Formatierter Körper - Einsnull

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InhaltsverzeIchnIs 0. Abstract .......................................... 9 Vorformatierung 1. Körperleib zwischen psychophysischer und technisch- apparativer Sphäre .............................. 11 2. »Infra-thin separation signalled«: Chiasmata der Sinne . . 20 3. Terminologie, Begriff, Ausdruck .................... 29 3.1. Oberfläche. .................................... 29 3.2. Interface ...................................... 30 3.3. Formatierung .................................. 31 4. Limes I: Schleier der Medientheorie ................. 34 5. Limes II: Schwelle der Theaterwissenschaft ........... 36 6. Programm der Spurensicherung .................... 40 Form/Körper/Maschinen 7. Die Haut der Maschinen ......................... 43 7.1. Körperbilder: Zugänglichmachung der Maschine für den Leib ................................... 44 7.2. Die Autonomie der Maschine/Körper im Schlagschatten 46 7.3. Junggesellenmaschine: Produkt nicht-produktiven Handelns. ..................................... 48 7.4. Experiment: Technik in ihrem nicht-technischen Funktionieren .................................. 53 7.5. Heuristik: Maschinen zur Herstellung von Zukunft ..... 55 8. Rechenmaschine/Junggesellenmaschine/Universalmaschine 58 8.1. Verschachtelung I: Imaginäre versus konkrete Maschinen 58 8.2. Kalkül und die Performanz experimentellen Wissens .... 62 8.3. Interfacing: Leibniz/Turing ........................ 64 8.4. Typendefinition: Das Programm zur Szenographie eines modernen Mythos. .............................. 70

InhaltsverzeIchnIs<br />

0. Abstract .......................................... 9<br />

Vorformatierung<br />

1. <strong>Körper</strong>leib zwischen psychophysischer und technisch-<br />

apparativer Sphäre .............................. 11<br />

2. »Infra-thin separation signalled«: Chiasmata der Sinne . . 20<br />

3. Terminologie, Begriff, Ausdruck .................... 29<br />

3.1. Oberfläche. .................................... 29<br />

3.2. Interface ...................................... 30<br />

3.3. Formatierung .................................. 31<br />

4. Limes I: Schleier der Medientheorie ................. 34<br />

5. Limes II: Schwelle der Theaterwissenschaft ........... 36<br />

6. Programm der Spurensicherung .................... 40<br />

Form/<strong>Körper</strong>/Maschinen<br />

7. Die Haut der Maschinen ......................... 43<br />

7.1. <strong>Körper</strong>bilder: Zugänglichmachung der Maschine<br />

für den Leib ................................... 44<br />

7.2. Die Autonomie der Maschine/<strong>Körper</strong> im Schlagschatten 46<br />

7.3. Junggesellenmaschine: Produkt nicht-produktiven<br />

Handelns. ..................................... 48<br />

7.4. Experiment: Technik in ihrem nicht-technischen<br />

Funktionieren .................................. 53<br />

7.5. Heuristik: Maschinen zur Herstellung von Zukunft ..... 55<br />

8. Rechenmaschine/Junggesellenmaschine/Universalmaschine 58<br />

8.1. Verschachtelung I: Imaginäre versus konkrete Maschinen 58<br />

8.2. Kalkül und die Performanz experimentellen Wissens .... 62<br />

8.3. Interfacing: Leibniz/Turing ........................ 64<br />

8.4. Typendefinition: Das Programm zur Szenographie eines<br />

modernen Mythos. .............................. 70


6 Inhalt<br />

8.5. Referenzsystem: Betrachter als Benutzer/Benutzer<br />

als Künstler. ................................... 74<br />

8.6. Interferenz: Nutzer/Kunstobjekt. ................... 75<br />

8.7. Benutzeroberfläche/Handlungssteuerung ............. 77<br />

8.8. Verschachtelung II: Verschluss zielgerichteter Handhabung 79<br />

Formel/Kunst/Aisthesis<br />

9. Rrose Sélavy et Anémic Cinéma .................... 81<br />

9.1. Duchamp in Kontext ............................ 81<br />

9.2. Duchamp in-Formation: <strong>Körper</strong>leibliche Sinnprozesse als<br />

Handlungswissen ............................... 84<br />

9.3. Signatur: Ökonomie und Eigentum des »kreativen Akts«<br />

(Readymade). .................................. 88<br />

9.4. Das sich in der Physis des Zuschauers Ereignende<br />

(Anémic Cinéma) ............................... 93<br />

9.5. Hybrid: Immaterielle Produktion ................... 100<br />

10. Mit nur einem Auge ... ........................... 103<br />

10.1. Warum auf der anderen Seite des Glases?. ............ 103<br />

10.2. Anamorphomaten: Wahrnehmung der Anamorphose/<br />

Automatik der Wahrnehmung ..................... 107<br />

10.3. À Regarder (L’Autre Côté Du Verre) D’Un Œil,<br />

De Près, Pendant Presque Une Heure ................ 109<br />

10.3.1. Instrumentalität und Materialität des Anamorphotischen? 114<br />

10.3.2. Anamorphose, vierdimensional in À Regarder …? ...... 118<br />

10.4. Scharniere als Logomorphosen:<br />

Der Weg zum anamorphotischen Artefakt ............ 121<br />

Zufall/Naturwissenschaft/Episteme<br />

11. Serialität, Synchronizität, Synchronität ............... 125<br />

11.1. Ist ein Ausweichmanöver in den Zufall Zufall? ........ 125<br />

11.2. Science ’n Sync ................................. 127<br />

11.2.1. Seriologie (Paul Kammerer) ....................... 129<br />

11.2.2. Synchronizität (C. G. Jung) ........................ 140<br />

11.2.3. Sync (Steven Strogatz). ........................... 146<br />

11.3. Umformatierung: Der undenkbare akausale Prozess wird<br />

wissenschaftliche Tatsache ........................ 151


Format/Computer/Spiel<br />

Inhalt 7<br />

12. Vorhofflimmern verdateter Ästhetik ................. 153<br />

12.1. Pathologisch: Die Formel des Zufalls wandert<br />

in die Avantgarde aus ............................ 153<br />

12.2. Der erste computergenerierte Experimentalfilm<br />

(random, 1963). ................................ 158<br />

12.3. Schriftfilm random: Prototyp einer alterierten Relation<br />

von Schrift, Bild und Zahl ........................ 165<br />

13. Verrechnung des Nutzers/Verdatung des <strong>Körper</strong>s ...... 167<br />

13.1. Suchen und Angst: Chiasmus von Artefakt (Spiel)<br />

und Rezipient (Spieler) in »Silent Hill 2« ............. 169<br />

13.1.1. Suche, Angst, Sprung, Wiederholung (Søren Kierkegaard) 170<br />

13.1.2. Die Suche nach der Suche: Das Multiple Ending ....... 174<br />

13.1.3. Enactment, Interaktion, Immersion. ................. 181<br />

13.2. <strong>Körper</strong>/Raum .................................. 184<br />

13.2.1. Spiel/Raum: Räume des Unheimlichen. .............. 186<br />

13.2.2. Fiktion/Materialität ............................. 188<br />

13.3. Das Spiel im Spieler ............................. 190<br />

Reformatierung<br />

14. <strong>Formatierter</strong> <strong>Körper</strong>: Verrechnung von Handlung und<br />

Wahrnehmung/Verdatung der körperleiblichen Sphäre .. 193<br />

Appendix<br />

15. Großes Glas, »definitively unfinished« erklärt ......... 205<br />

15.1. Das Große Glas und die Grüne Schachtel. ............ 205<br />

15.2. Technische Sachverhalte .......................... 206<br />

15.3. Repräsentation der Kinetik einer Maschine in<br />

La mariée mise à nu par ses célibataires, même ........ 209<br />

15.3.1. Die Domäne der Braut ........................... 210<br />

15.3.2. Die Domäne der Junggesellen ...................... 214<br />

15.4. Die vierte Dimension und die Rolle der Zeit in<br />

La Mariée ... ................................... 216<br />

16. Literaturverzeichnis. ............................. 221<br />

17. Abbildungsverzeichnis. ........................... 236<br />

18. Dank. ........................................ 239


0. Abstract<br />

In der vorliegenden Dissertation wird der Versuch unternommen, noch<br />

näher zu erläu ternde aktuelle kultur- und theaterwissenschaftliche Fragestellungen<br />

interdisziplinär zu prüfen: Im Zentrum der Untersuchung<br />

stehen Arbeiten Marcel Duchamps, die die Folie für weitreichende Umbrüche<br />

in bildender Kunst, Literatur, Naturwissenschaft und Tech nik<br />

bilden. Diese wer den anschließend in separaten Fallstudien zum Begriff<br />

des Zufalls in den Naturwissen schaften, einer ästhetischen Pathologie<br />

des ersten computer generier ten Experimental films in der Neoavantgarde<br />

und dem Spiel von Suche und Angst im zeitgenössischen Bildschirmspiel<br />

erörtert.<br />

Die Verschiebung des Verhältnisses von Betrachter, Artefakt und<br />

Handlung, welche exemplarisch herausgearbeitet wird, bedingt die<br />

Entwicklung von partizipato ri scher hin zu interaktiver Kunst in der<br />

historischen Avantgarde um 1900 und befördert so deren fort schreitende<br />

Theatralisierung. 1 Im Fokus steht hierbei ein qualifizierter Inter face-<br />

1 Wie sich die Figurationen dieses Diskurses in kultur-, medien- und theatertheoretischen<br />

Kontexten dar stel len, beschreibt Erika Fischer-Lichte im historischen Überblick. Ferner<br />

hat sie spezifische Formen der Theatralität im kulturwissenschaftlichen Sektor betont:<br />

Fischer-Lichte, Erika et al. (Hg.). Dis kurse des Theatralen. Theatralität 7. Tübingen u. a.<br />

2005; dies. et al. (Hg.). Theatralität als Modell in den Kulturwissenschaften. Theatralität 6.<br />

Tübingen u. a. 2004. Auch: Dies. (Hg.). Theatralität und die Krisen der Repräsentation.<br />

Stuttgart u. a. 2001. Wie stark Modelle, Metaphern und Metho den des Theatralen, vor<br />

allem durch die in den 1990er Jahren erneut anbrandende Performativitäts debatte, in<br />

der Theorie, Analyse und Geschichte partizipativer und interaktiver Arbeiten der bildenden<br />

Kunst des 20. Jahrhunderts zum Tragen kommen (insbesondere in der historischen<br />

Avantgarde und der Performance Art), erörtert Dinkla, Söke. Pioniere Interaktiver Kunst<br />

von 1970 bis heute: Myron Krueger, Jeffrey Shaw, David Rokeby, Lynn Hershman,<br />

Grahame Weinbren, Ken Feingold. Ost fil dern-Ruit 1997. Trotz berechtigter methodischer<br />

Kritik sind bereits in den 1980er Jahren histori sche Theatralitätsentwürfe auf<br />

die sogenannten »Neuen Medien« angewandt worden. Das Augenmerk lag hier auf<br />

der »human-computer-activity« in Bezug auf die aristotelische Dramentheorie, wodurch<br />

eine Art dramatische Interaktionstheorie formuliert werden sollte. Etwa: Laurel,<br />

Brenda. Computers as Theatre. Reading (Mass.) 1991. Zwar ist seit diesen Anfängen<br />

in zahlreichen Schriften unter schied li cher Provenienz Theatralität in Medien und den<br />

Umgang mit ihnen hineinprojiziert worden, auch wur de Theater in seinen performativen<br />

Spielarten selbst als Medium par excellence interpretiert (mittels medienphilosophischer<br />

und theaterhistorischer Methoden), jedoch wurde Theatralität selbst nicht als Medium<br />

diskutiert: Weber, Samuel. Theatricality as Medium. New York 2005. Zum Prob lem der<br />

Theatralisierung des Interaktionsraums zwischen Kunstgegenstand und Betrachter in Bezug<br />

auf die Entwicklung von der historischen Avantgarde bis zur aktuellen Medienkunst


10 Inhaltsverzeichnis<br />

Begriff, der ohne historisch fundierte Definitionen von Format und<br />

Oberfläche nicht denkbar wäre, wobei Wahrnehmungs-, Bewegungs-<br />

sowie Zeichenstil 2 beständig wechselseitig variiert werden.<br />

Seit der Frühen Neuzeit zeichnet sich bezüglich dieser variablen<br />

Tektonik eine Blickverschiebung ab. Wurde der <strong>Körper</strong> zunächst als<br />

eine Art Behälter für Organe ge sehen, so veränderte sich diese Wahrnehmung<br />

Ende des 19. Jahrhunderts drastisch. Die Oberflächigkeit<br />

des <strong>Körper</strong>lichen löst das Paradigma des <strong>Körper</strong>s als Behälter ab. Erst<br />

dadurch kann die unter anderem von Helmuth Plessner vorgenommene<br />

Unterscheidung von Leibsubjekt und <strong>Körper</strong>objekt erfolgen (»Leib sein,<br />

<strong>Körper</strong> haben«) 3 , welche voraus setzt, dass der ontologische Status des<br />

Leibes die Handlung durch den <strong>Körper</strong> ermög licht, ohne in obsolete<br />

Leib/Seele- und Geist/<strong>Körper</strong>-Dichotomien zurückzufallen; nota bene<br />

spiegelt sich dies in Maurice Merleau-Pontys Klassifikationen corps propre<br />

(Leib) und chair (Fleisch) 4 wider. Im Gegensatz zu vielen klassischen<br />

Ansätzen der Kunst theorie wird so die Veränderung des handelnden<br />

Subjekts zum Thema, genauer: die Veränderung des <strong>Körper</strong>s und der<br />

<strong>Körper</strong>lichkeit des handelnden Subjekts durch den Umgang mit Artefakten<br />

in Kunst, Wissenschaft und Technik. Marshall McLuhan drückt<br />

es später folgendermaßen aus: »[W]e become what we behold, […] we<br />

shape our tools, and thereafter our tools shape us.« 5<br />

Wie Form, Oberfläche und die dadurch bedingte Formatierung eines<br />

stets (z. B. durch das technische Bild oder neuere technische Medien)<br />

fragmentierten und re-arran gierten <strong>Körper</strong>s ineinandergreifen, soll im<br />

Rahmen der Analyse anhand einschlägiger Sachbe stände – im Modus<br />

einer kontrastiven und dezidiert interdisziplinär angelegten Komparatistik<br />

– gezeigt werden.<br />

siehe: Daniels, Dieter. Vom Readymade zu Cyberspace. Kunst/Medien. Interferenzen.<br />

Ostfildern-Ruit 2003. Die his torische Dimension des Begriffs ist Mitte der 1990er Jahre<br />

im methodischen Rahmen einer kultur historischen Komparatistik einschlägig abgehandelt<br />

worden: Schramm, Helmar. Karneval des Denkens. Theatralität im Spiegel philosophischer<br />

Texte des 16. und 17. Jahrhunderts. Berlin 1996.<br />

2 Die magische Trias von aisthesis, kinesis und semiosis hat Helmar Schramm nicht nur<br />

als eine Grund linie theatraler Praktiken, performativen Wissens (sowie deren Verzeichnung<br />

und Notation) akzen tu iert, auch hat er genannte Trias – unter dem Vorzeichen<br />

kulturspezifischer Stilistiken in ge sellschaft lichen Umbruchsituationen (wiederkehrenden<br />

kulturellen turns) – als fundamentales Kennzeichen von Theatralität herausgearbeitet:<br />

Ebd., S. 254 und 259.<br />

3 Diese Formel gründet im System der »exzentrischen Positionalität« des Subjekts: Plessner,<br />

Helmuth. Die Stufen des Organischen und der Mensch. Berlin, New York 1975.<br />

4 Vgl. Merleau-Ponty, Maurice. Das Sichtbare und das Unsichtbare. Hg. v. Claude Lefort.<br />

München 1994 [1959], S. 182.<br />

5 Vorwort zu: McLuhan, Marshall. Understanding Media. The Extensions of Man.<br />

Cambridge 1994 [1964], S. XI und XXI.


vorformatIerung<br />

1. <strong>Körper</strong>leib zwischen psychophysischer und<br />

technisch-apparativer Sphäre<br />

Der vorliegenden Arbeit liegt die Fragestellung zugrunde, ob (wie die<br />

meisten geschicht lich relevanten Medienphänomene) die Wurzeln für<br />

graphische Benutzeroberflächen, wie sie vorwiegend in der Mensch/<br />

Maschine-Kommunikation mit Computern gegen wärtig eingesetzt werden,<br />

nicht schon viel früher in der Kulturgeschichte vorgedacht wurden.<br />

Diese Fragestellung jedoch kann sich schlechterdings nicht in der<br />

(meist ver geblichen) Suche nach Ursprüngen erschöpfen. Vielmehr gilt<br />

es zu erörtern, ob der Struk tur dieser Benutzeroberflächen nicht spezifische<br />

Wahrnehmungs- und Imaginations prinzipien sowie ein bestimmter<br />

Denkstil eignen, die nicht erst durch die gesteigerte Medienvielfalt und<br />

-kompetenz entstanden, sondern in den Prinzipien des Wahrneh mens<br />

per se angelegt sind.<br />

Erst im Wandel der Beurteilung visueller Wahrnehmungsprozesse im<br />

19. Jahrhundert durch die Opseoskopie (Beobachtung des Sehens) sowie<br />

die Kinematographie (Schreiben der Bewegung) sind bestimmte Vorgänge<br />

des Wahrnehmens von Objekten (als buchstäbliche Sensationen)<br />

schließlich durch die Phänomenologie im 20. Jahrhundert neu perspektiviert<br />

worden, gewissermaßen als Vermittler zwischen sensualisti schen<br />

und materialistischen Positionen. Phänomenologie sei hier im Sinne<br />

eines anthro pologisch erweiterten Husserl’schen Methodenbegriffs<br />

gebraucht. 6 Diesen führt unter an derem Merleau-Ponty in seiner »Phä-<br />

6 Es soll darum gehen, bestimmte Tranchen der Lebenswelt, zu der (Natur-)Wissenschaft,<br />

Kunst und Technik – als vormalige historische Einheit – gerechnet werden müssen,<br />

unter dem Husserl’schen Auf ruf »zu den Sachen« zu betrachten; allerdings soll ein<br />

»reflexiv schauenden Erfassens dessen, was zur an schaulichen Gegebenheit gebracht<br />

ist, in Standpunkts- und Richtungsfreiheit ausgeübt [wer den]«, ohne dem »Transzendentalen«<br />

oder der »Metaphysik« in die Falle zu tappen oder aber der ab sur den Idee<br />

einer Teleologie des Bewusstseins und eo ipso einer höheren Zielgerichtetheit jeglicher<br />

Wahr neh mung und Handlung anzuhängen. Vgl. Herrmann, Wilhelm-Friedrich von.<br />

Hermeneutische Phäno meno lo gie des Daseins. Eine Erläuterung von »Sein und Zeit«.<br />

Frankfurt a. M. 1987, S. 285 f.


12 Vorformatierung<br />

nomenologie der Wahrnehmung« 7 , aber auch Helmuth Plessner in »Mit<br />

anderen Augen« 8 mit. Durch die anthropologische, insbeson dere handlungstheoretisch<br />

relevante Neudimensionierung der reflexiv schauenden<br />

For mel »zu den Sachen«, so Gottfried Boehm, werde nun<br />

[d]as Sehen [...] von einem rezeptiven zu einem explikativen Vorgang, in dem<br />

sich der Strom von Daten im Bewußtsein artikuliert, die Welt als »Sichtbarkeit«<br />

hervorkommt. Se hen ist der Erkenntnis wie Realität gleichermaßen<br />

begründende, der eigentlich schöpferi sche Akt. 9<br />

Denkt man gegenwärtige ›graphische Benutzeroberflächen‹ schlichtweg<br />

als technische, apparatgestützte Bilder – als rein in der Sphäre des<br />

Apparativ-Technischen angesiedelte Sachen –, die durch spezifische Interaktionen<br />

manipuliert werden können, finden sich in der Kunst-, Bild-<br />

und Mediengeschichte zahlreiche Beispiele für derartige Objekte, die<br />

ein spezifisches Handlungswissen verkörpern. Weiter unten werde ich<br />

ausführen, was es mit diesen Oberflächen auf sich hat (siehe Abschnitt<br />

3.1.). Bereits im 19. Jahrhundert ist diese Tendenz ablesbar, vollständig<br />

manifest wird diese jedoch erst in Arbeiten der historischen Avantgarde<br />

im 20. Jahrhundert.<br />

7 »Es gilt zu beschreiben, nicht zu analysieren und zu erklären: diese von Husserl der<br />

anfangenden Phä nomenologie gegebene erste Losung ›deskriptive Psychologie‹ zu sein,<br />

zurückgehend auf ›die Sachen selbst‹, ist zunächst eine Absage an ›die‹ Wissenschaft.<br />

Was ich bin, ist nicht Resultat oder Schnittpunkt mannigfaltiger meinen <strong>Körper</strong> oder<br />

meinen ›Psychismus‹ bestimmender Kausalitäten, ich vermag mich weder als Teil der<br />

Welt […] noch als Objekt der Biologie, Psychologie oder Soziologie [zu] fassen [...].<br />

Das Universum der Wissenschaft gründet als Ganzes auf dem Boden der Lebenswelt<br />

[...].« Merleau-Ponty, Maurice. Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin 1966 [1945],<br />

S. 4. Dazu ferner: ebd., S. 8−18.<br />

8 Plessner fügt der Beschreibung (Deskription), im Sinne Merleau-Pontys, eine weitere<br />

Dimension hinzu: »[Stellt man dem] Erklären als Cognitio circa rem das Verstehen<br />

als Cognitio rei gegenüber, dann rückt das Verhältnis von Anschauung und Begriff,<br />

wenn wir den Faktor Idee hier einmal aus dem Spiele lassen, in den Mittelpunkt. Das<br />

sinnlich-anschauliche Material, aus dem wir unsere per sönliche und historisch-soziale<br />

Lebenserfahrung aufbauen, muß dann für das verstehende Begreifen durchsichtig sein,<br />

soll dieses direkt zum Kern der Sache vordringen können.« Plessner, Helmuth. Mit<br />

anderen Augen. Aspekte einer anthropologischen Philosophie. Stuttgart 1982, S. 164.<br />

Plessner be zieht sich hier auf: Hartmann, Nicolai. Das Problem des geistigen Seins.<br />

Berlin, Leipzig 1933, S. 360 ff; Plessner, Helmuth. Die Einheit der Sinne. Grundlinien<br />

einer Ästhesiologie des Geistes. Bonn 1923.<br />

9 Boehm, Gottfried. »Der stumme Logos«. In: Métraux, Alexandre und Bernhard Waldenfels<br />

(Hg.). Leib haf tige Vernunft. Spuren von Merleau-Pontys Denken. München<br />

1986, S. 289−304, S. 290.


<strong>Körper</strong>leib 13<br />

Eine besonders prägnante dementsprechende Wendung markiert das<br />

Werk Marcel Duchamps, dessen Loslösung von der ›retinalen Kunst‹ in<br />

den 10er Jahren des letzten Jahrhunderts mit der Erfindung der ›readymades‹<br />

und seinem opus magnum, dem Gro ßen Glas (Abb. 1.1.), ihren<br />

Lauf nimmt. Die von ihm geforderte Auflösung des Lein wandbil des<br />

verläuft zugunsten (a) spatialer Strategien der Verschachtelung, der<br />

Dupli zie rung, der Anamorphose sowie (b) temporaler Taktiken der<br />

Verlangsamung, der Beschleu ni gung, der Zeitverzerrung. 10 So werden<br />

etwa für schriftliche Notizen stets graphische Re ferenz systeme erstellt,<br />

die ohne den Text, der gewissermaßen ihr Skript darstellt, nicht zu<br />

deu ten sind. Das hat zur Folge, dass nun Handlungsanweisungen zum<br />

integralen Be standteil seiner Werke werden, wodurch der Werkbegriff<br />

selbst kollabiert, indem dieser von nun an mittels spezifischer Arbeits-<br />

und Produktionsbegriffe durchgestrichen wird. 11<br />

Diese bewirken die Umformatierung des Betrachters zum Benutzer,<br />

der anhand von Textsystemen zur Bedeutungsebene der graphischen Teile<br />

der Arbeiten vordringen kann, wodurch sich in Folge das verkörperte<br />

Handlungswissen selbst verändert. Diese Rückkopplung katalysiert<br />

die Entstehung subversiver und affirmativer ästhetischer Er fahrung: 12<br />

10 Hier sei auf die Unterscheidung von Strategie und Taktik verwiesen, wie sie Michel de<br />

Certeau im An schluss an Clausewitz’ »Vom Kriege« vorschlägt: »Sie [die Taktik] muß<br />

wachsam die Lücken nut zen, die sich in besonderen Situationen [...] auftun. Sie wildert<br />

darin und sorgt für Überraschungen. Sie kann dort auftreten, wo man sie nicht erwartet.<br />

Sie ist die List selber. Insgesamt gesehen ist sie eine Kunst des Schwachen.« De Certeau,<br />

Michel. Die Kunst des Handelns. Berlin 1988, S. 89. Be sonders interessant sind in diesem<br />

Zusammenhang die erst während des Zweiten Welt kriegs aus pro pagandistischen<br />

Gründen veröffentlichten Studien zur (Kriegs-)Kunstauffassung des deutschen Feld herrn<br />

Carl von Clausewitz. Siehe hierzu auch das betreffende Kapitel »Kunstbetrachtungen« in<br />

Clau sewitz, Carl von. Geist und Tat. Das Vermächtnis des Solda ten und Denkers. Leipzig<br />

1942, S. 153−178. Auch wird erklärt, dass Strategie und Taktik dann in Kollision geraten,<br />

wenn taktische Vorteile auf grund strategischer Vor überlegungen nicht berücksichtigt<br />

werden können. Diese An schauun gen sind durch die Herkunft des Avant garde-Begriffs<br />

aus der historischen Kriegskunst und seiner Verhaftung im Militärwesen von großem<br />

Interesse, wenn man bedenkt, dass das, was »Avantgarde« einst bedeu tete, heute noch<br />

im deutschen Begriff der »Vorhut« konserviert ist.<br />

11 Vgl. Sanouillet, Michel (Hg.). Marcel Duchamp. Duchamp du signe. Paris 1994 [1975],<br />

S. 39−104. Lyotard gibt zu bedenken, dass es eine seltsame Form der Rückfrage des<br />

Kunstwerks gäbe, die zu ei nem unhörbaren Gespräch werde. Eine Art innerer Dialog<br />

zwischen Betrachter und Artefakt. In Be zug auf Duchamp bemerkt Lyotard, dass seine<br />

Arbeiten sich sowohl ikonographisch als auch linguis tisch lesen ließen – jedoch kommt<br />

bei Lyotard eine performative Perspektive noch nicht vor. Vgl. Lyotard, Jean-François.<br />

Die TRANSformatoren Duchamp. Stuttgart 1986, S. 1−6.<br />

12 Lyotards Fundamentalkritik an der »Großen Erzählung« des Gesamtkunstwerks sowie<br />

der (postmo derne) Aufruf gegen zentralisierendes Denken (jedoch für die Befreiung der<br />

Differenzen) in den 1960er Jahren ist Ausdruck dessen, was oben mit »subversiver«<br />

und »affirmativer Ästhetik« ange schrieben wurde. Im konkreten Bezug auf die avant-


14 Vorformatierung<br />

Abb. 1.1.: La mariée mise à nu par ses célibataires, même (Das Große Glas), Marcel<br />

Duchamp, 1916−1923, Blei platte, Silberplatte und Öl auf Glas, zwischen<br />

zwei Glas platten gesetzt, 277.5 cm x 175.8 cm, ein schließlich Stahlrahmen.


<strong>Körper</strong>leib 15<br />

Nach Duchamp ist es darum in erster Linie der Betrachter, der die Werke<br />

schafft; er münzt den Rezipienten zum Produzenten um. 13<br />

Seine ›Ästhetik der Indifferenz‹ entspringt gleichsam einer philosophisch-ästhe<br />

tischen Um wertung, 14 wie z. B. Thierry de Duve in »Kant<br />

nach Duchamp« heraus gear beitet hat. 15 De Duve erläutert, dass Kants<br />

Fragestellung »Was ist schön?« bei Duchamp erst mals als ein »Was ist<br />

Kunst?« formuliert werde. So gehe, wie de Duve weiter ausführt, der<br />

tradierte Werkbegriff durch folgende Frage Duchamps zugrunde: »Kann<br />

man Werke schaffen, die keine Kunstwerke sind?« 16 Welche weitreichenden<br />

Umwäl zungen das auf dem Gebiet der Ästhetik bedingt, ist mit<br />

gardistische Kunstproduktion verdeutlicht sich, wie stark die Idee des Zufalls danach<br />

drängt ins Werk gesetzt zu werden, um es zu unterminieren: »Ein energetisches Theater<br />

würde [...] diskontinuierliche events produzieren, wie die zufälligen auf Zetteln notierten<br />

Aktionen, die John Cage auslost [...]. Darüber hinaus bräuchte ein solches Theater statt<br />

der [...] Übereinstimmung von Tanz, Musik, Mimik, Wort [...] eher die Unabhängigkeit,<br />

die Gleichzeitigkeit der Töne/Geräusche, der Wörter, der <strong>Körper</strong>-Figuren, der Bilder,<br />

wie sie die Kopro duktion von Cage, Cunningham, Rauschenberg auszeichnen. Wo<br />

man die Zeichenbeziehung und de ren Kluft abschafft, wird die Machtbeziehung [...]<br />

unmöglich.« Lyotard, Jean-François. »Der Zahn, die Hand«. In: Ders. Essays zu einer<br />

affirmativen Ästhetik. Berlin 1982, S. 11−23, S. 21 f; ferner interessieren Pro zesse der<br />

»epistemologischen Ästhetisierung« (»epistemological aesthetisation«), wie Wolfgang<br />

Welsch sie in seiner »Ungeschehenmachung der Ästhetik« (»Undoing Aesthetics«) vorschlägt.<br />

Welsch gewinnt zunächst, aus Kants »Kritik der reinen Vernunft«, seine Begriffe<br />

der »Intui tion« und »Kogni tion«, um für die Ästhetik – im Sinne einer philosophischen<br />

Kerndisziplin seit Baum garten – zu kon kludieren: »[A]esthetic elements are foundational<br />

for our knowledge. According to Kant’s ›revolution of the way of thinking‹ we know<br />

›a priori of things only what we ourselves put into them‹, and what we first put into<br />

them are aesthetic stipulations, namely space and time as forms of intuition, that is,<br />

as a transcendental aesthetic (not, say, as a theory of art) – become epistemologi cally<br />

fundamental. Since Kant we have known of the aesthetic fundaments of all knowledge,<br />

of a principal protoaesthetic of cognition.« Welsch, Wolfgang. Undoing Aesthetics.<br />

London 1997, S. 20.<br />

13 Vgl. Stauffer, Serge. Marcel Duchamp. Interviews und Statements. Stuttgart 1991,<br />

S. 82.<br />

14 Helmar Schramm hat diese Umwertungen kultureller Architektoniken als »Entwertungsschübe«<br />

hervor gehoben und setzt dafür die Begriffe »epistemologischer Bruch«<br />

beziehungsweise »Epochen schwelle«: Schramm 1996, a. a. O., S. 31 f. Den Transfer von<br />

Wissen einerseits, dessen Verdeckung andererseits untermauert Schramm mit Blochs<br />

Konzept der ökonomisch-sozialen »Blickschranke« (»eine geschichtliche und gesellschaftliche<br />

Sperre«) sowie der Kritik an philosophischen Begriffs dichotomien, die sich<br />

im Wesentlichen als »epistemologisches Hindernis«, so Bachelard, darstellten: »Es gibt<br />

[...] in der Geschichte eine ökonomisch-soziale Blickschranke, sie ist dem kühnsten<br />

Geist unüberspringbar« sowie: »Nicht alle Einsichten und Werke sind in allen Zeiten<br />

möglich, die Geschich te hat ihren Fahrplan.« Bloch, Ernst. Das Prinzip Hoffnung.<br />

Gesamtausgabe Bd. 5. Frankfurt a. M. 1959, S. 147 (erstes und zweites Zitat in dieser<br />

Anmerkung); Bachelard, Gaston. Die Philosophie des Nein. Versuch einer Philosophie<br />

des Neuen wissenschaftlichen Geistes. Frankfurt a. M. 1980, S. 10.<br />

15 Vgl. de Duve, Thierry. Kant nach Duchamp. München 1993.<br />

16 Vgl. ebd., S. 283 ff.


16 Vorformatierung<br />

dem Erscheinen des Maschi nis mus, der Op-Art, der Kinetic Art, dem<br />

Abstrakten Expressionismus, der Pop Art, dem Fluxus, der Perfor mance<br />

Art usw. im späteren 20. Jahrhundert deutlich erkennbar geworden. 17<br />

Will man Fragen der Wahrnehmung und des Handelns an der<br />

Schnittstelle von Wissenschaft, Kunst und Technik mit theaterwissenschaftlichen<br />

Mitteln beikommen, ist es unerlässlich Begriffe der<br />

Theatralität und der Performanz gründlich zu hinterfragen. 18 Allein<br />

vermöge aisthetischer, kinesischer und semiotischer Kategorien lassen<br />

sich die hier zu verhandelnden Sachbestände kaum ausreichend sub<br />

specie theatralitatis erfor schen: Es sei denn, dass genannte Kategorien<br />

um einen klar umrissenen Imaginations begriff erweitert werden, dessen<br />

Zuschnitt einerseits der hasardischen Kunstproduktion Duchamps entspricht<br />

und andererseits das kulturtechnisch antizipiert, was a posteriori<br />

als »Medientheatralität« 19 kon struiert worden ist.<br />

Jean-François Lyotard diskutiert in »Die TRANSformatoren« den<br />

›ima ginativen Gehalt‹ von Duchamps Kunstschaffen unter dem Begriff<br />

der ›nichtopti schen Vision‹. 20 Und ebenso lassen sich die performativen<br />

Aspekte der Arbeiten Duchamps nicht dar le gen, wenn man diese nicht<br />

17 Vgl. Fischer-Lichte, Erika. »Grenzgänge und Tauschhandel. Auf dem Wege zu einer<br />

performativen Kultur«. In: Dies., Friedemann Kreuder und Isabel Pflug (Hg.). Theater<br />

seit den 60er Jahren: Grenz gänge der Neo-Avantgarde. Tübingen 1998, S. 1−20;<br />

vgl. Barck, Karlheinz. »Avantgarde«. In: Ders. et al. (Hg.). Ästhetische Grundbegriffe.<br />

Historisches Wörterbuch I. Stuttgart, Weimar 2000, S. 544−578; vgl. Böhringer,<br />

Hannes. »Avantgarde. Geschichte einer Metapher«. In: Archiv für Begriffsge schichte<br />

22.1978, S. 90−114; vgl. Fähnders, Walter. »Avantgarde und politische Bewegun gen«.<br />

In: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.). Aufbruch ins 20. Jahrhundert. Über Avantgarden.<br />

München 2001, S. 60−76.<br />

18 Welch weitreichende Begriffsverschiebungen für »Performanz« und »Performativität«<br />

seit der Einfüh rung des sprachwissenschaftlichen Begriffs durch Austin in den 1950er<br />

Jahren vorliegen, wird in drei Publikationen der Paragrana-Reihe besonders deutlich:<br />

Vgl. Fischer-Lichte, Erika und Doris Kolesch (Hg.). Kulturen des Performativen. Berlin<br />

Paragrana 7.1998; vgl. dies. und Christoph Wulf (Hg.). Theorien des Performativen.<br />

Berlin Paragrana 10.2001; vgl. dies. Praktiken des Performati ven. Berlin Paragrana<br />

13.2004.<br />

19 Erika Fischer-Lichte konstruiert (mit Philip Auslanders Begriff der »Liveness«) »Theatralität«<br />

als mate rielle Grundlage medial präformierter Wahrnehmungsmodi. Dabei<br />

führe »die je spezifische In szenierung von <strong>Körper</strong>n in unterschiedlichen Medien zur je<br />

besonderen Wahrnehmung durch andere [...]. Dies gilt auch für alle einzelnen beteiligten<br />

Faktoren. Denn das Medium der Inszenierung – <strong>Körper</strong> im Raum, Schrift, Bild, Film oder<br />

Fernsehen – entscheidet nicht nur über die jeweilige Mate rialität, in der <strong>Körper</strong>lichkeit<br />

zur Erscheinung gebracht wird, sondern auch über den Modus ihrer Wahrnehmung.«<br />

Fischer-Lichte, Erika. »Wahrnehmung und Medialität«. In: Dies. et al. (Hg.). Wahrnehmung<br />

und Medialität. Tübingen, Basel 2001, S. 11−28, S. 13.<br />

20 Vgl. Lyotard 1986, a.a.O., S. 55 ff; vgl. Cabanne, Pierre. Gespräche mit Marcel Duchamp.<br />

Köln 1972, S. 149.


<strong>Körper</strong>leib 17<br />

um einen ebenso klar umrissenen Trans formations be griff 21 ergänzt, der<br />

darin gründet, dass etwas sich nicht unbedingt nur da durch verändert,<br />

in dem es sich selbst verändert oder verändert wird. Die Readymades<br />

legen vielmehr be redtes Zeugnis davon ab, dass die Transformation<br />

eines Objekts und der Wahr nehmung desselben in Praktiken und Techniken<br />

der (a) räumlichen und zeit li chen De- und Rekon textualisierung 22<br />

sowie (b) der nominalen Umbenennung (nominalisme pictorial) 23 ih ren<br />

Ursprung haben kann.<br />

Betrachtet man als Beispiel das Große Glas, welches nur im Zusammenspiel<br />

mit den Notizen der Grünen Schachtel wahr-genommen werden<br />

kann, dann wird hin sichtlich der seit jeher unscharfen Grenzlinien 24<br />

des Medienbegriffs Nachstehendes deut lich: Folgt man der prinzipiellen<br />

Unterscheidbarkeit bestimmter medialer Charakteris ti ka, die erstens zum<br />

Begriff der Live-Performances und zweitens zum Begriff soge nannter<br />

mediatisierter Performances führen, 25 und folgt man weiter der vielfach<br />

21 Ebd., S. 39 ff.<br />

22 Bei Mainberger, Sabine. Die Kunst des Aufzählens. Elemente zu einer Poetik des Enumerativen.<br />

Berlin u. a. 2003, S. 18 steht zum Problem der »De- und Rekontextualisierung«<br />

zu lesen: »›Beans, butter, bacon, and bread‹ – diese Worte findet ein Mann auf einem<br />

Zettel, den ihm seine Frau mitgegeben hat und den er aus der Jackentasche zieht, als er<br />

einen Supermarkt betritt. Während er an den Regalen entlanggeht, beobachtet ihn ein<br />

Detektiv und notiert, was er der Reihe nach in den Korb legt. Als schließlich beide den<br />

Supermarkt verlassen, hat auch der Detektiv einen Zettel in der Hand mit den Worten<br />

›beans, butter, bacon, and bread‹. Es sind zwei identische Listen, doch keineswegs mit<br />

identi scher Funktion: Die eine ist eine Einkaufsliste, die andere läßt sich gattungsmäßig<br />

nicht so eindeutig bezeichnen – man mag sie ein Inventar, ein Protokoll o. ä. nennen. Wer<br />

nur die beiden Stücke Papier vor sich hätte, würde natürlich an den wahrscheinlicheren,<br />

weil gewöhnlichen Gebrauch als Ein kaufsliste denken, es kämen aber durchaus noch<br />

andere Möglichkeiten in Betracht [...]. Die Liste selbst gibt keinen Hinweis darauf,<br />

als was sie zu verstehen und welcher Funktion oder Praxis sie ver bunden ist.« Diese<br />

Liste wird sprachwissenschaftlich behandelt bei: Searle, John Rogers. Expression and<br />

Meaning. Studies in the Theory of Speech Acts. Cambridge 1997, S. 3.<br />

23 »Nonetheless, a very specific examination and experimentation with color would lead<br />

to the idea of ›pictorial nominalism‹ as the intersection of two theoretical traditions<br />

that were resonating, each in the other.«; »Yet Duchamp quickly emphasizes that<br />

›this plastic being of the word differs from the plastic being of any form whatever‹<br />

and that we must therefore not confuse literal nominalism with the graphic effects of<br />

lettrisme. What is the difference? ›The grouping of several words without sig nificance,<br />

reduced to literal nominalism, is independent of the interpretation.‹« De Duve, Thierry.<br />

Pictorial Nominalism. On Marcel Duchamp’s Passage from Painting to the Readymade.<br />

Minneapolis 1991, S. 105 (erstes Zitat), S. 127 (zweites Zitat).<br />

24 In der »Schleier und Schwelle«-Trilogie von Assmann und Assmann wird der »Schleier«<br />

als eine »Grenze bis«, die »Schwelle« als eine »Grenze zwischen« definiert: Vgl. Assmann,<br />

Aleida und Jan Assmann. Schleier und Schwelle Bd. 1. Geheimnis und Öffentlichkeit. München<br />

1997; vgl. dies. Schleier und Schwelle Bd. 2. Geheimnis und Offenbarung. München<br />

1998; dies. Schleier und Schwelle Bd. 3. Ge heimnis und Neugierde. München 1999.<br />

25 Vgl. Fischer-Lichte 2001b, a. a. O., S. 11−28; Auslander, Philip. Liveness. Performance<br />

in a Mediatized Culture. London u. a. 1999, S. 158.


18 Vorformatierung<br />

gestell ten For de rung, den Medienbegriff nicht derart einzuengen, dass<br />

dieser ausschließlich für techno logische und elektronische Medien Gültigkeit<br />

behält, 26 so ergibt sich für die an geschrie be nen Arbeiten ein besonderes<br />

Verhältnis von Wahrnehmung und Mediali tät. 27 Dieses Verhältnis<br />

ist nicht allein bestimmt von Zeichenpraktiken und Semiose leistun gen,<br />

son dern in ebensolchem Maße von Präsenzerfahrungen als ästhetischen<br />

Er fah run gen. Wie bereits angeführt, wird durch bestimmte Kunstpraktiken<br />

der histori schen Avant garde der Betrachter zum Benutzer, zum<br />

Akteur, der in einem Handlungs raum, welcher inte graler Bestandteil des<br />

Kunstobjekts ist, agiert. 28 Es ist ba nal festzu stel len, dass ein dergestaltes<br />

Wesen künstlerischer Arbeiten mit beiden Typen von Perfor man ces<br />

kor re spondiert, sie geradezu provoziert, durch eine Vertauschung der<br />

Rollen von Rezi pient und Produzent. Drei Prinzipien werden als den<br />

›graphischen Benut zer oberflä chen‹ im ma nente Aspekte sichtbar:<br />

a) die Zusammenführung beider Typen von Performances (Live-<br />

Performance und mediatisierte Performance),<br />

b) die Umstrukturierung des Verhältnisses von Wahrnehmung,<br />

Kunstobjekt und Hand lungswissen und<br />

c) die Neuordnung des Verhältnisses von Produzent und Rezipient.<br />

Bemerkenswert ist ferner, dass diese Aspekte im <strong>Körper</strong> des Betrachters<br />

präsent sind – oder besser – ihre Präsenz entfalten und so ihre Aufführung<br />

erfahren. 29 Der Rezipient er starrt nicht länger in der Frontalität<br />

26 Vgl. Fischer-Lichte 2001b, a. a. O., S. 24 f.<br />

27 Vgl. ebd., S. 11.<br />

28 Seit Erving Goffmans Feststellung »Wir alle spielen Theater« (1969) und der von ihm<br />

(im soziologi schen Rahmen) geschaffenen Interaktionstheorie treten neben grundsätzlichen<br />

Fragen der Identität des Einzelnen in einer Gesellschaft bestimmte <strong>Körper</strong>theorien<br />

auf den Plan, die über eine anthropozentrische Interpretation im phänomenologischen<br />

Sinne hinausweisen: Der <strong>Körper</strong> werde im Modus der Interaktion als »unverfälschbares<br />

Anzeigeinstrument« qualifiziert. Er werde zwar nach Maßgaben der Konsumgesellschaft<br />

modelliert, erweise sich jedoch ferner als Medium der Selbstvergewisserung,<br />

Selbstdarstellung und Selbstinszenierung. Vgl. Goffman, Erving. Strategische Interaktion.<br />

München, Wien 1981, S. 110. Goffmans Theorie funktioniert dabei allerdings<br />

nicht wie ein architekturales Theaterdispositiv im Sinne eines postmodernen theatrum<br />

mundi. Er zieht ein Theaterdispositiv im handlungstheoretischen Sinne heran, in dem<br />

Praktiken per formativer Täuschung respektive des Agierens Als-ob ins Zentrum der<br />

Aufmerksamkeit rücken: »Auf der Bühne werden Dinge vorgetäuscht (make-believe,<br />

Anm. d. Vf.). Im Leben hingegen werden höchstwahrscheinlich Dinge dargestellt, die<br />

echt, dabei aber nur unzureichend erprobt sind.« Ders. Wir alle spielen Theater. Die<br />

Selbstdarstellung im Alltag. München 1983 [1959], S. 3.<br />

29 »First of all he wanted to understand the ›presence‹ in this context as a spatial reference.<br />

What is ›present‹ to us (very much in the sense of the Latin form prae-esse) is in front<br />

of us, in reach of and tangible for our bodies. Likewise the author wanted to use the<br />

word ›production‹ along the lines of its etymo logical meaning. If producere means,<br />

literally, ›to bring forth‹, ›to pull forth‹, then the phrase ›pro duction of presence‹ would


<strong>Körper</strong>leib 19<br />

zum Kunstgegenstand, er wird leiblicher Be standteil desselben, indem<br />

das Auge nicht länger »zum passiven Operator einer festlie gen den Bildordnung«<br />

gerät. 30 Dadurch verändert sich der »Bildentwurf« sowie die<br />

»Bildbe dingtheit« 31 des erlebenden »<strong>Körper</strong>leibs« in seiner »psychophysischen<br />

Sphäre« 32 und das Kunstobjekt »gewinnt selbst Erkundungswert,<br />

emphasize that the effect of tangibility that comes from the materialities of communication<br />

is also an effect in constant movement. In other words, to speak of ›production<br />

of presence‹ implies that the (spatial) tangibility effect coming from communication<br />

media is subjected, in space, to movements of greater or lesser proximity, and of greater<br />

or lesser intensity. That any form of communication implies such a production of<br />

presence, that any form of communication, through its material elements, will ›touch‹<br />

the bodies of the persons who are communicating [...]. [T]his fact had been brackered<br />

(if not – progressively – forgotten) by Western theory building ever since the Cartesian<br />

cogito made the ontology of human existence depend exclu sively on the move ments<br />

of the human mind.« Gumbrecht, Hans Ulrich. The Production of Presence. What<br />

Mean ing Can not Convey. Stanford 2004, S. 17. Eine ähnliche Interpretation am Rande<br />

der Her me neu tik legt auch Dieter Mersch nahe: Vgl. Mersch, Dieter. »Aisthetik und<br />

Responsivität«. In: Fischer-Lichte 2001b, a. a. O., S. 173−299.<br />

30 Boehm 1986, a. a. O., S. 290.<br />

31 Die Imagination des eigenen <strong>Körper</strong>leibs, im Sinne des Vorstellungsvermögens hinsichtlich<br />

seiner Be grenzungen und Abmessungen, folglich seiner Grenzen und Dimensionen im<br />

übertragenen Sinne, stellt die Grundlage menschlicher Bewegungsmodelle, Handlungsstrukturen<br />

und Verhaltensöko no mien dar. Der »Bildentwurf« vom eigenen <strong>Körper</strong>leib<br />

generiert dabei die »Bildbedingtheit« allen Wahr nehmens und Handelns, wenn man von<br />

solch einem okulozentristischen Modell ausgehen möchte: »Die Heideggersche Formel<br />

eines Seins, dem es in seinem Sein um sein Sein geht, trifft die menschliche Struktur<br />

als das Verhältnis, das sie nicht einfach ist, wie die alten ontologischen Modelle von<br />

<strong>Körper</strong> und Denken, von <strong>Körper</strong>, Seele und Geist, Derivate einer an zu viel überlebten<br />

Begriffen hängenden Metaphysik, suggerieren, sondern zu sich hat. Nur wird dem<br />

Terminus Sein in diesen Zu sammenhängen allein abwehrende Bedeutung zugesprochen<br />

werden dürfen: daß es sich nämlich bei diesem In-ihm-um-ihn-Gehen nicht um etwas<br />

handelt, das ›im Bewußtsein‹ seine Stätte hat. Von der schauspielerischen Aktion her<br />

verstehen wir menschliches Leben schließlich als Verkörperung einer Rolle nach einem<br />

mehr oder weniger feststehenden Bildentwurf, der in repräsentativen Lagen be wußt<br />

durchgehalten werden muß. [...] Die Nachahmung [...] weist auf eine Bildbedingtheit<br />

der Äuße rungsmöglichkeiten, welche den Nachahmenden innerlich mit umformen.«<br />

Plessner, Helmuth. »Zur Anthropologie des Schauspielers«. In: Ders. 1982, a. a. O.,<br />

S. 146−163, S. 158.<br />

32 »Exzentrizität ist die Positionalität des Menschen, die Form seiner Gestelltheit gegen<br />

das Umfeld. Der Mensch, in seine Grenze gesetzt, lebt über sie hinaus, die ihn, das<br />

lebendige Ding, begrenzt. Er lebt und erlebt nicht nur, sondern er erlebt sein Erleben.<br />

Ihm ist der Umschlag von Sein innerhalb des eigenen Leibes zum Sein außerhalb des<br />

Leibes ein unaufhebbarer Doppelaspekt der Existenz, ein wirklicher Bruch seiner Natur.<br />

Er lebt diesseits und jenseits des Bruches, als <strong>Körper</strong> und Seele und als die psychophysisch<br />

neutrale Einheit dieser Sphären. [...] Deshalb [aufgrund des Doppelaspektes der<br />

Existenz als <strong>Körper</strong> und Leib, Anm. d. Vf.] sind beide Weltansichten notwendig: der<br />

Mensch als Leib in der Mitte der Sphäre die, entsprechend seiner empirischen Gestalt,<br />

ein absolutes Oben, Unten, Vorne, Hinten, Rechts, Links, Früher und Später kennt,<br />

und der Mensch als <strong>Körper</strong>ding an einer be liebigen Stelle eines richtungsrelativen<br />

Kontinuums möglicher Vorgänge. Leib und <strong>Körper</strong> fallen, obwohl sie keine material<br />

trennbaren Systeme ausmachen, sondern ein und dasselbe, nicht zusam men.« Ders.<br />

»Der Mensch als Lebewesen«. In: Ders. 1982, a. a. O., S. 9−62, S. 10−12.


20 Vorformatierung<br />

es ist so gut wie eine Probe auf die Wirklichkeit, [...] wie Wissenschaft<br />

oder Alltagswissen«. 33 An diesem Ort ästhetischer und epistemologischer<br />

Osmose 34 findet eine außergewöhnliche Berührung von Epi steme, Aisthesis<br />

und techné statt, die sich zumindest in Bezug auf das Verhältnis von<br />

Rezi pient und Kunstgegenstand, wie Georges Didi-Huberman ausführt,<br />

auf die Formel »Was wir sehen blickt uns an« bringen lässt. 35<br />

2. »Infra-thin separation signalled«: Chiasmata der Sinne<br />

Betrachtet man Duchamps La mariée mise à nu par ses célibataires,<br />

même unter Zu hilfenahme der Notizen in der Boîte Verte (Abb. 1.2.),<br />

steht man einer großen Menge an Überle gungen, Studien, Berechnungen,<br />

Diagrammen und technischen Skizzen gegenüber.<br />

Im oberen Teil des Großen Glases befindet sich die ›Domäne der<br />

Braut‹, im unteren Teil befindet sich die ›Domäne der Junggesellen‹, die<br />

die ›Junggesellenma schine‹ bildet. Beide Teile zusammengenommen formen<br />

den ›Junggesellenmotor‹. 36 Durch die Präzision der Duchamp’schen<br />

Überlegungen wird aus diesem Gerät etwas, das ich als imaginäres Instrument<br />

einstufen möchte. Und zwar nicht in dem Sinne, dass wir uns<br />

mit der reinen Idee eines Instruments konfrontiert sehen: Das Große<br />

Glas und die Grüne Schachtel zusammen sind dieses bewegte/bewe-<br />

33 Boehm 1986, a. a. O., S. 290.<br />

34 »If the artist, as a human being, full of the best intentions toward himself and the whole<br />

world, plays no role at all the judgement of his own work, how can one describe the<br />

phenomenon which prompts the spectator to react critically to the work of art? In other<br />

words how does this reaction come about? This phenomenon is comparable to a transference<br />

from the artist to the spectator in the form of an esthetic osmosis taking place<br />

through the inert matter, such as pigment, piano or marble. […] What I have in mind<br />

is that art may be bad, good or indifferent, but, whatever adjective is used, we must<br />

call it art, and bad art is still art in the same way as a bad emotion is still an emotion.«<br />

Duchamp, Marcel. »The Creative Act«. In: Sanouillet, Michel und Elmer Peterson (Hg.).<br />

The Writings of Marcel Duchamp. Oxford 1973, S. 138−140, S. 139.<br />

35 In der bei Georges Didi-Huberman (aus dem Geiste Warburgs) entwickelten Ikonologie<br />

spielt in Be zug auf den Chiasmus von Anblicken/Angeblickt-Sein insbesondere der<br />

Begriff des »Gesichts punk tes« eine tragende Rolle: »Was ich Tiefe nenne, ist nichts,<br />

oder ist meine Teilhabe an seinem Sein ohne Einschränkung und zunächst am Sein des<br />

Raumes jenseits jeden Gesichtspunktes.« Didi-Huberman, Georges. Was wir sehen blickt<br />

uns an. Zur Metapsychologie des Bildes (Bild und Text). München 1999, S. 151.<br />

36 Zu den Junggesellenmaschinen (machines célibataires): Carrouges, Michel. Les Machines<br />

Célibataires. Paris 1954, S. 12 ff. Eine alternative Perspektive wird bei Michael Pfister<br />

und Stefan Zweifel in Bezug auf den HISTOMAT entwickelt. Siehe auch betreffenden<br />

Passus zu Junggesellenmaschinen in: Pfister, Michael und Stefan Zweifel. Pornosophie<br />

und Imachination. Sade, LaMettrie, Hegel. München 2002, S. 229−232.


»Infra-thin separation signalled«: Chiasmata der Sinne 21<br />

Abb. 1.2.: La mariée mise à nu par ses célibataires, même (Die Grüne Schachtel,<br />

hier geschlossen und geöffnet), Marcel Duchamp, 1934, enthält 91 reproduzierte<br />

Notizen und Skizzen sowie 2 photographische Abzüge, die Schachtel selbst wurde<br />

300 mal ausgefertigt und damit zum ersten multiple der Kunstgeschichte, von<br />

den 300 Reproduktionen waren 270 einfachere Faksimiles, 30 Luxusausgaben.<br />

Abb. 1.3.: Konsekutive Bewegung des »Junggesellenmotors« in einer computergestützten<br />

Animation nach den Maßgaben der Bewegungsfolgen, wie sie in der<br />

Grünen Schachtel beschrieben werden.


22 Vorformatierung<br />

Abb. 1.4.: Überlegungen zur maschinellen Kraftübertragung, um 1500, Leonardo<br />

da Vinci (links); Detail aus einer Skizze des Großen Glases mit eingezeichneten Teilen,<br />

die im Original nie vervollständigt wurden (Okulisten zeugen, Schmetterlingspumpe,<br />

Toboggan, Boxing Match, Schwerkraftregler), 1985, Michel Sanouillet.<br />

Abb. 1.5.: Skizze eines Fliehkraftreglers (links), 1798, Boultan und Watt; Skizze<br />

eines Schwerkraftreglers (rechts), zwischen 1911 und 1915, Marcel Duchamp.


»Infra-thin separation signalled«: Chiasmata der Sinne 23<br />

gende imaginäre Instrument. 37 Dieses imaginäre Instrument ist indes so<br />

angelegt, dass es nur innerhalb der Imagination des Zuschauers betrieben<br />

werden kann – sich de facto im <strong>Körper</strong> des Betrachters ereig net.<br />

Die Frage »Was tut dieses Instrument?« lässt sich nicht allgemeingültig<br />

darlegen. Die Frage jedoch »Wie bewegt sich dieses Instrument?« lässt<br />

sich aufgrund der präzisen Angaben in den Notizen eindeutig beantworten<br />

(Abb. 1.3.).<br />

Dieses imaginäre Instrument verweist – wie zahlreiche literarische<br />

Utopien auch – auf un sere mediale Gegenwart und unsere Instrumentengeschichte.<br />

Es finden sich Be züge zu Leonardos utopischen Maschinen<br />

(Abb. 1.4.), 38 zu Wahrnehmungsapparaturen des 18. Jahrhunderts<br />

(Diorama, Panorama), 39 des 19. Jahrhunderts (Chronophotographie,<br />

Kinema to gra phie), 40 zu physikalischen Instrumenten des beginnenden<br />

20. Jahrhunderts (Helmholtz-Poincaré-Simulator, Maxwells Fliehkraftregler,<br />

der bei Duchamp zum Schwerkraftregler wird, Abb. 1.5.) 41 sowie<br />

zu Überlegungen zur vierten Dimension in der histori schen Avant garde. 42<br />

Im Zentrum dieser Überlegungen steht für Duchamp ein Schichten modell<br />

des Ma schi nellen und des <strong>Körper</strong>lichen im Modus der natur wis senschaft<br />

lich re vi dierten Auf fas sun gen von Raum, Zeit und Kausalität,<br />

das z. B. im »cine ma tic blossoming« der »Braut« in der »Domäne der<br />

Braut« (Abb. 1.6.) bedeutungsmäßig her vorgetrieben wird:<br />

37 Gegen die Vorstellung, dass Duchamps Großes Glas, als Junggesellenmaschine, sich<br />

nicht in Be we gung befinde, also statisch sei, legt Jean Suquet vehementen Widerspruch<br />

ein: »Sure it turns! A manuscript verifies that it turns without any mechanical assistance<br />

but by virtue of the repetition of the adage of spontaneity: the bachelor grinds<br />

his chocolate himself. A machine moved by a proverb! [...] It is words that make the<br />

machine run. And what does the machine do when it runs? It endlessly does again<br />

that which it just did, it repeats itself forever: it turns, it turned, it will turn, around<br />

and around, and will return always to the same [même]. ›Même‹ is the word-engine<br />

of repetition.« Suquet, Jean. »Possible«. In: De Duve, Thierry (Hg.). The Definitively<br />

Unfinished Marcel Duchamp. Cam bridge, London 1992, S. 85−131, S. 86.<br />

38 Vgl. Steefel, Lawrence. »Marcel Duchamp and the Machine«. In: D’Harnoncourt, Anne<br />

und Kynaston McShine (Hg.). Marcel Duchamp. London 1974, S. 69−80.<br />

39 Vgl. Andriopoulos, Stefan. Besessene <strong>Körper</strong>. Hypnose, <strong>Körper</strong>schaften und die Erfindung<br />

des Kinos. München 2000, S. 133.<br />

40 Vgl. Weibel, Peter. »Neurocinema. Zum Wandel der Wahrnehmung im technischen Zeitalter«.<br />

In: Felderer, Brigitte (Hg.). Wunschmaschine – Welterfindung. Wien, New York<br />

1996, S. 167−184.<br />

41 Vgl. Rössler, Otto E. »An Artificial Cognitive Map System«. In: BioSystems, 13.1981,<br />

S. 203−209. In diesem Text wird beschrieben, wie bei einem Helmholtz-Poincaré-<br />

Simulator ein »Nachhall-Modus« des gesamten Systems der Schaltung entsteht. Es ist<br />

anzunehmen, dass Duchamp, der fundierte Kenntnisse der Schriften Poin carés hatte,<br />

Skizzen dieser Schaltung und deren Funktion kannte.<br />

42 Vgl. Henderson, Linda Dalrymple. The Fourth Dimension and Non-Euclidean Geometry<br />

in Modern Art. Massachusetts 2006.


24 Vorformatierung<br />

Abb. 1.6.: Detail des Großen Glases, oberer Teil (»Domäne der Braut«), das<br />

wolken ähnliche Gebilde mit den viereckigen Perforierungen stellt das »cinematic<br />

blossoming« dar, das direkt aus dem Haupt der »Braut« ragt, rechts daneben und<br />

darunter sind die sogenannten »Neun Durchschüsse« zu sehen.<br />

The bride is a sort of mechanical bride [...]. It’s not the bride herself, it’s a<br />

concept of a bride that I had to put on the canvas one way or another. But<br />

it was more important than that. I thought of it in terms of words, before I<br />

actually drew it. And what the Glass does represent is not a copy of a bride<br />

in bedclothes or otherwise, yet there are parts called the bride … the bride<br />

is a sort of invention of a bride of my own, a new human being, half robot<br />

and half four dimensional. 43<br />

Es nimmt nicht wunder, dass es weiter heißt: »I did not really love the<br />

machine. It was better to do it to machines than to people, or doing it<br />

to me.« 44 Im Kern jedoch versucht Duchamp durch eine Mechanisierung<br />

der Sprache (etwa sind zahlreiche Notizen im In finitiv verfasst) 45 zugleich<br />

43 Duchamp zitiert nach Schwarz, Arturo. The Complete Works of Marcel Duchamp.<br />

Volume I. Third Re vised and Expanded Edition. New York 1997, S. 149.<br />

44 Steefel 1974, a. a. O., S. 71.<br />

45 Die Verfassung der Notizen im Infinitiv sowie der alternative Titel seiner ›Weißen<br />

Schachtel‹ (1964) »À l’Infinitif« verweisen im Modus der genannten Mechanisierung<br />

der Sprache auf deren eigene Un eindeutigkeit. »À l’Infinitif« bedeutet nicht nur ›im<br />

Infinitiv verfasst‹ und ›bis in alle Ewigkeit‹, son dern ist auch eine Anspielung auf die


»Infra-thin separation signalled«: Chiasmata der Sinne 25<br />

eine Regrammatikalisierung des menschlichen <strong>Körper</strong>s zu be schreiben.<br />

Diese Regrammatikalisierung erfolgt innerhalb eines Symbolsystems, 46<br />

in dem der <strong>Körper</strong>leib und dessen sinnliche Wahrnehmungsbedingungen<br />

als mediales (!) Zeichenreservoir – im Modus »vermittelter Unmittelbarkeit«<br />

(mit welcher Helmuth Plessner solcherlei sinnliche Widerfahrnisse<br />

charakterisiert) oder im Modus der »Un mittelbarkeit aller geistigen<br />

Mitteilung« (wie Walter Benjamin dergestalte distanzlose Übertragungen<br />

beschreibt) – zur Verfügung stehen. 47 Um mit einem von Peter Weibel<br />

ein geführten Begriff zu operieren: In Duchamps Glas wird nicht nur die<br />

vierte Dimen sion im naturwissenschaftlichen Verständnis, sondern auch<br />

Infinitesimalrechnung und den gesamten mathematischen Un end lichkeitsbegriff, welcher<br />

sich im positiv oder negativ attribuierbaren Symbol ∞ konkretisiert. Die ses Symbol,<br />

dessen Eigenschaft es ist, die Unendlichkeit nicht als linear, sondern als zirkular zu<br />

il lustrie ren, entspricht Duchamps Konzept einer Verbindung von Kunstobjekt und<br />

Betrachter.<br />

46 Vgl. Goodman, Nelson. Sprachen der Kunst. Ein Ansatz zu einer Symboltheorie.<br />

Frankfurt a. M. 1997, S. 232−235; vgl. ders. Weisen der Welterzeugung. Frankfurt a. M.<br />

1990, S. 76−113.<br />

47 Die »vermittelte Unmittelbarkeit« besitzt im Englischen eine Entsprechung, die gleichsam<br />

auf den medi a len Index dieser Form der »Unmittelbarkeit« (eine paradoxe »vermittelte<br />

Präsenz« beziehungs weise »mediatisierte Immediazität«) verweist: »mediated<br />

immediacy«. Zum historischen Begriff der »ver mittelten Unmittelbarkeit« und seiner<br />

Verhaftung in allenfalls protomedientheoretischen Ansät zen der Betrachtung von Subjekt<br />

und Lebenswelt: »[J]ede Sprache teilt sich in sich selbst mit, sie ist im reinsten Sinne<br />

das ›Medium‹ der Mitteilung. Das Mediale, das ist die Unmittelbarkeit aller geis ti gen<br />

Mitteilung, ist das Grundproblem der Sprachtheorie, und wenn man diese Unmittelbarkeit<br />

magisch nennen will, so ist das Urproblem der Sprache ihre Magie.« Benjamin,<br />

Walter. Medien ästhetische Schriften. Frankfurt a. M. 2002, S. 69. [Es handelt sich hier<br />

um eine Zusammenstellung verschiedener Ein zelschriften, die zwischen 1925 und 1940<br />

entstanden sind.] »In jeder [Darstellung] ma nifestiert sich der Mensch auf eine zugleich<br />

unmittelbare und vermittelte, natürliche und künstliche Weise.« Plessner, Helmuth. »Zur<br />

Anthropologie des Schauspielers«. In: Ders. 1982, a. a. O., S. 153; »Objek tivierung [...],<br />

Verdinglichung, Entdeckung seiner selbst [das Lebewesen exzentri scher Positionalität,<br />

Anm. d Vf.] [...] sind auf die Formel der vermittelten Unmittelbarkeit zu brin gen.«<br />

Ders. »Der Aus sagewert einer philosophischen Anthropologie«. In: Ders. 1982, a. a. O.,<br />

S. 124−145, S. 143. Im poli ti schen Kontext nimmt der Begriff Mitte des 20. Jahrhunderts<br />

bei Adorno andere Formen an: »Wahr nehmung ist nur möglich, insofern das Ding schon<br />

als bestimmtes, etwa als Fall einer Gattung, wahr ge nommen wird. Sie ist vermittelte<br />

Unmittelbarkeit, Gedanke in der verführeri schen Kraft der Sinn lich keit. Sub jektives<br />

wird von ihr blind in die scheinbare Selbstgegebenheit des Objekts verlegt. Einzig die<br />

ihrer selbst bewusste Arbeit des Gedankens kann sich diesem Halluzinato rischen wieder<br />

entziehen.« Adorno, Theodor W. Dialektik der Aufklärung. Amsterdam 1968 [1947],<br />

S. 228. Eine weitere Form der »vermittelten Unmittelbarkeit« im Zusammenhang mit<br />

einem lebens philosophisch orientierten Oberflächen-Begriff zeigt sich bei Lukács, wenn<br />

er schreibt: »Es entsteht durch diese doppelte Arbeit eine neue, gestaltet vermittelte<br />

Unmittelbarkeit, eine gestaltete Oberflä che des Lebens, die, obwohl sie in jedem Moment<br />

das Wesen klar durchscheinen läßt (was in der Unmittelbarkeit des Lebens selbst nicht<br />

der Fall ist), doch als Unmittelbarkeit, als Oberfläche des Le bens erscheint.« Lukács,<br />

Georg. »Es geht um den Realismus.« In: Marxismus und Literatur. Bd. 2. Reinbek<br />

1969, S. 70.


26 Vorformatierung<br />

eine modifizierte Ordnung der Leiblichkeit eines »anagrammatischen<br />

<strong>Körper</strong>s« sichtbar: 48 eines <strong>Körper</strong>s, der zerlegt wurde und als Baukasten<br />

dem Betrachter zur Benutzung zur Verfügung steht. Dieser kann imaginativ<br />

den »Bildentwurf des <strong>Körper</strong>s« (Plessner) variieren, ohne dass<br />

ein biu nivokes <strong>Körper</strong>bild weiter bestünde.<br />

Man kann in diesem Zusammenhang durchaus von einer medialen<br />

Verfasstheit des <strong>Körper</strong>s bei Duchamp sprechen, und zwar konkret<br />

durch den Einsatz dessen, was man damals wie heute als (neue) Medien<br />

bezeichnet. Sachbeständig verhält es sich so, dass die Virtualität (im<br />

Sinne von virtueller Speicherung), Variabilität (Veränderbarkeit durch<br />

das Eingreifen des Betrachters) und Viabilität (die Lebensfähigkeit im<br />

Sinne der Funktionalität) des Bildes in Duchamps Gegenwart nicht in<br />

dem uns bekannten Maße technisch gegeben waren. Diese drei Parameter<br />

sind es, die die heute allgegenwärtige Interaktionsmöglichkeit mit<br />

Bildern garantieren und das nicht nur im Sinne einer pro thesenartigen<br />

Verlängerung der menschlichen Organe durch Medien wie in McLuhans<br />

medientheoretischem Programm von »hot« und »cool media«. 49 Vielmehr<br />

handelt es sich um ein Zusammenfallen von berührtem und berührendem,<br />

erlebendem und er leb tem Leib in einer Schnittstelle zwischen<br />

<strong>Körper</strong> und Wissen, Leib und Technik.<br />

Maurice Merleau-Ponty prägt, wie bereits angeschnitten, in diesem<br />

Zusammen hang zwei Begriffe: einerseits den ›corps propre‹ als subjektiv<br />

erlebter und wahrnehmender Leib, andererseits den ›corps physicale‹ als<br />

wahrgenommener und materieller <strong>Körper</strong>. Verschieden zwar, aber dennoch<br />

Strukturen ein und derselben Entität, ein und derselben menschli-<br />

48 In gewisser Weise ist der Begriff des »anagrammatischen <strong>Körper</strong>s« mit dem Begriff des<br />

»Hybriden« verwandt. Peter Weibels Argument ist dabei folgendes: So wie der Mensch<br />

im antiken Mythos mit Tieren verschmolz (zum Beispiel zur Sphinx), so verschmelze<br />

er in der Moderne mehr und mehr mit den ihn umgebenden technischen Objekten<br />

(etwa zum Cyborg). Daraus ergebe sich ein System re kombinierbarer organischer<br />

und anorganischer Einheiten, das eben die »Anagrammatik« dieses hyb riden <strong>Körper</strong>s<br />

ausdrücke. Dieses System wiederum spielt gerade deshalb einerseits in der Perfor mance-<br />

Kunst (als körperlicher Kunst), andererseits in der Medienkunst (als technischer Kunst)<br />

eine wichtige Rolle. Vgl. Weibel, Peter. Der anagrammatische <strong>Körper</strong>. Der <strong>Körper</strong><br />

und seine mediale Konstruktion. Katalog zur Ausstellung im Zentrum für Kunst und<br />

Medientechnologie Karlsruhe vom 8.4.2000 bis 18.6.2000. Karlsruhe 2000, S. 48.<br />

49 »There is a basic principle that distinguishes a hot medium like radio from a cool<br />

one like the tele phone, or a hot medium like movie from a cool one like TV. A hot<br />

medium is one that extends one single sense in ›high definition‹. High definition is the<br />

state of being well filled with data. [...] Hot media are, therefore, low in participation,<br />

and cool media are high in participation or completion by the audience. Naturally,<br />

therefore, a hot medium like radio has very different effects on the user from a cool<br />

medium like telephone.« McLuhan 1994 [1964], a. a. O., S. 24 f. Weitere Nuancen dieser<br />

Unter scheidung: Vgl. ebd., S. 26, 29−36, 174, 241, 326, 337−340, 347 f, 356, 370.


»Infra-thin separation signalled«: Chiasmata der Sinne 27<br />

chen Existenz, was sich in Aspekten der Einfleischung von Handlungen 50<br />

(also des »automatisierten Handelns«, das sich jenseits des Reizreflexes<br />

bewegt) zeigt. Dieser Ansatz Merleau-Pontys findet sich in Duchamps<br />

Begriff des ›infra-mince‹ oder ›infra-thin‹ wieder – auch hier handelt es<br />

sich um aisthetische Paraphänomene, bei denen wahr nehmendes und<br />

wahrgenommenes Element verschmelzen:<br />

[T]he warmth of a seat which has just been left, reflection from a mirror or<br />

glass, watered silk, iridescents, the people who go through (subway gates) at<br />

the very last moment, velvet trousers their whistling sound is an infra-thin<br />

separation signalled. 51<br />

Gottfried Boehm schreibt im eingangs zitierten Aufsatz zu den Spuren<br />

von Merleau-Pontys Denken, »Der Stumme Logos«, über Duchamp<br />

eine Passage, die den Gedanken aufgreift, dass der <strong>Körper</strong> das Substrat<br />

eines sinnlich-mentalen Zusammenhangs sei, der durch Informationen<br />

und Daten erst in der Welt des Sichtbaren ermöglicht werde. 52 Die Welt<br />

des Sichtbaren ist indessen nicht nur eine Welt der <strong>Körper</strong>, sondern<br />

desgleichen eine Welt des gemachten Bildes, das nicht Abbild, sondern<br />

Ausdruck der Welt des Sichtbaren ist. 53 Boehm sieht im Œuvre<br />

Duchamps Folgendes bestätigt:<br />

50 »Nicht anders [wie mit dem Spiegelbild, Anm. d. Vf.] steht es, allem Anschein zum<br />

Trotz, mit mei nem tastbaren Leib, denn wenn ich auch mit der linken Hand meine<br />

rechte befassen kann, indessen diese selbst einen Gegenstand berührt, so ist doch die<br />

rechte Hand als der Gegenstand nicht die rechte Hand als be rüh rende: jene ist das auf<br />

einen Raumpunkt festgelegte Gebilde von Knochen, Muskeln und Fleisch, nicht aber<br />

die schwebend den Raum durchstoßende, einen äußeren Gegenstand an sei nem Ort<br />

be rüh rend entdeckende Hand.« Merleau-Ponty 1974, a. a. O., S. 117; vgl. auch: ebd.,<br />

S. 316 und S. 393.<br />

51 Marcel Duchamp zitiert nach Matisse, Paul. Marcel Duchamp, Notes. Boston 1983,<br />

S. 45.<br />

52 Vgl. Boehm 1986, a.a.O., S. 291.<br />

53 Wie stark die Welt des Sichtbaren – verstanden als Horizont des wahrnehmenden<br />

Subjekts – mit dem Vernehmen und Aufnehmen sowie der Hand und dem Handeln in<br />

Zusammenhang steht, erörtert Karl Ulmer im phänomenologischen Duktus der Freiburger<br />

Schule folgendermaßen: »Halten wir diesen Begriff der Welt zur Bezeichnung einer<br />

Öffnung fest, die mehr Dimensionen hat als ein Feld, und nehmen alle dem Menschen<br />

eigentümlichen Weisen des Offenseins in dem Begriff des Vernehmens zusammen,<br />

dann können wir sagen: Die Welt ist jene Öffnung, in der der Mensch steht, sofern er<br />

vernimmt. Das Nehmen ist eine Handlung der Hand und vollzieht sich im Hinhalten,<br />

Öffnen und Schließen der Hand. So kann man dadurch jede Weise begreifen, in der<br />

der Mensch etwas aufnimmt und festhält. Ein Aufnehmen ist aber nur dort möglich,<br />

wo etwas gegeben ist. Alles, was es gibt, kön nen wir aber sagen, ist in der Welt. So<br />

kann man den Bereich, der dem Nehmen entspricht, als Welt bezeichnen. Welt meint<br />

dann die Öffnung, die zum Offensein des Menschen gehört.« Ulmer, Karl. Von der<br />

Sache der Philosophie. Freiburg, München 1959, S. 18 f.


28 Vorformatierung<br />

Vor allem auch in Marcel Duchamps Grenzdialektik zwischen Werk und Ding,<br />

Reflexion und Werk etc., faßbar z. B. im Namen des ready-mades, wird die<br />

Offenheit und »Grenzenlo sigkeit« der sichtbaren Welt zum Thema – und damit<br />

auch die des künstlerischen Bildes. Und doch ist der Umgang des Künstlers mit<br />

dem gestaltbaren, instrumentalisierbaren Mate rial immer auch der Umschlag<br />

in etwas anderes als Material: in Konfigurationen des Sinnes. 54<br />

Die »Konfigurationen des Sinnes« sind ek-statische Eigenschaften 55 von<br />

Duchamps Ar beiten, die auf die Gegenwart des digitalen Bildes verweisen,<br />

das nicht mehr nur die Sinne konfiguriert, sondern das nun auch<br />

durch rück gekoppelte Handlungen (mittels der Sinneswahrnehmung)<br />

gesteuert, reguliert, manipuliert, gespeichert, verformt werden kann.<br />

Das Instrument bei diesem Vorgang ist stets eine ›graphische Benutzeroberfläche‹,<br />

die viele Jahrhunderte zuvor schon als utopische Maschine<br />

schriftlich dokumentiert ist: sei es in den Gedächtnistheatern Robert<br />

Fludds, 56 sei es in den utopischen Maschinen Leo nardo da Vincis, sei es<br />

in technischen Zeichnungen und anamorphotischen Verfahren.<br />

Die Philosophie der Leiblichkeit macht darauf aufmerksam, dass man<br />

als leibliches Sub jekt stets Teil der Welt ist, auf die man sich wahrnehmend,<br />

handelnd und reflektie rend bezieht. Wie weit die Integration von<br />

Sinnesdaten in aktuelle Datenräume sowie von Hand lungen in apparativtechnische<br />

Funktionen – als informationeller Bezugsrah men – fort geschritten<br />

ist, belegen theoretisch schwer überfrachtete Begriffe wie virtual<br />

reality, arti ficial intelligence, virtual life, information super-highway,<br />

cyberspace, docuverse etc.<br />

54 Boehm 1986, a.a.O., S. 302.<br />

55 Mersch gewinnt seinen Begriff der Ekstasis aus der Schelling’schen Philosophie: »Der<br />

Ausdruck Eksta sis, im Sinne des ›Aus-sich-heraus-stehens‹ [...] [bedeutet]: Das vor<br />

aller Begrifflichkeit rein Seiende im Sinne des ›unvordenklichen Seins‹ wird als ›absolut<br />

Ekstatisches‹ gedacht: Ekstasis des Seins im Sinne von Existenz, ohne dass damit bereits<br />

›etwas‹ existiere.« Mersch 2001, a. a. O., S. 278 (Fußnote).<br />

56 Peter Matussek hat die frühmodernen Konzeptionen der Gedächtnistheater einschlägig<br />

mit Fragen des Interface-Design in Zusammenhang gebracht: »Was ist Interface-Design?<br />

Das deutsche Wort ›Oberflächenprogrammierung‹ sagt aus, wie meist darüber gedacht<br />

wird – dichotomisch: Das eine ist die Information, das andere ihre Präsentation. Die<br />

binäre Logik der Denkmaschine bestimmt offenbar auch hier, wie in so vielen Bereichen,<br />

die Denkmodelle, in denen über sie reflektiert wird. Während herkömmliche Gedächtnismedien<br />

stets unter dem Gesichtspunkt der materialbedingten Relation von Form und<br />

Gehalt betrachtet wurden, scheint die digitale Revolution beides entkoppelt zu haben.<br />

Rückblickend liest sich dann auch die Geschichte der analogen Medien ganz anders.«<br />

Matussek, Peter. »Computer als Gedächtnistheater«. In: Darsow, Götz-Lothar (Hg.).<br />

Metamorphosen. Gedächtnis me dien im Computerzeitalter. Stuttgart-Bad-Cannstatt<br />

2000, S. 81−100, S. 81.

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