten Leichnam in <strong>di</strong>e verlaßne Höhle, und legte mit allmächtiger<br />
Hand den Stein, den keine Macht erhebt, darauf.<br />
Noch weinen deine Lieben Thränen der Freude, Thränen der Rührung und des unendlichen Danks an deinem Grabe<br />
– sehn <strong>di</strong>ch noch immer, freu<strong>di</strong>g erschreckt, auferstehn – und sich mit <strong>di</strong>r; sehn <strong>di</strong>ch weinen mit süßer Inbrunst an der Mutter<br />
seligem Busen, ernst mit den Freunden wandeln, Worte sagen, wie vom Baum des Lebens gebrochen; sehen <strong>di</strong>ch eilen mit<br />
voller Sehnsucht in des Vaters Arm, bringend <strong>di</strong>e junge Menschheit, und der goldnen Zukunft unversie<strong>gli</strong>chen Becher. Die<br />
Mutter eilte bald <strong>di</strong>r nach – in himmlischem Triumf – Sie war <strong>di</strong>e Erste in der neuen Heymath bey <strong>di</strong>r. Lange Zeiten<br />
entflossen seitdem, und in immer höherm Glanze regte deine neue Schöpfung sich – und tausende zogen aus Schmerzen und<br />
Qualen, voll Glauben und Sehnsucht und Treue <strong>di</strong>r nach – wallen mit <strong>di</strong>r und der himmlischen Jungfrau im Reiche der Liebe –<br />
<strong>di</strong>enen im Tempel des himmlischen Todes und sind in Ewigkeit dein.<br />
Gehoben ist der Stein –<br />
Die Menschheit ist erstanden –<br />
Wir alle bleiben dein<br />
Und fühlen keine Banden.<br />
Der herbste Kummer fleucht<br />
Vor deiner goldnen Schaale,<br />
Wenn Erd und Leben weicht<br />
Im letzten Abendmahle.<br />
Zur Hochzeit ruft der Tod –<br />
Die Lampen brennen helle –<br />
Die Jungfraun sind zur Stelle –<br />
Um Oel ist keine Noth –<br />
Erklänge doch <strong>di</strong>e Ferne<br />
Von deinem Zuge schon,<br />
Und ruften uns <strong>di</strong>e Sterne<br />
Mit Menschenzung' und Ton.<br />
Nach <strong>di</strong>r, Maria, heben<br />
Schon tausend Herzen sich.<br />
In <strong>di</strong>esem Schattenleben<br />
Verlangten sie nur <strong>di</strong>ch.<br />
Sie hoffen zu genesen<br />
Mit ahndungsvoller Lust –<br />
Drückst du sie, heilges Wesen,<br />
An deine treue Brust.<br />
So manche, <strong>di</strong>e sich glühend<br />
In bittrer Qual verzehrt<br />
Und <strong>di</strong>eser Welt entfliehend<br />
Nach <strong>di</strong>r sich hingekehrt;<br />
14<br />
Die hülfreich uns erschienen<br />
In mancher Noth und Pein –<br />
Wir kommen nun zu ihnen<br />
Um ewig da zu seyn.<br />
Nun weint an keinem Grabe,<br />
Für Schmerz, wer liebend glaubt,<br />
Der Liebe süße Habe<br />
Wird keinem nicht geraubt –<br />
Die Sehnsucht ihm zu lindern,<br />
Begeistert ihn <strong>di</strong>e Nacht –<br />
Von treuen Himmelskindern<br />
Wird ihm sein Herz bewacht.<br />
Getrost, das Leben schreitet<br />
Zum ewgen Leben hin;<br />
Von innrer Glut geweitet<br />
Verklärt sich unser Sinn.<br />
Die Sternwelt wird zerfließen<br />
Zum goldnen Lebenswein,<br />
Wir werden sie genießen<br />
Und lichte Sterne seyn.<br />
Die Lieb' ist frey gegeben,<br />
Und keine Trennung mehr.<br />
Es wogt das volle Leben<br />
Wie ein unendlich Meer.<br />
Nur Eine Nacht der Wonne –<br />
Ein ewiges Ge<strong>di</strong>cht –<br />
Und unser aller Sonne<br />
Ist Gottes Angesicht.
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A NOVALIS<br />
Das Lied der Toten<br />
(Aus den Plänen zur Fortsetzung des Heinrich von Ofter<strong>di</strong>ngen; Entstehung 1799-1800; Erstdruck 1802)<br />
Lobt doch unsre stillen Feste,<br />
Unsre Gärten, unsre Zimmer,<br />
Das bequeme Hausgeräthe,<br />
Unser Hab' und Gut.<br />
Tä<strong>gli</strong>ch kommen neue Gäste,<br />
Diese früh, <strong>di</strong>e andern späte,<br />
Auf den weiten Heerden immer<br />
Lodert neue Lebens-Glut.<br />
Tausend zierliche Gefäße<br />
Einst bethaut mit tausend Thränen,<br />
Goldne Ringe, Sporen, Schwerdter,<br />
Sind in unserm Schatz:<br />
Viel Kleino<strong>di</strong>en und Juwelen<br />
Wissen wir in dunkeln Hölen,<br />
Keiner kann den Reichthum zählen,<br />
Zählt' er auch ohn' Unterlaß.<br />
Kinder der Vergangenheiten,<br />
Helden aus den grauen Zeiten,<br />
Der Gestirne Riesengeister,<br />
Wunderlich gesellt,<br />
Holde Frauen, ernste Meister,<br />
Kinder und verlebte Greise<br />
Sitzen hier in Einem Kreise,<br />
Wohnen in der alten Welt.<br />
Keiner wird sich je beschweren,<br />
Keiner wünschen fort zu gehen,<br />
Wer an unsern vollen Tischen<br />
Einmal fröhlich saß.<br />
Klagen sind nicht mehr zu hören,<br />
Keine Wunder mehr zu sehen,<br />
Keine Thränen abzuwischen;<br />
Ewig läuft das Stundenglas.<br />
Tiefgerührt von heilger Güte<br />
Und versenkt in selges Schauen<br />
Steht der Himmel im Gemüthe,<br />
Wolkenloses Blau;<br />
Lange fliegende Gewande<br />
Tragen uns durch Frühlingsauen,<br />
Und es weht in <strong>di</strong>esem Lande<br />
Nie ein Lüftchen kalt und rauh.<br />
Süßer Reitz der Mitternächte,<br />
Stiller Kreis geheimer Mächte,<br />
Wollust räthselhafter Spiele,<br />
Wir nur kennen euch.<br />
Wir nur sind am hohen Ziele,<br />
Bald in Strom uns zu ergießen<br />
Dann in Tropfen zu zerfließen<br />
Und zu nippen auch zugleich.<br />
Uns ward erst <strong>di</strong>e Liebe, Leben;<br />
Innig wie <strong>di</strong>e Elemente<br />
Mischen wir des Daseyns Fluten,<br />
Brausend Herz mit Herz.<br />
Lüstern scheiden sich <strong>di</strong>e Fluten,<br />
Denn der Kampf der Elemente<br />
Ist der Liebe höchstes Leben,<br />
Und des Herzens eignes Herz.<br />
Leiser Wünsche süßes Plaudern<br />
Hören wir allein, und schauen<br />
Immerdar in selge Augen,<br />
Schmecken nichts als Mund und Kuß.<br />
Alles was wir nur berühren<br />
Wird zu heißen Balsamfrüchten,<br />
Wird zu weichen zarten Brüsten,<br />
Opfern kühner Lust.<br />
Immer wächst und blüht Verlangen<br />
Am Geliebten festzuhangen,<br />
Ihn im Innern zu empfangen,<br />
Einst mit ihm zu seyn,<br />
Seinem Durste nicht zu wehren,<br />
Sich im Wechsel zu verzehren,<br />
Von einander sich zu nähren,<br />
Von einander nur allein.<br />
So in Lieb' und hoher Wollust<br />
Sind wir immerdar versunken,<br />
Seit der wilde trübe Funken<br />
Jener Welt erlosch;<br />
Seit der Hügel sich geschlossen,<br />
Und der Scheiterhaufen sprühte,<br />
Und dem schauernden Gemüthe<br />
Nun das Erdgesicht zerfloß.<br />
15<br />
Zauber der Erinnerungen,<br />
Heilger Wehmuth süße Schauer<br />
Haben innig uns durchklungen,<br />
Kühlen unsre Gluth.<br />
Wunden giebt's, <strong>di</strong>e ewig schmerzen,<br />
Eine göttlich tiefe Trauer<br />
Wohnt in unser aller Herzen,<br />
Löst uns auf in Eine Flut.<br />
Und in <strong>di</strong>eser Flut ergießen<br />
Wir uns auf geheime Weise<br />
In den Ozean des Lebens<br />
Tief in Gott hinein;<br />
Und aus seinem Herzen fließen<br />
Wir zurück zu unserm Kreise,<br />
Und der Geist des höchsten Strebens<br />
Taucht in unsre Wirbel ein.<br />
Schüttelt eure goldnen Ketten<br />
Mit Smaragden und Rubinen,<br />
Und <strong>di</strong>e blanken saubern Spangen,<br />
Blitz und Klang zugleich.<br />
Aus des feuchten Abgrunds Betten,<br />
Aus den Gräbern und Ruinen,<br />
Himmelsrosen auf den Wangen<br />
Schwebt in's bunte Fabelreich.<br />
Könnten doch <strong>di</strong>e Menschen wissen,<br />
Unsre künftigen Genossen,<br />
Daß bei allen ihren Freuden<br />
Wir geschäftig sind:<br />
Jauchzend würden sie verscheiden,<br />
Gern das bleiche Daseyn missen, –<br />
O! <strong>di</strong>e Zeit ist bald verflossen,<br />
Kommt Geliebte doch geschwind!<br />
Helft uns nur den Erdgeist binden,<br />
Lernt den Sinn des Todes fassen<br />
Und das Wort des Lebens finden;<br />
Einmal kehrt euch um.<br />
Die Macht muß bald verschwinden,<br />
Dein erborgtes Licht verlassen,<br />
Werden <strong>di</strong>ch in kurzem binden,<br />
Erdgeist, deine Zeit ist um.
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A BONAVENTURA<br />
BONAVENTURA (August Klingemann; 1777-1831)<br />
Nachtwachen<br />
(Erstdruck 1805; Auszug)<br />
Erste Nachtwache<br />
Die Nachtstunde schlug; ich hüllte mich in meine abenteuerliche Vermummung, nahm <strong>di</strong>e Pike und das Horn zur Hand,<br />
ging in <strong>di</strong>e Finsterniß hinaus und rief <strong>di</strong>e Stunde ab, nachdem ich mich durch ein Kreuz gegen <strong>di</strong>e bösen Geister<br />
geschützt hatte.<br />
Es war eine von jenen unheimlichen Nächten, wo Licht und Finsterniß schnell und seltsam mit einander<br />
abwechselten. Am Himmel flogen <strong>di</strong>e Wolken, vom Winde getrieben, wie wunderliche Riesenbilder vorüber, und der<br />
Mond erschien und verschwand im raschen Wechsel. Unten in den Straßen herrschte Todtenstille, nur hoch oben in der<br />
Luft hauste der Sturm, wie ein unsichtbarer Geist.<br />
Es war mir schon recht, und ich freute mich über meinen einsam wiederhallenden Fußtritt, denn ich kam mir<br />
unter den vielen Schläfern vor wie der Prinz im Mährchen in der bezauberten Stadt, wo eine böse Macht jedes lebende<br />
Wesen in Stein verwandelt hatte; oder wie ein einzig Übriggebliebener nach einer allgemeinen Pest oder Sündfluth.<br />
Der letzte Vergleich machte mich schaudern, und ich war froh ein einzelnes mattes Lämpchen noch hoch oben<br />
über der Stadt auf einem freien Dachkämmerchen brennen zu sehen.<br />
Ich wußte wohl, wer da so hoch in den Lüften regierte; es war ein verunglückter Poet, der nur in der Nacht<br />
wachte, weil dann seine Gläubiger schliefen, und <strong>di</strong>e Musen allein nicht zu den letzten gehörten.<br />
Ich konnte mich nicht entbrechen folgende Standrede an ihn zu halten:<br />
»O du, der du da oben <strong>di</strong>ch herumtreibst, ich verstehe <strong>di</strong>ch wohl, denn ich war einst deinesgleichen! Aber ich<br />
habe <strong>di</strong>ese Beschäftigung aufgegeben gegen ein ehrliches Handwerk, das seinen Mann ernährt, und das für denjenigen,<br />
der sie darin aufzufinden weiß, doch keinesweges ganz ohne Poesie ist. Ich bin <strong>di</strong>r gleichsam wie ein satirischer Stentor<br />
in den Weg gestellt und unterbreche deine Träume von Unsterblichkeit, <strong>di</strong>e du da oben in der Luft träumst, hier unten<br />
auf der Erde regelmäßig durch <strong>di</strong>e Erinnerung an <strong>di</strong>e Zeit und Vergän<strong>gli</strong>chkeit. Nachtwächter sind wir zwar beide;<br />
schade nur daß <strong>di</strong>r deine Nachtwachen in <strong>di</strong>eser kalt prosaischen Zeit nichts einbringen, indeß <strong>di</strong>e meinigen doch immer<br />
ein Übriges abwerfen. Als ich noch in der Nacht poesirte, wie du, mußte ich hungern, wie du, und sang tauben Ohren;<br />
das letzte thue ich zwar noch jetzt, aber man bezahlt mich dafür. O Freund Poet, wer jezt leben will, der darf nicht<br />
<strong>di</strong>chten! Ist <strong>di</strong>r aber das Singen angebohren, und kannst du es durchaus nicht unterlassen, nun so werde Nachtwächter,<br />
wie ich, das ist noch der einzige solide Posten wo es bezahlt wird, und man <strong>di</strong>ch nicht dabei verhungern läßt. – Gute<br />
Nacht, Bruder Poet.«<br />
Ich blickte noch einmal hinauf, und gewahrte seinen Schatten an der Wand, er war in einer tragischen Stellung<br />
begriffen, <strong>di</strong>e eine Hand in den Haaren, <strong>di</strong>e andre hielt das Blatt, von dem er wahrscheinlich seine Unsterblichkeit sich<br />
vorrezitirte.<br />
Ich stieß ins Horn, rief ihm laut <strong>di</strong>e Zeit zu, und ging meiner Wege. –<br />
Halt! dort wacht ein Kranker – auch in Träumen, wie der Poet, in wahren Fieberträumen!<br />
Der Mann war ein Freigeist von jeher, und er hält sich stark in seiner letzten Stunde, wie Voltaire. Da sehe ich<br />
ihn durch den Einschnitt im Fensterladen; er schaut blaß und ruhig in das leere Nichts, wohin er nach einer Stunde<br />
einzugehen gedenkt, um den traumlosen Schlaf auf immer zu schlafen. Die Rosen des Lebens sind von seinen Wangen<br />
abgefallen, aber sie blühen rund um ihn auf den Gesichtern dreier holder Knaben. Der jüngste droht ihm kindlich<br />
unwissend in das blasse starre Antlitz, weil es nicht mehr lächeln will, wie sonst. Die andern beiden stehen ernst<br />
betrachtend, sie können sich den Tod noch nicht denken in ihrem frischen Leben.<br />
Das junge Weib dagegen mit aufgelößtem Haar und offner schöner Brust, blickt verzweifelnd in <strong>di</strong>e schwarze<br />
Gruft, und wischt nur dann und wann den Schweiß, wie mechanisch von der kalten Stirn des Sterbenden.<br />
Neben ihm steht, glühend vor Zorn, der Pfaff mit aufgehobenem Kruzifixe, den Freigeist zu bekehren. Seine<br />
Rede schwillt mächtig an wie ein Strom, und er mahlt das Jenseits in kühnen Bildern; aber nicht das schöne Morgenroth<br />
des neuen Tages und <strong>di</strong>e aufblühenden Lauben und Engel, sondern, wie ein wilder Höllenbreugel, <strong>di</strong>e Flammen und<br />
Abgründe und <strong>di</strong>e ganze schaudervolle Unterwelt des Dante.<br />
Vergebens! der Kranke bleibt stumm und starr, er sieht mit einer fürchterlichen Ruhe ein Blatt nach dem<br />
andern abfallen, und fühlt wie sich <strong>di</strong>e kalte Eisrinde des Todes höher und höher zum Herzen hinaufzieht.<br />
Der Nachtwind pfiff mir durch <strong>di</strong>e Haare und schüttelte <strong>di</strong>e morschen Fensterladen, wie ein unsichtbarer<br />
herannahender Todesgeist. Ich schauderte, der Kranke blickte plötzlich kräftig um sich, als gesundete er rasch durch ein<br />
Wunder und fühlte neues höheres Leben. Dieses schnelle leuchtende Auflodern der schon verlöschenden Flamme, der<br />
sichere Vorbote des nahen Todes, wirft zugleich ein glänzendes Licht in das vor dem Sterbenden aufgestellte<br />
Nachtstück, und leuchtet rasch und auf einen Augenblick in <strong>di</strong>e <strong>di</strong>chterische Frühlingswelt des Glaubens und der<br />
Poesie. Sie ist <strong>di</strong>e doppelte Beleuchtung in der Corregios Nacht, und verschmilzt den ir<strong>di</strong>schen und himmlischen Strahl<br />
zu Einem wunderbaren Glanze.<br />
Der Kranke wieß <strong>di</strong>e höhere Hoffnung fest und entschieden zurück, und führte dadurch einen großen Moment<br />
herbei. Der Pfaff donnerte ihm zornig in <strong>di</strong>e Seele und mahlte jezt mit Flammenzügen wie ein Verzweifelnder, und<br />
bannte den ganzen Tartarus herauf in <strong>di</strong>e letzte Stunde des Sterbenden. Dieser lächelte nur und schüttelte den Kopf.<br />
16
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A BONAVENTURA<br />
Ich war in <strong>di</strong>esem Augenblicke seiner Fortdauer gewiß; denn nur das endliche Wesen kann den Gedanken der<br />
Vernichtung nicht denken, während der unsterbliche Geist nicht vor ihr zittert, der sich, ein freies Wesen, ihr frei opfern<br />
kann, wie sich <strong>di</strong>e In<strong>di</strong>schen Weiber kühn in <strong>di</strong>e Flammen stürzen, und der Vernichtung weihen.<br />
Ein wilder Wahnsinn schien bei <strong>di</strong>esem Anblicke den Pfaffen zu ergreifen, und getreu seinem Karakter redete<br />
er jezt, indem ihm das Beschreiben zu ohnmächtig erschien, in der Person des Teufels selbst, der ihm am nächsten lag.<br />
Er drückte sich wie ein Meister darin aus, ächt teufelisch im kühnsten Style, und fern von der schwachen Manier des<br />
modernen Teufels.<br />
Dem Kranken wurde es zu arg. Er wendete sich finster weg, und blickte <strong>di</strong>e drei Frühlingsrosen an, <strong>di</strong>e um sein<br />
Bette blüheten. Da loderte <strong>di</strong>e ganze heiße Liebe zum letztenmale in seinem Herzen auf, und über das blasse Antlitz<br />
flog ein leichtes Roth, wie eine Erinnerung. Er ließ sich <strong>di</strong>e Knaben reichen, und küßte sie mit Anstrengung, dann legte<br />
er das schwere Haupt an <strong>di</strong>e hochwallende Brust des Weibes, stieß ein leises, Ach! aus, das mehr Wollust als Schmerz<br />
schien, und entschlief liebend im Arm der Liebe.<br />
Der Pfaff seiner Teufelsrolle getreu, donnerte ihm, der Bemerkung gemäß, daß das Gehör bei Verstorbenen<br />
noch eine längere Zeit reizbar bleibt, in <strong>di</strong>e Ohren, und versprach ihm in seinem eigenen Namen fest und bün<strong>di</strong>g, daß<br />
der Teufel nicht nur seine Seele, sondern auch seinen Leib abfodern würde.<br />
Somit stürzte er fort, und hinaus auf <strong>di</strong>e Gasse. Ich war verwirrt worden, hielt ihn in der Täuschung wahrhaft<br />
für den Teufel, und sezte ihm, als er an mir vorüberfahren wollte, <strong>di</strong>e Pike auf <strong>di</strong>e Brust. »Geh zum Teufel!« sagte er<br />
schnaubend, da besann ich mich und sagte: »Verzeiht, Hochwür<strong>di</strong>ger, ich hielt euch in einer Art Besessenheit für ihn<br />
selbst, und sezte euch deshalb <strong>di</strong>e Pike, als ein »Gott sei bei uns!« aufs Herz. Haltet mir's <strong>di</strong>esmal zu Gute!«<br />
Er stürzte fort.<br />
Ach! dort im Zimmer war <strong>di</strong>e Szene lieblicher worden. Das schöne Weib hielt den blassen Geliebten still in<br />
ihren Armen, wie einen Schlummernden; in schöner Unwissenheit ahnte sie den Tod noch nicht, und glaubte, daß ihn<br />
der Schlaf zum neuen Leben stärken werde – ein holder Glaube, der im höhern Sinne sie nicht täuschte. Die Kinder<br />
knieten ernst am Bette, und nur der jüngste bemühete sich den Vater zu wecken, während <strong>di</strong>e Mutter, ihm schweigend<br />
mit den Augen zuwinkend, <strong>di</strong>e Hand auf sein umlocktes Haupt legte.<br />
Die Szene war zu schön; ich wandte mich weg, um den Augenblick nicht zu schauen, in dem <strong>di</strong>e Täuschung<br />
schwände.<br />
Mit gedämpfter Stimme sang ich einen Sterbegesang unter dem Fenster, um in dem noch hörenden Ohre den<br />
Feuerruf des Mönchs durch leise Töne zu verdrängen. Den Sterbenden ist <strong>di</strong>e Musik verschwistert, sie ist der erste süße<br />
Laut vom fernen Jenseits, und <strong>di</strong>e Muse des Gesanges ist <strong>di</strong>e mystische Schwester, <strong>di</strong>e zum Himmel zeigt. So<br />
entschlummerte Jakob Böhme, indem er <strong>di</strong>e ferne Musik vernahm, <strong>di</strong>e Niemand, ausser dem Sterbenden hörte.<br />
17
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A BRENTANO<br />
Clemens BRENTANO (1778–1842)<br />
Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter<br />
(Erstdruck 1801-2; Auszug)<br />
Achtes Kapitel<br />
Wir waren alle durch Flamettens Lied bewegt. Godwi allein äußerte nichts Bestimmtes. Es schien mir überhaupt, als<br />
habe er ein ganz eigenes Instrument im Busen, und seine Rührung sei sich stets gleich. Er hat sein Leben einer schönen<br />
Erinnerung hingegeben, und was ihn rührt, schlägt <strong>di</strong>ese an, dennoch hat er ein gesundes originelles Urteil. Diese<br />
Originalität aber besteht aus einem einzigen großen Eindruck in seinem Inneren, von dem er immer seinem Urteil einen<br />
Klang mitgiebt und es so stempelt. Unsere Äußerungen über das Lied Flamettens führten uns zu einem allgemeinen<br />
Gespräche über das Romantische, und ich sagte:<br />
»Alles, was zwischen unserm Auge und einem entfernten zu Sehenden als Mittler steht, uns den entfernten<br />
Gegenstand nähert, ihm aber zugleich etwas von dem Seinigen mitgiebt, ist romantisch.«<br />
»Was liegt denn zwischen Ossian und seinen Darstellungen?« sagte Haber.<br />
»Wenn wir mehr wüßten,« erwiderte ich, »als daß eine Harfe dazwischenliegt, und <strong>di</strong>ese Harfe zwischen einem<br />
großen Herzen und seiner Schwermut, so wüßten wir des Sängers Geschichte und <strong>di</strong>e Geschichte seines Themas.«<br />
Godwi setzte hinzu: »Das Romantische ist also ein Perspectiv oder vielmehr <strong>di</strong>e Farbe des Glases und <strong>di</strong>e<br />
Bestimmung des Gegenstandes durch <strong>di</strong>e Form des Glases.«<br />
»So ist nach Ihnen also das Romantische gestaltlos,« sagte Haber, »ich meinte eher, es habe mehr Gestalt als<br />
das Antike, so, daß seine Gestalt allein schon, auch ohne Inhalt, heftig eindringt.«<br />
»Ich weiß nicht,« fuhr ich fort, »was Sie unter Gestalt verstehen. Das Ungestaltete hat freilich oft mehr Gestalt,<br />
als das Gestaltete vertragen kann; und um <strong>di</strong>eses Mehr hervorzubringen, dürften wir also der Venus nur ein Paar Höcker<br />
anbringen, um sie romantisch zu machen. Gestalt aber nenne ich <strong>di</strong>e richtige Begrenzung eines Gedachten.«<br />
»Ich möchte daher sagen,« setzte Godwi hinzu, »<strong>di</strong>e Gestalt selbst dürfe keine Gestalt haben, sondern sei nur<br />
das bestimmte Aufhören eines aus einem Punkte nach allen Seiten gleichmäßig hervordringenden Gedankens. Er sei<br />
nun ein Gedachtes in Stein, Ton, Farbe, Wort oder Gedanken.«<br />
»Es fällt mir ein Beispiel ein,« versetzte ich, »verzeihen Sie, daß es <strong>di</strong>e so sehr gewöhnliche Allegorie auf <strong>di</strong>e<br />
Eitelkeit der Welt ist. Nehmen Sie eine Seifenblase an, denken Sie, der innere Raum derselben sei ihr Gedanke, so ist<br />
ihre Ausdehnung dann <strong>di</strong>e Gestalt. Nun aber hat eine Seifenblase ein Moment in ihrer Ausdehnung, in der ihre<br />
Erscheinung und <strong>di</strong>e Ansicht derselben in vollkommner Harmonie stehen, ihre Form verhält sich dann zu dem Stoffe,<br />
zu ihrem innern Durchmesser nach allen Seiten und zu dem Lichte so, daß sie einen schönen Blick von sich giebt. Alle<br />
Farben der Umgebung in ihr schimmern, und sie selbst steht nun auf dem letzten Punkte ihrer Vollendung. Nun reißt sie<br />
sich von dem Strohhalme los, und schwebt durch <strong>di</strong>e Luft. Sie war das, was ich unter der Gestalt verstehe, eine<br />
Begrenzung, welche nur <strong>di</strong>e Idee festhält, und von sich selbst nichts spricht. Alles andere ist Ungestalt, entweder zu<br />
viel, oder zu wenig.«<br />
Hier versetzte Haber: »Also ist Tassos Befreites Jerusalem eine Ungestalt« –<br />
»Lieber Haber,« sagte ich, »Sie werden mich ärgern, wenn Sie mir nicht sagen, daß Sie mich entweder nicht<br />
verstehen, oder mich nicht ärgern wollen.«<br />
»Ärgern Sie sich nicht,« erwiderte er, »denn ich tue weder das eine, noch will ich das andere, aber mit Ihrer<br />
Ungestalt des Romantischen bin ich nicht zufrieden, und setzte Ihnen grade den Tasso entgegen, da ich ihn kenne, und<br />
leider nur zu sehr empfinde, wie scharf und bestimmt seine Gestalt ist. Das fühle ich nur zu sehr, da ich damit umgehe,<br />
ihn einstens zu übersetzen.«<br />
»Daß Sie es zu sehr fühlen, ist ein Beweis für mich«, sagte ich; »<strong>di</strong>e reine Gestalt fühlt man nicht zu sehr; und<br />
nehmen Sie sich in acht, daß Sie es auch den Leser Ihrer Übersetzung nicht zu sehr fühlen lassen, denn nach meiner<br />
Meinung ist jedes reine, schöne Kunstwerk, das seinen Gegenstand bloß darstellt, leichter zu übersetzen als ein<br />
romantisches, welches seinen Gegenstand nicht allein bezeichnet, sondern seiner Bezeichnung selbst noch ein Kolorit<br />
giebt, denn dem Übersetzer des Romantischen wird <strong>di</strong>e Gestalt der Darstellung selbst ein Kunstwerk, das er übersetzen<br />
soll. Nehmen Sie zum Beispiel eben den Tasso; mit was hat der neue rhythmische Übersetzer zu ringen? Entweder muß<br />
er <strong>di</strong>e Religiosität, den Ernst und <strong>di</strong>e Glut des Tasso selbst besitzen, und dann bitten wir ihn herzlich, lieber selbst zu<br />
erfinden; hat er <strong>di</strong>eses alles aber nicht, oder ist er gar mit Leib und Seele ein Protestant, so muß er sich erst ins<br />
Katholische übersetzen, und so muß er sich auch wieder geschichtlich in Tassos Gemüt und Sprache übersetzen, er muß<br />
entsetzlich viel übersetzen, ehe er an <strong>di</strong>e eigentliche Übersetzung selbst kömmt, denn <strong>di</strong>e romantischen Dichter haben<br />
mehr als bloße Darstellung, sie haben sich selbst noch stark.«<br />
[...]<br />
»Die Reime allein schon«, fuhr ich fort, »sind in unserer Sprache nur als Gereimtes wiederzugeben, und ja,<br />
sehen Sie, eben <strong>di</strong>ese Reime schon sind eine solche Gestalt der Gestalt, und wie wollen Sie das alles hervorbringen?<br />
Der italiänische Reim ist der Ton, aus dem das Ganze gespielt wird. Wird Ihr Reim denselben Ton haben? Ich glaube<br />
nicht, daß Sie ein solcher Musiker sind, der aus allen Tonarten und Schlüsseln auf ein andres Instrument übersetzen<br />
kann, ohne daß das Lied hie und da stillsteht und sich zu verwundern scheint, oder seiner innern Munterkeit nach aus<br />
Neugierde mitgeht und sich selbst in dem luftigen ästhetischen Rock, der hier zu eng und dort zu weit, überhaupt<br />
18
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A BRENTANO<br />
seinem Charakter nicht angemessen, so ein Rock auf den Kauf ist, wie einen Geniestreich ansieht oder, wird es blind,<br />
wie ein vortrefflicher Adler, dem man eine Papiertute über den Kopf gezogen hat, dumm in einer Ecke sitzt.«<br />
Godwi lachte und sagte: »Eine Frage für ein Rezeptbuch – Wie übersetzt man einen italiänischen Adler ins<br />
Deutsche? – Antwort – Recipe eine Papiertute, ziehe sie ihm über den Kopf, so ist er aus dem Wilden ins Zahme<br />
übersetzt, wird <strong>di</strong>ch nicht beißen; ja er ist der nämliche Adler, und zwar recht treu übersetzt.«<br />
»Recht getreu,« sagte ich, »denn er sitzt nun unter den deutschen Hühnern recht gedul<strong>di</strong>g und getreu, wie ein<br />
Haustier.«<br />
»Jede Sprache«, fuhr ich fort, »gleicht einem eigentümlichen Instrumente, nur jene können sich übersetzen, <strong>di</strong>e<br />
sich am ähnlichsten sind; aber eine Musik ist <strong>di</strong>e Musik selbst und keine Komposition aus des Spielers Gemüt und<br />
seines Instrumentes Art. Sie erschafft sich da, wo das Instrument, der Tonmeister und <strong>di</strong>e Musik in gleicher<br />
Vortrefflichkeit sich berühren. Viele Übersetzungen, besonders <strong>di</strong>e aus dem Italiänischen, werden immer Töne der<br />
Harmonika oder blasender Instrumente sein, welche man auf klim<strong>per</strong>nde oder schmetternde übersetzt. Man versuche es<br />
einmal mit dem Petrarch; wenn mehr herauskömmt als ein gereimtes Florilegium, an dem man <strong>di</strong>e Botanik seiner<br />
Poesie stu<strong>di</strong>eren kann, wenn mehr herauskömmt als eine officinelle Übersetzung, wenn nicht jedes Sonett ein Rezept an<br />
ein Wörterbuch wird, wo man des Reimes wegen immer <strong>di</strong>e Surrogate statt der Sache nehmen muß, statt Zitronensäure<br />
Weinstein, statt Zucker Runkelrüben, so will ich den Entschluß aufgeben, sollte ich je lieben, eine Reihe deutscher<br />
Sonette zu machen, <strong>di</strong>e keiner ins Italiänische übersetzen wird.«<br />
»Den Dante halten Sie denn wohl für ganz unübersetzlich«, sagte Haber.<br />
»Grade einen solchen weniger,« fuhr ich fort, »ebenso wie den Shakespeare. Diese beiden Dichter stehen<br />
ebenso über ihrer Sprache wie über ihrer Zeit. Sie haben mehr Leidenschaft als Worte, und mehr Worte als Töne. Sie<br />
stehen riesenhaft in ihren Sprachen da, und ihre Sprache kann sie nicht fesseln, da ihrem Geiste kaum <strong>di</strong>e Sprache<br />
überhaupt genügt, und man kann sie wohl wieder in einen anderen wackeren Boden versetzen. Es kann gedeihen, nur<br />
muß es ein Simson getan haben. Transportierte Eichen bleiben sie immer, an denen man <strong>di</strong>e kleinen Wurzeln<br />
wegschneiden muß, um sie in eine neue Grube zu setzen. Die meisten anderen italiänischen Sänger aber haben ganz<br />
eigentümliche Manieren, <strong>di</strong>e in der Natur ihres Instrumentes liegen, es sind Tonspiele, wie bei Shakespeare Wortspiele;<br />
Tonspiele können nicht übersetzt werden, wohl aber Wortspiele.«<br />
»Wie sind wir auf <strong>di</strong>e Übersetzungen gekommen?« sagte Godwi. – »Durch das romantische Lied Flamettens«,<br />
sagte ich. »Das Romantische selbst ist eine Übersetzung« –<br />
In <strong>di</strong>esem Augenblick erhellte sich der dunkle Saal, es ergoß sich ein milder grüner Schein von dem<br />
Wasserbecken, das ich beschrieben habe.<br />
»Sehen Sie, wie romantisch, ganz nach Ihrer Definition. Das grüne Glas ist das Me<strong>di</strong>um der Sonne.«<br />
Der Spinnerin Nachtlied<br />
(Aus der Erzählung Aus der Chronika eines fahrenden Schülers. Entstehung 1802; Erstdruck 1818)<br />
Es sang vor langen Jahren<br />
Wohl auch <strong>di</strong>e Nachtigall,<br />
Das war wohl süßer Schall,<br />
Da wir zusammen waren.<br />
Ich sing' und kann nicht weinen,<br />
Und spinne so allein<br />
Den Faden klar und rein<br />
So lang der Mond wird scheinen.<br />
Als wir zusammen waren<br />
Da sang <strong>di</strong>e Nachtigall<br />
Nun mahnet mich ihr Schall<br />
Daß du von mir gefahren.<br />
19<br />
So oft der Mond mag scheinen,<br />
Denk' ich wohl dein allein,<br />
Mein Herz ist klar und rein,<br />
Gott wolle uns vereinen.<br />
Seit du von mir gefahren,<br />
Singt stets <strong>di</strong>e Nachtigall,<br />
Ich denk' bei ihrem Schall,<br />
Wie wir zusammen waren.<br />
Gott wolle uns vereinen<br />
Hier spinn' ich so allein,<br />
Der Mond scheint klar und rein,<br />
Ich sing' und möchte weinen
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A BRENTANO<br />
Auf dem Rhein<br />
(Spätere, nicht sicher zu datierende handschriftliche Fassung von „Ein Fischer saß im Kahne“ aus Godwi, 1801-2)<br />
Ein Fischer saß im Kahne,<br />
Ihm war das Herz so schwer<br />
Sein Lieb war ihm gestorben,<br />
Das glaubt er nimmermehr.<br />
Und bis <strong>di</strong>e Sternlein blinken,<br />
Und bis zum Mondenschein<br />
Harrt er sein Lieb zu fahren<br />
Wohl auf dem tiefen Rhein.<br />
Da kömmt sie bleich geschlichen,<br />
Und schwebet in den Kahn<br />
Und schwanket in den Knieen,<br />
Hat nur ein Hemdlein an.<br />
Sie schwimmen auf den Wellen<br />
Hinab in tiefer Ruh',<br />
Da zittert sie, und wanket,<br />
Feinsliebchen, frierest du?<br />
Dein Hemdlein spielt im Winde,<br />
Das Schifflein treibt so schnell,<br />
Hüll' <strong>di</strong>ch in meinen Mantel,<br />
Die Nacht ist kühl und hell.<br />
Stumm streckt sie nach den Bergen<br />
Die weißen Arme aus,<br />
Und lächelt, da der Vollmond<br />
Aus Wolken blickt heraus.<br />
Und nickt den alten Türmen,<br />
Und will den Sternenschein<br />
Mit ihren starren Händlein<br />
Erfassen in dem Rhein.<br />
O halte <strong>di</strong>ch doch stille,<br />
Herzallerliebstes Gut!<br />
Dein Hemdlein spielt im Winde,<br />
Und reißt <strong>di</strong>ch in <strong>di</strong>e Flut.<br />
Da fliegen große Städte,<br />
An ihrem Kahn vorbei,<br />
Und in den Städten klingen<br />
Wohl Glocken mancherlei.<br />
Da kniet das Mägdlein nieder,<br />
Und faltet seine Händ'<br />
Aus seinen hellen Augen<br />
Ein tiefes Feuer brennt.<br />
Feinsliebchen bet' hübsch stille,<br />
Schwank' nit so hin und her,<br />
Der Kahn möcht' uns versinken,<br />
Der Wirbel reißt so sehr.<br />
In einem Nonnenkloster<br />
Da singen Stimmen fein,<br />
20<br />
Und aus dem Kirchenfenster<br />
Bricht her der Kerzenschein.<br />
Da singt Feinslieb gar helle,<br />
Die Metten in dem Kahn,<br />
Und sieht dabei mit Tränen<br />
Den Fischerknaben an.<br />
Da singt der Knab' gar traurig<br />
Die Metten in dem Kahn<br />
Und sieht dazu Feinsliebchen<br />
Mit stummen Blicken an.<br />
Und rot und immer röter<br />
Wird nun <strong>di</strong>e tiefe Flut,<br />
Und bleich und immer bleicher<br />
Feinsliebchen werden tut.<br />
Der Mond ist schon zerronnen<br />
Kein Sternlein mehr zu sehn,<br />
Und auch dem lieben Mägdlein<br />
Die Augen schon vergehn.<br />
Lieb Mägdlein, guten Morgen,<br />
Lieb Mägdlein gute Nacht!<br />
Warum willst du nun schlafen,<br />
Da schon der Tag erwacht?<br />
Die Türme blinken sonnig,<br />
Es rauscht der grüne Wald,<br />
Vor wildentbrannten Weisen,<br />
Der Vogelsang erschallt.<br />
Da will er sie erwecken,<br />
Daß sie <strong>di</strong>e Freude hör',<br />
Er schaut zu ihr hinüber,<br />
Und findet sie nicht mehr.<br />
Ein Schwälblein strich vorüber,<br />
Und netzte seine Brust,<br />
Woher, wohin geflogen,<br />
Das hat kein Mensch gewußt.<br />
Der Knabe liegt im Kahne<br />
Läßt alles Rudern sein,<br />
Und treibet weiter, weiter<br />
Bis in <strong>di</strong>e See hinein.<br />
Ich schwamm im Meeresschiffe<br />
Aus fremder Welt einher,<br />
Und dacht' an Lieb und Leben,<br />
Und sehnte mich so sehr.<br />
Ein Schwälblein flog vorüber,<br />
Der Kahn schwamm still einher,<br />
Der Fischer sang <strong>di</strong>es Liedchen,<br />
Als ob ich's selber wär'.
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A ARNIM/BRENTANO<br />
Achim von ARNIM; Clemens BRENTANO<br />
Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder<br />
(3 Bände; Erstdruck 1806-1808; Auszüge)<br />
Laß rauschen Lieb, laß rauschen<br />
(Mündlich)<br />
Ich hört ein Sichlein rauschen,<br />
Wohl rauschen durch das Korn,<br />
Ich hört ein Mägdlein klagen,<br />
Sie hätt ihr Lieb verlorn.<br />
Laß rauschen. Lieb, laß rauschen,<br />
Ich acht nicht, wie es geht,<br />
Ich thät mein Lieb vertauschen<br />
In Veilchen und im Klee.<br />
Du hast ein Mägdlein worben<br />
In Veilchen und im Klee,<br />
So steh ich hier alleine,<br />
Thut meinem Herzen weh.<br />
Ich hör ein Hirschlein rauschen<br />
Wohl rauschen durch den Wald,<br />
Ich hör mein Lieb sich klagen,<br />
Die Lieb verrauscht so bald.<br />
Laß rauschen. Lieb, laß rauschen,<br />
Ich weiß nicht, wie mir wird,<br />
Die Bächlein immer rauschen,<br />
Und keines sich verirrt.<br />
Das Wunderhorn<br />
Ein Knab auf schnellem Roß<br />
Sprengt auf der Kaisrin Schloß,<br />
Das Roß zur Erd sich neigt,<br />
Der Knab sich zierlich beugt.<br />
Wie lieblich, artig, schön<br />
Die Frauen sich ansehn,<br />
Ein Horn trug seine Hand,<br />
Daran vier goldne Band.<br />
Gar mancher schöne Stein<br />
Gelegt ins Gold hinein,<br />
Viel Perlen und Rubin<br />
Die Augen auf sich ziehn.<br />
Das Horn vom Elephant,<br />
So gros man keinen fand,<br />
So schön man keinen fing<br />
Und oben dran ein Ring,<br />
Wie Silber blinken kann<br />
Und hundert Glocken dran<br />
Vom feinsten Gold gemacht,<br />
Aus tiefem Meer gebracht.<br />
21<br />
Von einer Meerfey Hand<br />
Der Kaiserin gesandt,<br />
Zu ihrer Reinheit Preis,<br />
Dieweil sie schön und weis'.<br />
Der schöne Knab sagt auch:<br />
»Dies ist des Horns Gebrauch:<br />
Ein Druck von Eurem Finger,<br />
Ein Druck von Eurem Finger<br />
Und <strong>di</strong>ese Glocken all,<br />
Sie geben süßen Schall,<br />
Wie nie ein Harfenklang<br />
Und keiner Frauen Sang,<br />
Kein Vogel obenher,<br />
Die Jungfraun nicht im Meer<br />
Nie so was geben an!«<br />
Fort sprengt der Knab bergan,<br />
Ließ in der Kaisrin Hand<br />
Das Horn, so weltbekannt;<br />
Ein Druck von ihrem Finger,<br />
O süßes hell Geklinge!
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A KLEIST<br />
Heinrich von KLEIST (1777-1811)<br />
Das Bettelweib von Locarno<br />
(Erstdruck 1810)<br />
Am Fuße der Alpen, bei Locarno im oberen Italien, befand sich ein altes, einem Marchese gehöriges Schloß, das man<br />
jetzt, wenn man vom St. Gotthard kommt, in Schutt und Trümmern liegen sieht: ein Schloß mit hohen und weitläufigen<br />
Zimmern, in deren einem einst, auf Stroh, das man ihr unterschüttete, eine alte kranke Frau, <strong>di</strong>e sich bettelnd vor der<br />
Tür eingefunden hatte, von der Hausfrau aus Mitleiden gebettet worden war. Der Marchese, der, bei der Rückkehr von<br />
der Jagd, zufällig in das Zimmer trat, wo er seine Büchse abzusetzen pflegte, befahl der Frau unwillig, aus dem Winkel,<br />
in welchem sie lag, aufzustehen, und sich hinter den Ofen zu verfügen. Die Frau, da sie sich erhob, <strong>gli</strong>tschte mit der<br />
Krücke auf dem glatten Boden aus, und beschä<strong>di</strong>gte sich, auf eine gefährliche Weise, das Kreuz; dergestalt, daß sie<br />
zwar noch mit unsä<strong>gli</strong>cher Mühe aufstand und quer, wie es vorgeschrieben war, über das Zimmer ging, hinter den Ofen<br />
aber, unter Stöhnen und Ächzen, niedersank und verschied.<br />
Mehrere Jahre nachher, da der Marchese, durch Krieg und Mißwachs, in bedenkliche Vermögensumstände<br />
geraten war, fand sich ein florentinischer Ritter bei ihm ein, der das Schloß, seiner schönen Lage wegen, von ihm<br />
kaufen wollte. Der Marchese, dem viel an dem Handel gelegen war, gab seiner Frau auf, den Fremden in dem<br />
obenerwähnten, leerstehenden Zimmer, das sehr schön und prächtig eingerichtet war, unterzubringen. Aber wie betreten<br />
war das Ehepaar, als der Ritter mitten in der Nacht, verstört und bleich, zu ihnen herunterkam, hoch und teuer<br />
versichernd, daß es in dem Zimmer spuke, indem etwas, das dem Blick unsichtbar gewesen, mit einem Geräusch, als ob<br />
es auf Stroh gelegen, im Zimmerwinkel aufgestanden, mit vernehmlichen Schritten, langsam und gebrechlich, quer über<br />
das Zimmer gegangen, und hinter dem Ofen, unter Stöhnen und Ächzen, niedergesunken sei.<br />
Der Marchese erschrocken, er wußte selbst nicht recht warum, lachte den Ritter mit erkünstelter Heiterkeit aus,<br />
und sagte, er wolle sogleich aufstehen, und <strong>di</strong>e Nacht zu seiner Beruhigung, mit ihm in dem Zimmer zubringen. Doch<br />
der Ritter bat um <strong>di</strong>e Gefälligkeit, ihm zu erlauben, daß er auf einem Lehnstuhl, in seinem Schlafzimmer übernachte,<br />
und als der Morgen kam, ließ er anspannen, empfahl sich und reiste ab.<br />
Dieser Vorfall, der außerordentliches Aufsehen machte, schreckte auf eine dem Marchese höchst unangenehme<br />
Weise, mehrere Käufer ab; dergestalt, daß, da sich unter seinem eigenen Hausgesinde, befremdend und unbegreiflich,<br />
das Gerücht erhob, daß es in dem Zimmer, zur Mitternachtsstunde, umgehe, er, um es mit einem entscheidenden<br />
Verfahren niederzuschlagen, beschloß, <strong>di</strong>e Sache in der nächsten Nacht selbst zu untersuchen. Demnach ließ er, beim<br />
Einbruch der Dämmerung, sein Bett in dem besagten Zimmer aufschlagen, und erharrte, ohne zu schlafen, <strong>di</strong>e<br />
Mitternacht. Aber wie erschüttert war er, als er in der Tat, mit dem Schlage der Geisterstunde, das unbegreifliche<br />
Geräusch wahrnahm; es war, als ob ein Mensch sich von Stroh, das unter ihm knisterte, erhob, quer über das Zimmer<br />
ging, und hinter dem Ofen, unter Geseufz und Geröchel niedersank. Die Marquise, am andern Morgen, da er<br />
herunterkam, fragte ihn, wie <strong>di</strong>e Untersuchung abgelaufen; und da er sich, mit scheuen und ungewissen Blicken, umsah,<br />
und, nachdem er <strong>di</strong>e Tür verriegelt, versicherte, daß es mit dem Spuk seine Richtigkeit habe: so erschrak sie, wie sie in<br />
ihrem Leben nicht getan, und bat ihn, bevor er <strong>di</strong>e Sache verlauten ließe, sie noch einmal, in ihrer Gesellschaft, einer<br />
kaltblütigen Prüfung zu unterwerfen. Sie hörten aber samt einem treuen Be<strong>di</strong>enten, den sie mitgenommen hatten, in der<br />
Tat, in der nächsten Nacht dasselbe unbegreifliche, gespensterartige Geräusch; und nur der dringende Wunsch, das<br />
Schloß, es koste was es wolle, loszuwerden, vermochte sie, das Entsetzen, das sie ergriff, in Gegenwart ihres Dieners zu<br />
unterdrücken, und dem Vorfall irgendeine gleichgültige und zufällige Ursache, <strong>di</strong>e sich entdecken lassen müsse,<br />
unterzuschieben. Am Abend des dritten Tages, da beide, um der Sache auf den Grund zu kommen, mit Herzklopfen<br />
wieder <strong>di</strong>e Treppe zu dem Fremdenzimmer bestiegen, fand sich zufällig der Haushund, den man von der Kette<br />
losgelassen hatte, vor der Tür desselben ein; dergestalt, daß beide, ohne sich bestimmt zu erklären, vielleicht in der<br />
unwillkürlichen Absicht, außer sich selbst noch etwas Drittes, Leben<strong>di</strong>ges, bei sich zu haben, den Hund mit sich in das<br />
Zimmer nahmen. Das Ehepaar, zwei Lichter auf dem Tisch, <strong>di</strong>e Marquise unausgezogen, der Marchese Degen und<br />
Pistolen, <strong>di</strong>e er aus dem Schrank genommen, neben sich, setzen sich, gegen eilf Uhr, jeder auf sein Bett; und während<br />
sie sich mit Gesprächen, so gut sie vermögen, zu unterhalten suchen, legt sich der Hund, Kopf und Beine<br />
zusammengekauert, in der Mitte des Zimmers nieder und schläft ein. Drauf, in dem Augenblick der Mitternacht, läßt<br />
sich das entsetzliche Geräusch wieder hören; jemand, den kein Mensch mit Augen sehen kann, hebt sich, auf Krücken,<br />
im Zimmerwinkel empor; man hört das Stroh, das unter ihm rauscht; und mit dem ersten Schritt: tapp! tapp! erwacht<br />
der Hund, hebt sich plötzlich, <strong>di</strong>e Ohren spitzend, vom Boden empor, und knurrend und bellend, grad als ob ein Mensch<br />
auf ihn eingeschritten käme, rückwärts gegen den Ofen weicht er aus. Bei <strong>di</strong>esem Anblick stürzt <strong>di</strong>e Marquise mit<br />
sträubenden Haaren, aus dem Zimmer; und während der Marquis, der den Degen ergriffen: wer da? ruft, und da ihm<br />
niemand antwortet, gleich einem Rasenden, nach allen Richtungen <strong>di</strong>e Luft durchhaut läßt sie anspannen, entschlossen,<br />
augenblicklich, nach der Stadt abzufahren. Aber ehe sie noch einige Sachen zusammengepackt und aus dem Tore<br />
herausgerasselt, sieht sie schon das Schloß ringsum in Flammen aufgehen. Der Marchese, von Entsetzen überreizt, hatte<br />
eine Kerze genommen, und dasselbe, überall mit Holz getäfelt wie es war, an allen vier Ecken, müde seines Lebens,<br />
angesteckt. Vergebens schickte sie Leute hinein, den Unglücklichen zu retten; er war auf <strong>di</strong>e elen<strong>di</strong><strong>gli</strong>chste Weise<br />
bereits umgekommen, und noch jetzt liegen, von den Landleuten zusammengetragen, seine weißen Gebeine in dem<br />
Winkel des Zimmers, von welchem er das Bettelweib von Locarno hatte aufstehen heißen.<br />
22
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A KLEIST<br />
Penthesilea<br />
(Entstehung 1806-07; Erstdruck 1808; Auszüge aus den letzten 3 Auftritten)<br />
[22. Auftritt ]<br />
[...]<br />
DIE OBERPRIESTERIN.<br />
Jetzt unter ihren Hunden wütet sie,<br />
Mit schaumbedeckter Lipp, und nennt sie Schwestern,<br />
Die heulenden, und der Mänade gleich,<br />
Mit ihrem Bogen durch <strong>di</strong>e Felder tanzend,<br />
Hetzt sie <strong>di</strong>e Meute, <strong>di</strong>e mordatmende,<br />
Die sie umringt, das schönste Wild zu fangen,<br />
Das je <strong>di</strong>e Erde, wie sie sagt, durchschweift.<br />
DIE AMAZONEN.<br />
Ihr Orkusgötter! Wie bestraft ihr sie!<br />
[...]<br />
DAS HEER DER AMAZONEN außerhalb der Szene.<br />
Triumph! Triumph! Triumph! Achilleus stürzt<br />
Gefangen ist der Held! Die Siegerin,<br />
Mit Rosen wird sie seine Scheitel kränzen!<br />
Pause.<br />
DIE OBERPRIESTERIN mit freudebeklemmter<br />
Stimme.<br />
Hört ich auch recht?<br />
DIE ERSTE PRIESTERIN UND AMAZONEN.<br />
Ihr hochgepriesnen Götter!<br />
DIE OBERPRIESTERIN.<br />
War <strong>di</strong>eser Jubellaut der Freude nicht?<br />
DIE ERSTE PRIESTERIN.<br />
Geschrei des Siegs, o du Hochheilige,<br />
Wie noch mein Ohr keins seliger vernahm!<br />
DIE OBERPRIESTERIN.<br />
Wer schafft mir Kund, ihr Jungfraun?<br />
DIE ZWEITE PRIESTERIN.<br />
Terpi! rasch!<br />
Sag an, was du auf jenem Hügel siehst?<br />
EINE AMAZONE <strong>di</strong>e währenddessen den Hügel<br />
erstiegen, mit Entsetzen.<br />
Euch, ihr der Hölle grauenvolle Götter,<br />
Zu Zeugen ruf ich nieder – was erblick ich!<br />
DIE OBERPRIESTERIN.<br />
Nun denn – als ob sie <strong>di</strong>e Medus' erblickte!<br />
DIE PRIESTERINNEN.<br />
Was siehst du? Rede! Sprich!<br />
DIE AMAZONE.<br />
Penthesilea,<br />
Sie liegt, den grimm'gen Hunden beigesellt,<br />
Sie, <strong>di</strong>e ein Menschenschoß gebar, und reißt, –<br />
Die Glieder des Achills reißt sie in Stücken!<br />
DIE OBERPRIESTERIN.<br />
Entsetzen! o Entsetzen!<br />
ALLE.<br />
Fürchterlich!<br />
DIE AMAZONE.<br />
Hier kommt es, bleich, wie eine Leiche, schon<br />
Das Wort des Greuelrätsels uns heran.<br />
Sie steigt vom Hügel herab.<br />
23<br />
23. Auftritt<br />
Meroe tritt auf. Die Vorigen.<br />
MEROE.<br />
O ihr, der Diana heil'ge Priesterinnen,<br />
Und ihr, Mars' reine Töchter, hört mich an:<br />
Die afrikanische Gorgone bin ich,<br />
Und wie ihr steht, zu Steinen starr ich euch.<br />
DIE OBERPRIESTERIN.<br />
Sprich, Gräßliche! was ist geschehn?<br />
MEROE.<br />
Ihr wißt,<br />
Sie zog dem Jün<strong>gli</strong>ng, den sie liebt, entgegen,<br />
Sie, <strong>di</strong>e fortan kein Name nennt –<br />
In der Verwirrung ihrer jungen Sinne,<br />
Den Wunsch, den glühenden, ihn zu besitzen,<br />
Mit allen Schrecknissen der Waffen rüstend.<br />
Von Hunden rings umheult und Elefanten,<br />
Kam sie daher, den Bogen in der Hand:<br />
Der Krieg, der unter Bürgern rast, wenn er,<br />
Die blutumtriefte Graungestalt, einher,<br />
Mit weiten Schritten des Entsetzens geht,<br />
Die Fackel über blühnde Städte schwingend,<br />
Er sieht so wild und scheußlich nicht, als sie.<br />
Achilleus, der, wie man im Heer versichert,<br />
Sie bloß ins Feld gerufen, um freiwillig<br />
Im Kampf, der junge Tor, ihr zu erliegen:<br />
Denn er auch, o wie mächtig sind <strong>di</strong>e Götter!<br />
Er liebte sie, gerührt von ihrer Jugend,<br />
Zu Dianas Tempel folgen wollt er ihr:<br />
Er naht sich ihr, voll süßer Ahndungen,<br />
Und läßt <strong>di</strong>e Freunde hinter sich zurück.<br />
Doch jetzt, da sie mit solchen Greulnissen<br />
Auf ihn herangrollt, ihn, der nur zum Schein<br />
Mit einem Spieß sich arglos ausgerüstet:<br />
Stutzt er, und dreht den schlanken Hals, und horcht,<br />
Und eilt entsetzt, und stutzt, und eilet wieder:<br />
Gleich einem jungen Reh, das im Geklüft<br />
Fern das Gebrüll des grimmen Leun vernimmt.<br />
Er ruft: Odysseus! mit beklemmter Stimme,<br />
Und sieht sich schüchtern um, und ruft: Ty<strong>di</strong>de!<br />
Und will zurück noch zu den Freunden fliehn;<br />
Und steht, von einer Schar schon abgeschnitten,<br />
Und hebt <strong>di</strong>e Händ empor, und duckt und birgt<br />
In eine Fichte sich, der Unglücksel'ge,<br />
Die schwer mit dunkeln Zweigen niederhangt. –<br />
Inzwischen schritt <strong>di</strong>e Königin heran,<br />
Die Doggen hinter ihr, Gebirg und Wald<br />
Hochher, gleich einem Jäger, überschauend;<br />
Und da er eben, <strong>di</strong>e Gezweige öffnend,<br />
Zu ihren Füßen niedersinken will:<br />
Ha! sein Geweih verrät den Hirsch, ruft sie,<br />
Und spannt mit Kraft der Rasenden, sogleich<br />
Den Bogen an, daß sich <strong>di</strong>e Enden küssen,<br />
Und hebt den Bogen auf und zielt und schießt,<br />
Und jagt den Pfeil ihm durch den Hals; er stürzt:
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A KLEIST<br />
Ein Siegsgeschrei schallt roh im Volk empor.<br />
Jetzt gleichwohl lebt der Ärmste noch der Menschen,<br />
Den Pfeil, den weit vorragenden, im Nacken,<br />
Hebt er sich röchelnd auf, und überschlägt sich,<br />
Und hebt sich wiederum und will entfliehn;<br />
Doch, hetz! schon ruft sie: Tigris! hetz, Leäne!.<br />
Hetz, Sphinx! Melampus! Dirke! Hetz, Hyrkaon!<br />
Und stürzt – stürzt mit der ganzen Meut, o Diana!<br />
Sich über ihn, und reißt – reißt ihn beim Helmbusch,<br />
Gleich einer Hün<strong>di</strong>n, Hunden beigesellt,<br />
Der greift <strong>di</strong>e Brust ihm, <strong>di</strong>eser greift den Nacken,<br />
Daß von dem Fall der Boden bebt, ihn nieder!<br />
Er, in dem Purpur seines Bluts sich wälzend,<br />
Rührt ihre sanfte Wange an, und ruft:<br />
Penthesilea! meine Braut! was tust du?<br />
Ist <strong>di</strong>es das Rosenfest, das du versprachst?<br />
Doch sie – <strong>di</strong>e Löwin hätte ihn gehört,<br />
Die hungrige, <strong>di</strong>e wild nach Raub umher,<br />
Auf öden Schneegefilden heulend treibt;<br />
Sie schlägt, <strong>di</strong>e Rüstung ihm vom Leibe reißend,<br />
Den Zahn schlägt sie in seine weiße Brust,<br />
Sie und <strong>di</strong>e Hunde, <strong>di</strong>e wetteifernden,<br />
Oxus und Sphinx den Zahn in seine rechte,<br />
In seine linke sie; als ich erschien,<br />
Troff Blut von Mund und Händen ihr herab.<br />
[...]<br />
Jetzt steht sie lautlos da, <strong>di</strong>e Grauenvolle,<br />
Bei seiner Leich, umschnüffelt von der Meute,<br />
Und blicket starr, als wär's ein leeres Blatt,<br />
Den Bogen siegreich auf der Schulter tragend,<br />
In das Unendliche hinaus, und schweigt.<br />
Wir fragen mit gesträubten Haaren, sie,<br />
Was sie getan? Sie schweigt. Ob sie uns kenne?<br />
Sie schweigt. Ob sie uns folgen will? Sie schweigt.<br />
Entsetzen griff mich, und ich floh zu euch.<br />
24. Auftritt<br />
[...]<br />
PENTHESILEA nach einer Pause, mit einer Art von<br />
Verzückung.<br />
Ich bin so selig, Schwester! Überselig!<br />
Ganz reif zum Tod o Diana, fühl ich mich!<br />
Zwar weiß ich nicht, was hier mit mir geschehn,<br />
Doch gleich des festen Glaubens könnt ich sterben,<br />
Daß ich mir den Peliden überwand.<br />
PROTHOE verstohlen zur Oberpriesterin.<br />
Rasch jetzt <strong>di</strong>e Leich hinweg!<br />
[...]<br />
PENTHESILEA zu den Amazonen, welche <strong>di</strong>e Leiche<br />
tragen.<br />
Halt dort! –<br />
Was tragt ihr dort? Ich will es wissen. Steht!<br />
Sie macht sich Platz unter den Frauen und dringt bis<br />
zur Leiche vor.<br />
PROTHOE.<br />
O meine Königin! Untersuche nicht!<br />
PENTHESILEA.<br />
Ist er's, ihr Jungfraun? Ist er's?<br />
24<br />
EINE TRÄGERIN indem <strong>di</strong>e Leiche niedergelassen<br />
wird.<br />
Wer, fragst du?<br />
PENTHESILEA.<br />
– Es ist unmö<strong>gli</strong>ch nicht, das seh ich ein.<br />
Zwar einer Schwalbe Flügel kann ich lähmen,<br />
So, daß der Flügel noch zu heilen ist;<br />
Den Hirsch lock ich mit Pfeilen in den Park.<br />
Doch ein Verräter ist <strong>di</strong>e Kunst der Schützen;<br />
Und gilt's den Meisterschuß ins Herz des Glückes,<br />
So führen tück'sche Götter uns <strong>di</strong>e Hand.<br />
– Traf ich zu nah ihn, wo es gilt? Sprecht ist er's?<br />
PROTHOE.<br />
O bei den furchtbarn Mächten des Olymps,<br />
Frag nicht –!<br />
PENTHESILEA.<br />
Hinweg! Und wenn mir seine Wunde,<br />
Ein Höllenrachen, gleich entgegen gähnte:<br />
Ich will ihn sehn!<br />
Sie hebt den Teppich auf.<br />
Wer von euch tat das, ihr Entsetzlichen!<br />
PROTHOE.<br />
Das fragst du noch?<br />
PENTHESILEA.<br />
O Artemis! Du Heilige!<br />
Jetzt ist es um dein Kind geschehn!<br />
DIE OBERPRIESTERIN.<br />
Da stürzt sie hin!<br />
PROTHOE.<br />
Ihr ew'gen Himmelsgötter!<br />
Warum nicht meinem Rate folgtest du?<br />
O <strong>di</strong>r war besser, du Unglückliche,<br />
In des Verstandes Sonnenfinsternis<br />
Umherzuwandeln, ewig, ewig, ewig,<br />
Als <strong>di</strong>esen fürchterlichen Tag zu sehn!<br />
– Geliebte, hör mich!<br />
DIE OBERPRIESTERIN.<br />
Meine Königin!<br />
MEROE.<br />
Zehntausend Herzen teilen deinen Schmerz!<br />
DIE OBERPRIESTERIN.<br />
Erhebe <strong>di</strong>ch!<br />
PENTHESILEA halb aufgerichtet.<br />
Ach, <strong>di</strong>ese blut'gen Rosen!<br />
Ach, <strong>di</strong>eser Kranz von Wunden um sein Haupt!<br />
Ach, wie <strong>di</strong>e Knospen, frischen Grabduft streuend,<br />
Zum Fest für <strong>di</strong>e Gewürme, niedergehn!<br />
PROTHOE mit Zärtlichkeit.<br />
Und doch war es <strong>di</strong>e Liebe, <strong>di</strong>e ihn kränzte?<br />
MEROE.<br />
Nur allzufest –!<br />
PROTHOE.<br />
Und mit der Rose Dornen,<br />
In der Beeifrung, daß es ewig sei!<br />
DIE OBERPRIESTERIN.<br />
Entferne <strong>di</strong>ch!<br />
PENTHESILEA.<br />
Das aber will ich wissen,<br />
Wer mir so gottlos neben hat gebuhlt! –<br />
Ich frage nicht, wer den Leben<strong>di</strong>gen
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A KLEIST<br />
Erschlug; bei unsern ewig hehren Göttern!<br />
Frei, wie ein Vogel, geht er von mir weg.<br />
Wer mir den Toten tötete, frag ich,<br />
Und darauf gib mir Antwort, Prothoe.<br />
PROTHOE.<br />
Wie, meine Herrscherin?<br />
PENTHESILEA.<br />
Versteh mich recht.<br />
Ich will nicht wissen, wer aus seinem Busen<br />
Den Funken des Prometheus stahl. Ich will's nicht,<br />
Weil ich's nicht will; <strong>di</strong>e Laune steht mir so:<br />
Ihm soll vergeben sein, er mag entfliehn.<br />
Doch wer, o Prothoe, bei <strong>di</strong>esem Raube<br />
Die offne Pforte ruchlos mied, durch alle<br />
Schneeweißen Alabasterwände mir<br />
In <strong>di</strong>esen Tempel brach; wer <strong>di</strong>esen Jün<strong>gli</strong>ng,<br />
Das Ebenbild der Götter, so entstellt,<br />
Daß Leben und Verwesung sich nicht streiten,<br />
Wem er gehört, wer ihn so zugerichtet,<br />
Daß ihn das Mitleid nicht beweint, <strong>di</strong>e Liebe<br />
Sich, <strong>di</strong>e unsterbliche, gleich einer Metze,<br />
Im Tod noch untreu, von ihm wenden muß:<br />
Den will ich meiner Rache opfern. Sprich!<br />
PROTHOE zur Oberpriesterin.<br />
Was soll man nun der Rasenden erwidern? –<br />
PENTHESILEA.<br />
Nun, werd ich's hören?<br />
MEROE.<br />
– O meine Königin,<br />
Bringt es Erleichterung der Schmerzen <strong>di</strong>r,<br />
In deiner Rache opfre, wen du willst.<br />
Hier stehn wir all und bieten <strong>di</strong>r uns an.<br />
PENTHESILEA.<br />
Gebt acht, sie sagen noch, daß ich es war.<br />
DIE OBERPRIESTERIN schüchtern.<br />
Wer sonst, du Unglückselige, als nur –?<br />
PENTHESILEA.<br />
Du Höllenfürstin, im Gewand des Lichts,<br />
Das wagst du mir –?<br />
DIE OBERPRIESTERIN.<br />
Diana ruf ich an!<br />
Laß es <strong>di</strong>e ganze Schar, <strong>di</strong>e <strong>di</strong>ch umsteht,<br />
Bekräftigen! Dein Pfeil war's der ihn traf,<br />
Und Himmel! wär es nur dein Pfeil gewesen!<br />
Doch, als er niedersank, warfst du <strong>di</strong>ch noch,<br />
In der Verwirrung deiner wilden Sinne,<br />
Mit allen Hunden über ihn und schlugst –<br />
O meine Lippe zittert auszusprechen,<br />
Was du getan. Frag nicht! Komm, laß uns gehn.<br />
PENTHESILEA.<br />
Das muß ich erst von meiner Prothoe hören.<br />
PROTHOE.<br />
O meine Königin! Befrag mich nicht.<br />
PENTHESILEA.<br />
Was! Ich? Ich hätt ihn –? Unter meinen Hunden –?<br />
Mit <strong>di</strong>esen kleinen Händen hätt ich ihn –?<br />
Und <strong>di</strong>eser Mund hier, den <strong>di</strong>e Liebe schwellt –?<br />
Ach, zu ganz anderm Dienst gemacht, als ihn –!<br />
Die hätten, lustig stets einander helfend,<br />
Mund jetzt und Hand, und Hand und wieder Mund –?<br />
PROTHOE.<br />
O Königin!<br />
25<br />
DIE OBERPRIESTERIN.<br />
Ich rufe Wehe! <strong>di</strong>r.<br />
PENTHESILEA.<br />
Nein, hört, davon nicht überzeugt ihr mich.<br />
Und stünd's mit Blitzen in <strong>di</strong>e Nacht geschrieben,<br />
Und rief es mir des Donners Stimme zu,<br />
So rief ich doch noch beiden zu: ihr lügt!<br />
MEROE.<br />
Laß ihn, wie Berge, <strong>di</strong>esen Glauben stehn;<br />
Wir sind es nicht, <strong>di</strong>e ihn erschüttern werden.<br />
PENTHESILEA.<br />
– Wie kam es denn, daß er sich nicht gewehrt?<br />
DIE OBERPRIESTERIN.<br />
Er liebte <strong>di</strong>ch, Unseligste! Gefangen<br />
Wollt er sich <strong>di</strong>r ergeben, darum naht' er!<br />
Darum zum Kampfe fordert' er <strong>di</strong>ch auf!<br />
Die Brust voll süßen Friedens kam er her,<br />
Um <strong>di</strong>r zum Tempel Artemis' zu folgen.<br />
Doch du –<br />
PENTHESILEA.<br />
So, so –<br />
DIE OBERPRIESTERIN.<br />
Du trafst ihn –<br />
PENTHESILEA.<br />
Ich zerriß ihn.<br />
PROTHOE.<br />
O meine Königin!<br />
PENTHESILEA.<br />
Oder war es anders?<br />
MEROE.<br />
Die Gräßliche!<br />
PENTHESILEA.<br />
Küßt ich ihn tot?<br />
DIE ERSTE PRIESTERIN.<br />
O Himmel!<br />
PENTHESILEA.<br />
Nicht? Küßt ich nicht? Zerrissen wirklich? sprecht?<br />
DIE OBERPRIESTERIN.<br />
Weh! Wehe! ruf ich <strong>di</strong>r. Verberge <strong>di</strong>ch!<br />
Laß für der ew'ge Mitternacht <strong>di</strong>ch decken!<br />
PENTHESILEA.<br />
– So war es ein Versehen. Küsse, Bisse,<br />
Das reimt sich, und wer recht von Herzen liebt,<br />
Kann schon das eine für das andre greifen.<br />
MEROE.<br />
Helft ihr, ihr Ew'gen, dort!<br />
PROTHOE ergreift sie.<br />
Hinweg!<br />
PENTHESILEA.<br />
Laßt, laßt!<br />
Sie wickelt sich los, und läßt sich auf Knien vor der<br />
Leiche nieder.<br />
Du Ärmster aller Menschen, du vergibst mir!<br />
Ich habe mich, bei Diana, bloß versprochen,<br />
Weil ich der raschen Lippe Herr nicht bin;<br />
Doch jetzt sag ich <strong>di</strong>r deutlich, wie ich's meinte:<br />
Dies, du Geliebter, war's, und weiter nichts.<br />
Sie küßt ihn.
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A KLEIST<br />
DIE OBERPRIESTERIN.<br />
Schafft sie hinweg!<br />
MEROE.<br />
Was soll sie länger hier?<br />
PENTHESILEA.<br />
Wie manche, <strong>di</strong>e am Hals des Freundes hängt,<br />
Sagt wohl das Wort: sie lieb ihn, o so sehr,<br />
Daß sie vor Liebe gleich ihn essen könnte;<br />
Und hinterher, das Wort beprüft, <strong>di</strong>e Närrin!<br />
Gesättigt sein zum Ekel ist sie schon.<br />
Nun, du Geliebter, so verfuhr ich nicht.<br />
Sieh her: als ich an deinem Halse hing,<br />
Hab ich's wahrhaftig Wort für Wort getan;<br />
Ich war nicht so verrückt, als es wohl schien.<br />
MEROE.<br />
Die Ungeheuerste! Was sprach sie da?<br />
DIE OBERPRIESTERIN.<br />
Ergreift sie! Bringt sie fort!<br />
PROTHOE.<br />
Komm, meine Königin!<br />
PENTHESILEA sie läßt sich aufrichten.<br />
Gut, gut. Hier bin ich schon.<br />
DIE OBERPRIESTERIN.<br />
So folgst du uns?<br />
PENTHESILEA.<br />
Euch nicht! – –<br />
Geht ihr nach Themiscyra, und seid glücklich,<br />
Wenn ihr es könnt –<br />
Vor allen meine Prothoe –<br />
Ihr alle –<br />
Und – – – im Vertraun ein Wort, das niemand höre,<br />
Der Tanaïs Asche, streut sie in <strong>di</strong>e Luft!<br />
PROTHOE.<br />
Und du, mein teures Schwesterherz?<br />
PENTHESILEA.<br />
Ich?<br />
PROTHOE.<br />
Du!<br />
PENTHESILEA.<br />
– Ich will <strong>di</strong>r sagen, Prothoe,<br />
Ich sage vom Gesetz der Fraun mich los,<br />
Und folge <strong>di</strong>esem Jün<strong>gli</strong>ng hier.<br />
PROTHOE.<br />
Wie, meine Königin?<br />
DIE OBERPRIESTERIN.<br />
Unglückliche!<br />
PROTHOE.<br />
Du willst –?<br />
DIE OBERPRIESTERIN.<br />
Du denkst –<br />
PENTHESILEA.<br />
Was? Aller<strong>di</strong>ngs!<br />
MEROE.<br />
O Himmel!<br />
PROTHOE.<br />
So laß mich <strong>di</strong>r ein Wort, mein Schwesterherz –<br />
Sie sucht ihr den Dolch wegzunehmen.<br />
PENTHESILEA.<br />
Nun denn, und was? – – Was suchst du mir am Gurt?<br />
26<br />
– Ja, so. Wart, gleich! Verstand ich <strong>di</strong>ch doch nicht.<br />
– – Hier ist der Dolch.<br />
Sie löst sich den Dolch aus dem Gurt, und gibt ihn der<br />
Prothoe.<br />
Willst du <strong>di</strong>e Pfeile auch?<br />
Sie nimmt den Köcher von der Schulter.<br />
Hier schütt ich ihren ganzen Köcher aus!<br />
Sie schüttet <strong>di</strong>e Pfeile vor sich nieder.<br />
Zwar reizend wär's von einer Seite –<br />
Sie hebt einige davon wieder auf.<br />
Denn <strong>di</strong>eser hier – nicht? Oder war es <strong>di</strong>eser –?<br />
Ja, der! Ganz recht – Gleichviel! Da! Nimm sie hin!<br />
Nimm alle <strong>di</strong>e Geschosse zu <strong>di</strong>r hin!<br />
Sie rafft den ganzen Bündel wieder auf, und gibt ihn<br />
der Prothoe in <strong>di</strong>e Hände.<br />
PROTHOE.<br />
Gib her.<br />
PENTHESILEA.<br />
Denn jetzt steig ich in meinen Busen nieder,<br />
Gleich einem Schacht, und grabe, kalt wie Erz,<br />
Mir ein vernichtendes Gefühl hervor.<br />
Dies Erz, <strong>di</strong>es läutr ich in der Glut des Jammers<br />
Hart mir zu Stahl; tränk es mit Gift sodann,<br />
Heißätzendem, der Reue, durch und durch;<br />
Trag es der Hoffnung ew'gem Amboß zu,<br />
Und schärf und spitz es mir zu einem Dolch;<br />
Und <strong>di</strong>esem Dolch jetzt reich ich meine Brust:<br />
So! So! So! So! Und wieder! – Nun ist's gut.<br />
Sie fällt und stirbt.<br />
PROTHOE <strong>di</strong>e Königin auffassend.<br />
Sie stirbt!<br />
MEROE.<br />
Sie folgt ihm, in der Tat!<br />
PROTHOE.<br />
Wohl ihr!<br />
Denn hier war ihres fernern Bleibens nicht.<br />
Sie legt sie auf den Boden nieder.<br />
DIE OBERPRIESTERIN.<br />
Ach! Wie gebrechlich ist der Mensch, ihr Götter!<br />
Wie stolz, <strong>di</strong>e hier geknickt liegt, noch vor kurzem,<br />
Hoch auf des Lebens Gipfeln, rauschte sie!<br />
PROTHOE.<br />
Sie sank, weil sie zu stolz und kräftig blühte!<br />
Die abgestorbne Eiche steht im Sturm,<br />
Doch <strong>di</strong>e gesunde stürzt er schmetternd nieder,<br />
Weil er in ihre Krone greifen kann.
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A GEBRÜDER GRIMM<br />
Jacob Ludwig Carl GRIMM (1785–1863); Wilhelm Carl GRIMM (1786–1858)<br />
Kinder- und Hausmärchen<br />
(2 Bände; Erstdruck 1812-15; Auszüge)<br />
Vorrede.<br />
Wir finden es wohl, wenn Sturm oder anderes Unglück, vom Himmel geschickt, eine ganze Saat zu Boden geschlagen,<br />
daß noch bei niedrigen Hecken oder Sträuchen, <strong>di</strong>e am Wege stehen, ein kleiner Platz sich gesichert und einzelne<br />
Aehren aufrecht geblieben sind. Scheint dann <strong>di</strong>e Sonne wieder günstig, so wachsen sie einsam und unbeachtet fort,<br />
keine frühe Sichel schneidet sie für <strong>di</strong>e großen Vorrathskammern, aber im Spätsommer, wenn sie reif und voll<br />
geworden, kommen arme, fromme Hände, <strong>di</strong>e sie suchen; und Aehre an Aehre gelegt, sorgfältig gebunden und höher<br />
geachtet, als ganze Garben, werden sie heimgetragen und Winterlang sind sie Nahrung, vielleicht auch der einzige<br />
Samen für <strong>di</strong>e Zukunft. So ist es uns, wenn wir den Reichthum deutscher Dichtung in frühen Zeiten betrachten, und<br />
dann sehen, daß von so vielem nichts leben<strong>di</strong>g sich erhalten, selbst <strong>di</strong>e Erinnerung daran verloren war, und nur<br />
Volkslieder, und <strong>di</strong>ese unschul<strong>di</strong>gen Hausmärchen übrig geblieben sind. Die Plätze am Ofen, der Küchenheerd,<br />
Bodentreppen, Feiertage noch gefeiert, Triften und Wälder in ihrer Stille, vor allem <strong>di</strong>e ungetrübte Phantasie sind <strong>di</strong>e<br />
Hecken gewesen, <strong>di</strong>e sie gesichert und einer Zeit aus der andern überliefert haben.<br />
So denken wir jetzt, nachdem wir <strong>di</strong>ese Sammlung übersehen; anfangs glaubten wir auch hier schon vieles zu<br />
Grund gegangen, und nur <strong>di</strong>e Märchen noch allein übrig, <strong>di</strong>e uns etwa selbst bewußt, und <strong>di</strong>e nur abweichend, wie es<br />
immer geschieht, von andern erzählt würden. Aber aufmerksam auf alles, was von der Poesie wirklich noch da ist,<br />
wollten wir auch <strong>di</strong>eses abweichende kennen, und da zeigte sich dennoch manches neue und ohne eben im Stand zu<br />
seyn, sehr weit herum zu fragen, wuchs unsre Sammlung von Jahr zu Jahr, daß sie uns jetzt, nachdem etwa sechse<br />
verflossen, reich erscheint; dabei begreifen wir, daß uns noch manches fehlen mag, doch freut uns auch der Gedanke,<br />
das meiste und beste zu besitzen. Alles ist mit wenigen bemerkten Ausnahmen fast nur in Hessen und den Main- und<br />
Kinziggegenden in der Grafschaft Hanau, wo wir her sind, nach mündlicher Ueberlieferung gesammelt; darum knüpft<br />
sich uns an jedes Einzelne noch eine angenehme Erinnerung. Wenig Bücher sind mit solcher Lust entstanden, und wir<br />
sagen gern hier noch einmal öffentlich Allen Dank, <strong>di</strong>e Theil daran haben.<br />
Es war vielleicht gerade Zeit, <strong>di</strong>ese Märchen festzuhalten, da <strong>di</strong>ejenigen, <strong>di</strong>e sie bewahren sollen, immer<br />
seltner werden (freilich, <strong>di</strong>e sie noch wissen, wissen auch recht viel, weil <strong>di</strong>e Menschen ihnen absterben, sie nicht den<br />
Menschen), denn <strong>di</strong>e Sitte darin nimmt selber immer mehr ab, wie alle heimlichen Plätze in Wohnungen und Gärten<br />
einer leeren Prächtigkeit weichen, <strong>di</strong>e dem Lächeln gleicht, womit man von ihnen spricht, welches vornehm aussieht<br />
und doch so wenig kostet. Wo sie noch da sind, da leben sie so, daß man nicht daran denkt, ob sie gut oder schlecht<br />
sind, poetisch oder abgeschmackt, man weiß sie und liebt sie, weil man sie eben so empfangen hat, und freut sich daran<br />
ohne einen Grund dafür: so herrlich ist <strong>di</strong>e Sitte, ja auch das hat <strong>di</strong>ese Poesie mit allem unvergän<strong>gli</strong>chen gemein, daß<br />
man ihr selbst gegen einen andern Willen geneigt seyn muß. Leicht wird man übrigens bemerken, daß sie nur da<br />
gehaftet, wo überhaupt eine regere Empfän<strong>gli</strong>chkeit für Poesie oder eine noch nicht von den Verkehrtheiten des Lebens<br />
ausgelöschte Phantasie gewesen. Wir wollen in gleichem Sinn hier <strong>di</strong>e Märchen nicht rühmen, oder gar gegen eine<br />
entgegengesetzte Meinung verthei<strong>di</strong>gen: jenes bloße Daseyn reicht hin, sie zu schüzzen. Was so mannichfach und<br />
immer wieder von neuem erfreut, bewegt und belehrt hat, das trägt seine Nothwen<strong>di</strong>gkeit in sich, und ist gewiß aus<br />
jener ewigen Quelle gekommen, <strong>di</strong>e alles Leben bethaut, und wenn auch nur ein einziger Tropfen, den ein kleines<br />
zusammenhaltendes Blatt gefaßt, doch in dem ersten Morgenroth schimmernd.<br />
Innerlich geht durch <strong>di</strong>ese Dichtungen <strong>di</strong>eselbe Reinheit, um derentwillen uns Kinder so wunderbar und seelig<br />
erscheinen; sie haben gleichsam <strong>di</strong>eselben bläulich-weißen, mackellosen, glänzenden Augen [...], <strong>di</strong>e nicht mehr<br />
wachsen können, während <strong>di</strong>e andern Glieder noch zart, schwach, und zum Dienst der Erde ungeschickt sind. So<br />
einfach sind <strong>di</strong>e meisten Situationen, daß viele sie wohl im Leben gefunden, aber wie alle wahrhaftigen doch immer<br />
wieder neu und ergreifend. Die Eltern haben kein Brod mehr, und müssen ihre Kinder in <strong>di</strong>eser Noth verstoßen, oder<br />
eine harte Stiefmutter läßt sie leiden, und mögte sie gar zu Grunde gehen lassen. Dann sind Geschwister in des Waldes<br />
Einsamkeit verlassen, der Wind erschreckt sie, Furcht vor den wilden Thieren, aber sie stehen sich in allen Treuen bei,<br />
das Brüderchen weiß den Weg nach Haus wieder zu finden, oder das Schwesterchen, wenn Zauberei es verwandelt,<br />
leitet es als Rehkälbchen und sucht ihm Kräuter und Moos zum Lager; oder es sitzt schweigend und näht ein Hemd aus<br />
Sternblumen, das den Zauber vernichtet. Der ganze Umkreis <strong>di</strong>eser Welt ist bestimmt abgeschlossen: Könige, Prinzen,<br />
treue Diener und ehrliche Handwerker, vor allen Fischer, Müller, Köhler und Hirten, <strong>di</strong>e der Natur am nächsten<br />
geblieben, erscheinen darin; das andere ist ihr fremd und unbekannt. Auch, wie in den Mythen, <strong>di</strong>e von der goldnen Zeit<br />
reden, ist <strong>di</strong>e ganze Natur belebt, Sonne, Mond und Sterne sind zugän<strong>gli</strong>ch, geben Geschenke, oder lassen sich wohl gar<br />
in Kleider weben, in den Bergen arbeiten <strong>di</strong>e Zwerge nach dem Metall, in dem Wasser schlafen <strong>di</strong>e Nixen, <strong>di</strong>e Vögel,<br />
(Tauben sind <strong>di</strong>e geliebtesten und hülfreichsten), Pflanzen, Steine reden und wissen ihr Mitgefühl auszudrücken, das<br />
Blut selber ruft und spricht, und so übt <strong>di</strong>ese Poesie schon Rechte, wornach <strong>di</strong>e spätere nur in Gleichnissen strebt. Diese<br />
unschul<strong>di</strong>ge Vertraulichkeit des größten und kleinsten hat eine unbeschreibliche Lieblichkeit in sich, und wir mögten<br />
lieber dem Gespräch der Sterne mit einem armen verlassenen Kind im Wald, als dem Klang der Sphären zuhören. Alles<br />
schöne ist golden und mit Perlen bestreut, selbst goldne Menschen leben hier, das Unglück aber eine finstere Gewalt,<br />
ein ungeheurer menschenfressender Riese, der doch wieder besiegt wird, da eine gute Frau zur Seite steht, welche <strong>di</strong>e<br />
27
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A GEBRÜDER GRIMM<br />
Noth glücklich abzuwenden weiß, und <strong>di</strong>eses Epos en<strong>di</strong>gt immer, indem es eine endlose Freude aufthut. Das Böse auch<br />
ist kein kleines, nahstehendes und das schlechteste, weil man sich daran gewöhnen könnte, sondern etwas entsetzliches,<br />
schwarzes, streng geschiedenes, dem man sich nicht nähern darf; eben so furchtbar <strong>di</strong>e Strafe desselben: Schlangen und<br />
giftige Würmer verzehren ihr Opfer, oder in glühenden Eisenschuhen muß es sich zu todt tanzen. Vieles trägt auch eine<br />
eigene Bedeutung in sich: <strong>di</strong>e Mutter wird ihr rechtes Kind in dem Augenblick wieder im Arme haben, wenn sie den<br />
Wechselbalg, den ihr <strong>di</strong>e Hausgeister dafür gegeben, zum Lachen bringen kann; gleichwie das Leben des Kindes mit<br />
dem Lächeln anfängt und in der Freude fortwährt, beim Lächeln im Schlaf aber <strong>di</strong>e Engel mit ihm reden. So ist eine<br />
Viertelstunde tä<strong>gli</strong>ch über der Macht des Zaubers, wo <strong>di</strong>e menschliche Gestalt frei hervortritt, als könne uns keine<br />
Gewalt ganz einhüllen, und es gewähre jeder Tag Minuten, wo der Mensch alles falsche abschüttele und aus sich selbst<br />
herausblicke; dagegen aber wird der Zauber auch nicht ganz gelöst, und ein Schwanenflügel bleibt statt des Arms, und<br />
weil eine Thräne gefallen, ist ein Auge mit ihr verloren, oder <strong>di</strong>e weltliche Klugheit wird gedemüthigt und der<br />
Dummling, von allen verlacht und hintangesetzt, aber reines Herzens, gewinnt allein das Glück. In <strong>di</strong>esen Eigenschaften<br />
aber ist es gegründet, wenn sich so leicht aus <strong>di</strong>esen Märchen eine gute Lehre, eine Anwendung für <strong>di</strong>e Gegenwart<br />
ergiebt; es war weder ihr Zweck, noch sind sie darum erfunden, aber es erwächst daraus, wie eine gute Frucht aus einer<br />
gesunden Blüthe ohne Zuthun der Menschen. Darin bewährt sich jede ächte Poesie, daß sie niemals ohne Beziehung auf<br />
das Leben seyn kann, denn sie ist aus ihm aufgestiegen und kehrt zu ihm zurück, wie <strong>di</strong>e Wolken zu ihrer Geburtsstätte,<br />
nachdem sie <strong>di</strong>e Erde getränkt haben.<br />
So erscheint uns das Wesen <strong>di</strong>eser Dichtungen; in ihrer äußeren Natur gleichen sie aller volks- und<br />
sagenmäßigen: nirgends feststehend, in jeder Gegend, fast in jedem Munde, sich umwandelnd, bewahren sie treu<br />
denselben Grund. Indessen unterscheiden sie sich sehr bestimmt von den eigentlich localen Volkssagen, <strong>di</strong>e an leibhafte<br />
Oerter oder Helden der Geschichte gebunden sind, deren wir hier keine aufgenommen, wiewohl viele gesammelt haben,<br />
und <strong>di</strong>e wir ein andermal herauszugeben denken. Mehrere Aeußerungen einer und derselben Sage wegen ihrer<br />
angenehmen und eigenthümlichen Abweichungen haben wir einigemal mitgetheilt, das minder bedeutende in dem<br />
Anhang, überhaupt aber so genau gesammelt, als uns mö<strong>gli</strong>ch war. Gewiß ist auch, daß sich <strong>di</strong>e Märchen in dem<br />
Fortgange der Zeit bestän<strong>di</strong>g neu erzeugt, eben darum aber muß ihr Grund sehr alt seyn, bei einigen wird es durch<br />
Spuren in Fischart und Rollenhagen, <strong>di</strong>e an ihrem Ort bemerkt sind, für beinah drei Jahrhunderte besonders bewiesen;<br />
es ist aber außer Zweifel, daß sie noch gar viel älter sind, wenn auch Mangel an Nachrichten <strong>di</strong>recte Beweise unmö<strong>gli</strong>ch<br />
macht. Nur ein einziger, aber sicherer ergiebt sich aus ihrem Zusammenhang mit dem großen Heldenepos und der<br />
einheimischen Thierfabel, welchen auszuführen natürlich hier der Ort nicht war, einiges ist jedoch im Anhang<br />
gleichfalls darüber gesagt worden.<br />
[...]<br />
Wir haben uns bemüht, <strong>di</strong>ese Märchen so rein als mö<strong>gli</strong>ch war aufzufassen, man wird in vielen <strong>di</strong>e Erzählung<br />
von Reimen und Versen unterbrochen finden, <strong>di</strong>e sogar manchmal deutlich alliteriren, beim Erzählen aber niemals<br />
gesungen werden, und gerade <strong>di</strong>ese sind <strong>di</strong>e ältesten und besten. Kein Umstand ist hinzuge<strong>di</strong>chtet oder verschönert und<br />
abgeändert worden, denn wir hätten uns gescheut, in sich selbst so reiche Sagen mit ihrer eigenen Analogie oder<br />
Reminiscenz zu vergrößern, sie sind unerfindlich. In <strong>di</strong>esem Sinne existirt noch keine Sammlung in Deutschland, man<br />
hat sie fast immer nur als Stoff benutzt, um gröbere Erzählungen daraus zu machen, <strong>di</strong>e willkührlich erweitert,<br />
verändert, was sie auch sonst werth seyn konnten, doch immer den Kindern das Ihrige aus den Händen rissen, und ihnen<br />
nichts dafür gaben. [...] Wären wir so glücklich gewesen, sie in einem recht bestimmten Dialect erzählen zu können, so<br />
zweifeln wir nicht, würden sie viel gewonnen haben; es ist hier ein Fall, wo alle erlangte Bildung, Feinheit und Kunst<br />
der Sprache zu Schanden wird, und wo man fühlt, daß eine geläuterte Schriftsprache, so gewandt sie in allem andern<br />
seyn mag, heller und durchsichtiger aber auch schmackloser geworden, und nicht mehr fest an den Kern sich schließe.<br />
Wir übergeben <strong>di</strong>es Buch wohlwollenden Händen, dabei denken wir überhaupt an <strong>di</strong>e segnende Kraft, <strong>di</strong>e in<br />
<strong>di</strong>esen liegt, und wünschen, daß denen, welche <strong>di</strong>ese Brosamen der Poesie Armen und Genügsamen nicht gönen, es<br />
gänzlich verborgen bleiben möge.<br />
Cassel, am 18ten October 1810.<br />
[...]<br />
26. Rothkäppchen.<br />
Es war einmal eine kleine süße Dirn, <strong>di</strong>e hatte jedermann lieb, der sie nur ansah, am allerliebsten aber ihre Großmutter,<br />
<strong>di</strong>e wußte gar nicht, was sie alles dem Kind geben sollte. Einmal schenkte sie ihm ein Käppchen von rothem Sammet,<br />
und weil ihm das so wohl stand, und es nichts anders mehr tragen wollte, hieß es nur das Rothkäppchen; da sagte<br />
einmal seine Mutter zu ihm: »komm, Rothkäppchen, da hast du ein Stück Kuchen und ein Bouteille mit Wein, <strong>di</strong>e bring<br />
der Großmutter hinaus, sie ist krank und schwach, da wird sie sich daran laben; sey hübsch artig und grüß sie von mir,<br />
geh auch ordentlich und lauf nicht vom Weg ab, sonst fällst du, und zerbrichst das Glas, dann hat <strong>di</strong>e kranke<br />
Großmutter nichts.«<br />
Rothkäppchen versprach der Mutter recht gehorsam zu seyn. Die Großmutter aber wohnte draußen im Wald,<br />
eine halbe Stunde vom Dorf. Wie nun Rothkäppchen in den Wald kam, begegnete ihm der Wolf, Rothkäppchen aber<br />
wußte nicht, was das für ein böses Thier war, und fürchtete sich nicht vor ihm. »Guten Tag, Rothkäppchen.« – »Schön<br />
Dank, Wolf!« – »Wo willst du so früh hinaus, Rothkäppchen,« – »zur Großmutter.« – Was trägst du unter der Schürze?<br />
28
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A GEBRÜDER GRIMM<br />
– »<strong>di</strong>e Großmutter ist krank und schwach, da bring ich ihr Kuchen und Wein, gestern haben wir gebacken, da soll sie<br />
sich stärken.« – »Rothkäppchen, wo wohnt deine Großmutter?« – »Noch eine gute Viertelstunde im Wald, unter den<br />
drei großen Eichbäumen, das steht ihr Haus, unten sind <strong>di</strong>e Nußhecken das wirst du ja wissen« sagte Rothkäppchen.<br />
Der Wolf gedacht bei sich, das ist ein guter fetter Bissen für mich, wie fängst dus an, daß du den kriegst: »hör<br />
Rothkäppchen, sagte er, hast du <strong>di</strong>e schönen Blumen nicht gesehen, <strong>di</strong>e im Walde stehen, warum guckst du nicht einmal<br />
um <strong>di</strong>ch, ich glaube, du hörst gar nicht darauf, wie <strong>di</strong>e Vöglein lieblich singen, du gehst ja für <strong>di</strong>ch hin als wenn du im<br />
Dorf in <strong>di</strong>e Schule gingst, und ist so lustig haußen in dem Wald.«<br />
Rothkäppchen schlug <strong>di</strong>e Augen auf, und sah wie <strong>di</strong>e Sonne durch <strong>di</strong>e Bäume gebrochen war und alles voll<br />
schöner Blumen stand; da gedacht es: ei! wenn ich der Großmutter einen Strauß mitbringe, der wird ihr auch lieb seyn,<br />
es ist noch früh, ich komm doch zu rechter Zeit an, und sprang in den Wald und suchte Blumen. Und wenn es eine<br />
gebrochen hatte, meint es, dort stünd noch eine schönere und lief darnach und immer weiter in den Wald hinein. Der<br />
Wolf aber ging geradeswegs nach dem Haus der Großmutter und klopfte an <strong>di</strong>e Thüre. »Wer ist draußen?« – »das<br />
Rothkäppchen, ich bring <strong>di</strong>r Kuchen und Wein, mach mir auf.« – »Drück nur auf <strong>di</strong>e Klinke, rief <strong>di</strong>e Großmutter, ich<br />
bin zu schwach und kann nicht aufstehen.« Der Wolf drückte an der Klinke, und <strong>di</strong>e Thüre sprang auf. Da ging er<br />
hinein, geradezu an das Bett der Großmutter und verschluckte sie. Dann nahm er ihre Kleider, that sie an, setzte sich<br />
ihre Haube auf, legte sich in ihr Bett und zog <strong>di</strong>e Vorhänge vor.<br />
Rothkäppchen aber war herum gelaufen nach Blumen, und erst, als es so viel hatte, daß es keine mehr tragen<br />
konnte, machte es sich auf den Weg zu der Großmutter. Wie es ankam stand <strong>di</strong>e Thüre auf, darüber verwunderte es<br />
sich, und wie es in <strong>di</strong>e Stube kam, sahs so seltsam darin aus, daß es dacht: ei! du mein Gott! wie ängstlich wird mirs<br />
heut zu Muth, und bin sonst so gern bei der Großmutter. Drauf ging es zum Bett und zog <strong>di</strong>e Vorhänge zurück, da lag<br />
<strong>di</strong>e Großmutter und hatte <strong>di</strong>e Haube tief ins Gesicht gesetzt und sah wunderlich aus. »Ei Großmutter, was hast du für<br />
große Ohren!« – »daß ich <strong>di</strong>ch besser hören kann.« – »Ei Großmutter, was hast du für große Augen!« – »daß ich <strong>di</strong>ch<br />
besser sehen kann.« – »Ei Großmutter was hast du für große Hände!« – »daß ich <strong>di</strong>ch besser packen kann.« – »Aber<br />
Großmutter, was hast du für ein entsetzlich großes Maul!« – »daß ich <strong>di</strong>ch besser fressen kann.« Damit sprang der Wolf<br />
aus dem Bett, sprang auf das arme Rothkäppchen, und verschlang es.<br />
Wie der Wolf den fetten Bissen erlangt hatte, legte er sich wieder ins Bett, schlief ein und fing an, überlaut zu<br />
schnarchen. Der Jäger ging eben vorbei und gedacht, wie kann <strong>di</strong>e alte Frau so schnarchen, du mußt einmal nachsehen.<br />
Da trat er hinein und wie er vors Bett kam, da lag der Wolf den er lange gesucht, der hat gewiß <strong>di</strong>e Großmutter<br />
gefressen vielleicht ist sie noch zu retten, ich will nicht schießen, dachte der Jäger. Da nahm er <strong>di</strong>e Scheere und schnitt<br />
ihm den Bauch auf, und wie er ein paar Schritte gethan, da sah er das rothe Käppchen leuchten, und wie er noch ein<br />
wenig geschnitten, da sprang das Mädchen heraus und rief: »ach wie war ich erschrocken, was wars so dunkel in dem<br />
Wolf seinem Leib;« und dann kam <strong>di</strong>e Großmutter auch leben<strong>di</strong>g heraus. Rothkäppchen aber holte große schwere<br />
Steine, damit füllten sie dem Wolf den Leib, und wie er aufwachte, wollte er fortspringen, aber <strong>di</strong>e Steine waren so<br />
schwer, daß er sich todt fiel.<br />
Da waren alle drei vergnügt, der Jäger nahm den Pelz vom Wolf, <strong>di</strong>e Großmutter aß den Kuchen und trank den<br />
Wein, den Rothkäppchen gebracht hatte, und Rothkäppchen gedacht bei sich: du willst dein Lebtag nicht wieder allein<br />
vom Weg ab in den Wald laufen, wenn <strong>di</strong>rs <strong>di</strong>e Mutter verboten hat.<br />
Es wird auch erzählt, daß einmal, als Rothkäppchen der alten Großmutter wieder Gebackenes brachte, ein<br />
anderer Wolf ihm zugesprochen und es vom Weg ableiten wollen. Rothkäppchen aber hütete sich und ging gerad fort<br />
ihres Wegs, und sagte der Großmutter daß sie den Wolf gesehen, daß er ihm guten Tag gewünscht aber so bös aus den<br />
Augen geguckt; »wenns nicht auf offner Straße gewesen, er hätt mich gefressen.« – »Komm, sagte <strong>di</strong>e Großmutter wir<br />
wollen <strong>di</strong>e Thüre verschließen, daß er nicht herein kann.« Bald darnach klopfte der Wolf an und rief: »mach auf,<br />
Großmutter, ich bin das Rothkäppchen, ich bring <strong>di</strong>r Gebackenes.« Sie schwiegen aber still und machten <strong>di</strong>e Thüre<br />
nicht auf, da ging der Böse etlichemal um das Haus und sprang endlich aufs Dach, und wollte warten bis Rothkäppchen<br />
Abends nach Haus ging, dann wollt' er ihm nachschleichen und wollts in der Dunkelheit fressen. Aber <strong>di</strong>e Großmutter<br />
merkte, was er im Sinn hatte; da stand vor dem Haus ein großer Steintrog: »hol' den Eimer, Rothkäppchen, gestern hab<br />
ich Würste gekocht, da trag das Wasser, worin sie gekocht sind, in den Trog.« Rothkäppchen trug so lange bis der<br />
große, große Trog ganz voll war. Da stieg der Geruch von den Würsten dem Wolf in <strong>di</strong>e Nase, er schnup<strong>per</strong>te und<br />
guckte hinab, endlich machte er den Hals so lang, daß er sich nicht mehr halten konnte, er fing an zu rutschen, und<br />
rutschte vom Dach herab und gerade in den großen Trog hinein und ertrank. Rothkäppchen aber ging fröhlich und<br />
sicher nach Haus.<br />
[Dieses Märchen haben wir außer unserer mündlichen Sage, was zu wundern ist, nirgends angetroffen, als bei Perrault<br />
(cha<strong>per</strong>on rouge) wonach Tiecks Bearbeitung.]<br />
29
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A HOFFMANN<br />
E(rnst) T(heodor) A(madeus) HOFFMANN (1776-1822)<br />
Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza<br />
(Erstdruck in Fantasiestücke in Callots Manier, 1814; Auszug)<br />
Überhaupt rechne ich den Verfall eures Theaters von der Zeit, als man <strong>di</strong>e moralische Verbesserung der Menschen als den<br />
höchsten, ja einzigen Zweck der Bühne angab und so <strong>di</strong>eselbe zur Zuchtschule machen wollte. Das Lustigste konnte nicht<br />
mehr erfreuen, denn hinter jedem Scherz ragte <strong>di</strong>e Rute des moralischen Schulmeisters hervor, der gerade dann am<br />
geneigtesten ist, <strong>di</strong>e Kinder zu strafen, wenn sie sich dem Vergnügen ganz überlassen.<br />
Ich. Ich fühle <strong>di</strong>e kräftigen Hiebe der Rute, schnell wandelt sich das unschickliche Gelächter um in schickliches Weinen.<br />
Berganza. Ihr Deutsche kommt mir vor wie jener Mathematiker, der, nachdem er Glucks »Iphigenia in Tauris« gehört hatte,<br />
den entzückten Nachbar sanft auf <strong>di</strong>e Achsel klopfte und lächelnd fragte: »Aber was ist dadurch nun bewiesen?« – Alles soll<br />
noch außer dem, was es ist, was anderes bedeuten, alles soll zu einem außerhalb liegenden Zweck führen, den man gleich vor<br />
Augen hat, ja selbst jede Lust soll zu etwas anderm werden, als zur Lust und so noch irgendeinem andern leiblichen oder<br />
moralischen Nutzen <strong>di</strong>enen, damit nach der alten Küchenregel immer das Angenehme mit dem Nützlichen verbunden bleibe.<br />
Ich. Aber der Zweck der bloßen vorübergehenden Belustigung ist so kleinlich, daß du doch der Bühne gewiß einen höheren<br />
einräumen wirst?<br />
Berganza. Es gibt keinen höheren Zweck der Kunst, als in dem Menschen <strong>di</strong>ejenige Lust zu entzünden, welche sein ganzes<br />
Wesen von aller ir<strong>di</strong>schen Qual, von allem niederbeugenden Druck des Alltagslebens wie von unsaubern Schlacken befreit<br />
und ihn so erhebt, daß er, sein Haupt stolz und froh emporrichtend, das Göttliche schaut, ja mit ihm in Berührung kommt. –<br />
Die Erregung <strong>di</strong>eser Lust, <strong>di</strong>ese Erhebung zu dem poetischen Standpunkte, auf dem man an <strong>di</strong>e herrlichen Wunder des Rein-<br />
Idealen willig glaubt, ja mit ihnen vertraut wird und auch das gemeine Leben mit seinen mannigfaltigen bunten Erscheinungen<br />
durch den Glanz der Poesie in allen seinen Tendenzen verklärt und verherrlicht erblickt – das nur allein ist nach meiner<br />
Überzeugung der wahre Zweck des Theaters. Ohne <strong>di</strong>e Gabe, <strong>di</strong>ese Erscheinungen des Lebens nicht als unabhängige<br />
Einzelnheiten, von der Natur wie im zwecklosen Spiel eines launenhaften Kindes hingeworfen, sondern als aus dem Ganzen<br />
entspringend und in seinen Mechanism wieder tief eingreifend zu betrachten, im Innern aufzufassen und mit den leben<strong>di</strong>gsten<br />
Farben wiederzugeben, gibt es keinen Schauspiel<strong>di</strong>chter; vergebens ist sonst das Ringen, »der Natur den Spiegel vorzuhalten,<br />
der Tugend ihre eignen Züge, der Schmach ihr eignes Bild, dem Jahrhundert und Kör<strong>per</strong> der Zeit den Abdruck seiner Gestalt<br />
zu zeigen«.<br />
Ich. Und hiernach möchte sich auch <strong>di</strong>e Fähigkeit zu beobachten mo<strong>di</strong>fizieren, <strong>di</strong>e man hauptsächlich vom Lustspiel<strong>di</strong>chter<br />
verlangt.<br />
Berganza. Aller<strong>di</strong>ngs. Aus dem getreuen Beobachten und Auffassen der in<strong>di</strong>viduellen Züge einzelner Personen kann<br />
höchstens ein ergötzliches Porträt entstehen, das eigentlich nur dann zu interessieren vermag, wenn man das Original kennt<br />
und durch den Vergleich damit in den Stand gesetzt wird, <strong>di</strong>e praktische Fertigkeit des Malers zu beurteilen. Als Charakter auf<br />
der Bühne wird aber dem zu getreuen Porträt oder der gar aus einzelnen Zügen mehrerer Porträts zusammengepinselten<br />
Personage immer <strong>di</strong>e innere poetische Wahrheit fehlen, <strong>di</strong>e nur durch <strong>di</strong>e Betrachtung des Menschen von jenem höheren<br />
Standpunkte aus erzeugt wird. – Kurz, der Schauspiel<strong>di</strong>chter muß nicht sowohl <strong>di</strong>e Menschen, als den Menschen kennen. –<br />
Der Blick des wahren Dichters durchschaut <strong>di</strong>e menschliche Natur in ihrer innersten Tiefe und herrscht über ihre<br />
Erscheinungen, indem er ihre mannigfaltigste Strahlenbrechung in seinem Geiste wie in einem Prisma auffaßt und reflektiert.<br />
Ich. Deine Ansichten von der Kunst und von dem Theater, lieber Berganza, möchten manchen Widerspruch finden, wiewohl<br />
vorzü<strong>gli</strong>ch das, was du von der Kenntnis des Menschen und der Menschen sagst, mir recht gut eingeht, und ich darin den<br />
Grund finde, warum <strong>di</strong>e Schau- und Lustspiele eines gewissen Dichters, der zugleich praktischer Schauspieler war, momentan<br />
so hochgeachtet und so bald vergessen wurden; das gänzliche Vorübergehen seiner Periode noch während seines Lebens hatte<br />
seine Fittiche dermaßen gelähmt, daß er sie nicht mehr zum neuen Fluge zu schwingen vermochte.<br />
Berganza. Der Dichter, von dem du sprichst, trägt auch größtenteils <strong>di</strong>e Schuld der Sünde, welche als unabwendbare Folge<br />
den Fall unseres Theaters nach sich zog. – Er war einer der Koryphäen jener langweiligen, weinerlichen, moralisierenden<br />
Sekte, <strong>di</strong>e mit ihrem Tränenwasser jeden emporblitzenden Funken der wahren Poesie auszulöschen strebten. – Er bot uns in<br />
reichlicher Fülle <strong>di</strong>e verbotenen Apfel dar, deren Genuß uns das Para<strong>di</strong>es kostete.<br />
Ich. Aber man kann ihm eine gewisse lebensvolle Darstellung nicht absprechen.<br />
Berganza. Die aber mehrenteils in dem geschraubten Dialog sich selbst wieder vernichtet. Mir ist es, als wenn er lebhaft<br />
aufgefaßte in<strong>di</strong>viduelle Züge einzelner Personen so wie ein fremdes Kleid sich selbst angepaßt, alsdann so lange daran<br />
geschnörkelt und geschnitten, bis sie ihm gerecht waren, und in der Art seine Charaktere geschaffen hätte. Wie es da um <strong>di</strong>e<br />
innere poetische Wahrheit stehen muß, kannst du leicht selbst ermessen.<br />
Ich. Indessen waren doch seine Intentionen meistenteils gut.<br />
Berganza. Ich hoffe, daß du das Wort Intention nicht in dem höhern Sinn der Kunstsprache nimmst, sondern nur den<br />
wenigstens scheinbar moralischen Zweck der Schauspiele jenes Dichters darunter verstehst, und da muß ich <strong>di</strong>r gestehen, daß<br />
vielleicht, abgesehen von aller Kunst, von allem Poetischen, jene Schauspiele in der Absicht und dem Erfolg wirklich den<br />
erbaulichen Fastenpre<strong>di</strong>gten an <strong>di</strong>e Seite zu stellen sind, <strong>di</strong>e den Gottlosen mit der Hölle drohen und den Frommen den<br />
Himmel versprechen; nur hat der Dichter den Vorteil, als Handhaber und Vollstrecker der poetischen Gerechtigkeit nach<br />
Befund gleich mit dem Schwerte selbst dreinschlagen zu können. Belohnung und Strafe, Geldbörsen und Geheimderatstitel,<br />
bürgerliche Schande und Festung, alles ist in Bereitschaft, sobald sich der Vorhang vor dem fünften Akte hebt.<br />
Ich. Mich wundert, daß in <strong>di</strong>esen Dingen noch eine gewisse Varietät stattfinden kann.<br />
Berganza. Warum das nicht! – Wäre es nicht für unsere Dichter eine herrliche fruchtbare Idee gewesen, <strong>di</strong>e zehn Gebote<br />
zyklisch in Schauspielen zu behandeln? – Die beiden Gebote: »Du sollst nicht stehlen«, und »du sollst nicht ehebrechen«, sind<br />
30
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A HOFFMANN<br />
schon ganz artig theatralisch ausgeführt worden, und es käme nur darauf an, solche Gebote, als z.B. »du sollst nicht begehren<br />
etc.«, schicklich einzukleiden.<br />
Ich. Vor einiger Zeit klang der Einfall weniger ironisch als jetzt. Doch wie war es mö<strong>gli</strong>ch, daß jene weinerliche,<br />
moralisierende Periode bis zur höchsten Stufe der unerträ<strong>gli</strong>chsten Langeweile sich nicht mit einem allgemeinen Auflehnen<br />
dagegen, mit einer plötzlichen Revolution en<strong>di</strong>gen konnte, sondern nach und nach verbleichen und verlöschen mußte?<br />
Berganza. Ich glaube nicht, daß ihr Deutsche, selbst bei dem schwersten Druck, zum Aufstande dagegen durch einen<br />
plötzlichen Blitz aufzuregen seid. Indessen würde <strong>di</strong>e Sache doch anders und zwar eindringender, schneller gegangen sein,<br />
wenn ein herrlicher Dichter, der euch noch manchmal bis in das Innerste hinein erfreuen wird, damals seinen gerechten<br />
Abscheu gegen <strong>di</strong>e armseligen Bretter überwunden und uns ein Märchen, wie Gozzi das Märchen von den drei Pomeranzen,<br />
von der Bühne herab erzählt hätte. – Wie es nur an ihm lag, mit der ihm zu Gebote stehenden unendlichen poetischen Kraft<br />
das jämmerliche Kartenhaus einzuschießen, zeigt <strong>di</strong>e Wirkung, ja <strong>di</strong>e gänzliche Revolution in allen dem Theater befreundeten<br />
poetischen Gemütern, <strong>di</strong>e sein polemisches, in Form des Lustspiels abgefaßtes Märchen hervorbrachte, das, wenn alle<br />
Beziehungen längst fremd geworden sind, als ein für sich bestehendes ergötzliches Produkt nicht ohne das innigste Behagen<br />
gelesen werden wird.<br />
Ich. Ich merke, daß du den »Gestiefelten Kater« meinst, ein Buch, was mich schon damals, als ich noch von den<br />
unglückseligen Erscheinungen jener Periode befangen, mit dem reinsten Vergnügen erfüllte. – Warum springst du so,<br />
Berganza?<br />
Berganza. Ach! – es ist der Aufheiterung wegen! – Ich will mir all <strong>di</strong>e verfluchten Erinnerungen an das Theater aus dem<br />
Sinne schlagen und ein Gelübde tun, mich nie mehr darauf einzulassen. – Am liebsten ginge ich zu meinem Kapellmeister.<br />
Ich. So nimmst du also das Anerbieten, bei mir zu bleiben, nicht an?<br />
Berganza. Schon deshalb nicht, weil ich mit <strong>di</strong>r gesprochen. Es ist überhaupt nicht ratsam, jemanden alle Talente, <strong>di</strong>e man<br />
besitzt, zu enthüllen, weil <strong>di</strong>eser dann das wohlerworbene Recht zu haben glaubt, sie in Anspruch zu nehmen, wie er nur mag.<br />
So könntest du nun oft von mir verlangen, daß ich mit <strong>di</strong>r sprechen sollte.<br />
Ich. Weiß ich denn aber nicht, daß es nicht von <strong>di</strong>r abhängt, zu sprechen, wann du willst?<br />
Berganza. Wenn auch! – Du könntest es oft für Eigensinn halten, wenn ich hartnäckig schwiege, unerachtet es mir in dem<br />
Augenblick unmö<strong>gli</strong>ch sein dürfte, menschlich zu schwatzen. Verlangt man nicht oft von dem Musiker, er solle spielen, – von<br />
dem Dichter, er solle Verse machen, sind auch Zeit und Umstände so ungünstig, daß es unmö<strong>gli</strong>ch ist, dem Zudrin<strong>gli</strong>chen zu<br />
genügen? Und doch schilt man dann jede Weigerung Eigensinn. – Kurz! – ich bin <strong>di</strong>r mit meinen besondern Gaben und<br />
Eigenheiten zu bekannt geworden, als daß auf ein näheres Verhältnis zwischen uns zu rechnen wäre. Überdem habe ich mein<br />
Unterkommen schon gefunden, laß uns also davon abbrechen.<br />
Ich. Es ist mir unlieb, daß du so wenig Zutrauen zu mir hast.<br />
Berganza. Du bist also auch neben deinem Musiktreiben Schriftsteller – Dichter?<br />
Ich. Ich schmeichle mir bisweilen –<br />
Berganza. Schon genug – ihr taugt alle nicht viel, denn der reine, einfarbige Charakter ist selten.<br />
Ich. Was willst du damit sagen?<br />
Berganza. Nächst denen, <strong>di</strong>e nur im äußern Prunkstaat der Poesie erscheinen, nächst euern geleckten Männlein, euern<br />
gebildeten gemüt- und herzlosen Weibern, gibt es noch welche, <strong>di</strong>e von innen und außen gesprenkelt sind und in mehreren<br />
Farben schillern, ja bisweilen wie das Chamäleon <strong>di</strong>e Farben wechseln können.<br />
Ich. Noch immer verstehe ich <strong>di</strong>ch nicht –<br />
Berganza. Sie haben Kopf – Gemüt – aber nur dem Geheiligten entfaltet <strong>di</strong>e blaue Blume willig ihren Kelch!<br />
Ich. Was willst du mit der blauen Blume?<br />
Berganza. Eine Erinnerung an einen verstorbenen Dichter, der zu den reinsten gehörte, <strong>di</strong>e jemals gelebt. Wie Johannes sagte,<br />
leuchteten in seinem kindlichen Gemüte <strong>di</strong>e reinsten Strahlen der Poesie, und sein frommes Leben war ein Hymnus, den er<br />
dem höchsten Wesen und den heiligen Wundern der Natur in herrlichen Tönen sang. Sein Dichtername war: Novalis!<br />
Ich. Viele hielten ihn jederzeit für einen Schwärmer und Phantasten –<br />
Berganza. Weil er in der Poesie sowie im Leben nur das Höchste, das Heiligste wollte und vorzü<strong>gli</strong>ch manchen gesprenkelten<br />
Kollegen herzlich verachtete; wiewohl eigentlicher Haß seiner Seele fremd war, so hatte er manchen ihn verfolgenden Feind.<br />
– Ebenso weiß ich recht gut, daß man ihm Unverständlichkeit und Schwulst vorwarf, unerachtet es zu seinem Verständnis nur<br />
darauf ankam, mit ihm in <strong>di</strong>e tiefsten Tiefen hinabzusteigen und wie aus einem in Ewigkeit ergiebigen Schacht <strong>di</strong>e<br />
wundervollen Kombinationen, womit <strong>di</strong>e Natur alle Erscheinungen in ein Ganzes verknüpft, heraufzubergen, wozu denn<br />
freilich den mehrsten es an innerer Kraft und an Mut mangelte.<br />
Ich. Ich glaube, daß wenigstens in Ansehung des kindlichen Gemüts und des wahren poetischen Sinnes ihm ein Dichter der<br />
neuesten Zeit ganz an <strong>di</strong>e Seite zu setzen ist.<br />
Berganza. Meinst du den, der mit seltner Kraft <strong>di</strong>e nor<strong>di</strong>sche Riesenharfe ertönen ließ, der mit wahrhafter Weihe und<br />
Begeisterung den hohen Helden Sigurd in das Leben rief, daß sein Glanz all <strong>di</strong>e matten Dämmerlichter der Zeit überstrahlte<br />
und vor seinem mächtigen Tritt all <strong>di</strong>e Harnische, <strong>di</strong>e man sonst für <strong>di</strong>e Helden selbst gehalten, hohl und kör<strong>per</strong>los umfielen, –<br />
meinst du den, so gebe ich <strong>di</strong>r recht. – Er herrscht als unumschränkter Herr im Reich des Wunderbaren, dessen seltsame<br />
Gestalten und Erscheinungen willig seinem mächtigen Zauberrufe folgen und – doch in <strong>di</strong>esem Augenblicke fällt mir durch<br />
eine besondere Ideenkombination ein Bild oder vielmehr ein Kupferstich ein, der anders, als was er vorstellt, gedeutet, mir das<br />
eigentliche innere Wesen solcher Dichter, als von denen wir eben sprechen, auszudrücken scheint. –<br />
Ich. Sprich, lieber Berganza, was ist das für ein Bild?<br />
Berganza. Meine Dame (du weißt, daß ich <strong>di</strong>e Dichterin und mimische Künstlerin meine) hatte ein sehr schönes Zimmer mit<br />
guten Abdrücken der sogenannten Shakespeares-Galerie ausgeziert. Das erste Blatt, gleichsam als Prologus, stellte<br />
Shakespeares Geburt vor. Mit ernster hoher Stirn, mit hellen, klaren Augen um sich schauend, liegt der Knabe in der Mitte,<br />
31
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A HOFFMANN<br />
um ihn <strong>di</strong>e Leidenschaften, ihm <strong>di</strong>enend; – <strong>di</strong>e Furcht, <strong>di</strong>e Verzweiflung, <strong>di</strong>e Angst, das Entsetzen schmiegen, gräßlich<br />
gestaltet, sich willig dem Kinde und scheinen auf seinen ersten Laut zu horchen. –<br />
Ich. Aber <strong>di</strong>e Deutung auf unsere Dichter?<br />
Berganza. Kann man nicht ohne allen Zwang jenes Bild so deuten: »Sehet, wie dem kindlichen Gemüte <strong>di</strong>e Natur in allen<br />
ihren Erscheinungen unterworfen, wie selbst das Furchtbare, das Entsetzliche sich seinem Willen und seinem Worte schmiegt,<br />
und erkennet, daß nur ihm <strong>di</strong>ese zauberische Macht verstattet.«<br />
Ich. In <strong>di</strong>esem Sinne habe ich wirklich noch nie das mir wohlbekannte Bild betrachtet; aber ich muß gestehen, daß deine<br />
Deutung nicht allein paßt, sondern auch überdem sehr pittoresk ist. Überhaupt scheint deine Phantasie sehr regsam. – Doch! –<br />
Du bist mir noch <strong>di</strong>e Erklärung deiner sogenannten gesprenkelten Charaktere schul<strong>di</strong>g.<br />
Berganza. Der Ausdruck taugt nicht viel, um das zu bezeichnen, was ich eigentlich meine, indessen hat ihn der Haß geboren,<br />
den ich gegen alle buntfarbig gesprenkelte Kreaturen von meinem Stande trage. Oft bin ich einem bloß deshalb in <strong>di</strong>e Ohren<br />
gefahren, weil er, in Weiß und Braun gefärbt, mir wie ein verächtlicher buntscheckichter Narr vorkam. – Sieh, lieber Freund,<br />
es gibt so viele unter euch, <strong>di</strong>e man Dichter nennt und denen man Geist, Tiefe, ja selbst Gemüt nicht absprechen kann, <strong>di</strong>e<br />
aber, als sei <strong>di</strong>e Dichtkunst etwas anderes als das Leben des Dichters selbst, von jeder Gemeinheit des Alltagslebens angeregt,<br />
sich willig den Gemeinheiten selbst hingeben und <strong>di</strong>e Stunden der Weihe am Schreibtische von allem übrigen Treiben und<br />
Tun sorgfältig trennen. – Sie sind selbstsüchtig, eigennützig, schlechte Gatten, schlechte Väter, untreue Freunde, indem sie,<br />
sobald der neue Bogen zur Presse soll, das Heiligste in heiligen Tönen verkünden. –<br />
Ich. Was tut aber das Privatleben, wenn der Dichter nur Dichter ist und bleibt! – Aufrichtig gesprochen, ich halte es mit<br />
Rameaus Neffen, der den Dichter der »Athalia« dem guten Hausvater vorzieht.<br />
Berganza. Mir ist es schon fatal, daß man bei dem Dichter, als sei er eine <strong>di</strong>plomatische Person oder nur überhaupt ein<br />
Geschäftsmann, immer das Privatleben – und nun von welchem Leben denn? – absondert. – Niemals werde ich mich davon<br />
überzeugen, daß der, dessen ganzes Leben <strong>di</strong>e Poesie nicht über das Gemeine, über <strong>di</strong>e kleinlichen Erbärmlichkeiten der<br />
konventionellen Welt erhebt, der nicht zu gleicher Zeit gutmütig und gran<strong>di</strong>os ist, ein wahrhafter, aus innerem Beruf, aus der<br />
tiefsten Anregung des Gemüts hervorgegangener Dichter sei. Ich möchte immer etwas aufsuchen, wodurch erklärt würde, wie<br />
das, was er verkündet, von außen hineingegangen sei und den Samen gestreut habe, den nun der lebhafte Geist, das regbare<br />
Gemüt zur Blüte und Frucht reifen läßt. Mehrenteils verrät auch irgendeine Sünde, sei es auch nur eine Geschmacklosigkeit,<br />
von dem Zwange des fremdartigen Schmuckes erzeugt, den Mangel an innerer Wahrheit.<br />
Ich. Das ist also dein gesprenkelter Charakter?<br />
Berganza. Aller<strong>di</strong>ngs! – Ihr habt einen Dichter – gehabt, möcht' ich beinahe sagen, dessen Werke oft eine in Seele und Herz<br />
dringende Frömmigkeit atmen, und der übrigens ganz für das Original jenes schwarzen Bildes gelten kann, das ich von dem<br />
gesprenkelten Charakter entworfen. Er ist selbstsüchtig, eigennützig, <strong>per</strong>fid gegen Freunde, <strong>di</strong>e es gut und redlich mit ihm<br />
meinten, und keck will ich es behaupten, daß nur das Auffassen und Verfolgen einer fixen Idee ohne einen eigentlichen innern<br />
Beruf ihn den Weg betreten ließ, den er nun für immer eingeschlagen. – Vielleicht <strong>di</strong>chtet er sich herauf bis zum Heiligen! –<br />
Ich. Das ist mir rätselhaft!<br />
Berganza. Und möge <strong>di</strong>r das Rätsel auch ungedeutet bleiben! – Du siehst kein weißes Haar an mir – ich bin durchaus schwarz<br />
– schiebe allenfalls darauf meinen tiefen Haß gegen alles Bunte. – Närrisch war es doch, sich gerade für <strong>di</strong>e Jungfrau Maria zu<br />
halten.<br />
Ich. Du springst auf etwas Neues?<br />
Berganza. Im Gegenteil! – ich bleibe bei dem Alten. Johannes Kreisler erzählte einmal in meiner Gegenwart einem Freunde,<br />
wie einst der Wahnsinn der Mutter den Sohn zum Dichter in der frömmsten Manier gebildet habe. – Die Frau bildet sich ein,<br />
sie sei <strong>di</strong>e Jungfrau Maria und ihr Sohn der verkannte Christus, der auf Erden wandle, Kaffee trinke und Billard spiele, aber<br />
bald werde <strong>di</strong>e Zeit kommen, wo er seine Gemeine sammeln und sie geradesweges in den Himmel führen würde. Des Sohnes<br />
rege Phantasie fand in der Mutter Wahnsinn <strong>di</strong>e Andeutung seines höheren Berufs. – Er hielt sich für einen Auserwählten<br />
Gottes, der <strong>di</strong>e Geheimnisse einer neuen geläuterten Religion verkünden solle; mit innerer Kraft, <strong>di</strong>e ihn das Leben an den<br />
erkannten Beruf setzen ließ, hätte er ein neuer Prophet oder was weiß ich werden können; aber bei der angebornen<br />
Schwächlichkeit, bei dem Kleben an den Alltä<strong>gli</strong>chkeiten des gemeinen Lebens fand er es bequemer, jenen Beruf nur in<br />
Versen anzudeuten, ihn auch nachgerade zu verleugnen, wenn er seine bürgerliche Existenz gefährdet glaubte. – Ach, mein<br />
Freund! Ach! –<br />
Ich. Was ist <strong>di</strong>r, lieber Berganza?<br />
Berganza. Bedenke das Schicksal eines armen Hundes, der verdammt ist, recht was man sagt, aus der Schule zu schwatzen,<br />
wenn ihm einmal der Himmel zu sprechen erlaubt. – Doch freut es mich, daß du meinen Zorn, meine Verachtung gegen eure<br />
falschen Propheten – so will ich <strong>di</strong>e nennen, <strong>di</strong>e der wahren Poesie zum Hohn sich nur im Falschen, Angeeigneten bewegen –<br />
so gut aufgenommen oder vielmehr für gerecht erkannt hast. – Ich sage <strong>di</strong>r, Freund, traue nicht den Gesprenkelten! –<br />
32
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A EICHENDORFF<br />
Joseph von EICHENDORFF (1788–1857)<br />
Frische Fahrt<br />
(Erstdruck in Ahnung und Gegenwart, 1815)<br />
Laue Luft kommt blau geflossen,<br />
Frühling, Frühling soll es sein!<br />
Waldwärts Hörnerklang geschossen,<br />
Mut'ger Augen lichter Schein;<br />
Und das Wirren bunt und bunter<br />
Wird ein magisch wilder Fluß,<br />
In <strong>di</strong>e schöne Welt hinunter<br />
Lockt <strong>di</strong>ch <strong>di</strong>eses Stromes Gruß.<br />
Und ich mag mich nicht bewahren!<br />
Weit von euch treibt mich der Wind,<br />
Auf dem Strome will ich fahren,<br />
Von dem Glanze selig blind!<br />
Tausend Stimmen lockend schlagen,<br />
Hoch Aurora flammend weht,<br />
Fahre zu! ich mag nicht fragen,<br />
Wo <strong>di</strong>e Fahrt zu Ende geht!<br />
Waldgespräch<br />
(Erstdruck in Ahnung und Gegenwart, 1815)<br />
»Es ist schon spät, es wird schon kalt,<br />
Was reitst du einsam durch den Wald?<br />
Der Wald ist lang, du bist allein,<br />
Du schöne Braut! Ich führ <strong>di</strong>ch heim!«<br />
»Groß ist der Männer Trug und List,<br />
Vor Schmerz mein Herz gebrochen ist,<br />
Wohl irrt das Waldhorn her und hin,<br />
O flieh! Du weißt nicht, wer ich bin.«<br />
So reich geschmückt ist Roß und Weib,<br />
So wunderschön der junge Leib,<br />
»Jetzt kenn ich <strong>di</strong>ch – Gott steh mir bei!<br />
Du bist <strong>di</strong>e Hexe Lorelei.«<br />
»Du kennst mich wohl – von hohem Stein<br />
Schaut still mein Schloß tief in den Rhein.<br />
Es ist schon spät, es wird schon kalt,<br />
Kommst nimmermehr aus <strong>di</strong>esem Wald!«<br />
33<br />
Sehnsucht<br />
(Erstdruck in Dichter und ihre Gesellen, 1834)<br />
Es schienen so golden <strong>di</strong>e Sterne,<br />
Am Fenster ich einsam stand<br />
Und hörte aus weiter Ferne<br />
Ein Posthorn im stillen Land.<br />
Das Herz mir im Leib entbrennte,<br />
Da hab ich mir heimlich gedacht:<br />
Ach, wer da mitreisen könnte<br />
In der prächtigen Sommernacht!<br />
Zwei junge Gesellen gingen<br />
Vorüber am Bergeshang,<br />
Ich hörte im Wandern sie singen<br />
Die stille Gegend entlang:<br />
Von schwindelnden Felsenschlüften,<br />
Wo <strong>di</strong>e Wälder rauschen so sacht,<br />
Von Quellen, <strong>di</strong>e von den Klüften<br />
Sich stürzen in <strong>di</strong>e Waldesnacht.<br />
Sie sangen von Marmorbildern,<br />
Von Gärten, <strong>di</strong>e überm Gestein<br />
In dämmernden Lauben verwildern,<br />
Palästen im Mondenschein,<br />
Wo <strong>di</strong>e Mädchen am Fenster lauschen,<br />
Wann der Lauten Klang erwacht erwacht,<br />
Und <strong>di</strong>e Brunnen verschlafen rauschen<br />
In der prächtigen Sommernacht.<br />
Mondnacht<br />
(Entstanden um 1830; Erstdruck 1837)<br />
Es war, als hätt der Himmel<br />
Die Erde still geküßt,<br />
Daß sie im Blütenschimmer<br />
Von ihm nun träumen müßt.<br />
Die Luft ging durch <strong>di</strong>e Felder,<br />
Die Ähren wogten sacht,<br />
Es rauschten leis <strong>di</strong>e Wälder,<br />
So sternklar war <strong>di</strong>e Nacht.<br />
Und meine Seele spannte<br />
Weit ihre Flügel aus,<br />
Flog durch <strong>di</strong>e stillen Lande,<br />
Als flöge sie nach Haus.
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A PLATEN<br />
August von PLATEN (1796-1835)<br />
Der Hoffnung Schaumgebäude...<br />
(Erstdruck in Neue Ghaselen, 1823)<br />
Der Hoffnung Schaumgebäude bricht zusammen,<br />
Wir mühn uns, ach! und kommen nicht zusammen:<br />
Mein Name klingt aus deinem Mund melo<strong>di</strong>sch,<br />
Doch reihst du selten <strong>di</strong>es Ge<strong>di</strong>cht zusammen;<br />
Wie Sonn und Mond uns stets getrennt zu halten,<br />
Verschworen Sitte sich und Pflicht zusammen,<br />
Laß Haupt an Haupt uns lehnen, denn es taugen<br />
Dein dunkles Haar, mein hell Gesicht zusammen!<br />
Doch ach! ich träume, denn du ziehst von hinnen,<br />
Eh noch das Glück uns brachte <strong>di</strong>cht zusammen:<br />
Die Seelen bluten, da getrennt <strong>di</strong>e Leiber,<br />
O wären's Blumen, <strong>di</strong>e man flicht zusammen!<br />
Es liegt an eines Menschen Schmerz...<br />
(Erstdruck in Neue Ghaselen, 1823)<br />
Es liegt an eines Menschen Schmerz, an eines Menschen Wunde nichts,<br />
Es kehrt an das, was Kranke quält, sich ewig der Gesunde nichts!<br />
Und wäre nicht das Leben kurz, das stets der Mensch vom Menschen erbt,<br />
So gäb's Beklagenswerteres auf <strong>di</strong>esem weiten Runde nichts!<br />
Einförmig stellt Natur sich her, doch tausendförmig ist ihr Tod,<br />
Es fragt <strong>di</strong>e Welt nach meinem Ziel, nach deiner letzten Stunde nichts;<br />
Und wer sich willig nicht ergiebt dem ehrnen Lose, das ihm dräut,<br />
Der zürnt ins Grab sich rettungslos und fühlt in dessen Schlunde nichts;<br />
Dies wissen Alle, doch vergißt es Jeder gerne jeden Tag,<br />
So komme denn, in <strong>di</strong>esem Sinn, hinfort aus meinem Munde nichts!<br />
Vergeßt, daß euch <strong>di</strong>e Welt betrügt, und daß ihr Wunsch nur Wünsche zeugt,<br />
Laßt eurer Liebe nichts entgehn, entschlüpfen eurer Kunde nichts!<br />
Es hoffe Jeder, daß <strong>di</strong>e Zeit ihm gebe, was sie Keinem gab,<br />
Denn Jeder sucht ein All zu sein und Jeder ist im Grunde nichts.<br />
Tristan<br />
(Erstdruck 1825; endgültige Fassung in Ge<strong>di</strong>chte, 1834)<br />
Wer <strong>di</strong>e Schönheit angeschaut mit Augen,<br />
Ist dem Tode schon anheimgegeben,<br />
Wird für keinen Dienst auf Erden taugen,<br />
Und doch wird er vor dem Tode beben,<br />
Wer <strong>di</strong>e Schönheit angeschaut mit Augen!<br />
Ewig währt für ihn der Schmerz der Liebe,<br />
Denn ein Tor nur kann auf Erden hoffen,<br />
Zu genügen einem solchen Triebe:<br />
Wen der Pfeil des Schönen je getroffen,<br />
Ewig währt für ihn der Schmerz der Liebe!<br />
Ach, er möchte wie ein Quell versiechen,<br />
Jedem Hauch der Luft ein Gift entsaugen,<br />
Und den Tod aus jeder Blume riechen:<br />
Wer <strong>di</strong>e Schönheit angeschaut mit Augen,<br />
Ach, er möchte wie ein Quell versiechen!<br />
34<br />
Flucht nach Toskana<br />
(Entstehung 1828; Erstdruck in Ge<strong>di</strong>chte, 1834)<br />
Wie flog der Wagen leicht dahin,<br />
Seit hinter mir der Apennin,<br />
Seit jeder Pfad, auf dem er flog,<br />
Ins Arnotal hinunterbog!<br />
Olivenhaine rings herum,<br />
Wo manches schöne Tuskulum,<br />
Umgeben von Zypressen, stand,<br />
Verhießen mir ein mildres Land,<br />
Ein Volk, das immer fröhlich singt,<br />
Und dessen Sprache süßer klingt.<br />
Nie laßt mich wiedersehn, o nie<br />
Die nebelreiche Lombar<strong>di</strong>e,<br />
Wo winterlich der Flüsse Qualm<br />
Umdampft den dürren Stoppelhalm,<br />
Und über ebne Flächen weit<br />
Sich legt <strong>di</strong>e <strong>di</strong>cke Feuchtigkeit!<br />
Wie prächtig Mailand auch, wie groß,<br />
Es liegt der Finsternis im Schoß,<br />
Und seiner breiten Straßen Glanz,<br />
Was frommt er ihm? Der Scala Tanz,<br />
Den alten, marmorblanken Dom<br />
Beneiden ihm Florenz und Rom;<br />
Doch wo's so finster ist und kalt,<br />
Welch quälerischer Aufenthalt!<br />
Wer wollte nicht, um ihn zu fliehn,<br />
Hoch über <strong>di</strong>e Gebürge ziehn,<br />
Hinab zur schönen Stadt gekehrt,<br />
Die einst der Welt so viel gelehrt?<br />
Du bist mir im Dezember Lenz,<br />
Du milder Himmel von Florenz!<br />
Paläste, grüne Haine ziert<br />
Der Arno, welcher nie gefriert,<br />
Und über ihm, so schön und breit,<br />
Die Brücke der Dreifaltigkeit.
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A1 DROSTE-HÜLSHOFF<br />
Annette von DROSTE-HÜLSHOFF (1797-1848)<br />
Im Grase<br />
(Entstehung und Erstdruck 1844)<br />
Süße Ruh', süßer Taumel im Gras,<br />
Von des Krautes Arom' umhaucht,<br />
Tiefe Flut, tief, tief trunkne Flut,<br />
Wenn <strong>di</strong>e Wolke am Azure verraucht,<br />
Wenn aufs müde schwimmende Haupt<br />
Süßes Lachen gaukelt herab,<br />
Liebe Stimme säuselt und träuft<br />
Wie <strong>di</strong>e Lindenblüt' auf ein Grab.<br />
Wenn im Busen <strong>di</strong>e Toten dann,<br />
Jede Leiche sich streckt und regt,<br />
Leise, leise den Odem zieht,<br />
Die geschloßne Wim<strong>per</strong> bewegt,<br />
Tote Lieb', tote Lust, tote Zeit,<br />
All <strong>di</strong>e Schätze, im Schutt verwühlt,<br />
Sich berühren mit schüchternem Klang<br />
Gleich den Glöckchen, vom Winde umspielt.<br />
Stunden, flücht'ger ihr als der Kuß<br />
Eines Strahls auf den trauernden See,<br />
Als des ziehnden Vogels Lied,<br />
Das mir nieder<strong>per</strong>lt aus der Höh',<br />
Als des schillernden Käfers Blitz<br />
Wenn den Sonnenpfad er durcheilt,<br />
Als der flücht'ge Druck einer Hand,<br />
Die zum letzten Male verweilt.<br />
Dennoch, Himmel, immer mir nur<br />
Dieses eine nur: für das Lied<br />
Jedes freien Vogels im Blau<br />
Eine Seele, <strong>di</strong>e mit ihm zieht,<br />
Nur für jeden kär<strong>gli</strong>chen Strahl<br />
Meinen farbig schillernden Saum,<br />
Jeder warmen Hand meinen Druck<br />
Und für jedes Glück einen Traum.<br />
Am letzten Tage des Jahres (Silvester)<br />
(Entstehung 1840; Erstdruck in Das geistliche Jahr,<br />
1851)<br />
Das Jahr geht um,<br />
Der Faden rollt sich sausend ab.<br />
Ein Stündchen noch, das letzte heut,<br />
Und stäubend rieselt in sein Grab<br />
Was einstens war lebend'ge Zeit.<br />
Ich harre stumm.<br />
's ist tiefe Nacht!<br />
Ob wohl ein Auge offen noch?<br />
In <strong>di</strong>esen Mauern rüttelt dein<br />
Verrinnen, Zeit! Mir schaudert, doch<br />
Es will <strong>di</strong>e letzte Stunde sein<br />
Einsam durchwacht.<br />
35<br />
Gesehen all,<br />
Was ich begangen und gedacht,<br />
Was mir aus Haupt und Herzen stieg:<br />
Das steht nun eine ernste Wacht<br />
Am Himmelstor. O halber Sieg,<br />
O schwerer Fall!<br />
Wie reißt der Wind<br />
Am Fensterkreuze, ja es will<br />
Auf Sturmesfittigen das Jahr<br />
Zerstäuben, nicht ein Schatten still<br />
Verhauchen unterm Sternenklar.<br />
Du Sündenkind!<br />
War nicht ein hohl<br />
Und heimlich Sausen jeder Tag<br />
In deiner wüsten Brust Verlies,<br />
Wo langsam Stein an Stein zerbrach,<br />
Wenn es den kalten Odem stieß<br />
Vom starren Pol?<br />
Mein Lämpchen will<br />
Verlöschen, und begierig saugt<br />
Der Docht den letzten Tropfen Öl.<br />
Ist so mein Leben auch verraucht,<br />
Eröffnet sich des Grabes Höhl'<br />
Mir schwarz und still?<br />
Wohl in dem Kreis,<br />
Den <strong>di</strong>eses Jahres Lauf umzieht,<br />
Mein Leben bricht: Ich wußt' es lang!<br />
Und dennoch hat <strong>di</strong>es Herz geglüht<br />
In eitler Leidenschaften Drang.<br />
Mir brüht der Schweiß<br />
Der tiefsten Angst<br />
Auf Stirn und Hand! – Wie, dämmert feucht<br />
Ein Stern dort durch <strong>di</strong>e Wolken nicht?<br />
Wär' es der Liebe Stern vielleicht,<br />
Dir zürnend mit dem trüben Licht,<br />
Daß du so bangst?<br />
Horch, welch Gesumm?<br />
Und wieder? Sterbemelo<strong>di</strong>e!<br />
Die Glocke regt den ehrnen Mund.<br />
O Herr! ich falle auf das Knie:<br />
Sei gnä<strong>di</strong>g meiner letzten Stund!<br />
Das Jahr ist um!
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A LENAU<br />
Nikolaus LENAU (1802-1850)<br />
Schilflieder<br />
(Entstehung und Erstdruck 1832)<br />
1.<br />
Drüben geht <strong>di</strong>e Sonne scheiden,<br />
Und der müde Tag entschlief.<br />
Niederhangen hier <strong>di</strong>e Weiden<br />
In den Teich, so still, so tief.<br />
Und ich muß mein Liebstes meiden:<br />
Quill, o Träne, quill hervor!<br />
Traurig säuseln hier <strong>di</strong>e Weiden,<br />
Und im Winde bebt das Rohr.<br />
In mein stilles, tiefes Leiden<br />
Strahlst du, Ferne! hell und mild,<br />
Wie durch Binsen hier und Weiden<br />
Strahlt des Abendsternes Bild.<br />
2.<br />
Trübe wirds, <strong>di</strong>e Wolken jagen,<br />
Und der Regen niederbricht,<br />
Und <strong>di</strong>e lauten Winde klagen:<br />
›Teich, wo ist dein Sternenlicht?‹<br />
Suchen den erloschnen Schimmer<br />
Tief im aufgewühlten See.<br />
Deine Liebe lächelt nimmer<br />
Nieder in mein tiefes Weh!<br />
3.<br />
Auf geheimem Waldespfade<br />
Schleich ich gern im Abendschein<br />
An das öde Schilfgestade,<br />
Mädchen, und gedenke dein!<br />
Wenn sich dann der Busch verdüstert,<br />
Rauscht das Rohr geheimnisvoll,<br />
Und es klaget, und es flüstert,<br />
Daß ich weinen, weinen soll.<br />
Und ich mein', ich höre wehen<br />
Leise deiner Stimme Klang<br />
Und im Weiher untergehen<br />
Deinen lieblichen Gesang<br />
4.<br />
Sonnenuntergang;<br />
Schwarze Wolken ziehn,<br />
O wie schwül und bang<br />
Alle Winde fliehn!<br />
Durch den Himmel wild<br />
Jagen Blitze, bleich;<br />
Ihr vergän<strong>gli</strong>ch Bild<br />
Wandelt durch den Teich.<br />
36<br />
Wie gewitterklar<br />
Mein' ich <strong>di</strong>ch zu sehn<br />
Und dein langes Haar<br />
Frei im Sturme wehn!<br />
5.<br />
Auf dem Teich, dem regungslosen,<br />
Weilt des Mondes holder Glanz,<br />
Flechtend seine bleichen Rosen<br />
In des Schilfes grünen Kranz.<br />
Hirsche wandeln dort am Hügel,<br />
Blicken in <strong>di</strong>e Nacht empor;<br />
Manchmal regt sich das Geflügel<br />
Träumerisch im tiefen Rohr.<br />
Weinend muß mein Blick sich senken;<br />
Durch <strong>di</strong>e tiefste Seele geht<br />
Mir ein süßes Deingedenken,<br />
Wie ein stilles Nachtgebet!<br />
Die Drei<br />
(Entstehung 1842; Erstdruck 1844)<br />
Drei Reiter nach verlorner Schlacht,<br />
Wie reiten sie so sacht, so sacht!<br />
Aus tiefen Wunden quillt das Blut,<br />
Es spürt das Roß <strong>di</strong>e warme Flut.<br />
Vom Sattel tropft das Blut, vom Zaum,<br />
Und spült hinunter Staub und Schaum.<br />
Die Rosse schreiten sanft und weich,<br />
Sonst flöß das Blut zu rasch, zu reich.<br />
Die Reiter reiten <strong>di</strong>cht gesellt,<br />
Und einer sich am andern hält.<br />
Sie sehn sich traurig ins Gesicht,<br />
Und einer um den andern spricht:<br />
»Mir blüht daheim <strong>di</strong>e schönste Maid,<br />
Drum tut mein früher Tod mir leid.«<br />
»Hab Haus und Hof und grünen Wald,<br />
Und sterben muß ich hier so bald!«<br />
»Den Blick hab ich in Gottes Welt,<br />
Sonst nichts, noch schwer mirs Sterben fällt.«<br />
Und lauernd auf den Todesritt<br />
Ziehn durch <strong>di</strong>e Luft drei Geier mit.<br />
Sie teilen kreischend unter sich:<br />
»Den speisest du, den du, den ich.
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A MÖRIKE<br />
Eduard MÖRIKE (1804-1875)<br />
Peregrina<br />
(Entstehung ab 1824, vorläufige Fassung in Maler Nolten, 1832; endgültige Fassung in Ge<strong>di</strong>chte, 1867)<br />
1.<br />
Der Spiegel <strong>di</strong>eser treuen, braunen Augen<br />
Ist wie von innerm Gold ein Widerschein;<br />
Tief aus dem Busen scheint er's anzusaugen,<br />
Dort mag solch Gold in heilgem Gram gedeihn.<br />
In <strong>di</strong>ese Nacht des Blickes mich zu tauchen,<br />
Unwissend Kind, du selber lädst mich ein –<br />
Willst, ich soll kecklich mich und <strong>di</strong>ch entzünden,<br />
Reichst lächelnd mir den Tod im Kelch der Sünden!<br />
2.<br />
Aufgeschmückt ist der Freudensaal.<br />
Lichterhell, bunt, in laulicher Sommernacht<br />
Stehet das offene Gartengezelte.<br />
Säulengleich steigen, gepaart,<br />
Grün-umranket, eherne Schlangen,<br />
Zwölf, mit verschlungenen Hälsen,<br />
Tragend und stützend das<br />
Leicht gegitterte Dach.<br />
Aber <strong>di</strong>e Braut noch wartet verborgen<br />
In dem Kämmerlein ihres Hauses.<br />
Endlich bewegt sich der Zug der Hochzeit,<br />
Fackeln tragend,<br />
Feierlich stumm.<br />
Und in der Mitte,<br />
Mich an der rechten Hand,<br />
Schwarz gekleidet, geht einfach <strong>di</strong>e Braut;<br />
Schöngefaltet ein Scharlachtuch<br />
Liegt um den zierlichen Kopf geschlagen.<br />
Lächelnd geht sie dahin; das Mahl schon duftet.<br />
Später im Lärmen des Fests<br />
Stahlen wir seitwärts uns beide<br />
Weg, nach den Schatten des Gartens wandelnd,<br />
Wo im Gebüsche <strong>di</strong>e Rosen brannten,<br />
Wo der Mondstrahl um Lilien zuckte,<br />
Wo <strong>di</strong>e Weymouthsfichte mit schwarzem Haar<br />
Den Spiegel des Teiches halb verhängt.<br />
Auf seidnem Rasen dort, ach, Herz am Herzen,<br />
Wie verschlangen, erstickten meine Küsse den scheueren<br />
Kuß!<br />
Indes der Springquell, unteilnehmend<br />
An überschwen<strong>gli</strong>cher Liebe Geflüster,<br />
Sich ewig des eigenen Plätscherns freute;<br />
Uns aber neckten von fern und lockten<br />
Freundliche Stimmen,<br />
Flöten und Saiten umsonst.<br />
Ermüdet lag, zu bald für mein Verlangen,<br />
Das leichte, liebe Haupt auf meinem Schoß.<br />
Spielender Weise mein Aug auf ihres drückend<br />
Fühlt ich ein Weilchen <strong>di</strong>e langen Wim<strong>per</strong>n,<br />
Bis der Schlaf sie stellte,<br />
Wie Schmetterlingsgefieder auf und nieder gehn.<br />
Eh das Frührot schien,<br />
Eh das Lämpchen erlosch im Brautgemache,<br />
Weckt ich <strong>di</strong>e Schläferin,<br />
Führte das seltsame Kind in mein Haus ein.<br />
37<br />
3.<br />
Ein Irrsal kam in <strong>di</strong>e Mondscheingärten<br />
Einer einst heiligen Liebe.<br />
Schaudernd entdeckt ich verjährten Betrug.<br />
Und mit weinendem Blick, doch grausam,<br />
Hieß ich das schlanke,<br />
Zauberhafte Mädchen<br />
Ferne gehen von mir.<br />
Ach, ihre hohe Stirn,<br />
War gesenkt, denn sie liebte mich;<br />
Aber sie zog mit Schweigen<br />
Fort in <strong>di</strong>e graue<br />
Welt hinaus.<br />
Krank seitdem,<br />
Wund ist und wehe mein Herz.<br />
Nimmer wird es genesen!<br />
Als ginge, luftgesponnen, ein Zauberfaden<br />
Von ihr zu mir, ein ängstig Band,<br />
So zieht es, zieht mich schmachtend ihr nach!<br />
– Wie? wenn ich eines Tags auf meiner Schwelle<br />
Sie sitzen fände, wie einst, im Morgen-Zwielicht,<br />
Das Wanderbündel neben ihr,<br />
Und ihr Auge, treuherzig zu mir aufschauend,<br />
Sagte, da bin ich wieder<br />
Hergekommen aus weiter Welt!<br />
4.<br />
Warum, Geliebte, denk ich dein<br />
Auf einmal nun mit tausend Tränen,<br />
Und kann gar nicht zufrieden sein,<br />
Und will <strong>di</strong>e Brust in alle Weite dehnen?<br />
Ach, gestern in den hellen Kindersaal,<br />
Beim Flimmer zierlich aufgesteckter Kerzen,<br />
Wo ich mein selbst vergaß in Lärm und Scherzen,<br />
Tratst du, o Bildnis mitleid-schöner Qual;<br />
Es war dein Geist, er setzte sich ans Mahl,<br />
Fremd saßen wir mit stumm verhaltnen Schmerzen;<br />
Zuletzt brach ich in lautes Schluchzen aus,<br />
Und Hand in Hand verließen wir das Haus.<br />
5.<br />
Die Liebe, sagt man, steht am Pfahl gebunden,<br />
Geht endlich arm, zerrüttet, unbeschuht;<br />
Dies edle Haupt hat nicht mehr, wo es ruht,<br />
Mit Tränen netzet sie der Füße Wunden.<br />
Ach, Peregrinen hab ich so gefunden!<br />
Schön war ihr Wahnsinn, ihrer Wange Glut,<br />
Noch scherzend in der Frühlingsstürme Wut,<br />
Und wilde Kränze in das Haar gewunden.<br />
War's mö<strong>gli</strong>ch, solche Schönheit zu verlassen?<br />
– So kehrt nur reizender das alte Glück!<br />
O komm, in <strong>di</strong>ese Arme <strong>di</strong>ch zu fassen!<br />
Doch weh! o weh! was soll mir <strong>di</strong>eser Blick?<br />
Sie küßt mich zwischen Lieben noch und Hassen,<br />
Sie kehrt sich ab, und kehrt mir nie zurück.
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A WIENBARG<br />
Ludolf WIENBARG (1802–1872)<br />
Ästhetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet<br />
(Entstehung und Erstdruck 1834, Auszug)<br />
Worte der Zueignung.<br />
Dir junges Deutschland widme ich <strong>di</strong>ese Reden, nicht dem alten. Ein jeder Schriftsteller sollte nur gleich von<br />
vornherein erklären, welchem Deutschland er sein Buch bestimmt und in wessen Hände er dasselbe zu sehen wünscht.<br />
Liberal und illiberal sind Bezeichnungen, <strong>di</strong>e den wahren Unterschied keineswegs angeben. Mit dem Schilde der<br />
Liberalität ausgerüstet sind jetzt <strong>di</strong>e meisten Schriftsteller, <strong>di</strong>e für das alte Deutschland schreiben, sei es für das adlige,<br />
oder für das gelehrte, oder für das philiströse alte Deutschland, aus welchen drei Bestandteilen dasselbe bekanntlich<br />
zusammengesetzt ist. Wer aber dem jungen Deutschland schreibt, der erklärt, daß er jenen altdeutschen Adel nicht<br />
anerkennt, daß er jene altdeutsche tote Gelehrsamkeit in <strong>di</strong>e Grabgewölbe ägyptischer Pyramiden verwünscht, und daß<br />
er allem altdeutschen Philisterium den Krieg erklärt und dasselbe bis unter den Zipfel der wohlbekannten Nachtmütze<br />
unerbittlich zu verfolgen willens ist.<br />
Dir junges Deutschland widme ich <strong>di</strong>ese Reden, flüchtige Ergüsse wechselnder Aufregung, aber alle aus der<br />
Sehnsucht des Gemüts nach einem besseren und schöneren Volksleben entsprungen. Ich hielt sie als Vorlesungen auf<br />
einer norddeutschen Akademie, hoffe aber, sie werden den Geruch der vier Fakultäten nicht mit sich bringen, der<br />
bekanntlich nicht der frischeste ist. Ich war noch von der Luft da draußen angeweht, und der Sommer 1833 war der<br />
erste und letzte meines Dozierens. Universitätsluft, Hofluft und sonstige schlechte und verdorbene Luftarten, <strong>di</strong>e sich<br />
vom freien und sonnigen Völkertage absondern, muß man entweder gänzlich vermeiden oder nur auf kurze Zeit<br />
einatmen. Riechflaschen mit scharfsatirischem Essig, wie ihn z. B. Börne in Paris destilliert, sind in <strong>di</strong>esem Fall nicht zu<br />
verachten. Lobenswert ist auch <strong>di</strong>e Vorsicht, <strong>di</strong>e man beim Besuch der Hundsgrotte beobachtet – sonderlich wenn's in<br />
<strong>di</strong>e Hofluft geht –, man bücke sich nicht zu oft und zu tief. Abschreckend ist das Beispiel von Ministern und Hofleuten,<br />
<strong>di</strong>e des Lichtes ihrer Augen und ihres Verstandes dadurch beraubt worden sind und schwer und ängstlich nach Luft<br />
schnappen.<br />
Dir junges Deutschland widme ich <strong>di</strong>ese Reden, dem bräunlichen wie dem blonden, welches letztere mich<br />
umgab und <strong>di</strong>e Muse war, <strong>di</strong>e mich zweimal in der Woche begeisterte. Ja begeisternd ist der Anblick aufstrebender<br />
Jün<strong>gli</strong>nge, aber Zorn und Unmut mischt sich in <strong>di</strong>e Begeisterung, wenn man sie als Züchtlinge gelehrter Weckanstalten<br />
vor sich sieht. Sklaverei ist ihr Stu<strong>di</strong>um, nicht Freiheit. Stricke und Bande müssen sie flechten für ihre eigenen Arme<br />
und Füße, dazu verurteilt sie der Staat. Die Unglücklichen, wie haben sie mich gesucht und geliebt, als ich ihnen <strong>di</strong>e<br />
Freiheit wenigstens im Bilde zeigte.<br />
Preußen trägt sich mit dem Plan, <strong>di</strong>e alten Universitäten umzuschmelzen. Immerhin und mag das gelehrte<br />
Deutschland auch Blut über den Frevel schwitzen. Ich traue freilich dem neuen Gusse nicht, weil ich nicht einsehe,<br />
woher Preußen das rechte Metall dazu nehmen will, es wäre denn preußischevangelisches Kanonen- und Glockengut.<br />
Aber auch <strong>di</strong>eses halte ich für besser als <strong>di</strong>e alte tonlose Mischung, <strong>di</strong>e selbst unter Thors Hammerschlägen keinen<br />
Klang mehr von sich geben würde.<br />
Zur Zeit der Reformation waren <strong>di</strong>e Universitäten Stützpunkte für den Hebel des neuen Umschwungs.<br />
Gegenwärtig bewegen sie nichts, ja sie sind Widerstände der Bewegung und müssen als solche aus dem Wege geräumt<br />
werden.<br />
Zu warnen aber sind junge Männer von Kraft und Talent, sich nicht unbedacht jener edlen Täuschung<br />
hinzugeben, als ob sich dennoch ein zeitgemäßer und volkstümlicher Wirkungskreis für sie auf unseren Universitäten<br />
erschwingen lasse. Glaubt mir, ihr hebt den Fluch nicht auf, den <strong>di</strong>e Zeit über jene alten Gemäuer ausgesprochen hat,<br />
ihr setzt euch hingegen der Gefahr aus, mit demselben Fluche auf euren eigenen geistigen Schwingen belastet zu<br />
werden. Zittert vor der greisen alma mater, <strong>di</strong>e als Ahnfrau unserer Universitäten ihr faltenreiches, mottenzerfressenes<br />
Gewand auf dem Boden der Aula einherschleift und ihre alten Liebhaber-Pedanten durch junge und frische zu<br />
rekrutieren sucht. Zittert vor ihrer dürren Umarmung, vor dem Kuß ihrer gespenstischen grauen Lippen, denn sie saugt<br />
euch das Blut langsam aus den Adern und schrumpft <strong>di</strong>e Hochgefühle eurer Brust zu jenem Minimum zusammen, das<br />
etwa einem alten ausgedörrten Wilhelm Traugott Krug oder Christian Daniel Beck kaum verschlägt, um damit den<br />
letzten Atemzug für den Himmel zu bestreiten. Denkt daran, daß alle großen Deutschen der neueren Zeit nur zu ihrem<br />
Unglück deutsche Universitätslehrer geworden sind, daß ein Fichte, Schelling, Niebuhr, Schleiermacher, geborene<br />
Tribunen des Volks, für das Volk und ihren eigenen höheren Ruhm verlorengegangen sind. Fichtes Reden an <strong>di</strong>e<br />
deutsche Nation verhallten nicht bloß deswegen in den Wind, weil <strong>di</strong>e Nation taub war, sondern weil zwischen ihr und<br />
ihm eine Scheidewand aufgerichtet war, <strong>di</strong>e selbst Fichtes eherne Stimme nicht zu durchdringen vermochte.<br />
Nun denn, junges Deutschland, mit Gott! Wir leben ja noch einen Tag zusammen, und wer weiß, ob unser Hort<br />
und Führer uns so lange durch <strong>di</strong>e Wüste ziehen läßt wie Moses <strong>di</strong>e Israeliten.<br />
Ist aber eine Silberlocke unter deiner Schar, ein Greis mit jugendlichem Herzen, ich küsse ihm Auge und Stirn<br />
und wünsche auch mir einen warmen Frühling unter der Eisdecke künftiger Jahre.<br />
38
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A HEINE<br />
Heinrich HEINE (1797–1856)<br />
Ich weiß nicht, was soll es bedeuten<br />
(Entstehung 1823; Erstdruck 1824)<br />
Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,<br />
Daß ich so traurig bin;<br />
Ein Märchen aus alten Zeiten,<br />
Das kommt mir nicht aus dem Sinn.<br />
Die Luft ist kühl und es dunkelt,<br />
Und ruhig fließt der Rhein;<br />
Der Gipfel des Berges funkelt<br />
Im Abendsonnenschein.<br />
Die schönste Jungfrau sitzet<br />
Dort oben wunderbar,<br />
Ihr goldnes Geschmeide blitzet,<br />
Sie kämmt ihr goldenes Haar.<br />
Sie kämmt es mit goldenem Kamme,<br />
Und singt ein Lied dabei;<br />
Das hat eine wundersame,<br />
Gewaltige Melodei.<br />
Den Schiffer im kleinen Schiffe<br />
Ergreift es mit wildem Weh;<br />
Er schaut nicht <strong>di</strong>e Felsenriffe,<br />
Er schaut nur hinauf in <strong>di</strong>e Höh'.<br />
Ich glaube, <strong>di</strong>e Wellen verschlingen<br />
Am Ende Schiffer und Kahn;<br />
Und das hat mit ihrem Singen<br />
Die Lorelei getan.<br />
39<br />
Der arme Peter<br />
(Erstdruck 1827)<br />
1.<br />
Der Hans und <strong>di</strong>e Grete tanzen herum,<br />
Und jauchzen vor lauter Freude.<br />
Der Peter steht so still und stumm,<br />
Und ist so blaß wie Kreide.<br />
Der Hans und <strong>di</strong>e Grete sind Bräut'gam und Braut,<br />
Und blitzen im Hochzeitgeschmeide.<br />
Der arme Peter <strong>di</strong>e Nägel kaut<br />
Und geht im Werkeltagskleide.<br />
Der Peter spricht leise vor sich her,<br />
Und schaut betrübet auf beide:<br />
»Ach! wenn ich nicht gar zu vernünftig wär,<br />
Ich täte mir was zuleide.«<br />
2.<br />
»In meiner Brust, da sitzt ein Weh,<br />
Das will <strong>di</strong>e Brust zersprengen;<br />
Und wo ich steh, und wo ich geh,<br />
Will's mich von hinnen drängen.<br />
Es treibt mich nach der Liebsten Näh',<br />
Als könnt's <strong>di</strong>e Grete heilen;<br />
Doch wenn ich der ins Auge seh,<br />
Muß ich von hinnen eilen.<br />
Ich steig hinauf des Berges Höh',<br />
Dort ist man doch alleine;<br />
Und wenn ich still dort oben steh,<br />
Dann steh ich still und weine.«<br />
3.<br />
Der arme Peter wankt vorbei,<br />
Gar langsam, leichenblaß und scheu.<br />
Es bleiben fast, wenn sie ihn sehn,<br />
Die Leute auf der Straße stehn.<br />
Die Mädchen flüstern sich ins Ohr:<br />
»Der stieg wohl aus dem Grab hervor.«<br />
Ach nein, ihr lieben Jungfräulein,<br />
Der legt sich erst ins Grab hinein.<br />
Er hat verloren seinen Schatz,<br />
Drum ist das Grab der beste Platz,<br />
Wo er am besten liegen mag,<br />
Und schlafen bis zum Jüngsten Tag.
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A HEINE<br />
Deutschland. Ein Wintermärchen<br />
(Entstehung und Erstdruck 1844; Auszüge: „Vorwort“ und „1. Caput“)<br />
Vorwort<br />
Das nachstehende Ge<strong>di</strong>cht schrieb ich im <strong>di</strong>esjährigen Monat Januar zu Paris, und <strong>di</strong>e freie Luft des Ortes wehete in<br />
manche Strophe weit schärfer hinein, als mir eigentlich lieb war. Ich unterließ nicht, schon gleich zu mildern und<br />
auszuscheiden, was mit dem deutschen Klima unverträ<strong>gli</strong>ch schien. Nichtsdestoweniger, als ich das Manuskript im<br />
Monat März an meinen Verleger nach Hamburg schickte, wurden mir noch mannigfache Bedenklichkeiten in Erwägung<br />
gestellt. Ich mußte mich dem fatalen Geschäfte des Umarbeitens nochmals unterziehen, und da mag es wohl geschehen<br />
sein, daß <strong>di</strong>e ernsten Töne mehr als nötig abgedämpft oder von den Schellen des Humors gar zu heiter überklingelt<br />
wurden. Einigen nackten Gedanken habe ich im hastigen Unmut ihre Feigenblätter wieder abgerissen, und zim<strong>per</strong>lich<br />
spröde Ohren habe ich vielleicht verletzt. Es ist mir leid, aber ich tröste mich mit dem Bewußtsein, daß größere Autoren<br />
sich ähnliche Vergehen zuschulden kommen ließen. Des Aristophanes will ich zu solcher Beschönigung gar nicht<br />
erwähnen, denn der war ein blinder Heide, und sein Publikum zu Athen hatte zwar eine klassische Erziehung genossen,<br />
wußte aber wenig von Sittlichkeit. Auf Cervantes und Molière könnte ich mich schon viel besser berufen; und ersterer<br />
schrieb für den hohen Adel beider Kastilien, letzterer für den großen König und den großen Hof von Versailles! Ach,<br />
ich vergesse, daß wir in einer sehr bürgerlichen Zeit leben, und ich sehe leider voraus, daß viele Töchter gebildeter<br />
Stände an der Spree, wo nicht gar an der Alster, über mein armes Ge<strong>di</strong>cht <strong>di</strong>e mehr oder minder gebogenen Näschen<br />
rümpfen werden! Was ich aber mit noch größerem Leidwesen voraussehe, das ist das Zeter jener Pharisäer der<br />
Nationalität, <strong>di</strong>e jetzt mit den Antipathien der Regierungen Hand in Hand gehen, auch <strong>di</strong>e volle Liebe und Hochachtung<br />
der Zensur genießen und in der Tagespresse den Ton angeben können, wo es gilt, jene Gegner zu befehden, <strong>di</strong>e auch<br />
zugleich <strong>di</strong>e Gegner ihrer allerhöchsten Herrschaften sind. Wir sind im Herzen gewappnet gegen das Mißfallen <strong>di</strong>eser<br />
heldenmütigen Lakaien in schwarzrotgoldner Livree. Ich höre schon ihre Bierstimmen: »Du lästerst sogar unsere<br />
Farben, Verächter des Vaterlands, Freund der Franzosen, denen du den freien Rhein abtreten willst!« Beruhigt euch. Ich<br />
werde eure Farben achten und ehren, wenn sie es ver<strong>di</strong>enen, wenn sie nicht mehr eine müßige oder knechtische<br />
Spielerei sind. Pflanzt <strong>di</strong>e schwarzrotgoldne Fahne auf <strong>di</strong>e Höhe des deutschen Gedankens, macht sie zur Standarte des<br />
freien Menschtums, und ich will mein bestes Herzblut für sie hingeben. Beruhigt euch, ich liebe das Vaterland<br />
ebensosehr wie ihr. Wegen <strong>di</strong>eser Liebe habe ich dreizehn Lebensjahre im Exile verlebt, und wegen eben<strong>di</strong>eser Liebe<br />
kehre ich wieder zurück ins Exil, vielleicht für immer, jedenfalls ohne zu flennen oder eine schiefmäulige<br />
Duldergrimasse zu schneiden. Ich bin der Freund der Franzosen, wie ich der Freund aller Menschen bin, wenn sie<br />
vernünftig und gut sind, und weil ich selber nicht so dumm oder so schlecht bin, als daß ich wünschen sollte, daß meine<br />
Deutschen und <strong>di</strong>e Franzosen, <strong>di</strong>e beiden auserwählten Völker der Humanität, sich <strong>di</strong>e Hälse brächen zum Besten von<br />
England und Rußland und zur Schadenfreude aller Junker und Pfaffen <strong>di</strong>eses Erdballs. Seid ruhig, ich werde den Rhein<br />
nimmermehr den Franzosen abtreten, schon aus dem ganz einfachen Grunde: weil mir der Rhein gehört. Ja, mir gehört<br />
er, durch unveräußerliches Geburtsrecht, ich bin des freien Rheins noch weit freierer Sohn, an seinem Ufer stand meine<br />
Wiege, und ich sehe gar nicht ein, warum der Rhein irgendeinem andern gehören soll als den Landeskindern. Elsaß und<br />
Lothringen kann ich freilich dem deutschen Reiche nicht so leicht einverleiben, wie ihr es tut, denn <strong>di</strong>e Leute in jenen<br />
Landen hängen fest an Frankreich wegen der Rechte, <strong>di</strong>e sie durch <strong>di</strong>e französische Staatsumwälzung gewonnen, wegen<br />
jener Gleichheitsgesetze und freien Institutionen, <strong>di</strong>e dem bürgerlichen Gemüte sehr angenehm sind, aber dem Magen<br />
der großen Menge dennoch vieles zu wünschen übriglassen. Indessen, <strong>di</strong>e Elsasser und Lothringer werden sich wieder<br />
an Deutschland anschließen, wenn wir das vollenden, was <strong>di</strong>e Franzosen begonnen haben, wenn wir <strong>di</strong>ese überflügeln<br />
in der Tat, wie wir es schon getan im Gedanken, wenn wir uns bis zu den letzten Folgerungen desselben<br />
emporschwingen, wenn wir <strong>di</strong>e Dienstbarkeit bis in ihrem letzten Schlupfwinkel, dem Himmel, zerstören, wenn wir den<br />
Gott, der auf Erden im Menschen wohnt, aus seiner Erniedrigung retten, wenn wir <strong>di</strong>e Erlöser Gottes werden, wenn wir<br />
das arme, glückenterbte Volk und den verhöhnten Genius und <strong>di</strong>e geschändete Schönheit wieder in ihre Würde<br />
einsetzen, wie unsere großen Meister gesagt und gesungen und wie wir es wollen, wir, <strong>di</strong>e Jünger – ja, nicht bloß Elsaß<br />
und Lothringen, sondern ganz Frankreich wird uns alsdann zufallen, ganz Europa, <strong>di</strong>e ganze Welt – <strong>di</strong>e ganze Welt wird<br />
deutsch werden! Von <strong>di</strong>eser Sendung und Universalherrschaft Deutschlands träume ich oft, wenn ich unter Eichen<br />
wandle. Das ist mein Patriotismus.<br />
Ich werde in einem nächsten Buche auf <strong>di</strong>eses Thema zurückkommen, mit letzter Entschlossenheit, mit<br />
strenger Rücksichtslosigkeit, jedenfalls mit Loyalität. Den entschiedensten Widerspruch werde ich zu achten wissen,<br />
wenn er aus einer Überzeugung hervorgeht. Selbst der rohesten Feindseligkeit will ich alsdann gedul<strong>di</strong>g verzeihen; ich<br />
will sogar der Dummheit Rede stehen, wenn sie nur ehrlich gemeint ist. Meine ganze schweigende Verachtung widme<br />
ich hingegen dem gesinnungslosen Wichte, der aus lei<strong>di</strong>ger Scheelsucht oder unsauberer Privatgiftigkeit meinen guten<br />
Leumund in der öffentlichen Meinung herabzuwür<strong>di</strong>gen sucht und dabei <strong>di</strong>e Maske des Patriotismus, wo nicht gar <strong>di</strong>e<br />
der Religion und der Moral, benutzt. Der anarchische Zustand der deutschen politischen und literarischen<br />
Zeitungsblätterwelt ward in solcher Beziehung zuweilen mit einem Talente ausgebeutet, das ich schier bewundern<br />
mußte. Wahrhaftig, Schufterle ist nicht tot, er lebt noch immer und steht seit Jahren an der Spitze einer<br />
wohlorganisierten Bande von literarischen Strauch<strong>di</strong>eben, <strong>di</strong>e in den böhmischen Wäldern unserer Tagespresse ihr<br />
Wesen treiben, hinter jedem Busch, hinter jedem Blatt versteckt liegen und dem leisesten Pfiff ihres wür<strong>di</strong>gen<br />
Hauptmanns gehorchen.<br />
40
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A HEINE<br />
Noch ein Wort. Das »Wintermärchen« bildet den Schluß der »Neuen Ge<strong>di</strong>chte«, <strong>di</strong>e in <strong>di</strong>esem Augenblick bei<br />
Hoffmann und Campe erscheinen. Um den Einzeldruck veranstalten zu können, mußte mein Verleger das Ge<strong>di</strong>cht den<br />
überwachenden Behörden zu besonderer Sorgfalt überliefern, und neue Varianten und Ausmerzungen sind das Ergebnis<br />
<strong>di</strong>eser höheren Kritik.<br />
Hamburg, den 17. September 1844<br />
Caput I<br />
Im traurigen Monat November war's,<br />
Die Tage wurden trüber,<br />
Der Wind riß von den Bäumen das Laub,<br />
Da reist ich nach Deutschland hinüber.<br />
Und als ich an <strong>di</strong>e Grenze kam,<br />
Da fühlt ich ein stärkeres Klopfen<br />
In meiner Brust, ich glaube sogar<br />
Die Augen begunnen zu tropfen.<br />
Und als ich <strong>di</strong>e deutsche Sprache vernahm,<br />
Da ward mir seltsam zumute;<br />
Ich meinte nicht anders, als ob das Herz<br />
Recht angenehm verblute.<br />
Ein kleines Harfenmädchen sang.<br />
Sie sang mit wahrem Gefühle<br />
Und falscher Stimme, doch ward ich sehr<br />
Gerühret von ihrem Spiele.<br />
Sie sang von Liebe und Liebesgram,<br />
Aufopfrung und Wiederfinden<br />
Dort oben, in jener besseren Welt,<br />
Wo alle Leiden schwinden.<br />
Sie sang vom ir<strong>di</strong>schen Jammertal,<br />
Von Freuden, <strong>di</strong>e bald zerronnen,<br />
Vom Jenseits, wo <strong>di</strong>e Seele schwelgt<br />
Verklärt in ew'gen Wonnen.<br />
Sie sang das alte Entsagungslied,<br />
Das Eiapopeia vom Himmel,<br />
Womit man einlullt, wenn es greint,<br />
Das Volk, den großen Lümmel.<br />
Ich kenne <strong>di</strong>e Weise, ich kenne den Text,<br />
Ich kenn auch <strong>di</strong>e Herren Verfasser;<br />
Ich weiß, sie tranken heimlich Wein<br />
Und pre<strong>di</strong>gten öffentlich Wasser.<br />
Ein neues Lied, ein besseres Lied,<br />
O Freunde, will ich euch <strong>di</strong>chten!<br />
Wir wollen hier auf Erden schon<br />
Das Himmelreich errichten.<br />
Wir wollen auf Erden glücklich sein,<br />
Und wollen nicht mehr darben;<br />
Verschlemmen soll nicht der faule Bauch,<br />
Was fleißige Hände erwarben.<br />
41<br />
Es wächst hienieden Brot genug<br />
Für alle Menschenkinder,<br />
Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust,<br />
Und Zuckererbsen nicht minder.<br />
Ja, Zuckererbsen für jedermann,<br />
Sobald <strong>di</strong>e Schoten platzen!<br />
Den Himmel überlassen wir<br />
Den Engeln und den Spatzen.<br />
Und wachsen uns Flügel nach dem Tod,<br />
So wollen wir euch besuchen<br />
Dort oben, und wir, wir essen mit euch<br />
Die seligsten Torten und Kuchen.<br />
Ein neues Lied, ein besseres Lied!<br />
Es klingt wie Flöten und Geigen!<br />
Das Miserere ist vorbei,<br />
Die Sterbeglocken schweigen.<br />
Die Jungfer Europa ist verlobt<br />
Mit dem schönen Geniusse<br />
Der Freiheit, sie liegen einander im Arm,<br />
Sie schwelgen im ersten Kusse.<br />
Und fehlt der Pfaffensegen dabei,<br />
Die Ehe wird gültig nicht minder –<br />
Es lebe Bräutigam und Braut,<br />
Und ihre zukünftigen Kinder!<br />
Ein Hochzeitkarmen ist mein Lied,<br />
Das bessere, das neue!<br />
In meiner Seele gehen auf<br />
Die Sterne der höchsten Weihe –<br />
Begeisterte Sterne, sie lodern wild,<br />
Zerfließen in Flammenbächen –<br />
Ich fühle mich wunderbar erstarkt,<br />
Ich könnte Eichen zerbrechen!<br />
Seit ich auf deutsche Erde trat,<br />
Durchströmen mich Zaubersäfte –<br />
Der Riese hat wieder <strong>di</strong>e Mutter berührt,<br />
Und es wuchsen ihm neu <strong>di</strong>e Kräfte.
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A HEINE<br />
Nachtgedanken<br />
(Entstehung und Erstdruck 1843)<br />
Denk ich an Deutschland in der Nacht,<br />
Dann bin ich um den Schlaf gebracht,<br />
Ich kann nicht mehr <strong>di</strong>e Augen schließen.<br />
Und meine heißen Tränen fließen.<br />
Die Jahre kommen und vergehn!<br />
Seit ich <strong>di</strong>e Mutter nicht gesehn,<br />
Zwölf Jahre sind schon hingegangen;<br />
Es wächst mein Sehnen und Verlangen.<br />
Mein Sehnen und Verlangen wächst.<br />
Die alte Frau hat mich behext,<br />
Ich denke immer an <strong>di</strong>e alte,<br />
Die alte Frau, <strong>di</strong>e Gott erhalte!<br />
Die alte Frau hat mich so lieb,<br />
Und in den Briefen, <strong>di</strong>e sie schrieb,<br />
Seh ich, wie ihre Hand gezittert,<br />
Wie tief das Mutterherz erschüttert.<br />
Die Mutter liegt mir stets im Sinn.<br />
Zwölf lange Jahre flossen hin,<br />
Zwölf lange Jahre sind verflossen,<br />
Seit ich sie nicht ans Herz geschlossen.<br />
Deutschland hat ewigen Bestand,<br />
Es ist ein kerngesundes Land;<br />
Mit seinen Eichen, seinen Linden,<br />
Werd ich es immer wiederfinden.<br />
Nach Deutschland lechzt' ich nicht so sehr,<br />
Wenn nicht <strong>di</strong>e Mutter dorten wär;<br />
Das Vaterland wird nie verderben,<br />
Jedoch <strong>di</strong>e alte Frau kann sterben.<br />
Seit ich das Land verlassen hab,<br />
So viele sanken dort ins Grab,<br />
Die ich geliebt – wenn ich sie zähle,<br />
So will verbluten meine Seele.<br />
Und zählen muß ich – Mit der Zahl<br />
Schwillt immer höher meine Qual,<br />
Mir ist, als wälzten sich <strong>di</strong>e Leichen<br />
Auf meine Brust – Gottlob! sie weichen!<br />
Gottlob! durch meine Fenster bricht<br />
Französisch heitres Tageslicht;<br />
Es kommt mein Weib, schön wie der Morgen,<br />
Und lächelt fort <strong>di</strong>e deutschen Sorgen<br />
42<br />
Die schlesischen Weber<br />
(Entstehung und Erstdruck 1844)<br />
Im düstern Auge keine Träne,<br />
Sie sitzen am Webstuhl und fletschen <strong>di</strong>e Zähne:<br />
»Deutschland, wir weben dein Leichentuch,<br />
Wir weben hinein den dreifachen Fluch –<br />
Wir weben, wir weben!<br />
Ein Fluch dem Gotte, zu dem wir gebeten<br />
In Winterskälte und Hungersnöten<br />
Wir haben vergebens gehofft und geharrt,<br />
Er hat uns geäfft und gefoppt und genarrt –<br />
Wir weben, wir weben!<br />
Ein Fluch dem König, dem König der Reichen,<br />
Den unser Elend nicht konnte erweichen,<br />
Der den letzten Groschen von uns erpreßt,<br />
Und uns wie Hunde erschießen läßt –<br />
Wir weben, wir weben!<br />
Ein Fluch dem falschen Vaterlande,<br />
Wo nur gedeihen Schmach und Schande,<br />
Wo jede Blume früh geknickt,<br />
Wo Fäulnis und Moder den Wurm erquickt –<br />
Wir weben, wir weben!<br />
Das Schiffchen fliegt, der Webstuhl kracht,<br />
Wir weben emsig Tag und Nacht –<br />
Altdeutschland, wir weben dein Leichentuch,<br />
Wir weben hinein den dreifachen Fluch,<br />
Wir weben, wir weben!«
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A POLITISCHE LYRIK<br />
Georg HERWEGH (1817-1875) Georg WEERTH (1822-1856)<br />
Aufruf - 1841<br />
(Erstdruck 1841)<br />
Reißt <strong>di</strong>e Kreuze aus der Erden!<br />
Alle sollen Schwerter werden,<br />
Gott im Himmel wird's verzeihn.<br />
Laßt, o laßt das Verseschweißen!<br />
Auf den Amboß legt das Eisen!<br />
Heiland soll das Eisen sein.<br />
Eure Tannen, eure Eichen –<br />
Habt <strong>di</strong>e grünen Fragezeichen<br />
Deutscher Freiheit ihr gewahrt?<br />
Nein, sie soll nicht untergehen!<br />
Doch ihr fröhlich Auferstehen<br />
Kostet eine Höllenfahrt.<br />
Deutsche, glaubet euren Sehern,<br />
Unsre Tage werden ehern,<br />
Unsre Zukunft klirrt in Erz;<br />
Schwarzer Tod ist unser Sold nur,<br />
Unser Gold ein Abendgold nur,<br />
Unser Rot ein blutend Herz!<br />
Reißt <strong>di</strong>e Kreuze aus der Erden!<br />
Alle sollen Schwerter werden,<br />
Gott im Himmel wird's verzeihn.<br />
Hört er unsre Feuer brausen<br />
Und sein heilig Eisen sausen,<br />
Spricht er wohl den Segen drein.<br />
Vor der Freiheit sei kein Frieden,<br />
Sei dem Mann kein Weib beschieden<br />
Und kein golden Korn dem Feld;<br />
Vor der Freiheit, vor dem Siege<br />
Seh' kein Säu<strong>gli</strong>ng aus der Wiege<br />
Frohen Blickes in <strong>di</strong>e Welt!<br />
In den Städten sei nur Trauern,<br />
Bis <strong>di</strong>e Freiheit von den Mauern<br />
Schwingt <strong>di</strong>e Fahnen in das Land;<br />
Bis du, Rhein, durch freie Bogen<br />
Donnerst, laß <strong>di</strong>e letzten Wogen<br />
Fluchend knirschen in den Sand.<br />
Reißt <strong>di</strong>e Kreuze aus der Erde!<br />
Alle sollen Schwerter werden,<br />
Gott im Himmel wird's verzeihn.<br />
Gen Tyrannen und Philister!<br />
Auch das Schwert hat seine Priester,<br />
Und wir wollen Priester sein!<br />
43<br />
Das Hungerlied<br />
(Entstehung vor 1845; Erstdruck 1953)<br />
Verehrter Herr und König,<br />
Weißt du <strong>di</strong>e schlimme Geschicht?<br />
Am Montag aßen wir wenig,<br />
Und am Dienstag aßen wir nicht.<br />
Und am Mittwoch mußten wir darben,<br />
Und am Donnerstag litten wir Not;<br />
Und ach, am Freitag starben<br />
Wir fast den Hungertod!<br />
Drum laß am Samstag backen<br />
Das Brot, fein säuberlich –<br />
Sonst werden wir sonntags packen<br />
Und fressen, o König, <strong>di</strong>ch!
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A BÜCHNER<br />
Georg BÜCHNER (1813-1837)<br />
Lenz<br />
(Entstehung 1835; Erstdruck 1839; Auszug: sog. „Kunstgespräch“)<br />
Um <strong>di</strong>ese Zeit kam Kaufmann mit seiner Braut ins Steintal. Lenzen war anfangs das Zusammentreffen unangenehm; er<br />
hatte sich so ein Plätzchen zurechtgemacht, das bißchen Ruhe war ihm so kostbar – und jetzt kam ihm jemand entgegen,<br />
der ihn an so vieles erinnerte, mit dem er sprechen, reden mußte, der seine Verhältnisse kannte. Oberlin wußte von<br />
allem nichts; er hatte ihn aufgenommen, gepflegt, er sah es als eine Schickung Gottes, der den Unglücklichen ihm<br />
zugesandt hätte, er liebte ihn herzlich. Auch war es allen notwen<strong>di</strong>g, daß er da war; er gehörte zu ihnen, als wäre er<br />
schon längst da, und niemand frug, woher er gekommen und wohin er gehen werde.<br />
Über Tisch war Lenz wieder in guter Stimmung: man sprach von Literatur, er war auf seinem Gebiete. Die<br />
idealistische Periode fing damals an; Kaufmann war ein Anhänger davon, Lenz widersprach heftig. Er sagte: Die<br />
Dichter, von denen man sage, sie geben <strong>di</strong>e Wirklichkeit, hätten auch keine Ahnung davon; doch seien sie immer noch<br />
erträ<strong>gli</strong>cher als <strong>di</strong>e, welche <strong>di</strong>e Wirklichkeit verklären wollten. Er sagte: Der liebe Gott hat <strong>di</strong>e Welt wohl gemacht, wie<br />
sie sein soll, und wir können wohl nicht was Besseres klecksen; unser einziges Bestreben soll sein, ihm ein wenig<br />
nachzuschaffen. Ich verlange in allem – Leben, Mö<strong>gli</strong>chkeit des Daseins, und dann ist's gut; wir haben dann nicht zu<br />
fragen, ob es schön, ob es häßlich ist. Das Gefühl, daß, was geschaffen sei, Leben habe, stehe über <strong>di</strong>esen beiden und<br />
sei das einzige Kriterium in Kunstsachen. Übrigens begegne es uns nur selten: in Shakespeare finden wir es, und in den<br />
Volksliedern tönt es einem ganz, in Goethe manchmal entgegen; alles übrige kann man ins Feuer werfen. Die Leute<br />
können auch keinen Hundsstall zeichnen. Da wollte man idealistische Gestalten, aber alles, was ich davon gesehen, sind<br />
Holzpuppen. Dieser Idealismus ist <strong>di</strong>e schmählichste Verachtung der menschlichen Natur. Man versuche es einmal und<br />
senke sich in das Leben des Geringsten und gebe es wieder in den Zuckungen, den Andeutungen, dem ganzen feinen,<br />
kaum bemerkten Mienenspiel; er hätte dergleichen versucht im ›Hofmeister‹ und den ›Soldaten‹. Es sind <strong>di</strong>e<br />
prosaischsten Menschen unter der Sonne; aber <strong>di</strong>e Gefühlsader ist in fast allen Menschen gleich, nur ist <strong>di</strong>e Hülle mehr<br />
oder weniger <strong>di</strong>cht, durch <strong>di</strong>e sie brechen muß. Man muß nur Aug und Ohren dafür haben. Wie ich gestern neben am<br />
Tal hinaufging, sah ich auf einem Steine zwei Mädchen sitzen: <strong>di</strong>e eine band ihr Haar auf, <strong>di</strong>e andre half ihr; und das<br />
goldne Haar hing herab, und ein ernstes bleiches Gesicht, und doch so jung, und <strong>di</strong>e schwarze Tracht, und <strong>di</strong>e andre so<br />
sorgsam bemüht. Die schönsten, innigsten Bilder der altdeutschen Schule geben kaum eine Ahnung davon. Man möchte<br />
manchmal ein Medusenhaupt sein, um so eine Gruppe in Stein verwandeln zu können, und den Leuten zurufen. Sie<br />
standen auf, <strong>di</strong>e schöne Gruppe war zerstört; aber wie sie so hinabstiegen, zwischen den Felsen, war es wieder ein<br />
anderes Bild.<br />
Die schönsten Bilder, <strong>di</strong>e schwellendsten Töne gruppieren, lösen sich auf. Nur eins bleibt: eine unendliche<br />
Schönheit, <strong>di</strong>e aus einer Form in <strong>di</strong>e andre tritt, ewig aufgeblättert, verändert. Man kann sie aber freilich nicht immer<br />
festhalten und in Museen stellen und auf Noten ziehen, und dann alt und jung herbeirufen und <strong>di</strong>e Buben und Alten<br />
darüber radotieren und sich entzücken lassen. Man muß <strong>di</strong>e Menschheit lieben, um in das eigentümliche Wesen jedes<br />
einzudringen; es darf einem keiner zu gering, keiner zu häßlich sein, erst dann kann man sie verstehen; das<br />
unbedeutendste Gesicht macht einen tiefern Eindruck als <strong>di</strong>e bloße Empfindung des Schönen, und man kann <strong>di</strong>e<br />
Gestalten aus sich heraustreten lassen, ohne etwas vom Äußern hinein zu kopieren, wo einem kein Leben, keine<br />
Muskeln, kein Puls entgegenschwillt und pocht.<br />
Kaufmann warf ihm vor, daß er in der Wirklichkeit doch keine Typen für einen Apoll von Belvedere oder eine<br />
Raffaelische Madonna finden würde. Was liegt daran, versetzte er; ich muß gestehen, ich fühle mich dabei sehr tot.<br />
Wenn ich in mir arbeite, kann ich auch wohl was dabei fühlen, aber ich tue das Beste daran. Der Dichter und Bildende<br />
ist mir der liebste, der mir <strong>di</strong>e Natur am wirklichsten gibt, so daß ich über seinem Gebild fühle; alles übrige stört mich.<br />
Die hollän<strong>di</strong>schen Maler sind mir lieber als <strong>di</strong>e italienischen, sie sind auch <strong>di</strong>e einzigen faßlichen. Ich kenne nur zwei<br />
Bilder, und zwar von Niederländern, <strong>di</strong>e mir einen Eindruck gemacht hätten wie das Neue Testament: das eine ist, ich<br />
weiß nicht von wem, Christus und <strong>di</strong>e Jünger von Emmaus. Wenn man so liest, wie <strong>di</strong>e Jünger hinausgingen, es liegt<br />
gleich <strong>di</strong>e ganze Natur in den paar Worten. Es ist ein trüber, dämmernder Abend, ein einförmiger roter Streifen am<br />
Horizont, halbfinster auf der Straße; da kommt ein Unbekannter zu ihnen, sie sprechen, er bricht das Brot; da erkennen<br />
sie ihn, in einfach-menschlicher Art, und <strong>di</strong>e göttlich- leidenden Züge reden ihnen deutlich, und sie erschrecken, denn<br />
es ist finster geworden, und es tritt sie etwas Unbegreifliches an; aber es ist kein gespenstisches Grauen, es ist, wie<br />
wenn einem ein geliebter Toter in der Dämmerung in der alten Art entgegenträte: so ist das Bild mit dem einförmigen,<br />
bräunlichen Ton darüber, dem trüben stillen Abend. Dann ein anderes: Eine Frau sitzt in ihrer Kammer, das Gebetbuch<br />
in der Hand. Es ist sonntä<strong>gli</strong>ch aufgeputzt, der Sand gestreut, so heimlich rein und warm. Die Frau hat nicht zur Kirche<br />
gekonnt, und sie verrichtet <strong>di</strong>e Andacht zu Haus; das Fenster ist offen, sie sitzt darnach hingewandt, und es ist, als<br />
schwebten zu dem Fenster über <strong>di</strong>e weite ebne Landschaft <strong>di</strong>e Glockentöne von dem Dorfe herein und verhallet der<br />
Sang der nahen Gemeinde aus der Kirche her, und <strong>di</strong>e Frau liest den Text nach.<br />
In der Art sprach er weiter; man horchte auf, es traf vieles. Er war rot geworden über dem Reden, und bald<br />
lächelnd, bald ernst schüttelte er <strong>di</strong>e blonden Locken. Er hatte sich ganz vergessen.<br />
44
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A BÜCHNER<br />
Brief an <strong>di</strong>e Familie<br />
(1835; Auszug)<br />
Straßburg, 28. Juli 1835.<br />
[…] Über mein Drama muß ich einige Worte sagen: Erst muß ich bemerken, daß <strong>di</strong>e Erlaubnis, einige Änderungen<br />
machen zu dürfen, allzusehr benutzt worden ist. Fast auf jeder Seite weggelassen, zugesetzt, und fast immer auf <strong>di</strong>e dem<br />
Ganzen nachteiligste Weise. Manchmal ist der Sinn ganz entstellt oder ganz und gar weg, und fast platter Unsinn steht<br />
an der Stelle. Außerdem wimmelt das Buch von den abscheulichsten Druckfehlern. Man hatte mir keinen<br />
Korrekturbogen zugeschickt. Der Titel ist abgeschmackt, und mein Name steht darauf, was ich ausdrücklich verboten<br />
hatte; er steht außerdem nicht auf dem Titel meines Manuskripts. Außerdem hat mir der Korrektor einige Gemeinheiten<br />
in den Mund gelegt, <strong>di</strong>e ich in meinem Leben nicht gesagt haben würde. Gutzkows glänzende Kritiken habe ich gelesen<br />
und zu meiner Freude dabei bemerkt, daß ich keine Anlagen zur Eitelkeit habe. Was übrigens <strong>di</strong>e sogenannte<br />
Unsittlichkeit meines Buchs angeht, so habe ich Folgendes zu antworten: Der Dramatische Dichter ist in meinen Augen<br />
nichts, als ein Geschichtsschreiber, steht aber über Letzterem dadurch, daß er uns <strong>di</strong>e Geschichte zum zweiten Mal<br />
erschafft und uns gleich unmittelbar, statt eine trockene Erzählung zu geben, in das Leben einer Zeit hinein versetzt, uns<br />
statt Charakteristiken Charaktere, und statt Beschreibungen Gestalten gibt. Seine höchste Aufgabe ist, der Geschichte,<br />
wie sie sich wirklich begeben, so nahe als mö<strong>gli</strong>ch zu kommen. Sein Buch darf weder sittlicher noch unsittlicher sein,<br />
als <strong>di</strong>e Geschichte selbst; aber <strong>di</strong>e Geschichte ist vom lieben Herrgott nicht zu einer Lektüre für junge Frauenzimmer<br />
geschaffen worden, und da ist es mir auch nicht übel zu nehmen, wenn mein Drama ebensowenig dazu geeignet ist. Ich<br />
kann doch aus meinem Danton und den Ban<strong>di</strong>ten der Revolution nicht Tugendhelden machen! Wenn ich ihre<br />
Liederlichkeit schildern wollte, so mußte ich sie eben liederlich sein, wenn ich ihre Gottlosigkeit zeigen wollte, so<br />
mußte ich sie eben wie Atheisten sprechen lassen. Wenn einige unanstän<strong>di</strong>ge Ausdrücke vorkommen, so denke man an<br />
<strong>di</strong>e weltbekannte, obszöne Sprache der damaligen Zeit, wozu das, was ich meine Leute sagen lasse, nur ein schwacher<br />
Abriß ist. Man könnte mir nur noch vorwerfen, daß ich einen solchen Stoff gewählt hätte. Aber der Entwurf ist längst<br />
widerlegt. Wollte man ihn gelten lassen, so müßten <strong>di</strong>e größten Meisterwerke der Poesie verworfen werden. Der<br />
Dichter ist kein Lehrer der Moral, er erfindert und schafft Gestalten, er macht vergangene Zeiten wieder aufleben, und<br />
<strong>di</strong>e Leute mögen dann darus lernen, so gut, wie aus dem Stu<strong>di</strong>um der Geschichte und der Beobachtung dessen, was im<br />
menschlichen Leben um sie herum vorgeht. Wenn man so wollte, dürfte man keine Geschichte stu<strong>di</strong>eren, weil sehr<br />
viele unmoralische Dinge darin erzählt werden, müßte mit verbundenen Augen über <strong>di</strong>e Gasse gehen, weil man sonst<br />
Unanstän<strong>di</strong>gkeiten sehen könnte, und müßte über einen Gott Zeter schreien, der eine Welt erschaffen, worauf so viele<br />
Liederlichkeiten vorfallen. Wenn man mir übrigens noch sagen wollte, der Dichter müsse <strong>di</strong>e Welt nicht zeigen wie sie<br />
ist, sondern wie sie sein solle, so antworte ich, daß ich es nicht besser machen will, als der liebe Gott, der <strong>di</strong>e Welt<br />
gewiß gemacht hat, wie sie sein soll. Was noch <strong>di</strong>e sogenannten Ideal<strong>di</strong>chter anbetrifft, so finde ich, daß sie fast nichts<br />
als Marionetten mit himmelblauen Nasen und affektiertem Pathos, aber nicht Menschen von Fleisch und Blut gegeben<br />
haben, deren Leid und Freude mich mitempfinden macht, und deren Tun und Handeln mir Abscheu oder Bewunderung<br />
einflößt. Mit einem Wort, ich halte viel auf Goethe oder Shakespeare, aber sehr wenig auf Schiller. Daß übrigens noch<br />
<strong>di</strong>e ungünstigsten Kritiken erscheinen werden, versteht sich von selbst; denn <strong>di</strong>e Regierungen müssen doch durch ihre<br />
bezahlten Schreiber beweisen lassen, daß ihre Gegner Dummköpfe oder unsittliche Menschen sind. Ich halte übrigens<br />
mein Werk keineswegs für vollkommen, und werde jede wahrhaft ästhetische Kritik mit Dank annehmen. –<br />
Habt ihr von dem gewaltigen Blitzstrahl gehört, der vor einigen Tagen das Münster getroffen hat? Nie habe ich einen<br />
solchen Feuerglanz gesehen und einen solchen Schlag gehört, ich war einige Augenblicke wie betäubt. Der Schade ist<br />
der größte seit Wächtersgedenken. Die Steine wurden mit ungeheurer Gewalt zerschmettert und weit weg geschleudert;<br />
auf hundert Schritt im Umkreis wurden <strong>di</strong>e Dächer der benachbarten Häuser von den herabfallenden Steinen<br />
durchgeschlagen. –<br />
Es sind wieder drei Flüchtlinge hier eingetroffen. Nievergelder ist darunter; es sind in Gießen neuer<strong>di</strong>ngs zwei<br />
Studenten verhaftet worden. Ich bin äußerst vorsichtig. Wir wissen hier von Niemand, der auf der Grenze verhaftet<br />
worden sei. Die Geschichte muß ein Märchen sein. […]<br />
45
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A BÜCHNER<br />
Wozyeck<br />
(Enstehung 1836/37; Erstdruck 1895; Uraufführung 1913; Auszug: H4, 8. Szene)<br />
Woyzeck. Der Doctor.<br />
DOCTOR. Was erleb' ich Woyzeck? Ein Mann von Wort.<br />
WOYZECK. Was denn Herr Doctor?<br />
DOCTOR. Ich hab's gesehn Woyzeck; Er hat auf <strong>di</strong>e Straß gepißt, an <strong>di</strong>e Wand gepißt wie ein Hund. Und doch 2<br />
Groschen tä<strong>gli</strong>ch. Woyzeck das ist schlecht. Die Welt wird schlecht, sehr schlecht.<br />
WOYZECK. Aber Herr Doctor, wenn einem <strong>di</strong>e Natur kommt.<br />
DOCTOR. Die Natur kommt, <strong>di</strong>e Natur kommt! Die Natur! Hab' ich nicht nachgewiesen, daß der musculus constrictor<br />
vesicae dem Willen unterworfen ist? Die Natur! Woyzeck, der Mensch ist frei, in dem Menschen verklärt sich <strong>di</strong>e<br />
In<strong>di</strong>vidualität zur Freiheit. Den Harn nicht halten können! Schüttelt den Kopf, legt <strong>di</strong>e Hände auf den Rücken und geht<br />
auf und ab. Hat Er schon seine Erbsen gegessen, Woyzeck? – Es giebt eine Revolution in der Wissenschaft, ich sprenge<br />
sie in <strong>di</strong>e Luft. Harnstoff 0,10, salzsaures Ammonium, Hy<strong>per</strong>oxydul.<br />
Woyzeck muß Er nicht wieder pissen? geh' Er eimal hinein und probir Er's.<br />
WOYZECK. Ich kann nit Herr Doctor.<br />
DOCTOR mit Affect. Aber an <strong>di</strong>e Wand pissen! Ich hab's schriftlich, den Akkord in der Hand. Ich hab's gesehn, mit<br />
<strong>di</strong>eßen Augen gesehn, ich steckt grade <strong>di</strong>e Nase zum Fenster hinaus und ließ <strong>di</strong>e Sonnstrahlen hineinfallen, um das<br />
Niesen zu beobachten. Tritt auf ihn los. Nein Woyzeck, ich ärgre mich nicht, Ärger ist ungesund, ist unwissenschaftlich.<br />
Ich bin ruhig ganz ruhig, mein Puls hat seine gewöhnlichen 60 und ich sag's Ihm mit der größten Kaltblütigkeit. Behüte<br />
wer wird sich über einen Menschen ärgern, ein Menschen! Wenn es noch ein proteus wäre, der einem krepirt! Aber Er<br />
hätte doch nicht an <strong>di</strong>e Wand pissen sollen –<br />
WOYZECK. Sehn Sie Herr Doctor, manchmal hat einer so n'en Character, so n'e Structur. – Aber mit der Natur ist's<br />
was anders, sehn Sie mit der Natur Er kracht mit den Fingern. das ist so was, wie soll ich doch sagen, zum Beispiel ...<br />
DOCTOR. Woyzeck, Er philosophirt wieder.<br />
WOYZECK vertraulich. Herr Doctor haben Sie schon was von der doppelten Natur gesehn? Wenn <strong>di</strong>e Sonn in Mittag<br />
steht und es ist als ging <strong>di</strong>e Welt in Feuer auf hat schon eine fürchterliche Stimme zu mir geredt!<br />
DOCTOR. Woyzeck, Er hat eine aberratio.<br />
WOYZECK legt den Finger an <strong>di</strong>e Nase. Die Schwämme Herr Doctor. Da, da steckts. Haben Sie schon gesehn in was<br />
für Figuren <strong>di</strong>e Schwämme auf dem Boden wachsen? Wer das lesen könnt.<br />
DOCTOR. Woyzeck Er hat <strong>di</strong>e schönste aberratio mentalis partialis, <strong>di</strong>e zweite Species, sehr schön ausgeprägt.<br />
Woyzeck Er kriegt Zulage. Zweite Species, fixe Idee, mit allgemein vernünftigem Zustand, Er thut noch Alles wie<br />
sonst, rasirt sein Hauptmann?<br />
WOYZECK. Ja, wohl.<br />
DOCTOR. Ißt sei Erbse?<br />
WOYZECK. Immer ordentlich Herr Doctor. Das Geld für <strong>di</strong>e Menage kriegt mei Frau.<br />
DOCTOR. Thut sei Dienst?<br />
WOYZECK. Ja wohl.<br />
DOCTOR. Er ist ein interessanter casus. Subject Woyzeck Er kriegt Zulag. Halt Er sich brav. Zeig Er sei Puls! Ja.<br />
46
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A GRILLPARZER<br />
Franz GRILLPARZER (1791-1872)<br />
Über das Wesen des Drama<br />
(Entstehung 1820; Erstdruck 1872)<br />
Das Wesen des Drama ist, da es etwas Er<strong>di</strong>chtetes als wirklich geschehend anschaulich machen soll, strenge Kausalität.<br />
Im Lauf der wirklichen Welt bescheiden wir uns gern, daß manches vorkommen könne, was sich für uns in <strong>di</strong>e stetige<br />
Kette von Ursache und Wirkung nicht fügt, weil wir einen unfaßlichen Urheber des Ganzen anzunehmen genötigt sind<br />
und immer hoffen können, daß das, was für unsere Beschränktheit unzusammenhängend ist, in ihm einen uns<br />
unbegreiflichen Zusammenhang habe: im Ge<strong>di</strong>cht aber kennen wir den Urheber der Begebenheiten und ihrer<br />
Verknüpfung und wissen in ihm einen dem unsern ähnlichen Verstand; daher sind wir auch wohl berechtigt<br />
anzunehmen, was in seiner Schöpfung für unsere, und überhaupt für <strong>di</strong>e menschlichendliche Denkkraft nicht<br />
zusammenhänge, habe überhaupt keinen Zusammenhang und gehöre daher in <strong>di</strong>e Klasse der leeren Er<strong>di</strong>chtungen, <strong>di</strong>e<br />
der Verstand, von dessen formaler Leitung sich auch <strong>di</strong>e schaffende Phantasie, wie jedes innere Vermögen, nicht<br />
losmachen kann, unbe<strong>di</strong>ngt verwirft, oder <strong>di</strong>e wenigstens <strong>di</strong>e beim Drama beabsichtigte Annäherung an das Wirkliche<br />
ganz ausschließt.<br />
Das Kausalitätsband ist nun, den Begriff der Freiheit vorausgesetzt, seiner Mö<strong>gli</strong>chkeit nach ein doppeltes:<br />
Nach dem Gesetze der Notwen<strong>di</strong>gkeit d.i. der Natur, und nach dem Gesetze der Freiheit. Unter dem Notwen<strong>di</strong>gen wird<br />
hier alles dasjenige verstanden, was, unabhängig von der Willensbestimmung des Menschen, in der Natur oder durch<br />
andere seinesgleichen geschieht und was, durch <strong>di</strong>e unbezweifelte Einwirkung auf <strong>di</strong>e untern, unwillkürlichen<br />
Triebfedern seiner Handlungen, <strong>di</strong>e Äußerungen seiner Tätigkeit, zwar nicht nötigend, aber doch anregend bestimmt.<br />
Die Einwirkung <strong>di</strong>eser äußern Triebfedern ist bekanntlich so stark, daß sie bei Menschen von heftigen, durch<br />
verkehrte Erziehung und unglückliches Tem<strong>per</strong>ament genährten Neigungen, oft alle Tätigkeit der Freiheit aufzuheben<br />
scheint, und selbst <strong>di</strong>e besten unter uns sind sich bewußt, wie oft sie dadurch zum Schlimmen fortgerissen wurden, und<br />
wie <strong>di</strong>ese Triebfedern einen Grad von extensiver und intensiver Größe erreichen können, wo fast nur ein halbes Wunder<br />
mö<strong>gli</strong>ch machen kann, ihnen zu entgehen. Das nun, was außer unserm Willenskreise, unabhängig von uns, also<br />
notwen<strong>di</strong>g vorgeht, und, ohne daß wir es nach Willkür bestimmen könnten, auf uns bestimmend (nicht nötigend)<br />
einwirkt, nennen wir, im Zusammenhange und unter dem für <strong>di</strong>e ganze Natur geltenden Kausalitätsgesetze als Ursache<br />
und Wirkung stehend gedacht, Verhängnis, und insofern wir einen Verstand voraussetzen, der, ohne Einwirkung auf <strong>di</strong>e<br />
Verhängnisse, das Verhängnis denkt und außer der Beschränkung von Raum und Zeit, von vorher und nachher erkennt,<br />
Schicksal (fatum). Das Schicksal ist nichts als eine Vorhersehung ohne Vorsicht, eine passive Vorsehung möchte ich sie<br />
nennen, entgegengesetzt der aktiven, <strong>di</strong>e, als <strong>di</strong>e Naturgesetze zu Gunsten des Freiheitsgesetzes mo<strong>di</strong>fizierend, gedacht<br />
wird.<br />
Im Trauerspiele nun wird entweder der Freiheit über <strong>di</strong>e Notwen<strong>di</strong>gkeit der Sieg verschafft, oder umgekehrt.<br />
Wir Neuern halten das erstere für das allein Zulässige, worüber ich aber ganz der entgegengesetzten Meinung bin. Die<br />
Erhebung des Geistes, <strong>di</strong>e aus dem Siege der Freiheit entspringen soll, hat durchaus nichts mit dem Wesen des<br />
Tragischen gemein, und schließt nebstdem das Trauerspiel scharf ab, ohne jenes weitere Fortspielen im Gemüte des<br />
Zuschauers zu begünstigen, das eben <strong>di</strong>e eigentliche Wirkung der wahren Tragö<strong>di</strong>e ausmacht. Das Tragische, das<br />
Aristoteles nur etwas steif mit Erweckung von Furcht und Mitleid bezeichnet, liegt darin, daß der Mensch das Nichtige<br />
des Ir<strong>di</strong>schen erkennt; <strong>di</strong>e Gefahren sieht, welchen der Beste ausgesetzt ist und oft unterliegt; daß er, für sich selbst fest<br />
das Rechte und Wahre hütend, den strauchelnden Mitmenschen bedaure, den fallenden nicht aufhöre zu lieben, wenn er<br />
ihn gleich straft, weil jede Störung vernichtet werden muß des ewigen Rechts. Menschenliebe, Duldsamkeit,<br />
Selbsterkenntnis, Reinigung der Leidenschaften durch Mitleid und Furcht wird eine solche Tragö<strong>di</strong>e bewirken. Das<br />
Stück wird nach dem Fallen des Vorhangs fortspielen im Innern des Menschen, und <strong>di</strong>e Verherrlichung des Rechts, <strong>di</strong>e<br />
Schlegel in derber Anschaulichkeit auf den Brettern und in den Lumpen der Bühne sehen will, wird glänzend sich<br />
herabsenken auf <strong>di</strong>e stillzitternden Kreise des aufgeregten Gemüts.<br />
Es ist ein Schicksal, das den Gerechten hienieden fallen läßt und den Ungerechten siegen, das »unvergoltene«<br />
Wunden schlägt, hier unvergolten. Laßt euch von der Geschichte belehren, daß es eine moralische Weltordnung gibt,<br />
<strong>di</strong>e im Geschlechte ausgleicht, was stört in den In<strong>di</strong>viduen; laßt euch von der Philosophie und Religion sagen, daß es<br />
ein Jenseits gibt, wo auch das Rechttun des In<strong>di</strong>viduums seine Vollendung und Verherrlichung findet. Mit <strong>di</strong>esen<br />
Vorkenntnissen und Gefühlen tretet vor unsere Bühne und ihr werdet verstehen was wir wollen. Die wahre Darstellung<br />
hat keinen <strong>di</strong>daktischen Zweck, sagt irgendwo Goethe, und wer ein Künstler ist wird ihm beifallen. Das Theater ist kein<br />
Korrektionshaus für Spitzbuben und keine Trivialschule für Unmün<strong>di</strong>ge. Wenn ihr mit den ewigen Begriffen des Rechts<br />
und der Tugend vor unsere Bühne tretet, so wird euch das zerschmetternde Schicksal ebenso erheben, wie es <strong>di</strong>e<br />
Griechen erhob, denn der Mensch bleibt Mensch »im Filzhut und im Jamerlonk« und was einmal wahr gewesen muß es<br />
ewig sein und bleiben.<br />
47
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A NESTROY<br />
Johann Nepomuk NESTROY (1801–1862)<br />
Freiheit in Krähwinkel<br />
(Entstehung und Uraufführung 1848; Erstdruck 1849; Auszug: I, 7)<br />
Ultra tritt während dem Ritornell des folgenden Liedes ein<br />
1<br />
Unumschränkt haben s' regiert,<br />
Und kein Mensch hat sich g'rührt,<br />
Denn hätt's einer g'wagt<br />
Und ein freies Wort g'sagt,<br />
Den hätt' d' Festung belohnt,<br />
Das war man schon g'wohnt.<br />
Ausspioniert haben s' alles glei,<br />
Für das war d' Polizei.<br />
Der G'scheite ist verstummt,<br />
Kurz 's war alles verdummt<br />
Diese Zeit war bequem<br />
Für das Zopfensystem.<br />
2<br />
3<br />
Auf einmal geht's los<br />
Da fing z' denken an<br />
In Paris ganz kurios,<br />
Der gedrückte Untertan:<br />
Dort sind s' fuchtig worn, Zum Teuxel hinein,<br />
Und haben in ihrem Zorn, Muß ich denn ein Sklav sein?<br />
Weil s' d' Knechtschaft nicht lieben, Ein Fürst ist zwar ein Herr,<br />
Den Louis Philipp vertrieb'n. Aber ich bin Mensch wie er;<br />
Das Beispiel war bös,<br />
Und kostet's den Hals –<br />
So was macht a Getös,<br />
Rechenschaft soll für all's<br />
Und völlig über Nacht<br />
Gefordert jetzt wer'n<br />
Ist ganz Deutschland erwacht, Von <strong>di</strong>e großmächtigen Herrn.<br />
Das war sehr unangenehm Da waren s' sehr in der Klemm<br />
Für das Zopfensystem. Mit'n Zopfensystem.<br />
48<br />
4<br />
Das wär' wieder verflog'n,<br />
's Wetter hätt' sich verzog'n,<br />
Wenn nicht etwas g'schehn wär',<br />
Was Großartig's auf Ehr'.<br />
Auf einen Wink wie von oben,<br />
Hatt' sich Österreich erhoben.<br />
Dieser merkwür<strong>di</strong>ge Schlag<br />
Hat g'steckt in ein Tag<br />
Den Ministern ihr Ziel,<br />
's war verraten ihr Spiel.<br />
Jetzt sind s' alle Groß-Schlemm<br />
Mit'n Zopfensystem.<br />
Aus dem glorreichen freiheitstrahlenden Österreich führt mich mein finsteres Schicksal nach Krähwinkel her. Nach<br />
Krähwinkel, wo s' noch mit <strong>di</strong>e physischen Zöpf para<strong>di</strong>eren, fol<strong>gli</strong>ch von der Abschneidungsnotwen<strong>di</strong>gkeit der<br />
moralischen keine Ahnung haben. Nach Krähwinkel, wo man von Recht und Freiheit als wie von chimärisch blitzblaue<br />
Spatzen redt. Is uns aber auch nit viel besser gangen, und zwar aus dem nämlichen Grund; Recht und Freiheit sind ein<br />
paar bedeutungsvolle Worte, aber nur in der einfachen Zahl unendlich groß, drum hat man sie uns auch immer nur in<br />
der wertlosen vielfachen Zahl gegeben. Das klingt wie ein mathematischer Unsinn, und is doch <strong>di</strong>e evidenteste<br />
Wahrheit. Es is grad wie manche Frau, <strong>di</strong>e sehr viele Tugenden hat. Sie hat einen freundlichen Humor, und brummt<br />
nicht, wenn der Mann ausgeht, – das is eine Tugend – sie ist geistreich – das is eine Tugend, – sie hat ein gutes Herz,<br />
das ist eine Tugend, sie bringt <strong>di</strong>e fünfte Schale Kaffee schon schwer hinunter, das is auch eine Tugend, und trotz so<br />
vielen ihr innewohnenden Tugenden, is doch Tugend bei ihr nicht zu Haus; grad so is's uns mit Freiheit und Recht<br />
ergangen. Was für eine Menge Rechte haben wir g'habt, <strong>di</strong>ese Rechte der Geburt, <strong>di</strong>e Rechte und Vorrechte des<br />
Standes, dann das höchste unter allen Rechten, das Bergrecht, dann das niedrigste unter allen Rechten, das Recht, daß<br />
man selbst bei erwiesener Zahlungsunfähigkeit und Armut einen eins<strong>per</strong>ren lassen kann. Wir haben ferner das Recht<br />
g'habt, nach erlangter Bewilligung Diplome von gelehrten Gesellschaften anzunehmen. Sogar mit hoher Genehmigung<br />
das Recht, auslän<strong>di</strong>sche Courtoisie- Orden zu tragen. Und trotz all <strong>di</strong>esen unschätzbaren Rechten, haben wir doch kein<br />
Recht g'habt, weil wir Sklaven waren. Was haben wir ferner alles für Freiheiten g'habt. Überall auf'n Land und in den<br />
Städten zu gewissen Zeiten Marktfreiheit. Auch in der Residenz war Freiheit, in <strong>di</strong>e Redoutensäle nämlich, <strong>di</strong>e<br />
Maskenfreiheit, noch mehr Freiheit in <strong>di</strong>e Kaffeehäuser, wenn sich ein Nichtsverzehrender ang'lehnt und <strong>di</strong>e Pyramidler<br />
geniert hat, hat der Markör laut und öffentlich g'schrien: Billardfreiheit. Wir haben sogar Gedankenfreiheit g'habt,<br />
insofern wir <strong>di</strong>e Gedanken bei uns behalten haben. Es war nämlich für <strong>di</strong>e Gedanken eine Art Hundsverordnung. Man<br />
hat s' haben dürfen, aber am Schnürl führen, wie man s' loslassen hat, haben s' einem s' erschlagen. Mit einem Wort, wir<br />
haben eine Menge Freiheiten gehabt, aber von Freiheit keine Spur. Na, das is anders geworden, und wird auch in<br />
Krähwinkel anders werden. Wahrscheinlich werden dann von <strong>di</strong>e Krähwinkler viele so engherzig sein und nach<br />
Zersprengung ihrer Ketten, ohne gerade Reaktionär' zu sein, dennoch kleinmütig zum raunzen anfangen: O mein Gott,<br />
früher is es halt doch besser gewesen, – und schon das ganze Leben jetzt – und <strong>di</strong>ese Sachen alle – aber das macht<br />
nichts, man hat ja selbst in Wien ähnliche Räsonnements gehört. Und sonderbar, gerade <strong>di</strong>e, <strong>di</strong>e es am schwersten<br />
betrifft, verhalten sich am ruhigsten dabei. Das sind <strong>di</strong>e Hebammen und <strong>di</strong>e Dichter; für <strong>di</strong>e Hebammen kann das gewiß<br />
nicht angenehm sein, daß jetzt <strong>di</strong>e Geburt nix mehr gilt, und <strong>di</strong>e Dichter haben ihre beliebteste Ausred eingebüßt. Es<br />
war halt eine schöne Sach', wenn einem nichts eing'fallen is, und man hat zu <strong>di</strong>e Leut sagen können: Ach Gott! es is<br />
schrecklich, sie verbieten einem ja alles. Das fallt jetzt weg, und aus dem Grund, und aus vielen andern Gründen, – ah<br />
mein Prinzipal –
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A STIFTER<br />
Adalbert STIFTER (1805-1868)<br />
Bunte Steine<br />
(Entstehung 1852; Erstdruck 1853; Auszug aus der „Vorrede“)<br />
Vorrede<br />
Es ist einmal gegen mich bemerkt worden, daß ich nur das Kleine bilde, und daß meine Menschen stets gewöhnliche<br />
Menschen seien. Wenn das wahr ist, bin ich heute in der Lage, den Lesern ein noch Kleineres und Unbedeutenderes<br />
anzubieten, nämlich allerlei Spielereien für junge Herzen. Es soll sogar in denselben nicht einmal Tugend und Sitte gepre<strong>di</strong>gte<br />
werden, wie es gebräuchlich ist, sondern sie sollen nur durch das wirken, was sie sind. Wenn etwas Edles und Gutes in mir ist,<br />
so wird es von selber in meinen Schriften liegen; wenn aber dasselbe nicht in meinem Gemüte ist, so werde ich mich<br />
vergeblich bemühen, Hohes und Schönes darzustellen, es wird doch immer das Niedrige und Unedle durchscheinen. Großes<br />
oder Kleines zu bilden, hatte ich bei meinen Schriften überhaupt nie im Sinne, ich wurde von ganz anderen Gesetzen geleitet.<br />
Die Kunst ist mir ein so Hohes und Erhabenes, sie ist mir, wie ich schon einmal an einem anderen Orte gesagt habe, nach der<br />
Religion das Höchste auf Erden, so daß ich meine Schriften nie für Dichtungen gehalten habe, noch mich je vermessen werde,<br />
sie für Dichtungen zu halten. Dichter gibt es sehr wenige auf der Welt, sie sind <strong>di</strong>e hohen Priester, sie sind <strong>di</strong>e Wohltäter des<br />
menschlichen Geschlechtes; falsche Propheten aber gibt es sehr viele. Allein wenn auch nicht jede gesprochenen Worte<br />
Dichtung sein können, so können sie doch etwas anderes sein, dem nicht alle Berechtigung des Daseins abgeht.<br />
Gleichgestimmten Freunden eine vergnügte Stunde zu machen, ihnen allen, bekannten wie unbekannten, einen Gruß zu<br />
schicken, und ein Körnlein Gutes zu dem Baue des Ewigen beizutragen, das war <strong>di</strong>e Absicht bei meinen Schriften, und wird<br />
auch <strong>di</strong>e Absicht bleiben. Ich wäre sehr glücklich, wenn ich mit Gewißheit wüßte, daß ich nur <strong>di</strong>ese Absicht erreicht hätte.<br />
Weil wir aber schon einmal von dem Großen und Kleinen reden, so will ich meine Ansichten darlegen, <strong>di</strong>e wahrscheinlich<br />
von denen vieler anderer Menschen abweichen. Das Wehen der Luft, das Rieseln des Wassers, das Wachsen der Getreide, das<br />
Wogen des Meeres, das Grünen der Erde, das Glänzen des Himmels, das Schimmern der Gestirne halte ich für groß: das<br />
prächtig einherziehende Gewitter, den Blitz, welcher Häuser spaltet, den Sturm, der <strong>di</strong>e Brandung treibt, den feuerspeienden<br />
Berg, das Erdbeben, welches Länder verschüttet, halte ich nicht für größer als obige Erscheinungen, ja ich halte sie für kleiner,<br />
weil sie nur Wirkungen viel höherer Gesetze sind. Sie kommen auf einzelnen Stellen vor, und sind <strong>di</strong>e Ergebnisse einseitiger<br />
Ursachen. Die Kraft, welche <strong>di</strong>e Milch im Töpfchen der armen Frau empor schwellen und übergehen macht, ist es auch, <strong>di</strong>e<br />
<strong>di</strong>e Lava in dem feuerspeienden Berge empor treibt und auf den Flächen der Berge hinab gleiten läßt. Nur augenfälliger sind<br />
<strong>di</strong>ese Erscheinungen und reißen den Blick des Unkun<strong>di</strong>gen und Unaufmerksamen mehr an sich, während der Geisteszug des<br />
Forschers vorzü<strong>gli</strong>ch auf das Ganze und Allgemeine geht und nur in ihm allein Großartigkeit zu erkennen vermag, weil es<br />
allein das Welterhaltende ist. Die Einzelheiten gehen vorüber, und ihre Wirkungen sind nach kurzem kaum noch erkennbar.<br />
Wir wollen das Gesagte durch ein Beispiel erläutern. Wenn ein Mann durch Jahre hindurch <strong>di</strong>e Magnetnadel, deren eine<br />
Spitze immer nach Norden weist, tagtä<strong>gli</strong>ch zu festgesetzten Stunden beobachtete und sich <strong>di</strong>e Veränderungen, wie <strong>di</strong>e Nadel<br />
bald mehr bald weniger klar nach Norden zeigt, in einem Buche aufschriebe, so würde gewiß ein Unkun<strong>di</strong>ger <strong>di</strong>eses Beginnen<br />
für ein kleines und für Spielerei ansehen; aber wie ehrfurchterregend wird <strong>di</strong>eses Kleine und wie begeisterungerweckend <strong>di</strong>ese<br />
Spielerei, wenn wir nun erfahren, daß <strong>di</strong>ese Beobachtungen wirklich auf dem ganzen Erdboden angestellt werden, und daß aus<br />
den daraus zusammengestellten Tafeln ersichtlich wird, daß manche kleine Veränderungen an der Magnetnadel oft auf allen<br />
Punkten der Erde gleichzeitig und in gleichem Maße vor sich gehen, daß also ein magnetisches Gewitter über <strong>di</strong>e ganze Erde<br />
geht, daß <strong>di</strong>e ganze Erdoberfläche gleichzeitig gleichsam ein magnetisches Schauern empfindet. Wenn wir, so wie wir für das<br />
Licht <strong>di</strong>e Augen haben, auch für <strong>di</strong>e Elektrizität und den aus ihr kommenden Magnetismus ein Sinneswerkzeug hätten, welche<br />
große Welt, welche Fülle von unermeßlichen Erscheinungen würde uns da aufgetan sein. Wenn wir aber auch <strong>di</strong>eses leibliche<br />
Auge nicht haben, so haben wir dafür das geistige der Wissenschaft, und <strong>di</strong>ese lehrt uns, daß <strong>di</strong>e elektrische und magnetische<br />
Kraft auf einem ungeheuren Schauplatze wirke, daß sie auf der ganzen Erde und durch den ganzen Himmel verbreitet sei, daß<br />
sie alles umfließe und sanft und unablässig verändernd, bildend und lebenerzeugend sich darstelle. Der Blitz ist nur ein ganz<br />
kleines Merkmal <strong>di</strong>eser Kraft, sie selber aber ist ein Großes in der Natur. Weil aber <strong>di</strong>e Wissenschaft nur Körnchen nach<br />
Körnchen erringt, nur Beobachtung nach Beobachtung macht, nur aus Einzelnem das Allgemeine zusammen trägt, und weil<br />
endlich <strong>di</strong>e Menge der Erscheinungen und das Feld des Gegebenen unendlich groß ist, Gott also <strong>di</strong>e Freude und <strong>di</strong>e<br />
Glückseligkeit des Forschens unversie<strong>gli</strong>ch gemacht hat, wir auch in unseren Werkstätten immer nur das Einzelne darstellen<br />
können, nie das Allgemeine, denn <strong>di</strong>es wäre <strong>di</strong>e Schöpfung: so ist auch <strong>di</strong>e Geschichte des in der Natur Großen in einer<br />
immerwährenden Umwandlung der Ansichten über <strong>di</strong>eses Große bestanden. Da <strong>di</strong>e Menschen in der Kindheit waren, ihr<br />
geistiges Auge von der Wissenschaft noch nicht berührt war, wurden sie von dem Nahestehenden und Auffälligen ergriffen<br />
und zu Furcht und Bewunderung hingerissen; aber als ihr Sinn geöffnet wurde, da der Blick sich auf den Zusammenhang zu<br />
richten begann, so sanken <strong>di</strong>e einzelnen Erscheinungen immer tiefer, und es erhob sich das Gesetz immer höher, <strong>di</strong>e<br />
Wunderbarkeiten hörten auf, das Wunder nahm zu.<br />
So wie es in der äußeren Natur ist, so ist es auch in der inneren, in der des menschlichen Geschlechtes. Ein ganzes<br />
Leben voll Gerechtigkeit, Einfachheit, Bezwingung seiner selbst, Verstandesgemäßheit, Wirksamkeit in seinem Kreise,<br />
Bewunderung des Schönen, verbunden mit einem heiteren, gelassenen Sterben, halte ich für groß: mächtige Bewegungen des<br />
Gemütes, furchtbar einherrollenden Zorn, <strong>di</strong>e Begier nach Rache, den entzündeten Geist, der nach Tätigkeit strebt, umreißt,<br />
ändert, zerstört, und in der Erregung oft das eigene Leben hinwirft, halte ich nicht für größer, sondern für kleiner, da <strong>di</strong>ese<br />
Dinge so gut nur Hervorbringungen einzelner und einseitiger Kräfte sind, wie Stürme, feuerspeiende Berge, Erdbeben. Wir<br />
wollen das sanfte Gesetz zu erblicken suchen, wodurch das menschliche Geschlecht geleitet wird. Es gibt Kräfte, <strong>di</strong>e nach<br />
dem Bestehen des Einzelnen zielen. Sie nehmen alles und verwenden es, was zum Bestehen und zum Entwickeln desselben<br />
notwen<strong>di</strong>g ist. Sie sichern den Bestand des Einen und dadurch den aller. Wenn aber jemand jedes Ding unbe<strong>di</strong>ngt an sich<br />
49
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A STIFTER<br />
reißt, was sein Wesen braucht, wenn er <strong>di</strong>e Be<strong>di</strong>ngungen des Daseins eines anderen zerstört, so ergrimmt etwas Höheres in<br />
uns, wir helfen dem Schwachen und Unterdrückten, wir stellen den Stand wieder her, daß er ein Mensch neben dem andern<br />
bestehe und seine menschliche Bahn gehen könne, und wenn wir das getan haben, so fühlen wir uns befrie<strong>di</strong>gt, wir fühlen uns<br />
noch viel höher und inniger, als wir uns als Einzelne fühlen, wir fühlen uns als ganze Menschheit. Es gibt daher Kräfte, <strong>di</strong>e<br />
nach dem Bestehen der gesamten Menschheit hinwirken, <strong>di</strong>e durch <strong>di</strong>e Einzelkräfte nicht beschränkt werden dürfen, ja im<br />
Gegenteile beschränkend auf sie selber einwirken. Es ist das Gesetz <strong>di</strong>eser Kräfte, das Gesetz der Gerechtigkeit, das Gesetz<br />
der Sitte, das Gesetz, das will, daß jeder geachtet, geehrt, ungefährdet neben dem anderen bestehe, daß er seine höhere<br />
menschliche Laufbahn gehen könne, sich Liebe und Bewunderung seiner Mitmenschen erwerbe, daß er als Kleinod gehütet<br />
werde, wie jeder Mensch ein Kleinod für alle andern Menschen ist. Dieses Gesetz liegt überall, wo Menschen neben<br />
Menschen wohnen, und es zeigt sich, wenn Menschen gegen Menschen wirken. Es liegt in der Liebe der Ehegatten zu<br />
einander, in der Liebe der Eltern zu den Kindern, der Kinder zu den Eltern, in der Liebe der Geschwister, der Freunde zu<br />
einander, in der süßen Neigung beider Geschlechter, in der Arbeitsamkeit, wodurch wir erhalten werden, in der Tätigkeit,<br />
wodurch man für seinen Kreis, für <strong>di</strong>e Ferne, für <strong>di</strong>e Menschheit wirkt, und endlich in der Ordnung und Gestalt, womit ganze<br />
Gesellschaften und Staaten ihr Dasein umgeben und zum Abschlusse bringen. Darum haben alte und neue Dichter vielfach<br />
<strong>di</strong>ese Gegenstände benützt, um ihre Dichtungen dem Mitgefühle naher und ferner Geschlechter anheim zu geben. Darum sieht<br />
der Menschenforscher, wohin er seinen Fuß setzt, überall nur <strong>di</strong>eses Gesetz allein, weil es das einzige Allgemeine, das einzige<br />
Erhaltende und nie Endende ist. Er sieht es eben so gut in der niedersten Hütte wie in dem höchsten Palaste, er sieht es in der<br />
Hingabe eines armen Weibes und in der ruhigen Todesverachtung des Helden für das Vaterland und <strong>di</strong>e Menschheit. Es hat<br />
Bewegungen in dem menschlichen Geschlechte gegeben, wodurch den Gemütern eine Richtung nach einem Ziele hin<br />
eingeprägt worden ist, wodurch ganze Zeiträume auf <strong>di</strong>e Dauer eine andere Gestalt gewonnen haben. Wenn in <strong>di</strong>esen<br />
Bewegungen das Gesetz der Gerechtigkeit und Sitte erkennbar ist, wenn sie von demselben eingeleitet und fortgeführt worden<br />
sind, so fühlen wir uns in der ganzen Menschheit erhoben, wir fühlen uns menschlich verallgemeinert, wir empfinden das<br />
Erhabene, wie es sich überall in <strong>di</strong>e Seele senkt, wo durch unmeßbar große Kräfte in der Zeit oder im Raume auf ein<br />
gestaltvolles, vernunftgemäßes Ganzes zusammen gewirkt wird. Wenn aber in <strong>di</strong>esen Bewegungen das Gesetz des Rechtes<br />
und der Sitte nicht ersichtlich ist, wenn sie nach einseitigen und selbstsüchtigen Zwecken ringen, dann wendet sich der<br />
Menschenforscher, wie gewaltig und furchtbar sie auch sein mögen, mit Ekel von ihnen ab, und betrachtet sie als ein Kleines,<br />
als ein des Menschen Unwür<strong>di</strong>ges. So groß ist <strong>di</strong>e Gewalt <strong>di</strong>eses Rechts- und Sittengesetzes, daß es überall, wo es immer<br />
bekämpft worden ist, doch endlich allezeit siegreich und herrlich aus dem Kampfe hervorgegangen ist. Ja wenn sogar der<br />
einzelne oder ganze Geschlechter für Recht und Sitte untergegangen sind, so fühlen wir sie nicht als besiegt, wir fühlen sie als<br />
triumphierend, in unser Mitleid mischt sich ein Jauchzen und Entzücken, weil das Ganze höher steht als der Teil, weil das<br />
Gute größer ist als der Tod, wir sagen da, wir empfinden das Tragische, und werden mit Schauern in den reineren Äther des<br />
Sittengesetzes emporgehoben. Wenn wir <strong>di</strong>e Menschheit in der Geschichte wie einen ruhigen Silberstrom einem großen,<br />
ewigen Ziele entgegen gehen sehen, so empfinden wir das Erhabene, das vorzugsweise Epische. Aber wie gewaltig und in<br />
großen Zügen auch das Tragische und Epische wirken, wie ausgezeichnete Hebel sie auch in der Kunst sind, so sind es<br />
hauptsächlich doch immer <strong>di</strong>e gewöhnlichen, alltä<strong>gli</strong>chen, in Unzahl wiederkehrenden Handlungen der Menschen, in denen<br />
<strong>di</strong>eses Gesetz am sichersten als Schwerpunkt liegt, weil <strong>di</strong>ese Handlungen <strong>di</strong>e dauernden, <strong>di</strong>e gründenden sind, gleichsam <strong>di</strong>e<br />
Millionen Wurzelfasern des Baumes des Lebens. So wie in der Natur <strong>di</strong>e allgemeinen Gesetze still und unaufhörlich wirken,<br />
und das Auffällige nur eine einzelne Äußerung <strong>di</strong>eser Gesetze ist, so wirkt das Sittengesetz still und seelenbelebend durch den<br />
unendlichen Verkehr der Menschen mit Menschen, und <strong>di</strong>e Wunder des Augenblickes bei vorgefallenen Taten sind nur kleine<br />
Merkmale <strong>di</strong>eser allgemeinen Kraft. So ist <strong>di</strong>eses Gesetz, so wie das der Natur das welterhaltende ist, das<br />
menschenerhaltende.<br />
Wie in der Geschichte der Natur <strong>di</strong>e Ansichten über das Große sich stets geändert haben, so ist es auch in der sittlichen<br />
Geschichte der Menschen gewesen. Anfangs wurden sie von dem Nächstliegenden berührt, kör<strong>per</strong>liche Stärke und ihre Siege<br />
im Ringkampfe wurden gepriesen, dann kamen Tapferkeit und Kriegesmut, dahin zielend, heftige Empfindungen und<br />
Leidenschaften gegen feindselige Haufen und Verbindungen auszudrücken und auszuführen, dann wurde Stammeshoheit und<br />
Familienherrschaft besungen, inzwischen auch Schönheit und Liebe sowie Freundschaft und Aufopferung gefeiert, dann aber<br />
erschien ein Überblick über ein Größeres: ganze menschliche Abteilungen und Verhältnisse wurden geordnet, das Recht des<br />
Ganzen vereint mit dem des Teiles, und Großmut gegen den Feind und Unterdrückung seiner Empfindungen und<br />
Leidenschaften zum Besten der Gerechtigkeit hoch und herrlich gehalten, wie ja Mäßigung schon den Alten als <strong>di</strong>e erste<br />
männliche Tugend galt, und endlich wurde ein völkerumschlingendes Band als ein Wünschenswertes gedacht, ein Band, das<br />
alle Gaben des einen Volkes mit denen des andern vertauscht, <strong>di</strong>e Wissenschaft fördert, ihre Schätze für alle Menschen<br />
darlegt, und in der Kunst und Religion zu dem einfach Hohen und Himmlischen leitet.<br />
Wie es mit dem Aufwärtssteigen des menschlichen Geschlechtes ist, so ist es auch mit seinem Abwärtssteigen.<br />
Untergehenden Völkern verschwindet zuerst das Maß. Sie gehen nach Einzelnem aus, sie werfen sich mit kurzem Blicke auf<br />
das Beschränkte und Unbedeutende, sie setzen das Be<strong>di</strong>ngte über das Allgemeine; dann suchen sie den Genuß und das<br />
Sinnliche, sie suchen Befrie<strong>di</strong>gung ihres Hasses und Neides gegen den Nachbar, in ihrer Kunst wird das Einseitige<br />
geschildert, das nur von einem Standpunkte Gültige, dann das Zerfahrene, Unstimmende, Abenteuerliche, endlich das<br />
Sinnenreizende, Aufregende und zuletzt <strong>di</strong>e Unsitte und das Laster, in der Religion sinkt das Innere zur bloßen Gestalt oder<br />
zur üppigen Schwärmerei herab, der Unterschied zwischen Gut und Böse verliert sich, der einzelne verachtet das Ganze und<br />
geht seiner Lust und seinem Verderben nach, und so wird das Volk eine Beute seiner inneren Zerwirrung oder <strong>di</strong>e eines<br />
äußeren, wilderen, aber kräftigeren Feindes. [...]<br />
50
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A HEBBEL<br />
Friedrich HEBBEL (1813–1863)<br />
Mein Wort über das Drama!<br />
(Entstehung und Erstdruck 1843; Auszug)<br />
Die Kunst hat es mit dem Leben, dem innern und äußern, zu tun, und man kann wohl sagen, daß sie beides zugleich darstellt,<br />
seine reinste Form und seinen höchsten Gehalt. Die Hauptgattungen der Kunst und ihre Gesetze ergeben sich unmittelbar aus<br />
der Verschiedenheit der Elemente, <strong>di</strong>e sie im jedesmaligen Fall aus dem Leben herausnimmt und verarbeitet. Das Leben<br />
erscheint aber in zwiefacher Gestalt, als Sein und als Werden, und <strong>di</strong>e Kunst löst ihre Aufgabe am vollkommensten, wenn sie<br />
sich zwischen beiden gemessen in der Schwebe erhält. Nur so versichert sie sich der Gegenwart, wie der Zukunft, <strong>di</strong>e ihr<br />
gleich wichtig sein müssen, nur so wird sie, was sie werden soll, Leben im Leben; denn das Zuständlich-Geschlossene erstickt<br />
den schöpferischen Hauch, ohne den sie wirkungslos bliebe, und das Embryonisch- Aufzuckende schließt <strong>di</strong>e Form aus.<br />
Das Drama stellt den Lebensprozeß an sich dar. Und zwar nicht bloß in dem Sinne, daß es uns das Leben in seiner<br />
ganzen Breite vorführt, was <strong>di</strong>e epische Dichtung sich ja wohl auch zu tun erlaubt, sondern in dem Sinne, daß es uns das<br />
bedenkliche Verhältnis vergegenwärtigt, worin das aus dem ursprün<strong>gli</strong>chen Nexus entlassene In<strong>di</strong>viduum dem Ganzen,<br />
dessen Teil es trotz seiner unbegreiflichen Freiheit noch immer geblieben ist, gegenübersteht. Das Drama ist demnach, wie es<br />
sich für <strong>di</strong>e höchste Kunstform schicken will, auf gleiche Weise ans Seiende, wie ans Werdende verwiesen: ans Seiende,<br />
indem es nicht müde werden darf, <strong>di</strong>e ewige Wahrheit zu wiederholen, daß das Leben als Vereinzelung, <strong>di</strong>e nicht Maß zu<br />
halten weiß, <strong>di</strong>e Schuld nicht bloß zufällig erzeugt, sondern sie notwen<strong>di</strong>g und wesentlich mit einschließt und be<strong>di</strong>ngt; ans<br />
Werdende, indem es an immer neuen Stoffen, wie <strong>di</strong>e wandelnde Zeit und ihr Niederschlag, <strong>di</strong>e Geschichte, sie ihm<br />
entgegenbringt, darzutun hat, daß der Mensch, wie <strong>di</strong>e Dinge um ihn her sich auch verändern mögen, seiner Natur und seinem<br />
Geschick nach ewig derselbe bleibt. Hiebei ist nicht zu übersehen, daß <strong>di</strong>e dramatische Schuld nicht, wie <strong>di</strong>e christliche<br />
Erbsünde, erst aus der Richtung des menschlichen Willens entspringt, sondern unmittelbar aus dem Willen selbst, aus der<br />
starren eigenmächtigen Ausdehnung des Ichs, hervorgeht, und daß es daher dramatisch völlig gleichgültig ist, ob der Held an<br />
einer vortrefflichen oder einer verwerflichen Bestrebung scheitert.<br />
Den Stoff des Dramas bilden Fabel und Charaktere. Von jener wollen wir hier absehen, denn sie ist, wenigstens bei<br />
den Neueren, ein untergeordnetes Moment geworden, wie jeder, der etwa zweifelt, sich klar machen kann, wenn er ein<br />
Shakespearesches Stück zur Hand nimmt, und sich fragt, was wohl den Dichter entzündet hat, <strong>di</strong>e Geschichte oder <strong>di</strong>e<br />
Menschen, <strong>di</strong>e er auftreten läßt. Von der allergrößten Wichtigkeit dagegen ist <strong>di</strong>e Behandlung der Charaktere. Diese dürfen in<br />
keinem Fall als fertige erscheinen, <strong>di</strong>e nur noch allerlei Verhältnisse durch- und abspielen, und wohl äußerlich an Glück oder<br />
Unglück, nicht aber innerlich an Kern und Wesenhaftigkeit gewinnen und verlieren können. Dies ist der Tod des Dramas, der<br />
Tod vor der Geburt. Nur dadurch, daß es uns veranschaulicht, wie das In<strong>di</strong>viduum im Kampf zwischen seinem <strong>per</strong>sönlichen<br />
und dem allgemeinen Weltwillen, der <strong>di</strong>e Tat, den Ausdruck der Freiheit, immer durch <strong>di</strong>e Begebenheit, den Ausdruck der<br />
Notwen<strong>di</strong>gkeit, mo<strong>di</strong>fiziert und umgestaltet, seine Form und seinen Schwerpunkt gewinnt, und daß es uns so <strong>di</strong>e Natur alles<br />
menschlichen Handelns klar macht, das bestän<strong>di</strong>g, sowie es ein inneres Motiv zu manifestieren sucht, zugleich ein<br />
widerstrebendes, auf Herstellung des Gleichgewichts berechnetes äußeres entbindet – nur dadurch wird das Drama leben<strong>di</strong>g.<br />
Und obgleich <strong>di</strong>e zugrunde gelegte Idee, von der <strong>di</strong>e hier vorausgesetzte Würde des Dramas und sein Wert abhängt, den Ring<br />
abgibt, innerhalb dessen sich alles planetarisch regen und bewegen muß, so hat der Dichter doch im gehörigen Sinn, und<br />
unbeschadet der wahren Einheit, für Vervielfältigung der Interessen, oder richtiger, für Vergegenwärtigung der Totalität des<br />
Lebens und der Welt zu sorgen, und sich wohl zu hüten, alle seine Charaktere, wie <strong>di</strong>es in den sogenannten lyrischen Stücken<br />
öfters geschieht, dem Zentrum gleich nah zu stellen. Das vollkommenste Lebensbild entsteht dann, wenn der Hauptcharakter<br />
das für <strong>di</strong>e Neben- und Gegencharaktere wird, was das Geschick, mit dem er ringt, für ihn ist, und wenn sich auf solche Weise<br />
alles, bis zu den untersten Abstufungen herab, in-, durch- und miteinander entwickelt, be<strong>di</strong>ngt und spiegelt.<br />
Es fragt sich nun: in welchem Verhältnis steht das Drama zur Geschichte und inwiefern muß es historisch sein? Ich<br />
denke, so weit, als es <strong>di</strong>eses schon an und für sich ist, und als <strong>di</strong>e Kunst für <strong>di</strong>e höchste Geschichtschreibung gelten darf,<br />
indem sie <strong>di</strong>e großartigsten und bedeutendsten Lebensprozesse gar nicht darstellen kann, ohne <strong>di</strong>e entscheidenden historischen<br />
Krisen, welche sie hervorrufen und be<strong>di</strong>ngen, <strong>di</strong>e Auflockerung oder <strong>di</strong>e allmählige Ver<strong>di</strong>chtung der religiösen und<br />
politischen Formen der Welt, als der Hauptleiter und Träger aller Bildung, mit einem Wort: <strong>di</strong>e Atmosphäre der Zeiten<br />
zugleich mit zur Anschauung zu bringen. Die materielle Geschichte, <strong>di</strong>e schon Napoleon <strong>di</strong>e Fabel der Übereinkunft nannte,<br />
<strong>di</strong>eser buntscheckige ungeheure Wust von zweifelhaften Tatsachen, und einseitig oder gar nicht umrissenen Charakterbildern,<br />
wird früher oder später das menschliche Fassungsvermögen übersteigen, und das neuere Drama, besonders das<br />
Shakespearesche, und nicht bloß das vorzugsweise historisch genannte, sondern das ganze, könnte auf <strong>di</strong>esem Wege zur<br />
entfernteren Nachwelt ganz von selbst in <strong>di</strong>eselbe Stellung kommen, worin das antike zu uns steht. Dann, eher wohl nicht,<br />
wird man aufhören, mit beschränktem Sinn nach einer gemeinen Identität zwischen Kunst und Geschichte zu forschen und<br />
gegebene und verarbeitete Situationen und Charaktere ängstlich miteinander zu vergleichen, denn man hat einsehen gelernt,<br />
daß dabei ja doch nur <strong>di</strong>e fast gleichgültige Übereinstimmung zwischen dem ersten und zweiten Porträt, nicht aber <strong>di</strong>e<br />
zwischen Bild und Wahrheit überhaupt, herausgebracht werden kann, und man hat erkannt, daß das Drama nicht bloß in<br />
seiner Totalität, wo es sich von selbst versteht, sondern daß es schon in jedem seiner Elemente symbolisch ist und als<br />
symbolisch betrachtet werden muß, ebenso wie der Maler <strong>di</strong>e Farben, durch <strong>di</strong>e er seinen Figuren rote Wangen und blaue<br />
Augen gibt, nicht aus wirklichem Menschenblut herausdestilliert, sondern sich ruhig und unangefochten des Zinnobers und<br />
des In<strong>di</strong>gos be<strong>di</strong>ent.<br />
Aber der Inhalt des Lebens ist unerschöpflich, und das Me<strong>di</strong>um der Kunst ist begrenzt. Das Leben kennt keinen<br />
Abschluß, der Faden an dem es <strong>di</strong>e Erscheinungen abspinnt, zieht sich ins Unendliche hin, <strong>di</strong>e Kunst dagegen muß<br />
abschließen, sie muß den Faden, so gut es geht, zum Kreis zusammenknüpfen, und <strong>di</strong>es ist der Punkt, den Goethe allein im<br />
51
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A HEBBEL<br />
Augen haben konnte, als er aussprach, daß alle ihre Formen etwas Unwahres mit sich führten. Dies Unwahre läßt sich freilich<br />
schon im Leben selbst aufzeigen, denn auch <strong>di</strong>eses bietet keine einzige Form dar, worin alle seine Elemente gleichmäßig<br />
aufgehen; es kann den vollkommensten Mann z.B. nicht bilden, ohne ihm <strong>di</strong>e Vorzüge vorzuenthalten, <strong>di</strong>e das vollkommenste<br />
Weib ausmachen, und <strong>di</strong>e beiden Eimer im Brunnen, wovon immer nur einer voll sein kann, sind das bezeichnendste Symbol<br />
aller Schöpfung. Viel schlimmer und bedenklicher jedoch, als im Leben, wo das Ganze stets für das Einzelne eintritt und<br />
entschä<strong>di</strong>gt, stellt sich <strong>di</strong>eser Grundmangel in der Kunst heraus, und zwar deshalb, weil hier der Bruch auf der einen Seite<br />
durchaus durch einen Überschuß auf der andern gedeckt werden muß.<br />
Ich will den Gedanken erläutern, indem ich <strong>di</strong>e Anwendung aufs Drama mache. Die vorzü<strong>gli</strong>chsten Dramen aller<br />
Literaturen zeigen uns, daß der Dichter den unsichtbaren Ring, innerhalb dessen das von ihm aufgestellte Lebensbild sich<br />
bewegt, oft nur dadurch zusammenfügen konnte, daß er einem oder einigen der Hauptcharaktere ein das Maß des Wirklichen<br />
bei weitem überschreitendes Welt- und Selbstbewußtsein verlieh. Ich will <strong>di</strong>e Alten unangeführt lassen, denn ihre Behandlung<br />
der Charaktere war eine andere, ich will nur an Shakespeare, und mit Übergehung des vielleicht zu schlagenden Hamlet, an<br />
<strong>di</strong>e Monologe im Macbeth und im Richard, sowie an den Bastard im König Johann, erinnern. Man hat, nebenbei sei es<br />
bemerkt, bei Shakespeare in <strong>di</strong>esem offenbaren Gebrechen zuweilen schon eine Tugend, einen besonderen Vorzug erblicken<br />
wollen (sogar Hegel in seiner Ästhetik), statt sich an dem Nachweis zu begnügen, daß dasselbe nicht im Dichter, sondern in<br />
der Kunst selbst seinen Grund habe. Was sich aber solchemnach bei den größten Dramatikern als durchgehender Zug in<br />
ganzen Charakteren findet, das wird auch oft im Einzelnen, in den kulminierenden Momenten, angetroffen, indem das Wort<br />
neben der Tat einhergeht, oder ihr wohl gar voraneilt, und <strong>di</strong>es ist es, um ein höchst wichtiges Resultat zu ziehen, was <strong>di</strong>e<br />
bewußte Darstellung in der Kunst von der unbewußten im Leben unterscheidet, daß jene, wenn sie ihre Wirkung nicht<br />
verfehlen will, scharfe und ganze Umrisse bringen muß, während <strong>di</strong>ese, <strong>di</strong>e ihre Beglaubigung nicht erst zu erringen braucht,<br />
und der es am Ende gleichgültig sein darf, ob und wie sie verstanden wird, sich an halben, am Ach und O, an einer Miene,<br />
einer Bewegung, genügen lassen mag. Goethes Ausspruch, der an das gefährlichste Geheimnis der Kunst zu ticken wagte, ist<br />
oft nachgesprochen, aber meistens nur auf das, was man äußerlich Form nennt, bezogen worden. Der Knabe sieht im<br />
tiefsinnigsten Bibelvers nur seine guten Bekannten, <strong>di</strong>e vierundzwanzig Buchstaben, durch <strong>di</strong>e er ausgedrückt ward.<br />
Das deutsche Drama scheint einen neuen Aufflug zu nehmen. Welche Aufgabe hat es jetzt zu lösen? Die Frage<br />
könnte befremden, denn <strong>di</strong>e zunächst liegende Antwort muß aller<strong>di</strong>ngs lauten: <strong>di</strong>eselbe, <strong>di</strong>e das Drama zu allen Zeiten zu<br />
lösen hatte. Aber man kann weiter fragen: soll es in <strong>di</strong>e Gegenwart hineingreifen? soll es sich nach der Vergangenheit<br />
zurückwenden? oder soll es sich um keine von beiden bekümmern, d.h. soll es sozial, historisch oder philosophisch sein?<br />
Respektable Talente haben <strong>di</strong>ese drei verschiedenen Richtungen schon eingeschlagen. Das soziale Thema hat Gutzkow<br />
aufgenommen. Vier seiner Stücke liegen vor, und sie machen in ihrer Gesamtheit einen befrie<strong>di</strong>genderen Eindruck, als<br />
einzeln, sie sind offenbar Korrelate, <strong>di</strong>e den gesellschaftlichen Zustand mit scharfen, schneidenden Lichtern in seinen Höhen<br />
und Niederungen beleuchten. Richard Savage zeigt, was eine Galanterie bedeutet, wenn sie zugleich mit der Natur und der<br />
Rücksicht aufs Dekorum schließt; je grausamer, umso besser; es war nicht recht, daß der Verfasser den ursprün<strong>gli</strong>chen Schluß<br />
veränderte, denn gerade darin lag das Tragische, daß sowenig <strong>di</strong>e Lady, als Richard, über ihr näheres Verhältnis zueinander<br />
klar werden konnten. Werner genügt am wenigsten; er scheint mehr aus einem Gefühl, als aus einer Idee hervorgegangen zu<br />
sein. Patkul hat gerade darin seine Stärke, worin man seine Schwäche suchen könnte, im Charakter und in der Situation des<br />
Kurfürsten; er zeigt, wer an einem Hof <strong>di</strong>e abhängigste Person ist, und es gilt gleich, ob <strong>di</strong>e Zeichnung auf August den Starken<br />
paßt oder nicht. Die Schule der Reichen lehrt, daß <strong>di</strong>e Extreme von Glück und Unglück in ihrer Wirkung auf den Menschen<br />
zusammenfallen. – Andere haben sich dem historischen Drama zugewandt. Ich glaube nun, und habe es oben ausgeführt, daß<br />
der wahre historische Charakter des Dramas niemals im Stoff liegt, und daß ein reines Phantasiegebilde, selbst ein<br />
Liebesgemälde, wenn nur der Geist des Lebens in ihm weht, und es für <strong>di</strong>e Nachwelt, <strong>di</strong>e nicht wissen will, wie unsere<br />
Großväter sich in unsern Köpfen abgebildet haben, sondern wie wir selbst beschaffen waren, frisch erhält, sehr historisch sein<br />
kann. Ich will hiemit keineswegs sagen, daß <strong>di</strong>e Poeten ihre dramatischen Dichtungen aus der Luft greifen sollen; im<br />
Gegenteil, wenn ihnen <strong>di</strong>e Geschichte oder Sage einen Anhaltspunkt darbietet, so sollen sie ihn nicht in lächerlichem<br />
Erfindungsdünkel verschmähen, sondern ihn dankbar benutzen. Ich will nur den weitverbreiteten Wahn, als ob der Dichter<br />
etwas anderes geben könne, als sich selbst, als seinen eigenen Lebensprozeß, bestreiten; er kann es nicht und hat es auch nicht<br />
nötig, denn wenn er wahrhaft lebt, wenn er sich nicht klein und eigensinnig in sein dürftiges Ich verkriecht, sondern<br />
durchströmt wird von den unsichtbaren Elementen, <strong>di</strong>e zu allen Zeiten im Fluß sind und neue Formen und Gestalten<br />
vorbereiten, so darf er dem Zug seines Geistes getrost folgen und kann gewiß sein, daß er in seinen Bedürfnissen <strong>di</strong>e<br />
Bedürfnisse der Welt, in seinen Phantasien <strong>di</strong>e Bilder der Zukunft ausspricht, womit es sich freilich sehr wohl verträgt, daß er<br />
sich in <strong>di</strong>e Kämpfe, <strong>di</strong>e eben auf der Straße vorfallen, nicht <strong>per</strong>sönlich mischt. Die Geschichte ist für den Dichter ein Vehikel<br />
zur Verkör<strong>per</strong>ung seiner Anschauungen und Ideen, nicht aber ist umgekehrt der Dichter der Auferstehungsengel der<br />
Geschichte; und was <strong>di</strong>e deutsche Geschichte speziell betrifft, so hat Wienbarg in seiner vortrefflichen Abhandlung über<br />
Uhland es mit großem Recht in Frage gestellt, ob sie auch nur Vehikel sein kann. Wer mich versteht, der wird finden, daß<br />
Shakespeare und Aeschylos meine Ansicht eher bestätigen, als widerlegen. – Auch philosophische Dramen liegen vor. Bei<br />
<strong>di</strong>esen kommt alles darauf an, ob <strong>di</strong>e Metaphysik aus dem Leben hervorgeht, oder ob das Leben aus der Metaphysik<br />
hervorgehen soll. In dem einen Fall wird etwas Gesundes, aber gerade keine neue Gattung entstehen, in dem andern ein<br />
Monstrum.<br />
Nun ist noch ein Viertes mö<strong>gli</strong>ch, ein Drama, das <strong>di</strong>e hier charakterisierten, verschiedenen Richtungen in sich<br />
vereinigt und eben deshalb keine einzelne entschieden hervortreten läßt. Dieses Drama ist das Ziel meiner eigenen<br />
Bestrebungen, und wenn ich, was ich meine, durch meine Versuche selbst, durch <strong>di</strong>e Ju<strong>di</strong>th und <strong>di</strong>e nächstens erscheinende<br />
Genoveva, nicht deutlich gemacht habe, so wäre es törigt, mit abstrakten Entwickelungen nachzuhelfen. [...]<br />
52
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A STORM<br />
Theodor STORM (1817-1888)<br />
Tiefe Schatten<br />
(Entstehung 1865; Erstdruck 1868)<br />
So komme, was da kommen mag!<br />
Solang du lebest, ist es Tag.<br />
Und geht es in <strong>di</strong>e Welt hinaus,<br />
Wo du mir bist, bin ich zu Haus.<br />
1.<br />
In der Gruft bei den alten Särgen<br />
Steht nun ein neuer Sarg,<br />
Darin vor meiner Liebe<br />
Sich das süßeste Antlitz barg.<br />
Den schwarzen Deckel der Truhe<br />
Verhängen <strong>di</strong>e Kränze ganz;<br />
Ein Kranz von Myrtenreisern,<br />
Ein weißer Syringenkranz.<br />
Was noch vor wenig Tagen<br />
Im Wald <strong>di</strong>e Sonne beschien,<br />
Das duftet nun hier unten:<br />
Maililien und Buchengrün.<br />
Geschlossen sind <strong>di</strong>e Steine,<br />
Nur oben ein Gitterlein;<br />
Es liegt <strong>di</strong>e geliebte Tote<br />
Verlassen und allein.<br />
Ich seh dein liebes Angesicht,<br />
Ich sehe <strong>di</strong>e Schatten der Zukunft nicht.<br />
Vielleicht im Mondenlichte,<br />
Wenn <strong>di</strong>e Welt zur Ruhe ging,<br />
Summt noch um <strong>di</strong>e weißen Blüten<br />
Ein dunkler Schmetterling.<br />
2.<br />
Mitunter weicht von meiner Brust,<br />
Was sie bedrückt seit deinem Sterben;<br />
Es drängt mich, wie in Jugendlust,<br />
Noch einmal um das Glück zu werben.<br />
Doch frag ich dann: Was ist das Glück?<br />
So kann ich keine Antwort geben<br />
Als <strong>di</strong>e, daß du mir kämst zurück,<br />
Um so wie einst mit mir zu leben.<br />
Dann seh ich jenen Morgenschein,<br />
Da wir <strong>di</strong>ch hin zur Gruft getragen;<br />
Und lautlos schlafen <strong>di</strong>e Wünsche ein,<br />
Und nicht mehr will ich das Glück erjagen.<br />
53<br />
3.<br />
Gleich jenem Luftgespenst der Wüste<br />
Gaukelt vor mir<br />
Der Unsterblichkeitsgedanke;<br />
Und in den bleichen Nebel der Ferne<br />
Täuscht er dein Bild.<br />
Markverzehrender Hauch der Sehnsucht,<br />
Betäubende Hoffnung befällt mich;<br />
Aber ich raffe mich auf,<br />
Dir nach, <strong>di</strong>r nach;<br />
Jeder Tag, jeder Schritt ist zu <strong>di</strong>r.<br />
Doch, unerbittliches Licht dringt ein;<br />
Und vor mir dehnt es sich,<br />
Öde, voll Entsetzen der Einsamkeit;<br />
Dort in der Ferne ahn ich den Abgrund;<br />
Darin das Nichts. –<br />
Aber weiter und weiter<br />
Schlepp ich mich fort;<br />
Von Tag zu Tag,<br />
Von Mond zu Mond,<br />
Von Jahr zu Jahr;<br />
Bis daß ich endlich,<br />
Erschöpft an Leben und Hoffnung,<br />
Werd hinstürzen am Weg<br />
Und <strong>di</strong>e alte ewige Nacht<br />
Mich begräbt barmherzig,<br />
Samt allen Träumen der Sehnsucht.<br />
4.<br />
Weil ich ein Sänger bin, so frag ich nicht,<br />
Warum <strong>di</strong>e Welt so still nun meinem Ohr;<br />
Die eine, <strong>di</strong>e geliebte Stimme fehlt,<br />
Für <strong>di</strong>e nur alles andre war der Chor.<br />
5.<br />
Und am Ende der Qual alles Strebens<br />
Ruhig erwart ich, was sie beschert,<br />
Jene dunkelste Stunde des Lebens;<br />
Denn <strong>di</strong>e Vernichtung ist auch was wert.<br />
6.<br />
Der Geier Schmerz flog nun davon,<br />
Die Stätte, wo er saß, ist leer;<br />
Nur unten tief in meiner Brust<br />
Regt sich noch etwas, dumpf und schwer.<br />
Das ist <strong>di</strong>e Sehnsucht, <strong>di</strong>e mit Qual<br />
Um deine holde Nähe wirbt,<br />
Doch, eh sie noch das Herz erreicht,<br />
Mutlos <strong>di</strong>e Flügel senkt und stirbt.
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A FONTANE<br />
Theodor FONTANE (1819-1898)<br />
Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland<br />
(Entstehung und Erstdruck 1889)<br />
Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland,<br />
Ein Birnbaum in seinem Garten stand,<br />
Und kam <strong>di</strong>e goldene Herbsteszeit<br />
Und <strong>di</strong>e Birnen leuchteten weit und breit,<br />
Da stopfte, wenn's Mittag vom Turme scholl,<br />
Der von Ribbeck sich beide Taschen voll,<br />
Und kam in Pantinen ein Junge daher,<br />
So rief er: »Junge, wiste 'ne Beer?«<br />
Und kam ein Mädel, so rief er: »Lütt Dirn,<br />
Kumm man röwer, ick hebb 'ne Birn.«<br />
So ging es viel Jahre, bis lobesam<br />
Der von Ribbeck auf Ribbeck zu sterben kam.<br />
Er fühlte sein Ende. 's war Herbsteszeit,<br />
Wieder lachten <strong>di</strong>e Birnen weit und breit,<br />
Da sagte von Ribbeck: »Ich scheide nun ab.<br />
Legt mir eine Birne mit ins Grab.«<br />
Und drei Tage drauf, aus dem Doppeldachhaus,<br />
Trugen von Ribbeck sie hinaus,<br />
Alle Bauern und Büdner mit Feiergesicht<br />
Sangen »Jesus meine Zuversicht«,<br />
Und <strong>di</strong>e Kinder klagten, das Herze schwer:<br />
»He is dod nu. Wer giwt uns nu 'ne Beer?«<br />
So klagten <strong>di</strong>e Kinder. Das war nicht recht,<br />
Ach, sie kannten den alten Ribbeck schlecht,<br />
Der neue freilich, der knausert und spart,<br />
Hält Park und Birnbaum strenge verwahrt.<br />
Aber der alte, vorahnend schon<br />
Und voll Mißtrauen gegen den eigenen Sohn,<br />
Der wußte genau, was damals er tat,<br />
Als um eine Birn' ins Grab er bat,<br />
Und im dritten Jahr, aus dem stillen Haus<br />
Ein Birnbaumsprößling sproßt heraus.<br />
Und <strong>di</strong>e Jahre gehen wohl auf und ab,<br />
Längst wölbt sich ein Birnbaum über dem Grab,<br />
Und in der goldenen Herbsteszeit<br />
Leuchtet's wieder weit und breit.<br />
Und kommt ein Jung' übern Kirchhof her,<br />
So flüstert's im Baume: »Wist 'ne Beer?«<br />
Und kommt ein Mädel, so flüstert's: »Lütt Dirn,<br />
Kumm man röwer, ich gew <strong>di</strong> 'ne Birn. «<br />
So spendet Segen noch immer <strong>di</strong>e Hand<br />
Des von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland.<br />
54
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A MEYER<br />
Conrad Fer<strong>di</strong>nand MEYER (1825-1898)<br />
Auf Goldgrund<br />
(Entstehung ab 1860; Erstdruck der endg. Fassung 1887)<br />
Ins Museum bin zu später<br />
Stunde heut ich noch gegangen,<br />
Wo <strong>di</strong>e Heil'gen, wo <strong>di</strong>e Beter<br />
Auf den goldnen Gründen prangen.<br />
Dann durchs Feld bin ich geschritten<br />
Heißer Abendglut entgegen,<br />
Sah, <strong>di</strong>e heut das Korn geschnitten,<br />
Garben auf <strong>di</strong>e Wagen legen.<br />
Um <strong>di</strong>e Lasten in den Armen,<br />
Um den Schnitter und <strong>di</strong>e Garbe<br />
Floß der Abendglut, der warmen,<br />
Wunderbare Goldesfarbe.<br />
Auch des Tages letzte Bürde,<br />
Auch der Fleiß der Feierstunde<br />
War umflammt von heil'ger Würde,<br />
Stand auf schimmernd goldnem Grunde.<br />
Der römische Brunnen<br />
(Entstehung ab 1860; Erstdruck der endg. Fassung 1869)<br />
Aufsteigt der Strahl und fallend gießt<br />
Er voll der Marmorschale Rund,<br />
Die, sich verschleiernd, überfließt<br />
In einer zweiten Schale Grund;<br />
Die zweite gibt, sie wird zu reich,<br />
Der dritten wallend ihre Flut,<br />
Und jede nimmt und gibt zugleich<br />
Und strömt und ruht.<br />
55<br />
Der Gesang des Meeres<br />
(Entstehung ab 1864; Erstdruck der endg. Fassung 1891)<br />
Wolken, meine Kinder, wandern gehen<br />
Wollt ihr? Fahret wohl! Auf Wiedersehen!<br />
Eure wandellustigen Gestalten<br />
Kann ich nicht in Mutterbanden halten.<br />
Ihr langweilet euch auf meinen Wogen,<br />
Dort <strong>di</strong>e Erde hat euch angezogen:<br />
Küsten, Klippen und des Leuchtturms Feuer!<br />
Ziehet, Kinder! Geht auf Abenteuer!<br />
Segelt, kühne Schiffer, in den Lüften!<br />
Sucht <strong>di</strong>e Gipfel! Ruhet über Klüften!<br />
Brauet Stürme! Blitzet! Liefert Schlachten!<br />
Traget glühnden Kampfes Purpurtrachten!<br />
Rauscht im Regen! Murmelt in den Quellen!<br />
Füllt <strong>di</strong>e Brunnen! Rieselt in <strong>di</strong>e Wellen!<br />
Braust in Strömen durch <strong>di</strong>e Lande nieder –<br />
Kommet, meine Kinder, kommet wieder!
Marco Castellari - Letteratura tedesca II 2006/07 - <strong>Antologia</strong> A BIBLIOGRAFIA<br />
BIBLIOGRAFIA<br />
Si elencano qui <strong>di</strong> seguito o<strong>per</strong>e <strong>di</strong> riferimento presenti nella biblioteca <strong>di</strong> sezione, utili a tutti <strong>gli</strong> <strong>studenti</strong> <strong>per</strong><br />
approfon<strong>di</strong>menti <strong>per</strong>sonali e <strong>per</strong> il recu<strong>per</strong>o <strong>di</strong> eventuali lacune.<br />
Analisi del testo letterario<br />
Dieter BURDORF: Einführung in <strong>di</strong>e Ge<strong>di</strong>chtanalyse. Stuttgart: Metzler 1997 2 .<br />
Bernhard ASMUTH: Einführung in <strong>di</strong>e Dramenanalyse. Stuttgart: Metzler 2004 6 .<br />
Jost SCHNEIDER: Einführung in <strong>di</strong>e Romananalyse. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003.<br />
Antologie commentate<br />
Otto BEST, Hans-Jürgen SCHMITT: Die deutsche Literatur. Ein Abriß in Text und Darstellung. Stuttgart: Reclam 1974ff.<br />
(Band 8: „Romantik I“; Band 9: „Romantik II“; Band 10: „Vormärz“; Band 11: „Bürgerlicher Realismus“)<br />
Singole interpretazioni<br />
AA. VV.: Ge<strong>di</strong>chte und Interpretationen. Stuttgart: Reclam 1982ff.<br />
(Band 3: „Klassik und Romantik“; Band 4: „Vom Biedermeier zum Bürgerlichen Realismus“)<br />
AA. VV.: Dramen des 19. Jahrhunderts. Stuttgart: Reclam 1997.<br />
AA. VV.: Erzählungen und Novellen des 19. Jahrhunderts. Stuttgart: Reclam 1992.<br />
AA. VV.: Romane des 19. Jahrhunderts. Stuttgart: Reclam 1992.<br />
Walter HINDERER (Hrsg.): Kleists Dramen. Neue Interpretationen. Stuttgart: Reclam 1991.<br />
Bernd KORTLÄNDER (Hrsg.): Ge<strong>di</strong>chte von Heinrich Heine. Stuttgart: Reclam 1995.<br />
Mathias MEYER (Hrsg.): Ge<strong>di</strong>chte von Eduard Mörike. Stuttgart: Reclam 1999.<br />
I testi riportati in questa antologia sono tratti da:<br />
Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky. Großbibliothek. Berlin: Directme<strong>di</strong>a 2005 (Digitale Bibliothek 125).<br />
56