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kaiser wilhelm ii. in der politik seiner zeit - Einsnull

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<strong>kaiser</strong> <strong>wilhelm</strong> <strong>ii</strong>. Postkarte aus London, November 1907<br />

Eberhard Straub<br />

<strong>kaiser</strong> <strong>wilhelm</strong> <strong>ii</strong>.<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>politik</strong> se<strong>in</strong>er <strong>zeit</strong><br />

Die Erf<strong>in</strong>dung des Reiches aus dem Geiste <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne<br />

Herausgegeben von <strong>der</strong><br />

Gesellschaft für Wilhelm<strong>in</strong>ische Studien e.V.


Für Jan Schleusener<br />

7 E<strong>in</strong>leitung<br />

17 I. K<strong>in</strong>dheit und Jugend<br />

75 II. Metamorphosen e<strong>in</strong>es Berl<strong>in</strong>er Eton-Boys<br />

131 III. Der junge Kaiser und die alten Herren<br />

185 IV. Der Demokrat auf dem Thron<br />

245 V. Wilhelm <strong>der</strong> Friedfertige<br />

303 VI. Krieg und Exil<br />

<strong>in</strong>haltsverzeichnis<br />

345 Anhang<br />

Literaturverzeichnis S. 347<br />

Personenregister S. 353<br />

Kurzbiographie des Autors S. 376<br />

Die Frühbucher S. 377


e<strong>in</strong>leitung


e<strong>in</strong>leitung 9<br />

I m Grunde aber s<strong>in</strong>d wir Alle kollektive Wesen, wir mögen<br />

uns stellen, wie wir wollen. Denn wie weniges haben und<br />

s<strong>in</strong>d wir, das wir im re<strong>in</strong>sten S<strong>in</strong>ne unser Eigentum nennen!«<br />

Das äußerte Goethe kurz vor se<strong>in</strong>em Tod am 17. Februar 1832<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Gespräch mit Johann Peter Eckermann. Das Individuum<br />

hielt er für unerschöpflich. Aber er bemerkte doch, von wie<br />

vielen Abhängigkeiten die Freiheit des E<strong>in</strong>zelnen dauernd modifiziert<br />

wird. Je<strong>der</strong> entwickelt sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Umwelt, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

sozialen und geistigen Raum, auf den er se<strong>in</strong>erseits e<strong>in</strong>wirkt.<br />

Wer sich von den Irrtümern se<strong>in</strong>er Zeit nicht verführen lasse,<br />

gab er zu bedenken, vere<strong>in</strong>same; lasse man sich aber von ihnen<br />

e<strong>in</strong>fangen, so habe man auch we<strong>der</strong> Ehre noch Freude davon.<br />

Meist wären es die Schwachheiten se<strong>in</strong>er Epoche, über die <strong>der</strong><br />

so vielfach bedrängte Mensch mit se<strong>in</strong>em Jahrhun<strong>der</strong>t zusammenhänge.<br />

Missmutig beobachtete <strong>der</strong> große Historiker, <strong>der</strong><br />

er auch war, die Versuche Nachgeborener, sich e<strong>in</strong>e Welt von<br />

Gestern im H<strong>in</strong>blick auf ihre ganz an<strong>der</strong>s geartete Gegenwart<br />

verständlich zu machen, statt historische Gestalten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Beziehung<br />

zu ihren Zeitgenossen und <strong>der</strong>en Ideen zu verstehen.<br />

Hugo von Hofmannsthal, ebenfalls e<strong>in</strong> em<strong>in</strong>enter Historiker,<br />

brachte solche Überlegungen auf die Formel vom »Geheimnis<br />

<strong>der</strong> Contemporaneität«.<br />

Kaiser Wilhelm II. war e<strong>in</strong> glänzendes Individuum des F<strong>in</strong><br />

de Siècle. Als solches wurde er von se<strong>in</strong>en Zeitgenossen wahrge<br />

nommen. Sie erkannten <strong>in</strong> ihm e<strong>in</strong> Kollektivwesen, das auf<br />

e<strong>in</strong> zigartige Weise die Wi<strong>der</strong>sprüche <strong>der</strong> Epoche verkörperte,<br />

die <strong>in</strong> Deutschland nach ihm als Wilhelm<strong>in</strong>ische charakterisiert<br />

wird. Im Zeitalter des Interessanten weckte er stürmisches Interesse<br />

und machte sich als Kaiser <strong>in</strong>teressant. Franzosen o<strong>der</strong><br />

Englän<strong>der</strong> sprachen von ihm als le Kaiser o<strong>der</strong> the Kaiser. Dieser<br />

Begriff sollte die ungewöhnlichen, neuartigen Eigenschaften<br />

o<strong>der</strong> auch nur auffälligen Oberflächenreize dieses Phänomens<br />

prägnant zusammenfassen. Für unmo<strong>der</strong>n wurde er nicht e<strong>in</strong>­


10 e<strong>in</strong>leitung<br />

e<strong>in</strong>leitung 11<br />

mal von denen gehalten, die ihn kritisierten. Die amerikanische<br />

Ideologie <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne und <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung, die sich<br />

nach 1945 <strong>in</strong> Europa, vor allem <strong>in</strong> Westdeutschland, durchsetzte,<br />

führte zu erheblichen Schwierigkeiten, sich von <strong>der</strong> durchaus<br />

verwirrenden Unübersichtlichkeit früherer Epochen überraschen<br />

zu lassen. Alles, was nicht <strong>in</strong> dies Konzept passte, wurde<br />

als halbmo<strong>der</strong>n, vormo<strong>der</strong>n o<strong>der</strong> antimo<strong>der</strong>n klassifiziert und<br />

ausdrücklich verdammt, weil solche Elemente den halbmo<strong>der</strong>nen,<br />

vormo<strong>der</strong>nen und antimo<strong>der</strong>nen Nationalsozialismus vor ­<br />

be reitet hätten. Von e<strong>in</strong>em endlich erreichten Ziel, dem Ziel<br />

<strong>der</strong> Geschichte und also vom Ende <strong>der</strong> Geschichte – <strong>der</strong> parlamentarischen<br />

Demokratie mit friedensstiften<strong>der</strong> Produktionsfreiheit,<br />

Handelsfreiheit und Konsumfreiheit, zur westlichen<br />

Wertegeme<strong>in</strong>schaft beziehungsreich überhöht –, wurde meist<br />

auf das Zeitalter des Wilhelm<strong>in</strong>ismus zurückgeblickt. Unter<br />

solchen Voraussetzungen mussten die »Defizite« <strong>in</strong> dieser Epoche<br />

beson<strong>der</strong>s auffallen und hervorgehoben werden, nicht zuletzt,<br />

damit auch <strong>der</strong> schlichteste Bundesrepublikaner se<strong>in</strong>en<br />

berechtigten Stolz aus dem Gefühl gew<strong>in</strong>nen konnte, wie herrlich<br />

weit »wir« es doch gebracht haben.<br />

Den Zeitgenossen des Kaisers und erst recht ihm selbst wurde<br />

oft genug vorgeworfen, nicht ungeduldig danach gestrebt<br />

zu haben, so schnell wie möglich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik anzukommen.<br />

Diesen Vorwurf kann man auch den Grün<strong>der</strong>n <strong>der</strong><br />

BRD machen: Konrad Adenauer, Theodor Heuss o<strong>der</strong> Kurt<br />

Schumacher, die ihre entscheidenden Bildungserlebnisse <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>kaiser</strong>lichen Zeit hatten. Erst recht den Grün<strong>der</strong>n <strong>der</strong> DDR:<br />

Wilhelm Pieck, Walther Ulbricht o<strong>der</strong> Otto Grotewohl. All<br />

diese alten o<strong>der</strong> älteren Herren kamen aus dem Wilhelm<strong>in</strong>ischen<br />

Deutschland und wollten auf den Trümmern e<strong>in</strong>er fragmentierten<br />

Nation e<strong>in</strong> neues Deutschland schaffen unter den<br />

Bed<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong>er nationalen Katastrophe, die sich um 1912<br />

ke<strong>in</strong>er vorstellen und schon gar nicht wünschen konnte. Die<br />

Mo<strong>der</strong>nität des Sozialismus wurde nie bestritten, auch nicht<br />

die des Zentrums als Volkspartei, von <strong>der</strong> die SPD lernte, wie<br />

man erfolgreich von <strong>der</strong> Wiege bis zum Sarg Massen organisiert.<br />

Liberalismus und Nation waren e<strong>in</strong>mal Zwill<strong>in</strong>ge. Doch<br />

Liberale fürchteten oft die Demokratie, während Sozialdemokraten<br />

sich aus Angst vor <strong>der</strong> Revolution mit <strong>der</strong> Monarchie<br />

arrangieren konnten.<br />

»Dem Westen«, <strong>der</strong> sich im »Großen Krieg« ideologisch<br />

und polemisch gegen Deutschland <strong>in</strong> Stellung brachte, fühlten<br />

sich Deutsche aller politischer Richtungen weit überlegen, weil<br />

<strong>in</strong> ihrem Reich <strong>der</strong> Rechtstaat sich zum Kulturstaat erweiterte<br />

und sich im Sozialstaat vollendete. Nach 1945 griffen Deutsche<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> BRD und <strong>in</strong> <strong>der</strong> DDR auf jeweils beson<strong>der</strong>e deutsche<br />

Überlieferungen zurück, die das neue Deutschland bewusst aus<br />

se<strong>in</strong>er Herkunft legitimierten. Der »rhe<strong>in</strong>ische Kapitalismus«,<br />

an dem Alt­Bundesrepublikaner hängen, war nur e<strong>in</strong>e konsequente<br />

Fortsetzung »<strong>wilhelm</strong><strong>in</strong>ischer« Ideen und Gesetze.<br />

Sehr ungern fragten die »Trizonesier« o<strong>der</strong> die Bewohner <strong>der</strong><br />

SBZ danach, wie <strong>wilhelm</strong><strong>in</strong>isch ihre Staaten noch waren, die<br />

ihnen rüstige Greise e<strong>in</strong>richteten. Theodor Heuss als reisen<strong>der</strong><br />

Festredner folgte dem <strong>kaiser</strong>lichen Beispiel, allem und jedem<br />

mit präsidialen Worten e<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>e Würde o<strong>der</strong> Aufmerksamkeit<br />

zu verschaffen. Seitdem wird e<strong>in</strong> schweigsamerer<br />

Präsident als Fehlbesetzung verstanden. Wilhelm Pieck und<br />

Walter Ulbricht wollten mit <strong>der</strong> Sozialistischen E<strong>in</strong>heitspartei<br />

Deutschlands das Vaterland o<strong>der</strong> die Nation vor Fraktionismus<br />

schützen, durchaus im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> <strong>kaiser</strong>lichen Ideen vom August<br />

1914, nur noch Deutsche zu kennen und alle Parteien mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

zu versöhnen beim Aufbau e<strong>in</strong>es neuen Deutschlands.<br />

Der gesamtdeutsche Dichter Thomas Mann blieb trotz vieler<br />

Wandlungen immer e<strong>in</strong> Repräsentant des Wilhelm<strong>in</strong>ischen<br />

Deutschlands, wie so viele Künstler, Professoren, Industriekapitäne<br />

o<strong>der</strong> Politiker. Gerade deshalb konnte er <strong>in</strong> <strong>der</strong> BRD und


12 e<strong>in</strong>leitung<br />

e<strong>in</strong>leitung 13<br />

<strong>der</strong> DDR wie e<strong>in</strong> Schutzheiliger <strong>der</strong> jeweils neuen Ordnung<br />

angerufen werden.<br />

Lovis Cor<strong>in</strong>th, e<strong>in</strong> Maler, den Kaiser Wilhelm II. überhaupt<br />

nicht mochte, fühlte sich als <strong>kaiser</strong>licher Deutscher. »Die Kunst,<br />

welche mir e<strong>in</strong>e große nationale Sache war, wird nun <strong>in</strong>ternational.<br />

Was bleibt da von den früheren Anschauungen?«, fragte er<br />

sich nach 1918. Richard Strauss war des Kaisers Generalmusikdirektor.<br />

Se<strong>in</strong>e Kompositionen missfielen Wilhelm II. Aber deswegen<br />

kam er doch nie auf den Gedanken, den berühmtes ten<br />

Komponisten Deutschlands zu entlassen. Richard Strauss blieb<br />

immer e<strong>in</strong> loyaler Beamter. Nach dem Sturz <strong>der</strong> Monarchie gab<br />

er se<strong>in</strong>e Stellung <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> auf. Zum Wilhelm<strong>in</strong>ismus gehören<br />

die mannigfachsten Gestalten o<strong>der</strong> Phänomene, die <strong>der</strong> Kaiser<br />

gewähren ließ. Nicht Altes und Neues, Mo<strong>der</strong>n o<strong>der</strong> Vormo<strong>der</strong>n<br />

standen gegene<strong>in</strong>an<strong>der</strong>, beides vermischte sich. Auch <strong>der</strong><br />

Protest gegen die Mo<strong>der</strong>ne war ganz mo<strong>der</strong>n, weil e<strong>in</strong>e <strong>zeit</strong>gemäße<br />

Antwort auf irritierende Herausfor<strong>der</strong>ungen. Die Monarchie<br />

veranschaulichte diese Verschränkung. Sie ist e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>richtung<br />

aus dem alten Europa, das die Französische Revolution als<br />

veraltet verworfen hatte. Wilhelm II. versuchte, die Monarchie<br />

als e<strong>in</strong>e <strong>zeit</strong>gemäße Institution zu rechtfertigen und damit zu<br />

veranschaulichen, dass sie mehr als nur e<strong>in</strong>e gefällige Antiquität<br />

sei. Dabei waren Rückgriffe auf die Vergangenheit unvermeidlich,<br />

um <strong>der</strong> Monarchie im assoziationsreichen Spiel <strong>der</strong> Gegenwart<br />

Bedeutung zu verleihen und sie im Zusammenhang mit<br />

ihrer Vorgeschichte, <strong>der</strong> Geschichte zu verstehen.<br />

Das legte <strong>der</strong> Historismus nahe, e<strong>in</strong>e ganz mo<strong>der</strong>ne Methode<br />

und Welt­Anschauung, alles Werden aus dem Gewordenen<br />

zu begreifen, das <strong>in</strong> weiteres Werden übergeht. In <strong>der</strong><br />

Welt als Geschichte ist alles <strong>in</strong> dauern<strong>der</strong> Bewegung, weshalb<br />

Er<strong>in</strong>nerungszeichen den unsicher Gewordenen helfen sollten,<br />

nicht die Orientierung zu verlieren und sich nicht zu verirren.<br />

Kaiser Wilhelm II. reiste im Herbst 1898 <strong>in</strong>s Heilige Land,<br />

nach Paläst<strong>in</strong>a. Das war die Pilgerfahrt e<strong>in</strong>es Christen, aber e<strong>in</strong>es<br />

mo<strong>der</strong>nen Christen. Damals <strong>in</strong>teressierten sich zum ersten<br />

Mal seit dem Mittelalter die Europäer wie<strong>der</strong> für die historischen<br />

Stätten des Lebens und Wirkens Christi. Diese Neugier<br />

war unmittelbar mit <strong>der</strong> Absicht verknüpft, die Bibel zu historisieren<br />

und den geschichtlichen Jesus zu erkennen, ihn also<br />

zu entmythisieren. Wilhelm II. nahm lebhaften Anteil an <strong>der</strong><br />

Paläst<strong>in</strong>aforschung, <strong>der</strong>en Zentrum Berl<strong>in</strong> war. In Paläst<strong>in</strong>a, <strong>in</strong><br />

Jerusalem hatte sich im 11. Jahrhun<strong>der</strong>t um e<strong>in</strong> Hospiz <strong>der</strong> Johanniterorden<br />

gebildet. Nach se<strong>in</strong>er Auflösung wurde er 1852<br />

von Friedrich Wilhelm IV. neu gegründet. Er hatte 1890 rund<br />

3000 Mitglie<strong>der</strong>. Der Johanniterorden unterhielt 42 Krankenhäuser<br />

<strong>in</strong> Europa. 1898 weihte Wilhelm II. die Erlöserkirche <strong>in</strong><br />

Jerusalem e<strong>in</strong>, die er dem Johanniterorden übergab, <strong>der</strong> an se<strong>in</strong>em<br />

Ursprungsort wie<strong>der</strong> se<strong>in</strong>e sozialen und karitativen Dienste<br />

aufnehmen konnte.<br />

Der letzte Kaiser, <strong>der</strong> <strong>in</strong> Jerusalem weilte, war <strong>der</strong> Staufer<br />

Friedrich II. Er kam als Krieger 1228, beendete über Verhandlungen<br />

erfolgreich den 5. Kreuzzug und ließ sich <strong>in</strong> Jerusalem<br />

krönen. Friedrich II. hatte die heiligen Stätten den Christen<br />

gesichert. Wilhelm II., <strong>der</strong> später <strong>in</strong> Bethlehem die Geburtskirche<br />

errichten ließ, durchdrang auf friedliche Weise das Gelobte<br />

Land. »Und es begann im Herbst 1898 e<strong>in</strong> neuer, e<strong>in</strong>zigartiger<br />

Kreuzzug unter dem Zeichen des Friedens und <strong>der</strong> versöhnenden<br />

Liebe«, wie Deutsche das Ereignis deuteten. Die Staufer<br />

gehörten im Übrigen zum neuen Kaiser­ und Reichsgedanken.<br />

König und Kaiser Weißbart – Wilhelm I. – vollendete, worauf<br />

Kaiser Rotbart – Friedrich Barbarossa – im Kyffhäuser durch<br />

die Jahrhun<strong>der</strong>te gewartet hatte: die deutsche E<strong>in</strong>heit. In diesem<br />

S<strong>in</strong>ne benutzte Wilhelm II. gerne staufische Bauformen,<br />

um das geschichtslose junge Kaisertum <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e tiefe, prächtige<br />

Perspektive zu rücken. Wie Friedrich II. e<strong>in</strong>st mit dem Sultan<br />

Salad<strong>in</strong> fast freundschaftlich verkehrte und für den Frieden


14 e<strong>in</strong>leitung<br />

e<strong>in</strong>leitung 15<br />

sorgte, so beteuerte Wilhelm II. nun dem Sultan Abdulhamid<br />

und 300 Millionen Mohammedanern, zu allen Zeiten ihr<br />

Freund zu se<strong>in</strong>.<br />

Damit for<strong>der</strong>te er ke<strong>in</strong>eswegs politisch die Englän<strong>der</strong> heraus.<br />

Er er<strong>in</strong>nerte sie höchstens an Toleranz und Großherzigkeit,<br />

die sie, wie auch die Amerikaner, gerade den Mohammedanern<br />

gegenüber nicht son<strong>der</strong>lich beachteten. Wilhelm II. stellte sich<br />

h<strong>in</strong>gegen <strong>in</strong> die Reihe se<strong>in</strong>er Vorfahren, die ihre Untertanen<br />

zu Religionsfreiheit und Toleranz angehalten hatten. Da das<br />

Heilige Land auch dem Volke Israel heilig war, wollte er sich<br />

für Theodor Herzls Idee e<strong>in</strong>es Judenstaates <strong>in</strong> Paläst<strong>in</strong>a verwenden.<br />

Doch <strong>der</strong> Sultan lehnte solche Vorstellungen entschieden<br />

ab, sodass Wilhelm II. nichts für die Zionisten zu erreichen<br />

vermochte. Er war sich bewusst, viele Antisemiten zu irritieren,<br />

wenn er mit Herzl sympathisierte: »Dass die Juden den<br />

Heiland umgebracht, das weiß <strong>der</strong> liebe Gott noch besser wie<br />

wir und er hat sie demgemäss bestraft. Aber we<strong>der</strong> die Antisemiten,<br />

noch An<strong>der</strong>e noch ich s<strong>in</strong>d von Ihm beauftragt und<br />

bevollmächtigt, diese Leute nun auch noch auf unsere Manier<br />

zu kujonieren <strong>in</strong> Majorem Dei Gloriam.«<br />

Das Beispiel <strong>der</strong> Paläst<strong>in</strong>areise zeigt, wie sehr Wilhelm II.<br />

e<strong>in</strong> »kollektives Wesen« ist, wie se<strong>in</strong> Denken und Handeln gerade<br />

nicht von eigenwilligen Impulsen gelenkt wird, son<strong>der</strong>n<br />

auf Komb<strong>in</strong>ationen beruht, die um ihn herum angestellt wurden<br />

und denen er zu genügen hatte. Se<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>bildungskraft<br />

half ihm meistens, allen möglichen Erwartungen zu genügen.<br />

Trotz zuweilen heftiger Kritik wurden die Deutschen ihres<br />

Kaisers ke<strong>in</strong>eswegs überdrüssig. Bei den Feiern zum Re gierungs<br />

jubi läum 1913 waren sich doch die meisten mit dem Leipziger<br />

Kulturhistoriker Karl Lamprecht e<strong>in</strong>ig, dass Wilhelm II.<br />

gerade wegen se<strong>in</strong>er »Reizsamkeit«, sich auf neue Ideen e<strong>in</strong>zulassen<br />

und ke<strong>in</strong> geistiges Wagnis zu scheuen, se<strong>in</strong>e Aufgaben<br />

als mo <strong>der</strong>ner Herrscher brillant erfüllte. Der Englän<strong>der</strong> Fredric<br />

William Wile schrieb damals über ihn: »Was immer auch Mars<br />

an Lorbeeren für ihn <strong>in</strong> Bereitschaft hält, hat <strong>der</strong> Kaiser doch<br />

e<strong>in</strong> Vierteljahrhun<strong>der</strong>t friedlich regiert, ruhmreich durch die<br />

Errungenschaften e<strong>in</strong>er durchgeistigten und emsigen Kulturarbeit.<br />

Die ganze Welt, fasz<strong>in</strong>iert durch se<strong>in</strong>e wandlungsfähige<br />

und <strong>in</strong>teressante Persönlichkeit, ist daran gewöhnt, dem Kaiser<br />

das ausschließliche Verdienst an dem fabelhaften Aufschwung<br />

des Vaterlandes zur Weltmacht zuzuschreiben. Als Generaldirektor<br />

<strong>der</strong> Firma Deutschland G.m.b.H hatte Wilhelm II.<br />

e<strong>in</strong>e schwere Rolle zu spielen, und er hat sich se<strong>in</strong>er Aufgabe<br />

mit em<strong>in</strong>entem Erfolge entledigt.«<br />

Die 25 Jahre von 1888 bis 1913 gehören neben <strong>der</strong> Reformations<strong>zeit</strong><br />

und <strong>der</strong> »Goethe<strong>zeit</strong>« zu den großartigsten Epochen<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> neueren deutschen Geschichte, <strong>in</strong> den Wissenschaften,<br />

den Künsten, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Technik und Wirtschaft. Das ist nicht das<br />

alle<strong>in</strong>ige Verdienst des Kaisers. Aber er hielt ke<strong>in</strong>e Entwicklung<br />

auf, ließ viel zu, regte an o<strong>der</strong> ließ sich anregen und nach<br />

anfänglichem Schwanken überzeugen. Insofern werden diese<br />

glänzenden Jahre unter se<strong>in</strong>em Namen zu Recht zusammengefasst.<br />

Denn er war <strong>der</strong> Ausdruck <strong>der</strong> öffentlichen Seele, <strong>der</strong><br />

kollektiven Kultur <strong>der</strong> Deutschen. Als sie nach dem verlorenen<br />

Krieg mit sich selbst ha<strong>der</strong>ten, mussten sie deshalb an dem<br />

Kaiser verzweifeln, mit dem sie geme<strong>in</strong>sam verunglückten.<br />

Das liegt nun lange zurück. Die Geschichte ist e<strong>in</strong>e Sphäre<br />

des Unberechenbaren, wie Goethe beobachtete. Sie zeigt sich<br />

dem menschlichen Auge als Zeit, als unablässig verän<strong>der</strong>liche:<br />

»Und dann ist die Zeit e<strong>in</strong> wun<strong>der</strong>lich D<strong>in</strong>g. Sie ist e<strong>in</strong> Tyrann,<br />

<strong>der</strong> se<strong>in</strong>e Launen hat und <strong>der</strong> zu dem, was e<strong>in</strong>er sagt<br />

und tut, <strong>in</strong> jedem Jahrhun<strong>der</strong>t e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es Gesicht macht. […]<br />

Was Shakespeares kräftigen Mitmenschen durchaus anmutete,<br />

kann <strong>der</strong> Englän<strong>der</strong> von 1820 nicht mehr ertragen, sodass <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> neuesten Zeit e<strong>in</strong> Family­Shakespeare e<strong>in</strong> gefühltes Bedürfnis<br />

wird.«


16<br />

e<strong>in</strong>leitung<br />

Außerdem, erklärte Goethe, gebe die Zeit, <strong>in</strong> ewigem Fortschreiten<br />

begriffen, allen menschlichen D<strong>in</strong>gen unentwegt<br />

e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Gestalt, sodass e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>richtung, die um 1800 e<strong>in</strong>e<br />

Vollkommenheit war, schon um 1850 vielleicht e<strong>in</strong> Gebrechen<br />

und höchst unzulänglich se<strong>in</strong> werde. Da sich die Zeiten än<strong>der</strong>n,<br />

müsse <strong>in</strong> regelmäßigen Abständen die Geschichte umgeschrieben<br />

werden. Denn <strong>der</strong> Lebende legt sie sich unter an<strong>der</strong>en<br />

Gesichtspunkten zurecht, die ihm se<strong>in</strong>e Zeit eröffnen. Unter<br />

Gesichtspunkten, die ihm ke<strong>in</strong>e moralische Überlegenheit erlauben,<br />

es ihm aber gestatten, sich auf e<strong>in</strong>e jeweilige Art historisch<br />

gewordenen Gestalten anzunähern, um sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Welt<br />

von Gestern <strong>in</strong> ihren Beziehungen zu ihren Zeitgenossen zu<br />

beobachten und sich verständlich machen zu können.<br />

<strong>ii</strong>i. <strong>der</strong> junge <strong>kaiser</strong> und die alten herren


egierungsantritt<br />

133<br />

Am 15. Juni 1888 starb Kaiser Friedrich III. Das Wesen <strong>der</strong><br />

Monarchie, ihre Größe gegenüber <strong>der</strong> Republik, liegt<br />

doch dar<strong>in</strong>, wie He<strong>in</strong>rich von Treitschke bei dieser Gelegenheit<br />

bemerkte, dass sie menschlicherweise auf e<strong>in</strong>e sehr lange Zukunft<br />

rechnen kann. Die ruhige Ordnung <strong>der</strong> D<strong>in</strong>ge, unterbrochen<br />

durch den Tod zweier Kaiser, stellte sich wie<strong>der</strong> her. Der<br />

junge <strong>kaiser</strong>liche Herr gelobte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er ersten Adresse an se<strong>in</strong><br />

Volk am 18. Juni, e<strong>in</strong> gerechter und mil<strong>der</strong> Fürst zu se<strong>in</strong>, Gottesfurcht<br />

und Frömmigkeit zu pflegen, den Frieden zu schirmen,<br />

die Wohlfahrt des Reiches zu för<strong>der</strong>n, den Armen und<br />

Bedrängten e<strong>in</strong> Helfer und dem Rechte e<strong>in</strong> treuer Wächter zu<br />

se<strong>in</strong>. »Es s<strong>in</strong>d Worte, die <strong>in</strong> jedem Preußenherz ihren Wi<strong>der</strong>hall<br />

f<strong>in</strong>den. Das ist die alte Sprache des Staates, dessen dreifache<br />

Losung e<strong>in</strong>st Boyen mit den Worten bezeichnete: Recht, Licht<br />

und Schwert«, versicherte Treitschke se<strong>in</strong>en Studenten: »Wir<br />

wissen jetzt, dass <strong>der</strong> gute Geist <strong>der</strong> <strong>wilhelm</strong><strong>in</strong>ischen Zeiten<br />

dem Reiche unverloren bleibt.« Ganz im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> alten monarchischen<br />

Devise dignitas non moritur, die Krone ist unsterblich,<br />

das Amt steht über den unbeständigen Zeiten, durfte die Welt<br />

erfahren, »dass <strong>der</strong> deutsche Kaiser nicht stirbt, wer immer se<strong>in</strong>e<br />

Krone tragen mag«. Die Jugend des Kaisers erlaubte es, mit<br />

e<strong>in</strong>er langen Zukunft rechnen zu dürfen.<br />

Der Historiograph Preußens drückte feierlich aus, was die<br />

meisten Deutschen fühlten. In Preußen wie im übrigen Reich<br />

brachen Tage froher Erwartung an. Friedrich III. wurde überhaupt<br />

nicht vermisst. Während <strong>der</strong> langen Jahre des unruhigen<br />

Abwartens, des trüben Stilllebens im Potsdamer Neuen Palais<br />

»verlor <strong>der</strong> Kronpr<strong>in</strong>z zuweilen die Fühlung mit <strong>der</strong> gewaltig<br />

aufstrebenden Zeit und konnte ihren neuen Gedanken nicht<br />

mehr recht folgen«, resümierte He<strong>in</strong>rich von Treitschke – kaum<br />

noch die gebotene Pietät wahrend – verbreitete E<strong>in</strong>wände, die<br />

es nahelegten, die Trauer nicht zu übertreiben. An Wilhelm II.<br />

fiel se<strong>in</strong>e Jugend auf wie e<strong>in</strong> Versprechen von Kraft und Mut,


134 <strong>der</strong> junge <strong>kaiser</strong> und die alten herren<br />

regierungsantritt<br />

135<br />

denn »feurig und tatkräftig« wünschten sich die Deutschen ihren<br />

Herrscher. Dabei war er mit 29 Jahren gar nicht auffällig<br />

jung. König<strong>in</strong> Viktoria und Kaiser Franz Joseph waren 18, als<br />

sie die Regierung 1837 beziehungsweise 1848 antraten, Kaiser<br />

Nikolaus I. von Russland war 28 Jahre alt bei <strong>der</strong> Krönung im<br />

Jahre 1825. Die Witwe Ferd<strong>in</strong>ands VII. von Spanien, Maria<br />

Christ<strong>in</strong>a, übernahm mit 27 Jahren 1833 die Regentschaft für<br />

ihre Tochter Isabella II., die Witwe Alfons’ XII.; Maria Christ<strong>in</strong>a,<br />

e<strong>in</strong>e geborene Erzherzog<strong>in</strong>, führte mit 27 Jahren seit 1885<br />

für den m<strong>in</strong><strong>der</strong>jährigen Alfons XIII. die Geschäfte. Als Georg I.<br />

1863 zum König <strong>der</strong> Hellenen gewählt wurde, war er 18, <strong>der</strong><br />

katholische Hohenzoller Karl, den die Rumänen 1866 zu ihrem<br />

Großfürsten Carol bestimmten, 27, Pedro V. von Portugal hatte<br />

bei se<strong>in</strong>em Regierungsantritt 1855 das 18. Lebensjahr erreicht,<br />

se<strong>in</strong> Bru<strong>der</strong> Luis folgte ihm 1861 mit 23 Jahren nach. König<strong>in</strong><br />

Wilhelm<strong>in</strong>a <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>lande trat die Regierung 1898 ebenfalls<br />

mit 18 an, Nikolaus II. 1894 mit 26 und Alexan<strong>der</strong> von Battenberg<br />

begann se<strong>in</strong>e großfürstliche Epoche 1879 mit 22 Jahren.<br />

E<strong>in</strong> junger Monarch war also durchaus nicht ungewöhnlich.<br />

Jung wirkte Wilhelm II. allerd<strong>in</strong>gs im Vergleich zu den fürstlichen<br />

Rauschebärten <strong>in</strong> Bayern, Württemberg o<strong>der</strong> Baden und<br />

den alten bis uralten Beamten, Offizieren und Abgeordneten.<br />

Das Deutsche Reich, <strong>in</strong> dem durch die E<strong>in</strong>igung ungeme<strong>in</strong>e<br />

Energien freigesetzt worden waren, e<strong>in</strong> neues Deutschland zu<br />

schaffen, wurde von Greisen regiert und verwaltet. Die Achtundvierziger,<br />

ganz gleich auf welcher Seite <strong>der</strong> Barrikade sie<br />

e<strong>in</strong>st gestanden haben mochten, feierten sich nach e<strong>in</strong>em langen<br />

Marsch durch die Institutionen als Gründungsheroen des<br />

konstitutionellen, e<strong>in</strong>igen und freiheitlichen Deutschland und<br />

kamen sich dementsprechend unersetzlich vor. Um den Nachwuchs<br />

hatten sie sich nicht son<strong>der</strong>lich gekümmert. Die Jugend,<br />

<strong>der</strong> das Reich zur Selbstverständlichkeit geworden war, verlangte<br />

nach neuen Ideen; <strong>in</strong>sofern setzte sie ihre Hoffnungen<br />

<strong>in</strong> Wilhelm II. Da jung auch e<strong>in</strong>en despektierlichen Nebenton<br />

haben konnte, wurde das Adjektiv »jugendlich« ersonnen, um<br />

die Beson<strong>der</strong>heit des Kaisers treffend und positiv zu charakterisieren.<br />

Jugendlich wirkte se<strong>in</strong> Temperament, die Unbefangenheit<br />

<strong>in</strong> mühelosem Umgang mit je<strong>der</strong>mann, die unverkrampfte<br />

Freude an festlichen Lebensformen, an Sport, Spiel, Kameradschaft<br />

und unkomplizierter Geselligkeit. Se<strong>in</strong>e schlanke, sportliche<br />

Figur, selten sitzend, stets <strong>in</strong> Bewegung, die lebhaften<br />

Gesten beim Reden, die Zigarette zwischen den F<strong>in</strong>gern, <strong>der</strong><br />

Verzicht auf den Vollbart, modische Verspieltheiten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gar<strong>der</strong>obe,<br />

auch bei Uniformen, unterschieden Wilhelm von den<br />

feierlichen alten Herren und machten ihn zu e<strong>in</strong>em Zeitgenossen<br />

des jungen Deutschland mit den überfe<strong>in</strong>en Nerven <strong>der</strong><br />

gleichwohl Spätgeborenen.<br />

Se<strong>in</strong> ungewöhnlicher Schnurrbart, den er sich alsbald zulegte,<br />

war e<strong>in</strong> durch und durch mo<strong>der</strong>nes Accessoire <strong>der</strong> Stilisierung.<br />

Diego Velázquez begeisterte damals Maler, Kunstkenner<br />

und Kunsthistoriker. Philipp IV. von Spanien, <strong>der</strong> König »dieses<br />

Malers, wenn es je e<strong>in</strong>en gab«, wie <strong>der</strong> Bonner Professor Carl<br />

Justi den Spanier pries, mit dem er sich ausdauernd beschäftigte,<br />

trug diesen aufgezwirbelten Schnurrbart. Velázquez glich sich<br />

ihm an. Für ihn, zuletzt Oberhofmarschall Philipps IV., war<br />

Königsdienst e<strong>in</strong> Gottesdienst. Er malte nur, wenn <strong>der</strong> König es<br />

befahl, und dann fast nur Porträts <strong>der</strong> Majestäten o<strong>der</strong> Infanten.<br />

Der Schnurrbart des Kaisers, e<strong>in</strong>e modische Arabeske, zeigte,<br />

dass er geschmacklich auf <strong>der</strong> Höhe <strong>der</strong> Zeit war. Zugleich<br />

gab er damit e<strong>in</strong>en H<strong>in</strong>weis auf die Idee des Königtums, von<br />

<strong>der</strong>en Macht Velázquez wie se<strong>in</strong> Herrscher überwältigt waren.<br />

Wilhelm Maurenbrecher hatte den Pr<strong>in</strong>zen Wilhelm auch mit<br />

den klugen Königen Spaniens vertraut gemacht. Die Fähigkeit<br />

Wilhelms II., mit beziehungsreichen Assoziationen zu spielen,<br />

machte ihn von vornhere<strong>in</strong> <strong>in</strong>teressant <strong>in</strong> <strong>der</strong> Epoche des Interessanten.<br />

E<strong>in</strong>e europäische Figur war Ludwig II. von Bayern


136 <strong>der</strong> junge <strong>kaiser</strong> und die alten herren<br />

regierungsantritt<br />

137<br />

geworden – 1887 tödlich verunglückt am o<strong>der</strong> im Starnberger<br />

See –, <strong>der</strong> souverän <strong>in</strong> den Reichen se<strong>in</strong>er Phantasie herrschte.<br />

Verla<strong>in</strong>e erhöhte diesen königlichen Künstler, <strong>der</strong> wie Achill<br />

am Skäischen Tor fallend se<strong>in</strong> Schicksal erfüllte, feierlich zum<br />

Opfer e<strong>in</strong>er schnöden Welt <strong>der</strong> Zwecke und <strong>der</strong> Vernutzung.<br />

Ludwig II. und das Königtum waren so gesehen e<strong>in</strong> Symbol für<br />

die Tatsache, dass <strong>in</strong> den dürftigen Zeiten <strong>der</strong> Industrialisierung<br />

auch das Schöne sterben muss, die souveräne Kunst erniedrigt<br />

wird wie <strong>der</strong> souveräne König, <strong>der</strong> vielleicht noch herrschen,<br />

aber auf ke<strong>in</strong>en Fall mehr regieren darf.<br />

Der König und Kaiser Wilhelm II. wollte sich nicht mit<br />

symbolischem Ästhetizismus begnügen. Preußen hatte das<br />

Reich geschaffen. Der König von Preußen war <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zige Souverän<br />

im Reich und deshalb Deutscher Kaiser. Am 25. Juni 1888<br />

versammelten sich zur Eröffnung des Reichstages im Weißen<br />

Saal des Berl<strong>in</strong>er Schlosses die »Reichsboten«, die Abgeordneten,<br />

und die Bundesfürsten. Dieser Akt ersetzte die <strong>in</strong> Preußen<br />

ohneh<strong>in</strong> unübliche Krönung o<strong>der</strong> festliche Inthronisation.<br />

Der Regierungsantritt des Kaisers war also mit e<strong>in</strong>igen Tropfen<br />

demokratischen Öls versehen, die Ludwig Uhland 1848 für<br />

unentbehrlich hielt im mo<strong>der</strong>nen Königtum. Gleichsam vor<br />

dem deutschen Volke legte <strong>der</strong> Deutsche Kaiser e<strong>in</strong> Bekenntnis<br />

zur Verfassung ab und zu se<strong>in</strong>er vornehmsten Pflicht, diese<br />

zu wahren und vor allem die Rechte <strong>der</strong> Mitbestimmung zu<br />

achten, die sie den beiden gesetzgebenden E<strong>in</strong>richtungen, dem<br />

Bundesrat und dem Reichstag, und damit <strong>in</strong>direkt jedem Deutschen,<br />

e<strong>in</strong>räumte. Se<strong>in</strong> Großvater Wilhelm I. hatte mit <strong>der</strong> sozialpolitischen<br />

Botschaft vom November 1881 Wege gewiesen,<br />

die <strong>in</strong>neren Wi<strong>der</strong>sprüche <strong>der</strong> gesellschaftlichen Verfassung zu<br />

mil<strong>der</strong>n und gerade <strong>der</strong> arbeitenden Bevölkerung Schutz zu<br />

gewähren vor Ungerechtigkeiten und Benachteiligung: »Ich<br />

hoffe, dass es gel<strong>in</strong>gen werde, auf diesem Wege <strong>der</strong> Ausgleichung<br />

ungesun<strong>der</strong> gesellschaftlicher Gegensätze näherzukom­<br />

men, und hege die Zuversicht, dass ich zur Pflege <strong>der</strong> <strong>in</strong>neren<br />

Wohlfahrt die e<strong>in</strong>hellige Unterstützung aller treuen Anhänger<br />

des Reiches und se<strong>in</strong>er verbündeten Regierungen f<strong>in</strong>den werde,<br />

ohne Trennung nach geson<strong>der</strong>ter Parteistellung. Ebenso aber<br />

halte ich es für geboten, unsere staatliche und gesellschaftliche<br />

Entwicklung <strong>in</strong> den Bahnen <strong>der</strong> Gesetzlichkeit zu erhalten<br />

und allen Bestrebungen, welche den Zweck und die Wirkung<br />

haben, die staatliche Ordnung zu untergraben, mit Festigkeit<br />

entgegenzutreten.«<br />

Die von Fürst Bismarck entworfene Thronrede Kaiser Wilhelms<br />

II. rückte die soziale Frage <strong>in</strong> den Mittelpunkt. Die Sozial<strong>politik</strong><br />

wurde mit H<strong>in</strong>weis auf Wilhelm I. <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Tradition<br />

gestellt, die es vorsichtig weiterzuführen galt, um die Arbeiter<br />

zu beruhigen, für den Staat zu gew<strong>in</strong>nen und von <strong>der</strong> Sozialdemokratie<br />

abzulenken. In wohlabgewogenen Sätzen verknüpfte<br />

<strong>der</strong> Reichskanzler die politische Absicht des Kaisers, e<strong>in</strong> Roi de<br />

gueux, e<strong>in</strong> König <strong>der</strong> Armen zu se<strong>in</strong>, mit se<strong>in</strong>er Politik, die Sozialdemokratie<br />

zu unterdrücken. Der Kaiser misstraute – trotz<br />

se<strong>in</strong>er Ungeduld mit sozialistischen Tendenzen – e<strong>in</strong>er ausschließlich<br />

repressiven Politik, seit die Sozialistengesetze <strong>der</strong>en<br />

Erfolglosigkeit bewiesen hatten. Bismarck dagegen hielt weitere<br />

Reformen für e<strong>in</strong> Zeichen <strong>der</strong> Schwäche, für Zugeständnisse an<br />

den Reichs­ und Gesellschaftsfe<strong>in</strong>d, <strong>der</strong> umso begehrlicher würde,<br />

je verständnisvoller man auf se<strong>in</strong>e For<strong>der</strong>ungen e<strong>in</strong>g<strong>in</strong>ge.<br />

Im Zuge <strong>der</strong> deutschen E<strong>in</strong>igung hatte Bismarck vorübergehend<br />

mit Lassalle und den Sozialdemokraten kokettiert. Noch<br />

1881 hatte er im S<strong>in</strong>ne Wilhelms I. <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Botschaft zur sozialen<br />

Frage den Kaiser sagen lassen, dass »die Heilung <strong>der</strong> sozialen<br />

Schäden nicht ausschließlich im Wege <strong>der</strong> Repression<br />

<strong>der</strong> sozialdemokratischen Ausschreitungen, son<strong>der</strong>n gleichmäßig<br />

auf dem <strong>der</strong> positiven För<strong>der</strong>ung des Wohles <strong>der</strong> Arbeiter<br />

zu suchen se<strong>in</strong> werde«. Damals wurden die Alters­, Invaliditäts­<br />

und Krankenkassen gegründet, damals begann jene Sozial


138 <strong>der</strong> junge <strong>kaiser</strong> und die alten herren<br />

soziale gerechtigkeit als leitstern<br />

139<br />

<strong>politik</strong>, die den Opfern ungehemmter Wirtschaftsfreiheit e<strong>in</strong>e,<br />

wenn auch noch sehr bescheidene, Sicherheit versprach. Kaiser<br />

Wilhelm I. sah sie durchaus im E<strong>in</strong>klang mit Überlieferungen<br />

se<strong>in</strong>es Hauses, das von Gott e<strong>in</strong>gesetzte Königtum als e<strong>in</strong> Volkskönigtum<br />

aufzufassen, um dem »geme<strong>in</strong>en Mann« den Staat,<br />

dem alle zu dienen haben, nicht nur als e<strong>in</strong>e befehlende, son<strong>der</strong>n<br />

auch wohltätige Macht bemerkbar zu machen. Doch es<br />

mangelte Bismarck bald an Geduld und Phantasie, auf diesem<br />

Wege fortzuschreiten und den Elan <strong>der</strong> Sozialisten durch e<strong>in</strong>e<br />

umfassende Sozial<strong>politik</strong> auf den Staat h<strong>in</strong>zulenken o<strong>der</strong> <strong>der</strong>en<br />

revolutionären Geist auf diese Weise zum<strong>in</strong>dest zu dämpfen.<br />

soziale gerechtigkeit als leitstern<br />

Wilhelm II. vertraute darauf, die Emanzipation <strong>der</strong> Arbeiterschaft,<br />

die längst <strong>in</strong> vollem Gange war, ruhig fortzuentwickeln,<br />

wie se<strong>in</strong>e Vorfahren die Emanzipation des Bürgertums<br />

geför<strong>der</strong>t und den Bürger als Staatsbürger <strong>in</strong> den königlichen<br />

Staat e<strong>in</strong>gebunden hatten. In Analogie dazu hoffte <strong>der</strong> Kaiser,<br />

den Arbeiter aus se<strong>in</strong>er Staatsfremdheit dadurch herauszulösen<br />

und ihn dem Staats<strong>in</strong>teresse anzunähern, dass er eben den<br />

Staat nicht alle<strong>in</strong> als Zw<strong>in</strong>gherrn, son<strong>der</strong>n auch als Befreier<br />

und Beschützer erlebte. Fürst Bismarck sprach als Wirtschafts<strong>politik</strong>er<br />

vom Druck <strong>der</strong> Konkurrenz, von zu hohen Löhnen<br />

und Sozial abgaben, die es <strong>der</strong> deutschen Industrie erschwerten,<br />

sich im globalen Wettbewerb zu behaupten. Der Kaiser<br />

befand sich, von se<strong>in</strong>en Bonner Kathe<strong>der</strong>sozialisten o<strong>der</strong> dem<br />

christlich­ sozialen Adolf Stoecker vorgeprägt, im E<strong>in</strong>klang mit<br />

neuen Strömungen, die unter dem E<strong>in</strong>druck des Sozialismus an<br />

die Sozialpflichtigkeit des Eigentums er<strong>in</strong>nerten und die freie<br />

Wirtschaft e<strong>in</strong>er vom Staat ausgeübten sittlichen Kontrolle unterordnen<br />

wollten.<br />

Ist <strong>der</strong> Staat wie bei Hegel, <strong>der</strong> immer an den konkreten,<br />

den preußischen Staat dachte, die Wirklichkeit <strong>der</strong> sittlichen<br />

Idee, dann kann er als Rechts­ und Kulturstaat nicht darauf verzichten,<br />

sich zum Sozialstaat zu erweitern, <strong>in</strong> dem die überparteiliche<br />

Krone und die Bürokratie für soziale Gerechtigkeit sorgen.<br />

Es ist <strong>der</strong> Staat, <strong>der</strong> die Klassengegensätze abschwächt, <strong>der</strong><br />

mit gerechter Hand die Schwachen schützt, die unteren Klassen<br />

hebt und es ihnen ermöglicht, sich zu bilden. Gesetz und<br />

Recht, sozialer Ausgleich und e<strong>in</strong> sich ergänzendes Bildungssys<br />

tem von <strong>der</strong> Volksschule über die höheren Lehranstalten bis<br />

zur Universität schaffen den Sozialstaat, <strong>in</strong> dem je<strong>der</strong> zu se<strong>in</strong>er<br />

höchsten Bestimmung gelangt, sich zum Menschen zu bilden.<br />

In diesem S<strong>in</strong>ne sahen die »Bildungssozialisten« – die Kathe<strong>der</strong>sozialisten,<br />

die Christlich­Sozialen o<strong>der</strong> die National­Sozialen<br />

um den Pfarrer Naumann – <strong>in</strong> <strong>der</strong> Arbeiterfrage e<strong>in</strong>e sittliche<br />

Frage. Sie alle vertrauten darauf, dass die Monarchie eher und<br />

besser als jede parlamentarische Parteiregierung zum sozialen<br />

Ausgleich und zur Verhütung des Klassenkampfes fähig sei.<br />

Dieser »Bourgeois­Sozialismus«, geprägt von Gustav von<br />

Schmoller über Lujo Brentano bis h<strong>in</strong> zu Werner Sombart,<br />

fand unter Professoren, Studenten, Pfarrern und Literaten zunehmende<br />

Aufmerksamkeit bei dem Bestreben, die Kluft zwischen<br />

den bürgerlichen Sozialreformern und den Arbeiterorganisationen<br />

zu überbrücken. Unterstützung boten <strong>der</strong> 1891 von<br />

Adolf von Harnack gegründete Evangelisch­Soziale Kongress<br />

und <strong>der</strong> Volksvere<strong>in</strong> für das Katholische Deutschland, aus dem<br />

die Anregungen für die Sozialenzyklika Rerum novarum kamen,<br />

die Papst Leo XIII. 1891 verkündete. Sie alle suchten e<strong>in</strong>en Dritten<br />

Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus und verwarfen<br />

die liberalen Schlagworte »Je<strong>der</strong> ist se<strong>in</strong>es Glückes Schmied«,<br />

»Wer will, <strong>der</strong> kann« o<strong>der</strong> »Freie Bahn dem Tüchtigen« als unzulängliche<br />

Phrasen. Es g<strong>in</strong>g gar nicht darum, den Liberalismus<br />

zu überw<strong>in</strong>den (auch <strong>der</strong> politische, antiliberale Katholizismus


140 <strong>der</strong> junge <strong>kaiser</strong> und die alten herren<br />

soziale gerechtigkeit als leitstern<br />

141<br />

brauchte die politisch­rechtlichen Errungenschaften und wollte<br />

auf sie ke<strong>in</strong>esfalls verzichten); es g<strong>in</strong>g lediglich darum, ihn zu<br />

zügeln mit e<strong>in</strong>er Wirtschaftsordnung, als <strong>der</strong>en Leitstern die soziale<br />

Gerechtigkeit leuchtete, wie sich Otto H<strong>in</strong>tze ausdrückte,<br />

e<strong>in</strong> preußischer Sozialhistoriker, <strong>der</strong> ebenfalls von den Vorzügen<br />

des monarchischen Konstitutionalismus überzeugt war.<br />

Die von vornhere<strong>in</strong> unterschiedlichen und mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

kaum zu vere<strong>in</strong>barenden Auffassungen Bismarcks und des<br />

Kais ers ergaben sich nicht e<strong>in</strong>fach aus verschiedenen Temperamenten,<br />

aus <strong>der</strong> Reizbarkeit des Alters o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Ungeduld <strong>der</strong><br />

Jugend. E<strong>in</strong>e neue Politik erweiterte die herkömmliche: e<strong>in</strong>e<br />

umfassende Sozial­ und Gesellschafts<strong>politik</strong>, <strong>der</strong>en Konzepte<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit dem Sozialismus und den sozialistischen<br />

Bewegungen gewonnen wurden. Hatte zwei Generationen<br />

früher liberales Gedankengut alle geistigen und gesellschaftlichen<br />

Bestrebungen e<strong>in</strong>gefärbt, so war es jetzt, zum<strong>in</strong>dest<br />

<strong>in</strong> Deutschland und unter dessen E<strong>in</strong>fluss auch <strong>in</strong> Österreich<br />

(nicht <strong>in</strong> Ungarn), <strong>der</strong> Sozialismus, <strong>der</strong> <strong>in</strong> mannigfachen Brechungen<br />

selbst Konservative aller Schattierungen erreichte und<br />

sie für e<strong>in</strong>e Symbiose von Preußentum und Sozialismus o<strong>der</strong> <strong>in</strong><br />

Österreich von Kirche, Krone und Volk erwärmte. An<strong>der</strong>s als<br />

<strong>der</strong> störrische, alte Bismarck glaubte, ließ sich <strong>der</strong> Sozialismus<br />

mit Gewalt nicht mehr unterdrücken. Als e<strong>in</strong>e tatsächlich sehr<br />

preußische Bewegung, verknüpft mit <strong>der</strong> Weimarer Klassik<br />

und <strong>der</strong> Philosophie des deutschen Idealismus, die beide von<br />

Berl<strong>in</strong> aus den Deutschen und dem übrigen Europa verkündet<br />

wurden, ließ er sich nicht mehr vollständig verdammen, was ja<br />

bedeutet hätte, auch Goethe und Hegel zu verwerfen, wozu<br />

nur leidenschaftlich bornierte Ultramontane, von denen es sehr<br />

wenige <strong>in</strong> Deutschland gab, bereit waren.<br />

Wilhelm II. scheiterte mit se<strong>in</strong>er Absicht, über erfolgreiche<br />

Sozialreformen die Anziehungskraft <strong>der</strong> Sozialdemokratie erheblich<br />

zu schwächen. Zu se<strong>in</strong>em Verdruss wurde sie während<br />

se<strong>in</strong>er Regierungs<strong>zeit</strong> zur stärksten Partei <strong>in</strong> Deutschland, die<br />

e<strong>in</strong>e revolutionäre Phraseologie pflegte, es sich aber <strong>in</strong>sgesamt<br />

unter dem Schutz sozialer Sicherheit und e<strong>in</strong>es bescheidenen<br />

Wohlstandes alsbald bequem machte. Als <strong>der</strong> Historiker Johannes<br />

Haller 1890 zum Studium nach Berl<strong>in</strong> kam, besuchte er<br />

sozialdemokratische Veranstaltungen. Wie viele junge Leute<br />

beschäftigte ihn die soziale Frage. Er sah e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Biergarten<br />

Arbeiter die Internationale s<strong>in</strong>gen und verlor dabei jede<br />

Furcht vor <strong>der</strong>en revolutionärem Eifer. Sie hatten nämlich e<strong>in</strong><br />

Lie<strong>der</strong>buch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hand: »Wer die Worte se<strong>in</strong>es Glaubensbekenntnisses<br />

nicht e<strong>in</strong>mal auswendig weiß und die Noten<br />

braucht, <strong>der</strong> wird nicht handeln.« 1898 sprach Kaiser Wilhelm<br />

gar nicht viel an<strong>der</strong>s <strong>in</strong> <strong>der</strong> Technischen Hochschule <strong>in</strong> Charlottenburg.<br />

Solche Institutionen <strong>der</strong> Wissenschaft und <strong>der</strong> Praxis<br />

hätten neben den technischen Aufgaben bedeutende soziale<br />

Aufgaben zu erfüllen. Doch <strong>in</strong> sozialer Beziehung würden sie<br />

aus Angst vor dem Sozialismus vollkommen versagen, wie er<br />

den versammelten Professoren vorwarf. Diese Angst sei völlig<br />

übertrieben: »Die Sozialdemokratie betrachte ich als e<strong>in</strong>e vorübergehende<br />

Ersche<strong>in</strong>ung; sie wird sich austoben.« Der Kaiser<br />

überschätzte nicht die Gefahren, die viele Bürger mit <strong>der</strong> Sozialdemokratie<br />

verbanden; deshalb beabsichtigte er auch nicht,<br />

sie zu verfolgen und zu unterdrücken. Graf Wal<strong>der</strong>see war es,<br />

<strong>der</strong> e<strong>in</strong> paar Jahre zuvor die Tatsache bedauert hatte, dass dieser<br />

Kaiser es niemals erlauben würde, auf Sozialdemokraten zu<br />

schießen trotz mancher markiger Worte.<br />

Der Kaiser, <strong>der</strong> immer wie<strong>der</strong> entschiedene Gesten machen<br />

musste, um ängstliche Bürger und Bourgeois­Aristokraten <strong>in</strong><br />

den Parteien zu beruhigen, die ihn unter Druck setzen wollten,<br />

spürte als hellwacher Redner, dass die Sozialdemokraten,<br />

<strong>in</strong>tegriert <strong>in</strong> die bürgerlich­parlamentarischen Rituale, nur<br />

noch Floskeln gebrauchten. Die Revolution und das mit ihr<br />

verbundene Gericht über Gut und Böse rückte wie das Ende


142 <strong>der</strong> junge <strong>kaiser</strong> und die alten herren<br />

soziale gerechtigkeit als leitstern<br />

143<br />

<strong>der</strong> Zeiten und das Jüngste Gericht bei den frühen Christen <strong>in</strong><br />

immer größere Ferne; sie wurde zur bloßen Idee, die Sozialdemokraten<br />

so wenig aufregte wie das Jüngste Gericht verbürgerlichte<br />

Christen. Aber die SPD war ke<strong>in</strong>e vorübergehende<br />

Ersche<strong>in</strong>ung, dar<strong>in</strong> irrte sich <strong>der</strong> Kaiser. Recht hatte er damit,<br />

dass sie als revolutionäre Kraft e<strong>in</strong> vorübergehendes, nicht<br />

mehr zu fürchtendes Phänomen war. Davon konnte er we<strong>der</strong><br />

verunsicherte Bourgeois­Aristokraten als Agrarunternehmer<br />

<strong>in</strong> Preußen noch die an<strong>der</strong>en Unternehmer o<strong>der</strong> bürgerlichen<br />

Aktienbesitzer überzeugen, die als Privatiers und Particuliers<br />

von Z<strong>in</strong>sesz<strong>in</strong>sen lebten. Die besserverdienenden Freunde <strong>der</strong><br />

Ordnung bekamen Schüttelfrost, sobald sie die Worte Vermögenssteuer,<br />

E<strong>in</strong>kommenssteuer o<strong>der</strong> Erbschaftssteuer hörten,<br />

Begriffe, die den Kaiser nicht e<strong>in</strong>schüchterten. Sie fürchteten<br />

sofort Sozialismus, weil sie soziale Gerechtigkeit für e<strong>in</strong> ideologisches<br />

und dazu noch unbezahlbares Vorurteil hielten, das die<br />

staatserhaltenden Klassen <strong>in</strong> den Ru<strong>in</strong> stürze.<br />

Die aufrichtigsten Anhänger <strong>der</strong> Monarchie, die e<strong>in</strong>e Republik<br />

möglichst vermeiden wollten, waren im Herbst 1918 die<br />

Sozialdemokraten Friedrich Ebert, Philipp Scheidemann und<br />

Gustav Noske. Die Politik, den Klassenkampf durch sozialen<br />

Ausgleich zu verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n, sollte sich also bewähren. Hätten <strong>der</strong><br />

Kaiser und se<strong>in</strong>e Berater gründlicher Friedrich Engels gelesen,<br />

wäre manches törichte Wort über die vaterlandslosen Gesellen<br />

erst recht völlig überflüssig gewesen. Engels hatte schon 1891<br />

klargemacht, dass <strong>der</strong> deutsche Arbeiter sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Krieg<br />

des Reiches mit Frankreich und Russland selbstverständlich für<br />

die Rettung des Vaterlandes schlagen werde: »Dann kämpft<br />

Deutschland e<strong>in</strong>fach um se<strong>in</strong>e Existenz.« Aber Deutschland<br />

ist dann auch <strong>der</strong> Kämpfer für die Freiheit, die Frankreich zusammen<br />

mit den Russen verrät. In <strong>der</strong> <strong>in</strong>ternationalen Arbeiterbewegung<br />

nimmt das sozialistische Deutschland »den vor<strong>der</strong>sten,<br />

den ehrenvollsten, den verantwortlichen Posten« e<strong>in</strong>;<br />

e<strong>in</strong> Krieg gegen Deutschland ist unter diesen Bed<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong><br />

Krieg gegen die stärkste und schlagfertigste sozialdemokratische<br />

Partei <strong>in</strong> Europa. Wird Deutschland von Ost und West<br />

angegriffen, geht es um die nationale Existenz und für die SPD<br />

um die Behauptung ihrer Position und Zukunft. Der Sozialismus<br />

ist ke<strong>in</strong> französisches Redekunstwerk mehr, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e<br />

ernste, deutsche Philosophie <strong>der</strong> Wirklichkeit. Darauf waren<br />

deutsche Sozialisten stolz, die zu vollenden hofften, was Schiller,<br />

Goethe und Hegel vorbereitet hatten. Es gab also genug<br />

Anknüpfungspunkte, um mit ihnen <strong>in</strong>s Gespräch zu kommen,<br />

wäre das Bürgertum, das sich als diskutierende Klasse versteht<br />

und Machtfragen möglichst <strong>in</strong> e<strong>in</strong> ewiges Gespräch auflösen<br />

möchte, se<strong>in</strong>er ureigenen Ideologie gefolgt.<br />

Fürst Bismarck war ke<strong>in</strong> Bürger. Er hielt es für selbstverständlich,<br />

dass e<strong>in</strong>e Institution o<strong>der</strong> Person berechtigt se<strong>in</strong> muss,<br />

das Gespräch zu unterbrechen o<strong>der</strong> zu beenden. Se<strong>in</strong> Kampf<br />

gegen den Sozialismus blieb <strong>in</strong>des so erfolglos wie se<strong>in</strong> Kampf<br />

gegen den Katholizismus. Der Kulturkampf gegen die Katholische<br />

Kirche musste ab 1878 e<strong>in</strong>gestellt werden; die gröbsten<br />

Schäden wurden nach und nach behoben. Nur ganz bornierte<br />

Konservative waren 1890 noch bereit, Gewalt für die beste<br />

Antwort auf die Sozialisten zu halten. Die Methode Bismarcks,<br />

<strong>in</strong>nere Gegner wie auswärtige Fe<strong>in</strong>de zu behandeln, sie zu<br />

bedrohen, zu isolieren und dann plötzlich Kompromisse mit<br />

ihnen zu schließen, wie mit den Katholiken praktiziert und<br />

<strong>in</strong> sanfteren Formen auch mit den Liberalen, erschien <strong>der</strong> jüngeren<br />

Generation, die sich von Wilhelm II. repräsentiert sah,<br />

immer fragwürdiger. Statt die <strong>in</strong>nere E<strong>in</strong>heit des Reiches zu<br />

vollenden, die sie und <strong>der</strong> Kaiser als die wichtigste geme<strong>in</strong>same<br />

Aufgabe begriffen, spaltete und trennte <strong>der</strong> Kanzler. Der<br />

brillante Diplomat verstand es nicht, Hannoveranern, Elsässern,<br />

Polen o<strong>der</strong> Dänen e<strong>in</strong>en angenehmen Platz im Reich<br />

zu verschaffen, <strong>der</strong> es ihnen erlaubte, <strong>in</strong> ihm zu bleiben, was


144 <strong>der</strong> junge <strong>kaiser</strong> und die alten herren<br />

soziale gerechtigkeit als leitstern<br />

145<br />

sie waren, und darüber e<strong>in</strong>e Loyalität zu Deutschland zu entwi<br />

ckeln. In e<strong>in</strong>em unvermeidlich konfessionell gespaltenen<br />

Reich verdächtigte Bismarck mehr als e<strong>in</strong> Drittel aller Deutschen,<br />

jesuitische Internationalisten zu se<strong>in</strong> und die deutschen<br />

Interessen im E<strong>in</strong>verständnis mit ihren grenzüberschreitenden<br />

katholischen Ges<strong>in</strong>nungsgenossen zu verraten. Liberale Freunde<br />

wissenschaftlicher Erleuchtung unterstützten ihn dabei. Die<br />

leidenschaftlichen Antijesuiten, wie die meisten Berl<strong>in</strong>er Professoren<br />

angeführt von Rudolf Virchow und Theodor Mommsen,<br />

witterten <strong>in</strong> jedem Katholiken e<strong>in</strong>en Dunkelmann.<br />

Der entfesselte Antiklerikalismus Bismarcks und <strong>der</strong> Liberalen,<br />

<strong>der</strong> hemmungslose Antisozialismus Bismarcks und <strong>der</strong><br />

Konservativen, aber auch <strong>der</strong> Nationalliberalen, diese resolute<br />

Abwehr <strong>in</strong>ternationaler Verschwörungen o<strong>der</strong> dessen, was man<br />

dafür hielt, bereitete dem Antisemitismus <strong>der</strong> Kle<strong>in</strong>bürger den<br />

Weg, die nun ihrerseits e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>ternationalen Fe<strong>in</strong>d, <strong>der</strong> sie zu<br />

bedrängen schien, auszuschalten gedachten. Deutschland war<br />

im Sommer 1888, als Wilhelm II. Kaiser wurde, e<strong>in</strong> unfriedliches,<br />

zersplittertes Reich, wegen des Kanzlers erbitterter und<br />

erfolgloser Feldzüge im Inneren und wegen e<strong>in</strong>es Konservativismus,<br />

<strong>der</strong> gar nicht wusste, was er eigentlich bewahren wollte,<br />

weil ihm alles auf e<strong>in</strong>mal unsympathisch war: <strong>der</strong> Liberalismus,<br />

<strong>der</strong> Katholizismus und <strong>der</strong> Sozialismus. Konservative zogen<br />

sich resigniert auf das Preußentum zurück, ohne sich aber über<br />

dessen Inhalt sicher zu se<strong>in</strong>, wenn <strong>der</strong> preußische König zugleich<br />

Deutscher Kaiser und <strong>der</strong> preußische M<strong>in</strong>isterpräsident<br />

auch Reichskanzler war. Kaiser Friedrich und se<strong>in</strong>e Frau, die<br />

Bismarck für e<strong>in</strong> Verhängnis hielten und die Juden, im Unterschied<br />

zu den Katholiken, für e<strong>in</strong> belebendes nationales Element,<br />

fürchteten die Jesuiten, die Sozialisten, die <strong>in</strong>ternationalen<br />

Mächte, aber nicht das <strong>in</strong>ternationale Kapital. Sie gehörten<br />

mit Bismarck, von dem sie sich nie hatten befreien können,<br />

weil sie von ihm gebannt waren gerade als dessen Fe<strong>in</strong>de, zu<br />

e<strong>in</strong>er überlebten Welt, <strong>der</strong>en Rezepte nichts mehr taugten. E<strong>in</strong><br />

junges Deutschland strebte h<strong>in</strong>aus aus den lähmenden Kontroverstheologien<br />

– auch <strong>der</strong> Liberalismus kann <strong>in</strong> trostloser Orthodoxie<br />

erstarren – und setzte alle Hoffnungen auf den Kaiser,<br />

den es sich zum »jugendlichen« Kaiser stilisierte, <strong>der</strong> versöhnend<br />

und nicht weiter spaltend wirken werde.<br />

Am 5. März 1890 hieß Wilhelm II. <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Rede vor den<br />

brandenburgischen Prov<strong>in</strong>zialständen jeden willkommen, wer<br />

auch immer es se<strong>in</strong> mochte, <strong>der</strong> ihm <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Regierungsaufgaben<br />

behilflich se<strong>in</strong> wolle: »Wer sich mir aber wi<strong>der</strong>setzt, den<br />

zerschmettere ich!« Diese Warnung o<strong>der</strong> Drohung richtete<br />

sich nicht gegen oppositionelle Kräfte schlechth<strong>in</strong>, etwa gegen<br />

die Sozialdemokraten, son<strong>der</strong>n unmittelbar gegen den Reichskanzler<br />

und dessen Sohn Herbert. Fürst Bismarck ließ sich davon<br />

nicht e<strong>in</strong>schüchtern. Aber trotzig verzichtete er auf jede<br />

Eleganz <strong>in</strong> <strong>der</strong> weiteren Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit dem Kaiser,<br />

was bestätigt, wie überrascht er war, auf e<strong>in</strong>en festen Willen<br />

zu stoßen, den er nicht brechen konnte, wie er beabsichtigt<br />

hatte. Wilhelm II. erwog anfänglich, Bismarck wenigstens als<br />

Außenm<strong>in</strong>ister zu behalten. Denn <strong>in</strong> <strong>der</strong> »großen Politik« gab<br />

es ke<strong>in</strong>e grundsätzlichen Differenzen zwischen beiden. Der<br />

Autokrat Bismarck, im Alter kaum noch bereit, auf den alten<br />

Kaiser Rücksicht zu nehmen, wäre allerd<strong>in</strong>gs gar nicht fähig gewesen,<br />

mit e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en Reichskanzler zusammenzuarbeiten,<br />

wie es an<strong>der</strong>erseits ke<strong>in</strong>em Kanzler zuzumuten gewesen wäre,<br />

diesen mittlerweile unberechenbaren, zornigen alten Mann<br />

zu ertragen, <strong>der</strong> es nicht gewöhnt war, sich e<strong>in</strong>em Kollegium<br />

e<strong>in</strong>zufügen o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>em Gesamtwillen zu beugen. Außerdem<br />

regten sich <strong>in</strong> den Organen <strong>der</strong> Reichsverwaltung und <strong>in</strong> den<br />

preußischen M<strong>in</strong>isterien unter dem E<strong>in</strong>druck <strong>der</strong> ersten Spannungen<br />

zwischen dem Kanzler und dem Kaiser <strong>der</strong> Freiheit<br />

ungeheuere Gefühle, und das hieß: e<strong>in</strong>em stürzenden Quälgeist<br />

nicht rettend beizuspr<strong>in</strong>gen.


146 <strong>der</strong> junge <strong>kaiser</strong> und die alten herren<br />

zwischen preussen und dem reich<br />

147<br />

zwischen preußen und dem reich<br />

Bismarck hielt die Idee des sozialen Königtums für die Effekthascherei<br />

e<strong>in</strong>es sentimentalen Schwärmers, <strong>der</strong> auf dem Thron<br />

nichts zu suchen habe – es sei denn, er würde sich e<strong>in</strong>er gründlichen<br />

Umerziehung fügen und die Scheu ablegen, unter Umständen<br />

auch die Verfassung zu brechen, um jene Elemente, die<br />

auf Umsturz sannen, e<strong>in</strong> für alle Male zu zerschmettern. Der<br />

Bruch war unvermeidlich. Wilhelm II. konnte dem Fürsten<br />

Bismarck am 20. März 1890 se<strong>in</strong> Vertrauen aber nur entziehen,<br />

weil er das preußische Kab<strong>in</strong>ett h<strong>in</strong>ter sich wusste und <strong>der</strong><br />

Kanzler im Reichstag über ke<strong>in</strong>e Mehrheit verfügte. Bismarck<br />

hatte sich überlebt. Mit e<strong>in</strong>em Anspruch Wilhelms, nun se<strong>in</strong><br />

eigener Kanzler zu se<strong>in</strong>, hatte die Entscheidung, Bismarck zu<br />

entlassen, nichts zu tun. Der König und Kaiser zog nur die notwendigen<br />

Konsequenzen aus e<strong>in</strong>er irreparablen Situation zur<br />

Erleichterung des preußischen Kab<strong>in</strong>etts, des Reichstags und<br />

<strong>der</strong> Öffentlichkeit. Die Berl<strong>in</strong>er feierten frenetisch den Entlassenen,<br />

aus Dankbarkeit für se<strong>in</strong>e Leistungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit,<br />

und sie jubelten begeistert auch dem Kaiser zu, wenn er<br />

sich unter ihnen zeigte, als Repräsentanten <strong>der</strong> ersehnten neuen<br />

Ära. In dem 1831 geborenen General Leo von Caprivi fand<br />

Wilhelm den unabhängigen, konzilianten und undoktr<strong>in</strong>ären<br />

Kanzler, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Politik <strong>der</strong> Versöhnung e<strong>in</strong>leiten konnte,<br />

ohne deshalb den Sozialismus zu verharmlosen. An<strong>der</strong>s als Bismarck<br />

hielt Caprivi nichts davon, die Sozialdemokraten nur zu<br />

bekämpfen, vielmehr, me<strong>in</strong>te er, müssten <strong>der</strong>en Gegner ihnen<br />

entgegenkommen. Dass er ke<strong>in</strong>e feste Mehrheit im Reichstag<br />

besaß, bekümmerte ihn nicht son<strong>der</strong>lich. Leo von Caprivi hielt<br />

es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em monarchischen Staat für ausgesprochen schädlich,<br />

wenn sich die Regierung immer auf dieselbe Parteienkonstellation<br />

stützte. Er zog es vor, das Gute zu nehmen, von welcher<br />

Seite auch immer es kam o<strong>der</strong> angeboten wurde.<br />

Das bedeutete für ihn, vor allem die Beziehungen zum<br />

Zentrum zu entspannen, die katholische Partei eben nicht<br />

mehr als Reichsfe<strong>in</strong>d zu behandeln, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> die politischen<br />

Komb<strong>in</strong>ationen mit e<strong>in</strong>zubeziehen. Diese Unbefangenheit erleichterte<br />

nicht gerade die Beziehungen zu den antiklerikalen<br />

Liberalen aller Schattierungen, auch nicht zu den Konservativen.<br />

Diese misstrauten weniger aus religiösen Gründen den<br />

Katholiken – auch sie bekannten sich zum christlichen Staat –,<br />

als vielmehr aus sozialen. Die Konservativen fürchteten im<br />

Zentrum e<strong>in</strong>e unzuverlässige Volkspartei. Denn die Agrarunternehmer<br />

verwechselten ihre wirtschaftlichen Interessen mit<br />

dem Allgeme<strong>in</strong>wohl, woran sie von den Sozial<strong>politik</strong>ern im<br />

Zentrum beharrlich er<strong>in</strong>nert wurden. Außerdem verloren jene<br />

angeblich staatstragenden Elemente sofort die Geduld mit dem<br />

zum Beamtenadel ohne Grundbesitz gehörenden Leo von Caprivi,<br />

<strong>der</strong> es nicht verschmähte, zuweilen auch auf die Stimmen<br />

<strong>der</strong> SPD zu rechnen. Die Konservativen erschraken heftig und<br />

fürchteten gleich das H<strong>in</strong>übergleiten <strong>in</strong> die Demokratie. Caprivi<br />

er<strong>in</strong>nerte sie dann daran, dass gerade im H<strong>in</strong>blick auf e<strong>in</strong>en<br />

künftigen Krieg, <strong>der</strong> lange dauern und wegen <strong>der</strong> neuen technischen<br />

Mittel gar nicht mehr mit den früheren zu vergleichen<br />

se<strong>in</strong> würde, die Krone und <strong>der</strong> Staat auf die entschlossene Mitarbeit<br />

des Volkes angewiesen seien, auf e<strong>in</strong>e Mitarbeit nicht nur<br />

<strong>der</strong> Hände – die kann zur Not erzwungen werden –, son<strong>der</strong>n<br />

auf e<strong>in</strong>e Mitarbeit, die sich Zustimmung und Loyalität verdankt.<br />

Re<strong>in</strong>e Konfrontation erschien ihm unfruchtbar, ja, unter<br />

solchen Gesichtspunkten verwerflich. E<strong>in</strong>en geme<strong>in</strong>samen<br />

nationalen Geist schätzte er als die sicherste Voraussetzung für<br />

die E<strong>in</strong>heit des Reiches und e<strong>in</strong>er volonté generale, die sich im<br />

Zusammenspiel von Regierung und Parteien im Parlament bei<br />

<strong>der</strong> Diskussion vieler Me<strong>in</strong>ungen bilden mochte.<br />

Um sich diesem Ziel erfolgreich annähern zu können,<br />

muss te allerd<strong>in</strong>gs <strong>der</strong> Monarch bereit se<strong>in</strong>, mit se<strong>in</strong>er Autorität


148 <strong>der</strong> junge <strong>kaiser</strong> und die alten herren<br />

zwischen preussen und dem reich<br />

149<br />

den von ihm ernannten Kanzler zu unterstützen bei <strong>der</strong> Bemühung,<br />

die erfor<strong>der</strong>lichen Mehrheiten zu f<strong>in</strong>den. Der Monarch<br />

konnte unter solchen Bed<strong>in</strong>gungen nicht nur zuschauen, wie<br />

<strong>der</strong> Kanzler se<strong>in</strong>es Vertrauens handelte. Er hatte gegebenenfalls<br />

e<strong>in</strong>zugreifen, damit sich e<strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong>er Wille forme, <strong>in</strong> dem<br />

sich die Reichse<strong>in</strong>heit e<strong>in</strong>drucksvoll bekundete, die er als Kaiser<br />

repräsentierte. Die Vielzahl <strong>der</strong> Parteien im Reichstag vermittelte<br />

e<strong>in</strong> Bild von Zwietracht und Une<strong>in</strong>igkeit. Caprivi dachte<br />

daher ke<strong>in</strong>eswegs an die weitere Parlamentarisierung des Reiches.<br />

Nicht vom zerstrittenen Reichstag war die Manifestation<br />

des geme<strong>in</strong>samen Willens zu erwarten, son<strong>der</strong>n die Regierung<br />

stellte ihn her, sie koord<strong>in</strong>ierte, vere<strong>in</strong>te und ermöglichte durch<br />

Druck o<strong>der</strong> Überredung die Kompromisse, <strong>in</strong> denen sich e<strong>in</strong><br />

überparteilicher Konsens ausdrückte. Kaiser und Reichskanzler,<br />

»die Krone« als S<strong>in</strong>nbild <strong>der</strong> E<strong>in</strong>tracht, überwanden die Wi<strong>der</strong>stände<br />

und Me<strong>in</strong>ungsverschiedenheiten, zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> <strong>der</strong> Idee.<br />

Mit den altliberalen Klischees vom Obrigkeitsstaat hatte das<br />

wenig zu tun. E<strong>in</strong>e Regierung gegen den Reichstag war praktisch<br />

unmöglich, zumal dem Gesetzgeber – Reichstag und Bundesrat<br />

– im Zuge des <strong>in</strong>neren Ausbaus des Reiches und des<br />

damit verbundenen Regelungsbedarfs wachsende Mitsprache<br />

e<strong>in</strong>geräumt werden musste.<br />

Die zähen Verhandlungen zwischen den Parteien, <strong>der</strong>en oft<br />

schroffe Interessenvertretung, die Mühen, zu e<strong>in</strong>em Ausgleich<br />

zu gelangen, bedeuteten nicht, dass das Reich aufgrund e<strong>in</strong>es<br />

unvollkommenen Parlamentarismus unregierbar gewesen wäre.<br />

Sie zeigten bloß, dass die Demokratisierung auch im monarchischen<br />

Deutschland das Regieren verän<strong>der</strong>te. Frankreich mochte<br />

e<strong>in</strong>e Republik se<strong>in</strong>, doch <strong>der</strong> unübersichtliche parlamentarische<br />

Alltag <strong>in</strong> <strong>der</strong> französischen Nationalversammlung unterschied<br />

sich überhaupt nicht von den Verhältnissen im Reichstag.<br />

E<strong>in</strong> gewisser Verdruss über die »Parteienwirtschaft« und die<br />

Abspra chen <strong>der</strong> »Bierbank<strong>politik</strong>er« im »Wallotbräu«, wie die<br />

Berl<strong>in</strong>er den Reichstag nannten, war ke<strong>in</strong> spezifisch deutsches<br />

Phänomen. Die französischen Parteien <strong>in</strong> <strong>der</strong> um 1890 noch<br />

nicht gefestigten Republik waren ke<strong>in</strong>eswegs angesehen. Sie<br />

galten als verantwortlich für Korruption, Misswirtschaft und<br />

Skandale, abhängig von Industriellen o<strong>der</strong> Bankiers, die sich<br />

ihre Abgeordneten kauften o<strong>der</strong> Wahlfälschungen veranlassten.<br />

In Italien gab es, im Gegensatz zu Deutschland, die parlamentarische<br />

M<strong>in</strong>isterverantwortlichkeit. Aber das italienische Parlament,<br />

von nur zwei Prozent <strong>der</strong> Bevölkerung gewählt, repräsentierte<br />

die kle<strong>in</strong>e Schicht <strong>der</strong> liberalen Bourgeoisie, die noch<br />

nicht e<strong>in</strong>mal zu heucheln versuchte, dass sie das Volk o<strong>der</strong> die<br />

Nation vertrete. Das wirkliche Leben sah oft an<strong>der</strong>s aus, als die<br />

politische Theorie glauben machte.<br />

Sämtliche Bürger Europas plagte die Angst vor dem Sozialismus.<br />

Nach Attentaten und Terroranschlägen wurde immer wie<strong>der</strong><br />

überlegt, wie man mit Son<strong>der</strong>gesetzen diese Gefahr ersticken<br />

könne. Unter Caprivi wie unter se<strong>in</strong>em Nachfolger Fürst<br />

Chlodwig von Hohenlohe­Schill<strong>in</strong>gsfürst gab es immer wie<strong>der</strong><br />

Versuche, mit verschärften Gesetzen die Sozialdemokratie<br />

<strong>in</strong> ihren Organisationsformen zu beh<strong>in</strong><strong>der</strong>n. Die sogenannte<br />

Umsturzvorlage und später die Zuchthausvorlage gegen die<br />

Umtriebe <strong>der</strong> die soziale Ruhe gefährdenden Elemente fanden<br />

nach heftigen Diskussionen ke<strong>in</strong>e Mehrheit. Der Rechtsstaat<br />

war so selbstverständlich geworden, dass man verbriefte Rechte<br />

wie die Vere<strong>in</strong>s­ und Versammlungsfreiheit nicht wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>schränken<br />

konnte. Der Versuch, mit den Möglichkeiten des<br />

Rechtsstaates diesen zu untergraben, erregte im Übrigen die<br />

Bildungsbürger, die um die Freiheit des Geistes, ihr wichtigstes<br />

Gut, bangten. Heftig protestierten sie dagegen, Anhänger politisch­philosophischer<br />

Vorstellungen, die freilich vielen nicht<br />

bequem waren, pauschal des Umsturzes <strong>der</strong> öffentlichen Ordnung<br />

zu verdächtigen. Das Erfurter Programm <strong>der</strong> SPD von<br />

1891 verwarf den liberalen Parlamentarismus als bourgeoisen,


150 <strong>der</strong> junge <strong>kaiser</strong> und die alten herren<br />

zwischen preussen und dem reich<br />

151<br />

kapitalistischen Betrug. Aber deswegen galt die SPD unter Akademikern<br />

noch lange nicht als terroristische Vere<strong>in</strong>igung, die<br />

man beobachten, kontrollieren und aus allgeme<strong>in</strong>en Sicherheitserwägungen<br />

<strong>in</strong> ihrer Bewegungsfreiheit hätte e<strong>in</strong>schränken<br />

müssen. Die Akademiker repräsentierten die sittlichen Ideen,<br />

die dem Staat zu se<strong>in</strong>er wohltätigen Wirksamkeit verhelfen<br />

sollten. Ihr Protest konnte nicht überhört werden. Die öffentliche<br />

Me<strong>in</strong>ung war längst so mächtig geworden, dass nicht mehr<br />

gegen ihren energischen E<strong>in</strong>spruch zu regieren war.<br />

Sie äußerte sich im Parlament. Sie machte sich aber zunehmend<br />

auch außerparlamentarisch bemerkbar, <strong>in</strong> den Gewerkschaften,<br />

konfessionellen Vere<strong>in</strong>en o<strong>der</strong> den großen Interessenverbänden<br />

<strong>der</strong> Unternehmer, <strong>der</strong> Landwirte und bald <strong>der</strong><br />

organisierten Angestellten. Die zahllosen Vere<strong>in</strong>e und Verbände<br />

– e<strong>in</strong> H<strong>in</strong>weis auf die hoch entwickelte soziale Differenzierung<br />

und politische Mobilisierbarkeit <strong>der</strong> Deutschen –<br />

warben um Aufmerksamkeit für ihre beson<strong>der</strong>en »Anliegen«,<br />

sie suchten aber auch den E<strong>in</strong>fluss auf die Parteien und auf<br />

die Verwaltung. Noch während sich <strong>der</strong> »Parteienstaat« zaghaft<br />

entwickelte, wurde das Reich schon zu e<strong>in</strong>em »Verbändestaat«,<br />

für den es im übrigen Europa ke<strong>in</strong>en Vergleich gab.<br />

Der sogenannte Obrigkeitsstaat konnte sich <strong>der</strong> Verbände für<br />

se<strong>in</strong>e Zwecke bedienen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit den<br />

Parteien. Aber <strong>in</strong>sgesamt fand er sich ständig herausgefor<strong>der</strong>t<br />

von Bewegungen, Aktionen und For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> sich verselbständigenden<br />

Öffentlichkeit. Zur Obrigkeit und zum Staat<br />

gehörte schließlich das Recht. Der Staat, <strong>der</strong> auf dem Recht<br />

ruhte, musste sich an se<strong>in</strong>e eigenen Voraussetzungen halten,<br />

und das Recht garantierte Freiheiten. Von dieser Verheißung<br />

machten im Deutschen Reich immer mehr Staatsbürger Gebrauch.<br />

»Der Untertan« blieb liberalen Literaten, die sich <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

bunt bewegten Wirklichkeit nicht mehr zurechtfanden, e<strong>in</strong>e<br />

unentbehrliche Schreckfigur für ihre Schauergeschichten vom<br />

geduldigen Philister – <strong>der</strong> ke<strong>in</strong>eswegs nur w<strong>in</strong>kend h<strong>in</strong>ter dem<br />

Kaiser herlief, son<strong>der</strong>n sich ganz im Gegenteil ununterbrochen<br />

und unüberhörbar zu Wort meldete.<br />

Gerade die Vielzahl <strong>der</strong> Me<strong>in</strong>ungen und <strong>der</strong> sie vertretenden<br />

Gruppen erschwerte es <strong>der</strong> Reichsregierung zunehmend,<br />

unterschiedliche Bedürfnisse <strong>in</strong> Übere<strong>in</strong>stimmung zu br<strong>in</strong>gen<br />

und Kurs zu halten. Am häufigsten traf schon unter Caprivi<br />

den Kaiser <strong>der</strong> Vorwurf, die preußische und die Reichsregierung<br />

mit se<strong>in</strong>er Unbeständigkeit und Nervosität anzustecken.<br />

Des Kaisers Schwanken o<strong>der</strong> »Plötzlichkeit« kam aber nicht<br />

von se<strong>in</strong>en etwa unstabilen Nerven. In e<strong>in</strong>er Zeit, <strong>in</strong> <strong>der</strong> die<br />

Nerven und die Neurasthenien überhaupt erst entdeckt wurden,<br />

war e<strong>in</strong> seelenruhiger, unaufgeregter Monarch wie Franz<br />

Joseph die große Ausnahme. Deswegen verstand er sich als<br />

letzter Monarch <strong>der</strong> alten Schule. Bismarck kannte heftige Zusammenbrüche,<br />

ihn plagten immer wie<strong>der</strong> Nervenschmerzen,<br />

Schlaflosigkeit und Tränenanfälle, abgesehen von se<strong>in</strong>en an<strong>der</strong>en<br />

Krankheiten. Im Alter wurde er von Morphium abhängig<br />

und zur weiteren Beruhigung benötigte er Unmengen von<br />

Bier und Champagner. Bismarck hätte viel eher als Inbegriff<br />

des <strong>zeit</strong>gemäß Nervösen gelten können, aber se<strong>in</strong>e Kurswechsel<br />

veranlassten we<strong>der</strong> dazu, an se<strong>in</strong>en Nerven zu zweifeln,<br />

noch an se<strong>in</strong>er Fähigkeit, auch <strong>in</strong> den schwierigsten Situationen<br />

den Überblick zu behalten. Sie ergaben sich unvermeidlich aus<br />

dem Wechsel <strong>der</strong> Konstellationen, aus äußeren Zwängen, se<strong>in</strong>e<br />

Politik an<strong>der</strong>s zu nuancieren o<strong>der</strong> vollständig zu revidieren.<br />

Kaiser Wilhelm II. kam bei umstrittenen Gesetzesvorlagen –<br />

und die wichtigen waren allesamt heftig umstritten – gar nicht<br />

daran vorbei, die E<strong>in</strong>wände <strong>der</strong> jeweiligen Gegner se<strong>in</strong>er vom<br />

Reichskanzler formulierten Politik zu bedenken, manchmal<br />

auch aufzugreifen und im Me<strong>in</strong>ungsbildungsprozess zu berücksichtigen.<br />

Außerdem traten oft Me<strong>in</strong>ungsverschiedenheiten<br />

zwischen <strong>der</strong> preußischen Regierung und dem Reichskanzler


152 <strong>der</strong> junge <strong>kaiser</strong> und die alten herren<br />

zwischen preussen und dem reich<br />

153<br />

auf. Der Kaiser als König von Preußen konnte bei ganz verschiedenen<br />

Parteienbündnissen im Preußischen Landtag und<br />

im Reichstag se<strong>in</strong>em Reichskanzler nicht freie Hand lassen,<br />

wenn dessen politische Absprachen im Reichstag den Koalitionsvere<strong>in</strong>barungen<br />

im Landtag wi<strong>der</strong>sprachen. In Preußen<br />

suchte <strong>der</strong> F<strong>in</strong>anzm<strong>in</strong>ister Johannes von Miquel, zum Vorteil<br />

se<strong>in</strong>er Steuerreformen, e<strong>in</strong> enges Bündnis von Konservativen<br />

und Nationalliberalen, von Industrie und Landwirtschaft. Der<br />

ehemalige L<strong>in</strong>ksliberale von 1848 bewegte sich energisch nach<br />

rechts, weil er die Unterstützung <strong>der</strong> Konservativen brauchte.<br />

Leo von Caprivi, <strong>der</strong> Herkunft nach e<strong>in</strong> Konservativer, aber<br />

ohne Landwirtschaft, brauchte im Reichstag das Zentrum, auch<br />

die L<strong>in</strong>ksliberalen, um sichere o<strong>der</strong> knappe Mehrheiten für se<strong>in</strong>e<br />

Sozial<strong>politik</strong>, se<strong>in</strong>e Handelsverträge, die Heeresvorlagen und<br />

die Verkürzung des Militärdienstes auf zwei Jahre zu f<strong>in</strong>den. Er<br />

bewegte sich nach l<strong>in</strong>ks; für Konservative <strong>der</strong> strengsten Observanz<br />

schlug er den Weg unmittelbar zur Demokratie e<strong>in</strong>. Bei<br />

den Reibereien und Unzuträglichkeiten zwischen Miquel und<br />

Caprivi, beide eigenwillige Charaktere, verstärkt durch wechselnde<br />

Aufgeregtheiten <strong>der</strong> verschiedenen M<strong>in</strong>ister, Bürokraten,<br />

Parteifunktionäre, Offiziere o<strong>der</strong> Verbandsvorsitzenden,<br />

konnte es nicht ausbleiben, dass <strong>der</strong> Kaiser trotz aller Loyalität<br />

zu se<strong>in</strong>em Kanzler, <strong>der</strong> formal Sprachrohr se<strong>in</strong>es Willens<br />

war, auch die oppositionellen Bewegungen berücksichtigte, um<br />

e<strong>in</strong>en Kompromiss zu f<strong>in</strong>den o<strong>der</strong> manche Vorhaben e<strong>in</strong>fach<br />

abzubrechen, wenn ke<strong>in</strong>e Aussicht bestand, für sie e<strong>in</strong>e Mehrheit<br />

zu bekommen. Wilhelm II. fügte sich <strong>in</strong> die Mechanismen<br />

des Parlamentarismus, nicht das Wünschenswerte auf Biegen<br />

und Brechen durchsetzend, son<strong>der</strong>n mit dem Möglichen sich<br />

begnügend.<br />

Diese E<strong>in</strong>stellung verband ihn mit Miquel, dem wendigen<br />

und klugen M<strong>in</strong>ister, wie mit Caprivi, <strong>der</strong> das Gute von überall<br />

hernahm. Aber manchmal gerieten die beiden <strong>in</strong> heftigen<br />

Streit und verdächtigten dann den Kaiser, Unmögliches zu wollen,<br />

wenn er sich auf e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> beiden Seiten schlug o<strong>der</strong> Kompromissformeln<br />

Dritter aufgriff und damit alle beide verärgerte.<br />

Beide waren sie se<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>ister, die ihre Politik <strong>in</strong> Preußen<br />

und dem Reich nur als se<strong>in</strong>e rechtfertigen konnten, so wie <strong>der</strong><br />

König und Kaiser auf sie angewiesen war, gleichsam als Dolmetscher<br />

se<strong>in</strong>er Absichten. Denn zum<strong>in</strong>dest theoretisch war <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er Monarchie die Politik e<strong>in</strong>e königliche o<strong>der</strong> <strong>kaiser</strong>liche,<br />

auch wenn diese Idee zur bloßen Rechtsfiktion verkümmerte<br />

wie <strong>in</strong> England im Laufe des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts. In <strong>der</strong> Regel<br />

verweigerte Wilhelm II. se<strong>in</strong>em Kanzler nicht die Gefolgschaft.<br />

Sobald sich Mehrheiten im Reichstag ergaben, verzichtete er<br />

auf weitere Anregungen und Fortsetzung des ewigen Gesprächs.<br />

Solange jedoch noch diskutiert wurde und <strong>der</strong> König und Kaiser<br />

allen Argumenten Gehör schenken muss te, schon um die<br />

Rechtsfiktion des unparte<strong>ii</strong>schen Herrschers als überzeugend<br />

realisiert ersche<strong>in</strong>en zu lassen, mochte <strong>der</strong> Monarch als unentschlossen<br />

o<strong>der</strong> sprunghaft auffallen, obschon se<strong>in</strong> Schwanken<br />

nur die Schwierigkeiten e<strong>in</strong>er noch nicht entschiedenen Diskussion<br />

verdeutlichte, die erst <strong>der</strong> Kompromiss endlich gegenstandslos<br />

macht.<br />

Caprivi o<strong>der</strong> Miquel verlangten von ihrem König und Kaiser<br />

Loyalität. Sie verfügten ihrerseits aber nicht unbed<strong>in</strong>gt über<br />

die nötige Geduld, wenn er wegen ihrer gereizten Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungen<br />

e<strong>in</strong>en Ausweg suchte, e<strong>in</strong>en dritten Weg, um sich<br />

am Ende dann doch noch für e<strong>in</strong>en von beiden zu entscheiden.<br />

Meistens für den Kanzler, weil das Reich wichtiger war zum<br />

Kummer alter, enger Preußen, die sich – ähnlich den graubärtigen<br />

Patrioten <strong>in</strong> Bayern, Württemberg o<strong>der</strong> Sachsen – schwer<br />

damit taten, die Wirklichkeit des Reiches anzuerkennen. Die<br />

Konservativen enttäuschten den Kaiser sehr bald als die hart näckigs<br />

ten Oppositionellen, <strong>in</strong>sofern sie stur ihre wirtschaftlichen<br />

Interessen verfolgten. Wilhelm II. er<strong>in</strong>nerte sie mehrmals an


154 <strong>der</strong> junge <strong>kaiser</strong> und die alten herren<br />

zwischen preussen und dem reich<br />

155<br />

das Verdienst se<strong>in</strong>er Vorfahren, sich nie Parteien angeschlossen<br />

zu haben. Ihnen sei es vielmehr immer gelungen, die e<strong>in</strong>zelnen<br />

Parteien zum Wohle des Ganzen zu vere<strong>in</strong>igen. Das setzt<br />

aber die Bereitschaft und die E<strong>in</strong>sicht aller voraus, den eigenen<br />

Willen nicht zu verabsolutieren: »Ke<strong>in</strong> Stand kann beanspruchen,<br />

auf Kosten <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en beson<strong>der</strong>s bevorzugt zu werden.<br />

Des Landesherren Aufgabe ist es, die Interessen aller Stände gegene<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

abzuwägen und mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> zu vermitteln, damit<br />

das allgeme<strong>in</strong>e Interesse des großen Vaterlandes dabei gewahrt<br />

bleibe.« Das große Vaterland, Preußen und das Reich, war zum<br />

Industriestaat geworden. Die Landwirtschaft konnte nur mit<br />

Rücksicht auf die Volkswirtschaft berücksichtigt werden. Dar<strong>in</strong><br />

entdeckten die Agrarier e<strong>in</strong>e enorme Rücksichtslosigkeit und<br />

gründeten 1892 den Bund <strong>der</strong> Landwirte, um mit sensationeller<br />

Agitation auf sich aufmerksam zu machen. Sie nannten das<br />

»unter die Sozialdemokraten gehen«.<br />

Ihr Lärm hatte nichts mehr mit adliger Haltung o<strong>der</strong> konservativer<br />

Ges<strong>in</strong>nung zu tun. Sie waren Unternehmer, die ihren<br />

Vorteil suchten. Übrigens befand sich schon fast die Hälfte<br />

aller Güter <strong>in</strong> bürgerlicher Hand, und die Aristokraten, die gut<br />

wirtschafteten, mussten sich wohl o<strong>der</strong> übel nach mo<strong>der</strong>nen<br />

Methoden richten, ohne son<strong>der</strong>lich auf adlig­vornehme Traditionen<br />

zu achten, zu denen es gehörte, zum<strong>in</strong>dest den Sche<strong>in</strong><br />

zu wahren, nicht aus schnödem Gew<strong>in</strong>nstreben heraus zu<br />

handeln. Die Adligen, die lange e<strong>in</strong>e gewisse Distanz zu den<br />

Geldleuten, den neuen Reichen gepflegt hatten, wurden selbst<br />

Geschäftsleute, unverhohlene Kapitalisten, nicht weil Reichtum<br />

Glanz, Schönheit o<strong>der</strong> Eleganz verhieß, son<strong>der</strong>n Macht,<br />

mit <strong>der</strong> man manches machen konnte, um noch mehr Geld<br />

zu machen. Kurzum, <strong>der</strong> Adel begann, vulgär zu werden. Die<br />

feierlichen Redensarten von Thron und Altar verloren ihre<br />

verpflichtende Würde. Sie waren nur noch Schmuck, e<strong>in</strong>gestickt<br />

<strong>in</strong>s Ruhekissen des guten Gewissens. Wilhelm II. hielt<br />

die Opposition preußischer Adliger gegen ihren König für e<strong>in</strong><br />

Und<strong>in</strong>g, zumal dann, wenn sie sich geräuschvoll äußerte wie<br />

bei den so oft »von ihnen [den Konservativen, E.S.] bekämpften<br />

gewerbemäßigen Oppositionsparteien«. Es gelang ihm nicht,<br />

mal gereizt, mal schroff und for<strong>der</strong>nd, dann wie<strong>der</strong> freundlich,<br />

werbend und schmeichelnd, die wachsenden Spannungen zwischen<br />

dem preußischen Adel und <strong>der</strong> Krone zu mil<strong>der</strong>n o<strong>der</strong><br />

aufzuheben. Auch diese Erfahrung veranlasste ihn dazu, Bürger<br />

zu adeln und so e<strong>in</strong>e neue Elite zu gew<strong>in</strong>nen, die sich mit dem<br />

monarchischen Staat identifizierte, e<strong>in</strong>e Elite, gewonnen aus<br />

Kunst, Wissenschaft, Industrie und Technik.<br />

Immerh<strong>in</strong>, trotz aller Schwierigkeiten gelang es den <strong>kaiser</strong>lich­königlichen<br />

Regierungen unter Leo von Caprivi und ab<br />

Oktober 1894 unter Fürst Chlodwig von Hohenlohe­Schill<strong>in</strong>gsfürst,<br />

den <strong>in</strong>neren Ausbau des Reiches erfolgreich voranzubr<strong>in</strong>gen,<br />

nicht zuletzt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Absicht des sozialen Ausgleichs. Dem<br />

dienten die Arbeiterschutzgesetze von 1891: das Verbot <strong>der</strong><br />

Sonntagsarbeit und ihre E<strong>in</strong>schränkung im Handel auf maximal<br />

fünf Stunden, das Verbot <strong>der</strong> Nachtarbeit für Frauen und<br />

Jugendliche unter 16 Jahren, die E<strong>in</strong>führung von Fabrik ord nungen<br />

und frei gewählten Ausschüssen, die den Arbeitern Möglichkeiten<br />

zur <strong>in</strong>nerbetrieblichen Mitbestimmung e<strong>in</strong>räumten.<br />

Der sozialen Gerechtigkeit entspricht e<strong>in</strong>e Steuergerechtigkeit,<br />

was heißt, die Lasten gemäß den E<strong>in</strong>kommen zu verteilen.<br />

Preußen war <strong>der</strong> erste europäische Staat, <strong>in</strong> dem die progressive<br />

E<strong>in</strong>kommenssteuer e<strong>in</strong>geführt wurde. Die Sätze waren<br />

noch ger<strong>in</strong>g, sie reichten bis vier Prozent, was für dogmatische<br />

Wirtschaftsliberale bereits <strong>der</strong> erste Schritt zur Enteignung war.<br />

E<strong>in</strong>kommenssteuer und Vermögenssteuer machten 1892 ernst<br />

mit <strong>der</strong> Idee von <strong>der</strong> Sozialpflichtigkeit des Eigentums. Die<br />

E<strong>in</strong>führung <strong>der</strong> Erbschaftssteuer scheiterte freilich am Wi<strong>der</strong>­<br />

stand <strong>der</strong> liberalen Bürger und des konservativen Adels. Zu<br />

den sozialpolitischen Maßnahmen gehörten auch die Reform


156 <strong>der</strong> junge <strong>kaiser</strong> und die alten herren<br />

zwischen preussen und dem reich<br />

157<br />

<strong>der</strong> preußischen Volksschulen und die Neuordnung des höheren<br />

Schulwesens.<br />

Leo von Caprivi und Wilhelm II. wollten den E<strong>in</strong>fluss <strong>der</strong><br />

Kirchen <strong>in</strong> den Volksschulen erweitern, weil sie <strong>in</strong> christlicher<br />

Ges<strong>in</strong>nung den besten Schutz vor sozialistischen Ideen sahen.<br />

Die Religion sollte nicht um ihrer selbst willen dem Volke erhalten<br />

bleiben, son<strong>der</strong>n als Stütze des Thrones und des monarchischen<br />

Staates. Die Pfarrer und Super<strong>in</strong>tendenten <strong>der</strong> Preußisch­Unierten<br />

Kirche begrüßten diese Absichten, weil sie, auf<br />

sich gestellt, längst daran verzagten, ohne Hilfe des Staates mit<br />

<strong>in</strong>nerer Mission das Schw<strong>in</strong>den <strong>der</strong> Christlichkeit unter den Arbeitern,<br />

auch auf dem Lande, aufzuhalten. Das Zentrum konnte<br />

mit religionspolitischen Angeboten stets günstig gestimmt<br />

werden, auch auf ganz an<strong>der</strong>en Gebieten mit <strong>der</strong> Regierung<br />

zusammenzuarbeiten. Doch die Liberalen und die Kulturprotestanten<br />

witterten sofort e<strong>in</strong>en Anschlag auf die Freiheit <strong>der</strong><br />

Lehre von kirchlicher Bevormundung, auf die Unabhängigkeit<br />

<strong>der</strong> Schulen und Hochschulen. Ihre unverhältnismäßig schrillen<br />

Proteste veranlassten den Kaiser, selbst e<strong>in</strong> Nationalliberaler<br />

und Kulturprotestant, die Gesetzesvorlage zurückzuziehen. Es<br />

handelte sich um die erste Nie<strong>der</strong>lage Wilhelms II. und se<strong>in</strong>er<br />

Regierung. Der Kaiser, <strong>der</strong> meist mit fe<strong>in</strong>em E<strong>in</strong>fühlungsvermögen<br />

die Vorstellungen des »guten Bürgertums« richtig e<strong>in</strong>schätzte<br />

– und teilte –, verkannte als oberster Bischof se<strong>in</strong>er<br />

Preußisch­Unierten Kirche stets den antiklerikalen Eifer <strong>der</strong><br />

Akademiker und <strong>der</strong> Liberalen. Das sollte sich 1899 wie<strong>der</strong>holen,<br />

als aufgrund heftiger öffentlicher Proteste die »Lex He<strong>in</strong>ze«<br />

im Reichstag erheblich modifiziert werden musste. Das Gesetz<br />

sah verschärfte Strafbestimmungen für Sittlichkeitsdelikte vor,<br />

zu denen auch <strong>der</strong> Vertrieb unzüchtiger Schriften o<strong>der</strong> das moralische<br />

Empf<strong>in</strong>den verletzende Theateraufführungen gerechnet<br />

wurden. Auch hier fürchteten die Gebildeten, gegen <strong>der</strong>en<br />

Willen nicht regiert werden konnte, pfäffische Borniertheit <strong>der</strong><br />

protestantischen Orthodoxie und ultramontane Übergriffe <strong>in</strong><br />

die freie Sphäre von Kunst und Kultur.<br />

Ganz an<strong>der</strong>s erg<strong>in</strong>g es Wilhelm II. bei se<strong>in</strong>em Vorhaben,<br />

den realistischen Humanismus entschieden zu för<strong>der</strong>n und die<br />

Vorherrschaft des klassischen Gymnasiums e<strong>in</strong>zuschränken. Auf<br />

<strong>der</strong> Konferenz über das höhere Schulwesen, die im Dezember<br />

1890 <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> tagte, sprach <strong>der</strong> Kaiser weniger den Akademikern<br />

als den technisch­<strong>in</strong>dustriellen Bürgern aus dem Herzen,<br />

als er daran er<strong>in</strong>nerte, dass die deutschen Gymnasien aus jungen<br />

Männern vielleicht gute Griechen und Römer machten, aber<br />

ke<strong>in</strong>e Deutschen, die ihre Weltstellung dem Handel und <strong>der</strong><br />

Industrie verdankten. Deshalb verdienten die Realschulen, die<br />

auf das praktische Leben vorbereiteten, beson<strong>der</strong>e Aufmerksamkeit<br />

und mit ihnen die Naturwissenschaften, <strong>der</strong> Deutschunterricht<br />

und die neuen Sprachen. Der Geschichtsunterricht,<br />

<strong>der</strong> bislang beim Dreißigjährigen Krieg aufhörte, müsse bis an<br />

die Gegenwart herangeführt werden. Der Kaiser verstand ihn<br />

durchaus als Staatsbürgerkunde, die zu <strong>der</strong> Erkenntnis verhelfe,<br />

wie sich Recht und Freiheit im Staat entfalten und <strong>in</strong>wieweit<br />

Preußen und se<strong>in</strong>e Herrscher jeweils auf die Herausfor<strong>der</strong>ungen<br />

<strong>der</strong> Zeit vernünftig reagierten. Der Geschichtsunterricht<br />

schaffe das Fundament für e<strong>in</strong>en gediegenen Patriotismus, <strong>der</strong><br />

alle Deutsche im e<strong>in</strong>en Reich verb<strong>in</strong>de. Wilhelm II. hielt ihn<br />

für die beste Waffe gegen die partikularistischen Absurditäten<br />

deutschen Kle<strong>in</strong>lebens o<strong>der</strong> den Internationalismus <strong>der</strong> Sozialdemokratie.<br />

Vertraut mit dem Gymnasium, verwarf er dessen Bildungsprogramm<br />

als unpraktisch und weltfremd: »Es ist weniger<br />

Nachdruck auf das Können als auf das Kennen gelegt worden.«<br />

Immer noch sei <strong>der</strong> Grundsatz vorherrschend, so viel wie möglich<br />

zu wissen, »ob das für das Leben passt o<strong>der</strong> nicht«. Wilhelm<br />

II. distanzierte sich damit von se<strong>in</strong>er eigenen Schulung<br />

mit ihrem öden Auswendiglernen nach <strong>der</strong> Devise, dass man


158 <strong>der</strong> junge <strong>kaiser</strong> und die alten herren<br />

zwischen preussen und dem reich<br />

159<br />

auf <strong>der</strong> Schule alles und im Leben gar nichts mehr lernen könne.<br />

Der unphilosophische Kopf stritt für die Praxis, <strong>der</strong> die Schule<br />

entgegenkommt, wenn sie zur Erkenntnis dessen verhilft, »was<br />

wahr, wirklich und was <strong>in</strong> <strong>der</strong> Welt möglich ist«. Die Philologen<br />

waren entrüstet, die Industriellen und Geschäftsleute h<strong>in</strong>gerissen.<br />

Wie immer <strong>in</strong> Deutschland, sobald es um Bildungsfragen<br />

geht, begann e<strong>in</strong> mächtiges »Schütteln <strong>der</strong> Köpfe« <strong>in</strong> den<br />

Kommissionen. E<strong>in</strong> Zwittergebilde wie das Realgymnasium,<br />

das <strong>der</strong> Kaiser missbilligte, blieb erhalten. Die deutschen humanistischen<br />

Überlieferungen waren zu stark, e<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>e<br />

Bildung wirklich allgeme<strong>in</strong> zu machen. Aber auch bedauernswerte<br />

Nur­Late<strong>in</strong>er des Realgymnasiums und Nicht­Late<strong>in</strong>er<br />

von <strong>der</strong> Oberrealschule wurden seit 1902 zum Studium an <strong>der</strong><br />

Universität zugelassen. In den Lehrplänen wurden Deutsch<br />

und Geschichte angemessen berücksichtigt. Nicht mehr <strong>der</strong> late<strong>in</strong>ische<br />

Aufsatz bewies das Ausdrucksvermögen des Schülers,<br />

von nun an sollte er mit Hilfe des deutschen Aufsatzes se<strong>in</strong>e<br />

Gedanken geordnet und möglichst elegant vortragen.<br />

Die Praktiker waren sehr zufrieden. Die klassisch Gebildeten<br />

klagten bald, dass ohne die Übung im Late<strong>in</strong>ischen <strong>der</strong><br />

Schüler nie dah<strong>in</strong> gelange, sich auf Deutsch ebenso klar wie<br />

gefällig verständlich zu machen. Denn se<strong>in</strong>e Muttersprache lerne<br />

e<strong>in</strong> Deutscher wie auch e<strong>in</strong> Franzose o<strong>der</strong> Englän<strong>der</strong> über<br />

das Late<strong>in</strong>. Aus diesem Grunde gaben die deutschen Beamten –<br />

entgegen <strong>der</strong> <strong>kaiser</strong>lichen Empfehlung – das Realgymnasium<br />

nicht auf. Der Kaiser h<strong>in</strong>gegen war e<strong>in</strong> Avantgardist. Ihn störte<br />

das Privileg des Late<strong>in</strong>ischen und <strong>der</strong> klassischen Bildung <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er doch möglichst offenen Gesellschaft, die auch Nicht­Late<strong>in</strong>ern<br />

ihre Chance geben sollte. Ostentativ schenkte er e<strong>in</strong>ige<br />

Jahre später se<strong>in</strong>e Huld e<strong>in</strong>em vollständig ungebildeten »Industrie<br />

kapitän«, dem Direktor <strong>der</strong> Ree<strong>der</strong>ei HAPAG Albert Ball<strong>in</strong>,<br />

<strong>der</strong> mühelos und zuweilen recht witzig auf Englisch plau<strong>der</strong>te<br />

als mo<strong>der</strong>ner Weltmann, wie ihn sich Wilhelm II. wünschte.<br />

Im S<strong>in</strong>ne des humanistischen Realismus setze sich dieser für<br />

das Prestige <strong>der</strong> Technischen Hochschulen e<strong>in</strong>, um sie den Universitäten<br />

anzugleichen. Auf se<strong>in</strong>e Veranlassung erhielten sie<br />

1898 das Recht, Studenten zum Doktor zu promovieren. Realschülern<br />

ebnete er den Weg, Offizier zu werden. Das klassische<br />

Bildungsprivileg, das sich mit aristokratischem Stil vermischt<br />

hatte, erwies sich <strong>in</strong> mo<strong>der</strong>nen Armeen als hübscher Zierrat,<br />

war aber ansonsten gänzlich nutzlos. Der denkende Offizier<br />

hat es wohl auch noch mit Kriegskunst und Kriegshandwerk<br />

zu tun, doch er ist vor allem Techniker, <strong>der</strong> Apparate <strong>in</strong> Bewegung<br />

setzt und ihre Funktionstüchtigkeit gewährleistet. Den<br />

greisen Moltke, den klassischen Philosophen unter den Feldherren,<br />

entsetzten diese unvermeidlichen Entwicklungen. Wilhelm<br />

II. fürchtete we<strong>der</strong> die Technik noch die Techniker. Er<br />

wollte sie für den monarchischen Staat gew<strong>in</strong>nen und »zum<br />

E<strong>in</strong>satz br<strong>in</strong>gen«.<br />

Insofern fügte er sich nach langem Zögern unter dem E<strong>in</strong>fluss<br />

starrer Militärs dem Vorschlag des Generals und Kanzlers<br />

Leo von Caprivi, den Militärdienst von drei auf zwei Jahre<br />

zu verkürzen. Der deutsche Arbeiter, diszipl<strong>in</strong>iert durch die<br />

Volksschule und durch die Masch<strong>in</strong>e <strong>in</strong> <strong>der</strong> Fabrik, auch durch<br />

se<strong>in</strong>e Partei und <strong>der</strong>en Bildungsarbeit, funktionierte an und mit<br />

<strong>der</strong> Waffe und bedurfte daher ke<strong>in</strong>es allzu langen Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>gs.<br />

Der deutsche Arbeiter dachte und lebte soldatisch, davon waren<br />

<strong>der</strong> Kaiser und se<strong>in</strong>e Offiziere überzeugt. Schon 1871 hieß<br />

es, dass <strong>der</strong> preußische Volksschullehrer den Sieg ermöglicht<br />

hatte. Der Arbeiter musste nur den Sozialdemokraten entfremdet<br />

werden – Katholiken und Zentrum galten, weil »gottgläubig«,<br />

als weniger gefährlich –, um e<strong>in</strong> wackerer Freund des Vaterlandes<br />

zu werden. Zwei Jahre reichten aus, den Mann aus<br />

dem Volk mit se<strong>in</strong>em Volk <strong>in</strong> Übere<strong>in</strong>stimmung zu br<strong>in</strong>gen.<br />

Davon war <strong>der</strong> General Leo von Caprivi überzeugt, dem es gelang,<br />

Zweifel <strong>in</strong> <strong>der</strong> Armee, die Wilhelm II. unsicher machten,


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<strong>der</strong> junge <strong>kaiser</strong> und die alten herren<br />

zu überw<strong>in</strong>den. Der zweijährige Dienst erlaubte im Übrigen<br />

e<strong>in</strong>e größere Wehrgerechtigkeit, weil e<strong>in</strong>e größere Zahl von<br />

Wehrpflichtigen erfasst werden konnte, die sich dienend <strong>in</strong> die<br />

Nation e<strong>in</strong>gewöhnte und sich <strong>der</strong> Bereitschaft öffnete, dass es<br />

doch süß und ehrenvoll sei, für das Vaterland, für Gott und den<br />

Kaiser zu streiten und unter Umständen zu sterben.<br />

Dass Deutschland vorerst sorglos leben könne, versicherte<br />

<strong>der</strong> Reichskanzler den Abgeordneten und damit dem Volk.<br />

Aber sobald Russland und Frankreich zusammen Deutschland<br />

angriffen, würde es um die Existenz gehen, um die Kultur, um<br />

Deutschland als geistige Gestalt. Es könnte untergehen <strong>in</strong> diesen<br />

neuen fürchterlichen Kriegen, über die Caprivi nüchtern<br />

sprach. E<strong>in</strong> Krieg verschafft <strong>in</strong> den neuen Zeiten allen Verhältnissen<br />

e<strong>in</strong> demokratisches Ansehen, deshalb muss <strong>der</strong> Arbeiter<br />

für den Staat gewonnen werden, <strong>in</strong> dem auch er als Angehöriger<br />

<strong>der</strong> Nation die Voraussetzung se<strong>in</strong>es Wohlbef<strong>in</strong>dens dankbar<br />

erkennt. Zur »Wilhelm<strong>in</strong>isierung« <strong>der</strong> Arbeiterschaft, auf<br />

die <strong>der</strong> Kaiser hoffte, trug nicht zuletzt <strong>der</strong> Aufbau <strong>der</strong> Kriegsflotte<br />

ab 1898 bei und die stürmische Entwicklung <strong>der</strong> Handelsschifffahrt<br />

und <strong>der</strong> beiden Ree<strong>der</strong>eien, des Bremer Lloyd und<br />

<strong>der</strong> HAPAG, <strong>der</strong> Hamburg-Amerika L<strong>in</strong>ie, die 1898 zur größten<br />

Ree<strong>der</strong>ei <strong>der</strong> Welt aufgestiegen war und diese Stellung bis 1914<br />

hielt. Der Bremer Lloyd konnte 1896 mit <strong>der</strong> »Wilhelm <strong>der</strong><br />

Große« das schnellste und eleganteste Schiff auf dem Atlantik<br />

e<strong>in</strong>setzen, im Jahre 1900 übertroffen von <strong>der</strong> »Deutschland« <strong>der</strong><br />

HAPAG. Der Name war Programm: Deutschland e<strong>in</strong>e wahre<br />

Großmacht, die, terra marique (zu Wasser und zu Lande), sich<br />

Geltung verschafft. Damit war e<strong>in</strong>es <strong>der</strong> wichtigsten Ziele <strong>der</strong><br />

nationalen Revolution von 1848 erreicht. Das e<strong>in</strong>ige Deutschland<br />

hatte e<strong>in</strong> freies, aber auch e<strong>in</strong> mächtiges Deutschland werden<br />

sollen.

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