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Kinoöffentlichkeit (1895-1920) - Einsnull

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Corinna Müller/Harro Segeberg (Hrsg.)<br />

<strong>Kinoöffentlichkeit</strong> (<strong>1895</strong>-<strong>1920</strong>)<br />

Cinema’s Public Sphere (<strong>1895</strong>-<strong>1920</strong>)<br />

Entstehung Etablierung Differenzierung<br />

Emergence Settlement Differentiation


Inhalt<br />

Corinna Müller/Harro Segeberg<br />

‚Öffentlichkeit’ und ‚<strong>Kinoöffentlichkeit</strong>’.<br />

Zum Hamburger Forschungsprogramm 7<br />

Sektion I <strong>Kinoöffentlichkeit</strong> in Hamburg und frühe<br />

Kinogeschichte in Deutschland<br />

Joseph Garncarz<br />

Öffentliche Räume für Filme.<br />

Zur Etablierung der Kinos in Deutschland 32<br />

Pelle Snickars<br />

Reading Berlin 1909.<br />

‚Medienöffentlichkeit’, Daily Press and Mediated Events 44<br />

Jeanpaul Goergen<br />

Cinema in the Spotlight. The Lichtspiel-Theaters and the Newspapers<br />

in Berlin, September 1913. A Case Study 66<br />

Michael Töteberg<br />

Neben dem Operetten-Theater und vis-à-vis Schauspielhaus.<br />

Eine Kino-Topographie von Hamburg 1896-1912 87<br />

Corinna Müller<br />

<strong>Kinoöffentlichkeit</strong> in Hamburg um 1913 105<br />

Kaspar Maase<br />

Kinderkino: Halbwüchsige, Öffentlichkeiten und kommerzielle<br />

Populärkultur im deutschen Kaiserreich 126<br />

Sektion II <strong>Kinoöffentlichkeit</strong> im internationalen Vergleich<br />

Guido Convents/Karel Dibbets<br />

Verschiedene Welten. Kinokultur in Brüssel und in Amsterdam 1905-1930 150<br />

5


Inhalt<br />

André van der Velden<br />

Cinematic Amusements and Metropolitan Aspirations<br />

in Pre-War Rotterdam 157<br />

Werner Michael Schwarz<br />

Alltägliche Explosionen. Die Organisation der Großstadt<br />

und das frühe Kino am Beispiel Wiens 169<br />

Brigitte Flickinger<br />

Der Publikumsmagnet Kino vor 1918 in den Metropolen<br />

London und St. Petersburg 176<br />

Judith Thissen<br />

The Emergence of Cinema in Jewish New York.<br />

How the Movies Came to Rivington Street 196<br />

Exkurs: Kino und Wissenschaft<br />

Marina Dahlquist<br />

„Swat the Fly”. Educational Films and Health Campaigns 1909-1914 211<br />

Sektion III <strong>Kinoöffentlichkeit</strong> außerhalb der Metropolen<br />

Andrzej Gwóźdź<br />

<strong>Kinoöffentlichkeit</strong> in der Region: Oberschlesien.<br />

Nationalpolitische Rahmenbedingungen 227<br />

Martin Loiperdinger<br />

Akzente des Lokalen im frühen Kino am Beispiel Trier 236<br />

Mariann Lewinski Sträuli<br />

Der Jahrmarkts-Kinematograph als Erfolgsmodell.<br />

Historiographische Beiträge aus der Nordostschweiz 247<br />

Autorinnen und Autoren 266<br />

6


Corinna Müller/Harro Segeberg<br />

‚Öffentlichkeit‘ und ‚<strong>Kinoöffentlichkeit</strong>’<br />

Zum Hamburger Forschungsprogramm<br />

Zum ‚kritischen’ Begriff ‚Öffentlichkeit’ und neuen Perspektiven,<br />

ihn zu verstehen<br />

Gegen den Versuch, den Begriff Öffentlichkeit für die Medienforschung fruchtbar<br />

zu machen, könnte man einwenden: Gibt es denn ‚Öffentlichkeit’ überhaupt? Oder<br />

muss man sich darunter nicht vielmehr ein virtuelles Konstrukt vorstellen, das Jürgen<br />

Habermas 1 entwarf, um die düstere Zerfallsgeschichte „einer einstmals funktionierenden<br />

bürgerlich-aufklärerischen Öffentlichkeit, die dann zunehmend zu einem<br />

kommerziellen Konsumgut“ wurde 2 , wie den Schattenriss einer längst vergangenen<br />

Epoche an die Wand zu projizieren? Immerhin handelt es sich dabei um ein Modell,<br />

das im wesentlichen auf Phänomene des 18. Jahrhunderts in Deutschland bezogen<br />

ist und sich in anderen nationalen Kulturen und Denkmodellen derart dezidiert weder<br />

historisch noch sprachlich wieder fi ndet – um ein Modell also, das (so könnte<br />

man folgern) auf deutsche ‚Sonderwege’ hinweist.<br />

Obwohl solche zugespitzten Fragen nicht nur rhetorisch gemeint sind, sondern<br />

zu Recht immer wieder gestellt werden, verhält es sich mit dem Begriff ‚Öffentlichkeit’<br />

doch nicht so einfach. Denn so umstritten der durch Habermas geprägte Begriff<br />

von ‚Öffentlichkeit’ in seiner provokant widersprüchlichen Bestimmung auch sein<br />

mag 3 , so übt er doch noch immer eine große Anziehungskraft aus, wie allein die<br />

seit den 1960er Jahren immer lebhafter und kontroverser geführte Diskussion seiner<br />

Thesen zeigt. Diese Diskussion spiegelt sich auch in den Beiträgen in diesem Band<br />

wieder, die sich mehr oder minder intensiv und auch kontrovers mit dem Begriff<br />

‚Öffentlichkeit’ und den damit gemeinten Phänomenen auseinandersetzen und sich<br />

1 Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öff entlichkeit. Frankfurt a. M. 1990 (zuerst 1962).<br />

2 Axel Schildt: „Das Jahrhundert der Massenmedien. Ansichten zu einer künft igen Geschichte der Öff entlichkeit“.<br />

In: Geschichte und Gesellschaft , 27. Jg., 2002, S. 177-206, hier S. 186.<br />

3 Vgl. u. a. Nick Crossley, John Michael Roberts (Hg.): Aft er Habermas: New Perspectives on the Public<br />

Sphere. Oxford 2004; Jürgen Fohrmann, Arno Orzessek (Hg.): Zerstreute Öff entlichkeiten. Zur Programmierung<br />

des Gemeinsinns. München 2002, S. 43-51; Pauline Johnson: Habermas. Rescuing the public<br />

sphere. London, New York 2006<br />

7


‚Öffentlichkeit‘ und ‚<strong>Kinoöffentlichkeit</strong>’<br />

dabei mit dem Problem konfrontiert sehen, das von Habermas geprägte Verständnis<br />

des Begriffs mit der Rekonstruktion einer Mediengeschichte in Einklang zu bringen,<br />

die für Habermas ganz im Zeichen technischer Massenmedien steht und damit die<br />

Verfallsgeschichte seiner genuin literarischen Öffentlichkeit bezeichnet. Vor diesem<br />

Hintergrund sei hier nun, in gebotener Kürze, der Versuch zum begriffsgeschichtlichen<br />

Brückenschlag über die Jahrhunderte hinweg gewagt.<br />

Die anscheinend zeitlose und noch immer aktuelle Vorstellung von ‚einer Öffentlichkeit’<br />

im Kollektivsingular ist nach dem in Deutschland von Habermas mitgeprägten<br />

historischen Denkmodell ein politisch besetzter Begriff und meint eine mit<br />

emanzipatorischer Aufklärung verbundene politische Macht, eine Instanz, die ‚mit<br />

einer Stimme spricht‘ und ihre Interessen gegenüber der Staatsmacht verteidigt. 4 ‚Öffentlichkeit’<br />

in diesem Sinn hat es zwar realhistorisch gesehen bestenfalls in Ansätzen<br />

gegeben, gerade deshalb ist sie aber als eine normative regulative Idee zu betrachten,<br />

die als ,Öffentlichkeit’ eine Instanz zur Bildung einer kritisch-emanzipatorischen (Gegen-)<br />

Öffentlich keit meint (zur Staatsmacht nach Habermas, gegen die Normierungsgewalt<br />

massenmedialer Bewussteinsindustrien nach Negt/Kluge 5 ).<br />

Dieses Konzept war es, das den Begriff ‚Öffentlichkeit’ in Deutschland in der<br />

Zeit nach der französischen Revolution für das im deutschsprachigen Raum aufstrebende<br />

Bürgertum wie auch für die ‚68er’-Bewegung des 20. Jahrhunderts interessant<br />

machte. Man hoffte im 18. Jahrhundert wie auch um 1968, mit der ‚Macht der<br />

Öffentlichkeit’ neue politische Ordnungen erreichen zu können, wobei man dabei<br />

an ‚kritisch-emanzipatorische’ Gruppierungen dachte, ans gebildete Bürgertum einerseits,<br />

an die ‚Massen’ als potentiell emanzipatorische Kraft andererseits (sei es<br />

des Proletariats oder all derer, die sich gegen das ‚Establishment’ wandten). Jürgen<br />

Habermas’ Studie, die erstmals 1962 erschienen war, fungierte dabei für die ‚68er’<br />

gewissermaßen als ‚Muse’, um das emanzipatorische Potential von ‚Öffentlichkeit’ als<br />

Gegenöffentlichkeit mit neuen Inhalten zu versehen und wiederzubeleben.<br />

Diese emanzipatorisch-aufklärerische Tendenz des Begriffs ließ ihn auch außerhalb<br />

Deutschlands interessant werden, so dass durch Übersetzungen der Schrift von<br />

Jürgen Habermas vor allem im englisch- und französischsprachigen Raum eine lebhafte<br />

Diskussion zur ‚Öffentlichkeit’ entstand. Die Diskussionen drehten sich dabei<br />

vor allem anfangs gleichfalls um Formationen von politischen ‚Gegenöffentlichkeiten’,<br />

ohne diese Tendenz jedoch begriffl ich wiederzugeben. Wohl um die ideale, emanzipatorische<br />

Konnotation des Habermas’schen Begriffs zu vermitteln, wurde der Begriff<br />

‚Öffentlichkeit‘ mit Wendungen wie ‚public sphere’ oder ‚éspace publique’ ins Englische<br />

und Französische übertragen. Diese Wendungen trugen wohl am besten dem Anspruch<br />

4 Zur Begriff s- und Ideengeschichte vgl. u.a. Lucian Hölscher: Öff entlichkeit und Geheimnis. Eine<br />

begriff sgeschicht liche Untersuchung zur Entstehung der Öff entlichkeit in der frühen Neuzeit. Stuttgart 1979;<br />

Peter Uwe Hohen dahl (Hg.): Öff entlichkeit – Geschichte eines kritischen Begriff s. Stuttgart, Weimar 2000;<br />

Bernhard Peters: Der Sinn von Öff entlichkeit. Mit einem Vorwort von J. Habermas. Frankfurt/M. 2007<br />

5 Oskar Negt, Alexander Kluge: Öff entlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher<br />

und proletarischer Öff entlichkeit. Frankfurt a. M. 1972.<br />

8


‚Öffentlichkeit‘ und ‚<strong>Kinoöffentlichkeit</strong>’<br />

Rechnung, dass aufstrebende gesellschaftliche Gruppen, die sich als ausgegrenzt verstanden,<br />

eine nicht länger zu überhörende publizistische Stimme mit den dazu gehörigen<br />

Aktionsräumen im gesellschaftlichen und politischen Leben forderten. So<br />

eroberten gesellschaftlich aufstrebende Gruppen im Paris des Jahres 1968 ‚die Straße’,<br />

um sich hier unter dem Motto Les murs ont la parole Gehör zu verschaffen.<br />

Übersetzungen wie ‚public sphere’ oder ‚éspace publique’ gaben dem Begriff ‚Öffentlichkeit’<br />

damit eine weitere, nunmehr auch räumliche Ausrichtung. Diese räumliche<br />

Dimension des Begriffs existierte in Deutschland historisch ebenfalls: Als ‚öffentliche<br />

Orte’ galten alle Areale oder Häuser, die für die vorwiegend bürgerlichen<br />

Aktanten der neuen Öffentlichkeit zugänglich waren, wobei es sich vor allem um gewerblich<br />

genutzte Orte handelte, wie etwa Marktplätze oder Orte, an denen man Erfrischungen<br />

und Unterhaltung geboten bekam, oder auch Häuser wie Theater, Oper<br />

und dergleichen. Peter Uwe Hohendahl bezeichnet den Begriff ‚Öffentlichkeit’ daher<br />

als einen doppelsinnig angelegten Begriff, der sowohl „einen empirisch erkennbaren<br />

Sachverhalt als auch eine Idee vorstellen“ kann. 6<br />

Die normative Geltung dieser Idee wurde nicht unerheblich dadurch beeinträchtigt,<br />

dass sich ihre mediengeschichtliche Basis spätestens seit dem späten 19. Jahrhundert<br />

dramatisch verändern sollte. Spätestens seit dem Aufkommen technischer Massenmedien<br />

um 1900 ist unter ‚Öffentlichkeit’ nicht mehr nur die eine ,literarische’ Öffentlichkeit<br />

zu verstehen, sondern der Begriff kann nun medial sehr unterschiedlich geprägte<br />

Formen von Öffentlichkeit bezeichnen. Daher wurde schon vielfach vorgeschlagen,<br />

nicht mehr von ‚einer’ Öffentlichkeit, gedacht und verbalisiert als normativer Kollektivsingular,<br />

zu sprechen, sondern von medialen Teil-‚Öffentlichkeiten’ mit nurmehr<br />

begrenzten Geltungsansprüchen auszugehen. 7 Dies empfi ehlt sich, wie die Hamburger<br />

Medien- und Öffentlichkeitsforscher Karl Christian Führer, Knut Hickethier und<br />

Axel Schildt festhalten, vor allem dann, wenn man zur Herstellung von Öffentlichkeit<br />

die dafür jeweils entscheidenden Basis-Medien dieser Medien-Öffentlichkeiten in den<br />

Blick nimmt. 8 Die Autoren raten daher dazu, die Öffentlichkeiten der Literatur, des<br />

Theaters, Kinos, Radios, Fernsehens oder auch der neuen Medien etc. jeweils für sich zu<br />

untersuchen, weil man nicht davon ausgehen könne, dass sie identische Merkmale aufweisen,<br />

selbst wenn man Überschneidungen in Rechnung stellt. Diese Feststellungen<br />

können jedoch nicht nur für die Öffentlichkeiten der Medien gelten, sondern für den<br />

ganzen Bereich der Kultur 9 : für die Öffentlichkeiten des Fußballs, von Kneipen, des<br />

6 Hohendahl: Öff entlichkeit (wie Anm. 4), S. 3.<br />

7 Vgl. u. a. Jörg Requate: „Öff entlichkeit und Medien als Gegenstände historischer Analyse“. In: Geschichte<br />

und Gesellschaft , 25. Jg., 1999, Heft 1, S. 5-32; Karl Christian Führer, Knut Hickethier, Axel Schildt:<br />

„Öff entlichkeit – Medien – Geschichte. Konzepte der modernen Öff entlichkeit und Zugänge zu ihrer<br />

Erforschung“. In: Archiv für Sozialgeschichte, 41. Jg., 2001, S. 2-32; sowie Schildt (wie Anm. 2).<br />

8 Führer, Hickethier, Schildt: „Öff entlichkeit – Medien – Geschichte“ (wie Anm. 7).<br />

9 Der Kulturbegriff folgt hier einem weiten und wertneutralen Verständnis von Unterhaltungskultur; vgl.<br />

Kaspar Maase: Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850-1970. Frankfurt/M. 2001.<br />

9


‚Öffentlichkeit‘ und ‚<strong>Kinoöffentlichkeit</strong>’<br />

Tourismus oder auch der Vereine, Spielplätze, Kurorte, Volksfeste usw. mitsamt ihren<br />

jeweils sehr unterschiedlichen Publikumsschichten oder gar Fangemeinden.<br />

So gesehen drängt sich die Frage auf, weshalb man weiterhin von ‚Öffentlichkeiten’<br />

und ‚Teilöffentlichkeiten’ sprechen sollte und nicht vom ‚Publikum’, das in Komposita<br />

wie ‚Theaterpublikum’, ‚Kinopublikum’ oder dem ‚Fußballpublikum’ etc. fester<br />

Bestandteil des Sprachgebrauchs ist. Begriffsgeschichtliche Studien zum Gegenstand<br />

von ‚Öffentlichkeit’ beziehen den Begriff des Publikums und dessen Verständnis und<br />

semantischen Wandel mit in die Diskussion ein, und auch Jürgen Habermas benutzt<br />

den Publikumsbegriff oft zur Erläuterung seines Modells von bürgerlicher Öffentlichkeit<br />

im 18. Jahrhundert.<br />

Ursprünglich waren beide Begriffe fast synonym, entfernten sich dann jedoch<br />

von einander, so dass mittlerweile ein deutlicher Unterschied besteht. ‚Publikum’<br />

meint jetzt ein präsentisch anwesendes Veranstaltungspublikum von an speziellen<br />

Angeboten interessierten Individuen10 : „der Begriff des Publikums [wird] heute<br />

durchgehend als ein empirischer Begriff gebraucht [...], der die Situierung einer<br />

Gruppe von individuellen Personen gegenüber einem Autor von Kommunikation<br />

bezeichnet“ 11 . Ein solches ‚Publikum’ kann man mit entsprechenden Maßnahmen<br />

empirisch exakt nach bestimmten Kategorien erfassen, etwa nach Geschlechts- und<br />

Alterszugehörigkeit oder sozialer, bildungsbezogener oder regionaler Zuordnung.<br />

Solche empirischen Bestandsaufnahmen lassen sich zu heutigen Fernsehsendungen<br />

via Einschaltquote, Befragung relativ exakt bestimmen. Die dafür erforderlichen Daten<br />

sind in der retrospektiven historischen Kino-Forschung dagegen sehr viel schwieriger<br />

zu ermitteln. Schon dies spricht dagegen, die Erforschung des Kinos auf die<br />

Erforschung seiner Publikumsschichten zu begrenzen. 12<br />

Hinzu kommt ein systematischer Gesichtspunkt. Er berücksichtigt, dass das Konzept<br />

von Öffentlichkeit, wie es von Habermas geschaffen wurde und im Folgenden<br />

weiterentwickelt wird, die Perspektive der Untersuchung nicht auf die Vorstellung<br />

eines nur reagierenden Publikums einschränken sollte. Dies wird bereits aus einer<br />

Defi nition des Begriffs aus kommunikations wissen schaftlicher Sicht deutlich:<br />

Öffentlichkeit bildet ein intermediäres System, dessen politische Funktion in<br />

der Aufnahme (Input) und Verarbeitung (Throughput) bestimmter Themen<br />

und Meinungen sowie der Vermittlung der aus dieser Verarbeitung entstehen-<br />

10 Publikum: die „Gesamtheit der Zuschauer, Zuhörer einer Veranstaltung [...] die Gesamtheit von Menschen,<br />

die an etwas Bestimmtem, bes. an Kunst, Wissenschaft o.Ä. interessiert sind, [...] die Gesamtheit<br />

der Gäste, Besucher in einem Lokal, Kur-, Ferienort o.Ä., bzw. die Gesamtheit von Personen, die jmdm.<br />

bei etwas zuhören, zusehen.“ (Duden. Deutsches Universalwörterbuch. Mannheim u.a. 2001, S. 1253).<br />

11 Hohendahl: Öff entlichkeit (wie Anm. 4), S. 3.<br />

12 Dazu Emilie Altenloh: Zur Soziologie des Kino. Die Kino-Unternehmung und die sozialen Schichten ihrer<br />

Besucher. Jena 1914 (Diss. Heidelberg 1913; neu Hamburg 1977): Auswertung bei Corinna Müller: Frühe<br />

deutsche Kinematographie. Formale, wirtschaft liche und kulturelle Entwicklungen 1907-1912. Stuttgart,<br />

Weimar 1994, S. 200-209; Helmut H. Diederichs: Frühgeschichte deutscher Filmtheorie. Ihre Entstehung<br />

und Entwicklung bis zum Ersten Weltkrieg. Habil. Frankfurt a. M. 1996 http://www.soziales.fh -dortmund.<br />

de/diederichs/publ/habilita.htm, S. 227-239.<br />

10


‚Öffentlichkeit‘ und ‚<strong>Kinoöffentlichkeit</strong>’<br />

den öffentlichen Meinungen (Output) einerseits an die Bürger, andererseits<br />

an das politische System besteht. 13<br />

Diese Begriffsbestimmung zeigt, dass das Phänomen Öffentlichkeit ein ‚System’ bildet,<br />

an dem mehrere Instanzen beteiligt sind, und diese am ‚System’ Öffentlichkeit<br />

beteiligten Instanzen kann man auch mit der klassischen Trias von ‚Produktion’,<br />

‚Distribution’ und ‚Rezeption’ von Medienprodukten beschreiben, wodurch sich die<br />

Perspektive einer Untersuchung von Öffentlichkeit auf alle diese Instanzen erweitert<br />

und diese dabei zugleich in ein dynamisches Wechselverhältnis versetzt. Damit ist<br />

klargestellt, dass der Begriff Öffentlichkeit bereits in seiner Konzentration auf den<br />

Bereich der politischen Information nicht einlinige, sondern reziproke Prozesse des<br />

Austausches und der Wirkung zwischen Bürger und politischem System bezeichnet.<br />

Dem entspricht, dass die Forderung, jeder Rezipient müsse schon als mündiger Leser<br />

mindestens auch Mit-Produzent seiner eigenen Auffassungen sein, bereits das Funktionsprinzip<br />

literarischer und politischer Zeitschriften um 1800 kennzeichnet. Was<br />

die Utopie, dass sich der Leser auch selber „an ein Publikum durch Schriften“ wendet<br />

und damit den Gang der öffentlichen Meinung mitbestimmt, in den Worten des soeben<br />

zitierten Philosophen Immanuel Kant durchaus einschließt. 14<br />

Vor diesem Hintergrund impliziert die Übertragung des Begriffs Öffentlichkeit<br />

in die Kinoforschung die Hypothese, dass auch der in seiner Wirkung nicht zu bestreitende<br />

Einfl ussfaktor einer industriell organisierten Filmproduktion keineswegs<br />

dazu führt, dass die Filmzuschauer auf den Status von mehr oder weniger passiv reagierenden<br />

Rezipienten reduziert werden. Die Übertragung des Begriffs Öffentlichkeit<br />

geht vielmehr von der Prämisse aus, dass es auch im System ,Kino’ zumindest tendenziell<br />

rückbezügliche Wirkungsprozesse zu beobachten gibt, etwa dann, wenn die<br />

Zuschauer am Ort bestimmte Kinos oder bestimmte Programme und Filme mehr<br />

favorisieren oder ablehnen als andere, so dass die Kinos Leitlinien für die Programmgestaltung<br />

erhalten. Der Publikumserfolg bestimmter Filme beeinfl usst wiederum<br />

auch die Filmproduktion, indem diese sich aus kommerziellen Gründen am besonders<br />

großen Publikumszuspruch mit orientiert. Man kann zwar nicht annehmen<br />

und behaupten (wie es die Filmindustrie zu tun pfl egt), dass der Wille des Publikums<br />

den entscheidenden Machtfaktor im System ‚<strong>Kinoöffentlichkeit</strong>’ ausmacht und dessen<br />

Leitlinie bildet – dies anzunehmen wäre naiv –, doch ganz ohne Einfl uss ist, wie gesagt,<br />

das Kinopublikum nicht. Zwar kann die Filmindustrie das Zuschauerverhalten ihrerseits<br />

beeinfl ussen, indem sie auf bestimmte Filme massiv durch Werbemittel aufmerksam<br />

macht und dadurch den Kinobesuch stimuliert, doch Misserfolge groß lancierter<br />

13 Jürgen Gerhards, Friedhelm Neidhardt: „Strukturen und Funktionen moderner Öff entlichkeit. Fragestellungen<br />

und Ansätze“. In: Stefan Müller-Doohm, Klaus Neumann-Braun (Hg.): Öff entlichkeit, Kultur,<br />

Massenmedien. Opladen 1991, S. 31-90, hier S. 34-35.<br />

14 Vgl. Immanuel Kant: „Beantwortung der Frage: Was ist Aufk lärung?“ (1784). Zit. nach ders.: Schrift en<br />

zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik. Hg. v. Wilhelm Weichschedel. Darmstadt<br />

1964, S. 56.<br />

11


‚Öffentlichkeit‘ und ‚<strong>Kinoöffentlichkeit</strong>’<br />

amerikanischer ‚Blockbuster’ in Europa zeigen, dass breite Reklamekampagnen nicht<br />

zwangsläufi g zum Erfolg führen. Mit anderen Worten: Obwohl die ‚Macht des Publikums’<br />

auch im System von <strong>Kinoöffentlichkeit</strong> insgesamt gesehen sicherlich begrenzt<br />

ist, bildet sie dennoch einen nicht zu unterschätzenden Einfl ussfaktor.<br />

Eine daran anknüpfende produktive Übertragung des Begriffs Öffentlichkeit in die<br />

Bereiche der ,Kulturindustrie’ setzt voraus, dass der Begriff Öffentlichkeit nicht länger,<br />

wie in der zitierten Begriffsbestimmung der Soziologen und Kommunikationswissenschaftler<br />

Jürgen Gerhards und Friedhelm Neidhardt geschehen 15 , auf die Bildung einer<br />

‚öffentlichen Meinung’ bzw. ‚öffentlicher Meinungen’ im Sinn einer politischen Willensbildung<br />

eingeschränkt wird, sondern den Bereich einer vornehmlich auf Unterhaltung<br />

fokussierten modernen Medienkultur einschließt. Dafür spricht, dass ein stets<br />

nur mit Zeitverzögerung ,übertragendes’ Kino auf der einen Seite mit der politischen<br />

Informationsvermittlung des auditiven Live-Mediums Hörfunk oder gar des audiovisuellen<br />

Live-Mediums Fernsehen strukturell nicht zu konkurrieren vermag, was auf<br />

der anderen Seite nicht ausschließt, dass Kino und Printmedien auch in der Informationsvermittlung<br />

einen wechselseitig produktiven Medienverbund eingehen konnten. 16<br />

Dabei ist jedoch zu bedenken, dass die anfangs sehr erfolgreich mit dem Monopol des<br />

bewegten Bilds arbeitende ,optische Berichterstattung’ des frühen Films sich immer<br />

als Teil eines Unterhaltungsprogramms verstand, das Information einschloss, sich aber<br />

nicht auf diese einschränkte oder diese für sich monopolisieren wollte. Kino konzentrierte<br />

sich vielmehr im medialen System für Informationsvermittlung auf die – wie<br />

seine Befürworter selbst betonten –‚Illustration der Tagespresse’; die Funktion der politischen<br />

Meinungsbildung im eigentlichen Sinn hatte die Presse inne.<br />

Vor diesem Hintergrund können wir die bereits mehrfach erhobene Forderung<br />

nach einer auch außerpolitische Bereiche wie zum Beispiel Unterhaltung umfassenden<br />

„kulturellen Öffnung des Öffentlichkeitsbegriffs“ nur mit Nachdruck unterstützen.<br />

17 Alles, was im Gegensatz zur zweckgerichteten Information dem Bereich<br />

einer in diesem Sinn zweckfreien Unterhaltung angehört, sollte in einen dementsprechend<br />

weit gefassten Begriff von kultureller Öffentlichkeit einbezogen werden. 18<br />

Er kann dann alles das mit umfassen, was bereits um 1900 weder der Information<br />

noch der Bildung, sondern der diese Bereiche einschließenden Zerstreuung eines an<br />

15 Vgl. ähnlich auch Müller-Doohm, Neumann-Braun: Öff entlichkeit (wie Anm. 13); Günter Bentele, Manfred<br />

Rühl (Hg.): Th eorien öff entlicher Kommunikation. Problemfelder, Positionen, Perspektiven. München<br />

1993 (Schrift en der DGPuK 19); Rudolf Maresch (Hg.): Medien und Öff entlichkeit. Positionen, Symptome,<br />

Simulationsbrüche. München 1996; Peter Szyszka (Hg.): Öff entlichkeit. Diskurs zu einem Schlüsselbegriff<br />

der Organisationskommunikation. Opladen 1999.<br />

16 Vgl. hierzu den Beitrag von Pelle Snickars am Beispiel der Berichterstattung über das Erdbeben von<br />

Messina (1909) in diesem Band.<br />

17 Vgl. Jörg Requate: „Öff entlichkeit und Medien als Gegenstände historischer Analyse“. In: Geschichte und<br />

Gesellschaft , Jg. 1999, H. 1, S. 5-32; Hartmut Weßler: Öff entlichkeit als Prozeß. Opladen 1999, S. 37.<br />

18 Knut Hickethier hat hierfür den Begriff der Unterhaltungsöff entlichkeit geprägt; vgl. ders.: „Öff entlichkeit<br />

und Öff entlichkeiten“. In: Ders.: Einführung in die Medienwissenschaft . Stuttgart, Weimar 2003, S.<br />

202-221, hier bes. S. 214.<br />

12


‚Öffentlichkeit‘ und ‚<strong>Kinoöffentlichkeit</strong>’<br />

schnelle Reizwechsel gewöhnten, insbesondere großstädtischen Publikums zugeordnet<br />

werden konnte 19 und heute, hundert Jahre später, (nicht ohne medienkritische Polemik)<br />

die Vorstellung weithin zerstreuter (Medien-)Öffentlichkeiten kennzeichnet. 20<br />

Daraus lässt sich ein erstes Zwischenresümee ableiten: Nimmt man die bisher<br />

erörterten Argumente zusammen, dann spricht vieles dafür, sich nicht länger daran<br />

zu stören, dass der Begriff Öffentlichkeit am Beispiel einer im 18. Jahrhundert<br />

sich ausbildenden Schrift- und Bildungs-Kultur gewonnen wurde, seine Befürworter<br />

daraus die ebenso normative wie exklusive Idee einer an das Medium der Schrift<br />

gebundenen kritisch-emanzipatorischen politischen Öffentlichkeit entwickelten und<br />

daher überall dort, wo „das Publikum als Hörende und Sehende“ angesprochen wurde,<br />

einen Verlust an „Mündigkeit“ feststellen wollten. 21 Statt sich über solche kulturkritische<br />

Perhorreszierungen zu echauffi eren (oder ihnen immer noch zu folgen),<br />

möchten wir mit unserer Erprobung des Begriffs Kino-Öffentlichkeit dazu auffordern,<br />

an der reziprok-dynamischen und multifaktorellen Dimension dieses Begriffs<br />

festzuhalten und ihn aus seiner überwiegend schriftkulturellen und/oder informationspolitischen<br />

Fixierung herauszulösen.<br />

Um hier voranzukommen, ist es – erstens – notwendig ‚Kultur’ nicht länger mit einer<br />

bestimmten historischen Schrift- und Bildungskultur gleichzusetzen, sondern mit<br />

diesem Begriff die Gesamtheit aller Zeichensysteme und Handlungen anzusprechen, in<br />

denen in einer Gesellschaft über Werte, Sozial-Rituale und Sinnzuschreibungen kommuniziert<br />

wird. Weiter ist – zweitens - festzuhalten, dass der Begriff der Öffentlichkeit<br />

nicht an ein bestimmtes Medium gebunden ist, sondern rein heuristisch gesehen lediglich<br />

voraussetzt, dass sich zwischen unterschiedlichen Akteuren mehr oder weniger<br />

verdichtete Prozesse der Kommunikation in bestimmten Räumen mit Hilfe bestimmter<br />

Medien ereignen. Hinzu kommt – drittens -, dass sich nach dem Ende des Schriftmonopols<br />

die Rede von der ,einen’ Öffentlichkeit schon aufgrund einer zunehmend diversifi -<br />

zierten Medienwelt verbietet. Woraus sich – viertens – folgern lässt, dass Öffentlichkeit<br />

überall dort stattfi ndet, wo Akteure in Räumen mit Hilfe von Medien das herstellen und<br />

verdichten, was wir heute Kommunikation nennen. Die dazu erforderlichen Räume<br />

können (im Kaffeehaus des 18. Jahrhunderts oder im Kino des 20. Jahrhunderts) die<br />

physisch existenten Räume einer bestimmten Veranstaltungsöffentlichkeit ausmachen<br />

oder die medial generierte Refl exionsöffentlichkeit eines in einer Zeitung oder in einem<br />

Kino über kulturelle Ereignisse oder neue Filmpremieren sich austauschenden Publikums<br />

bezeichnen.<br />

Man könnte auch pointieren: Öffentlichkeiten sind ohne Medien gar nicht denkbar,<br />

und Öffentlichkeiten sind so gesehen stets als plural verfasste Medien-Teilöffentlichkeiten<br />

zu denken. Ob und inwiefern sich aus deren Zusammenwirken so etwas wie eine neue<br />

Form von Gesamtöffentlichkeit herausbildet, wäre jeweils im Einzelfall zu prüfen.<br />

19 Vgl. Harro Segeberg: Literatur im technischen Zeitalter. Darmstadt 1997, S. 267ff .<br />

20 Vgl. Fohrmann, Orzessek (Hg.): Zerstreute Öff entlichkeiten (wie Anm. 3).<br />

21 Vgl. Habermas: Öff entlichkeit (wie Anm. 1), S. 187f.<br />

13


‚Öffentlichkeit‘ und ‚<strong>Kinoöffentlichkeit</strong>’<br />

Warum Kino-Öffentlichkeit?<br />

In einer solchen Perspektive liegt die Bedeutung von Fotografi e, Film, Hörfunk und<br />

Fernsehen nicht darin, dass mit ihnen Medien überhaupt in die Entstehung und<br />

Verdichtung von Öffentlichkeiten eingreifen, sondern darin, dass die damit markierten<br />

Prozesse nunmehr von Medien ausgehen, die nicht länger der Handwerks-<br />

Technologie einer noch relativ statisch verfassten Vor- bis Frühmoderne angehören;<br />

an ihrer Stelle wird jetzt die Maschinen-Technologie einer seit 1800 stetig beschleunigten<br />

technisch-industriellen Moderne wirksam. Dieser Zusammenhang macht es<br />

verständlich, dass die im frühen 20. Jahrhundert besonders expansiven ‚neuen’ Medien<br />

Phonograph, Grammophon, Telefon, Telegraphie oder (Stumm-)Film zusammen<br />

mit der illustrierten Tages- und Wochenpresse der Zeit den Umbau sozialer Hierarchien<br />

und Topographien keineswegs nur abbilden, sondern durch die Einbeziehung<br />

immer neuer Publikumschichten selber aktiv mit vorantreiben. Es ist dieses Wechselverhältnis,<br />

in dem moderne Massenmedien das mit erzeugen, was den das 20. Jahrhundert<br />

prägenden Typus massenmedial verfasster Unterhaltungs-Öffentlichkeiten<br />

ausmacht. Kino ist zwar nicht ,die’ Medien-Öffentlichkeit, aber doch ein formativer<br />

Bestandteil dieser Medien-Öffentlichkeit.<br />

Will man den spezifi schen Beitrag des Kinos zu deren Entstehen qualitativ gewichten,<br />

dann bietet bereits die kommunikations- und politikwissenschaftliche Forschung<br />

durchaus brauchbare methodische Hilfestellungen zum Lichten des potentiellen<br />

Dickichts der hier wirksamen Faktoren. So unterscheiden Jürgen Gerhards und<br />

Friedhelm Neidhardt im Zuge ihrer bereits zitierten Untersuchung zu Strukturen und<br />

Funktionen moderner Öffentlichkeit drei grundlegende Formen von Öffentlichkeit:<br />

(1) eine „Encounter-Öffent lich keit“, die sich bildet, „wenn Menschen heterogener<br />

Herkünfte mehr oder weniger zufällig aufeinander treffen und miteinander kommunizieren“<br />

wie in Kaffeehäusern oder Salons, (2) eine „Veranstaltungsöffentlichkeit“,<br />

wie sie bei öffentlichen Versammlungen oder Veranstaltungen entsteht, und (3) die<br />

Öffentlichkeit der Massenmedien. 22<br />

Diese Unterscheidung ermöglicht eine erste Verortung des Kinos in der Medienöffentlichkeit<br />

– auch und gerade in historischer Hinsicht. Denn das Kino – und vor allem<br />

das frühe Kino zur Zeit seiner Entstehung – umschließt noch alle diese drei Formen<br />

von Öffentlichkeit: als (1) Zufallsversammlung einer miteinander kommunizierenden<br />

‚Encounter-Öffentlichkeit’ zum Beispiel in einer Kneipe, mit deren Betrieb frühe Kinos<br />

nicht selten verbunden waren; auch strukturell gestattete das Medium Stummfi lm die<br />

Kommunikation untereinander und im Kommentar des Medienangebots (wenigstens<br />

zuweilen); als (2) ‚Veranstaltungsöffentlichkeit’, die allgemein zugänglich war, somit als<br />

öffentlicher Ort fungierte und gezielt aufgesucht werden musste, so dass man sich beim<br />

Betreten des Kinos zur ‚öffentlichen Person’ machte; (3) entstand in Film und Kino<br />

jedoch auch ein von Anonymität und Vereinzelung geprägtes Massenmedium.<br />

22 Vgl. Gerhards, Neidhardt: „Strukturen und Funktionen“ (wie Anm. 13), S. 50ff .<br />

14


‚Öffentlichkeit‘ und ‚<strong>Kinoöffentlichkeit</strong>’<br />

In dieser Hinsicht fungierte das Kino kulturhistorisch als ein wichtiges Binde- und<br />

Zwischenglied zwischen traditionellen und modernen Medien und erfüllte damit eine<br />

elementare Mittlerfunktion zwischen beiden: Einerseits war es gekennzeichnet von der<br />

Familiarität des (Kneipen-) ‚Kinos um die Ecke’ und der (Semi-) Privatheit des Kinodunkels,<br />

worin es später eine Brücke zu den Individualmedien Radio, Fernsehen, Internet<br />

bildete. Andererseits war das Kino ein öffentlicher Ort des ‚Sehens und Gesehen-<br />

Werdens’ und ähnelte darin den traditionellen Foren der Kultur, worunter in diesem<br />

Zusammenhang Theater, Musikbühnen, Varietés, politische Versammlungen, Vereinsversammlungen<br />

oder Informationsveranstaltungen allgemeiner Art zu verstehen sind.<br />

Die innovative und vermittelnde Funktion des Kinos bestand zunächst einmal<br />

darin, dass es anders als die Bühnen keine Umbaupausen für die Einrichtung wechselnder<br />

Szenarien der einzelnen Akte und somit kein Foyer benötigte, in das die Zuschauer<br />

während der Umbaupausen entlassen wurden. Deshalb führten die ‚Lichtspiel-Theater’<br />

kulturhistorisch das im bisherigen Sinn dysfunktionale Foyer ein, das<br />

nicht länger Versammlungsort, sondern nurmehr Schauobjekt war, das man nach<br />

dem Einlass oder zum Verlassen des Kinos durchquerte, das kaum mehr eine soziale<br />

Funktion hatte und keiner gesellschaftlichen Kontrolle unterlag. Bereits in dieser<br />

Hinsicht fungierte das Kino als kulturhistorische Institution eines Massenmediums,<br />

das als öffentliche Instanz eine kontrollfreie Anonymisierung und Individualisierung<br />

seines Gebrauchs zuließ und förderte.<br />

Film und Kino bedeuteten darüber hinaus einen ‚harten Einschnitt’ in der räumlichen<br />

Ausdehnung von kultureller Öffentlichkeit: Der Film war das erste visuelle<br />

(und später auch audiovisuelle) Medium in der Geschichte, das sich seit 1905/06 mit<br />

dem Kino massiv in allen bevölkerungsreichen, ökonomisch interessanten Ansiedlungen<br />

ausbreitete und sich in die Lebenswelt der Bewohner drängte – viele Orte in<br />

Deutschland, die um 1910 dann drei oder vier Kinos beherbergten, hatten nie ein<br />

Theater und auch keine anderen stationären Veranstaltungsmedien besessen. Im Zug<br />

der Ausbreitung des Kinos erlebten wiederum die am dichtesten besiedelten und daher<br />

für avisierte Massenpublika besonders interessanten Metropolen und Großstädte<br />

einen unerwartet schnellen und intensiven Kino-Boom, in dessen Verlauf die Kinos<br />

das Stadtbild nachhaltig veränderten:<br />

Es ist da draußen, irgendwo am Ende der Frankfurter Allee. Regenfeucht und<br />

trübe geht der Sonnabend zu Ende, die Promenade mitten in der breiten Straße<br />

liegt fast ganz im Dunkeln, und nur hier und da werfen die Schaufenster<br />

ein grelles gelbes oder rötliches Licht auf die Menschen, die in hastender Müdigkeit<br />

von der Arbeit nach Hause eilen. […] Wie eine Insel liegt nur das Kinotheater<br />

da, fröhlich und unbekümmert und alles überschreiend mit seiner<br />

Lichtreklame, seinen riesengroßen, grellfarbenen Plakaten. 23<br />

23 Wilhelm Cremer: „Parsifal. Urauff ührung im Kino des Ostens“. In: Berliner Börsen-Courier, Nr. 127,<br />

16.3.1913, 2. Beilage, S. 9; zit. n. Jörg Schweinitz (Hg.): Prolog vor dem Film. Nachdenken über ein neues<br />

Medium 1909-1914. Leipzig 1992, S. 43-46; hier S. 43.<br />

15


‚Öffentlichkeit‘ und ‚<strong>Kinoöffentlichkeit</strong>’<br />

Die Ursachen dafür, dass sich das Kino derart massiv ausbreiten konnte, waren ökonomischer<br />

und technischer Natur. In ökonomischer Hinsicht war das Betreiben von<br />

Opern-, Theater-, Varietébühnen sehr personal- und kostenintensiv, beschränkte deren<br />

rentablen Betrieb auf Großstädte und hielt deshalb die Anzahl der genannten<br />

Einrichtungen sehr überschaubar, ebenso wie die der gleichfalls aufwendigen und<br />

kostenintensiven Panoramen. Die dem Film und Kino wohl am unmittelbarsten<br />

verwandten Laterna magica-Schauen entwickelten sich nach dem gegenwärtigen<br />

Wissensstand sogar überhaupt nicht zu einem ständigen örtlichen Unterhaltungsangebot.<br />

Dies mag zwar auf den ersten Blick erstaunlich erscheinen – waren Laterna<br />

magica-Vorführungen doch bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert ebenso ‚industriell’<br />

organisiert wie später das Kino (man denke nur an die Massenfertigung der<br />

Bilder oder die institutionalisierte Programmdistribution).<br />

Eine Erklärung hierfür liefert die technische Handhabung dieses Mediums: Die<br />

Laterna magica-Projektion war ein Kunsthandwerk, das mit hohen Anforderungen<br />

an den Vorführer verbunden war, der jeden Handgriff während der Vorstellung akkurat<br />

beherrschen und die Programmgestaltung genau einstudieren musste. Die<br />

Programme ließen sich daher nicht in einem schnellen Rhythmus austauschen, wie<br />

es für stationäre Vergnügungsangebote notwendig war. Dies führte dazu, dass die<br />

Laterna magica zu einem prädestinierten Betätigungsgebiet für reisende Schausteller<br />

wurde, die mit einem kleinen Repertoire von Ort zu Ort zogen und auf diese ebenso<br />

simple wie ökonomisch ertragreiche Weise statt des Programms das Publikum des<br />

Programms austauschten.<br />

In diesem Kontext wird es verständlich, dass die Voraussetzung für eine quantitativ<br />

ausgreifende, dauerhafte lokale Präsenz als kollektives visuelles Unterhaltungsmedium<br />

erst mit dem Film und dem Kino gegeben war: Auf allen Ebenen ungleich<br />

kostengünstiger, ließen sich die Kinoprogramme dank einer äußerst rasch (dem<br />

Vorbild der Laterna magica abgeschauten) perfekionierten Distribution sehr viel<br />

schneller austauschen, und auch das Betreiben eines Kinos war personalarm, im<br />

technischen Betrieb vergleichsweise einfach zu handhaben, kostengünstig und bedurfte<br />

zudem keiner allzu großen Vorbildung und Schulung. Dank dieser günstigen<br />

Voraussetzungen konnte der Film das erste Massenmedium in der Geschichte der<br />

Unterhaltungsöffentlichkeit im Sektor der Veranstaltungsöffentlichkeit werden, dem<br />

es gelang, bis dahin ungekannte Mengen von Publikumsschichten zu bedienen und<br />

durch konkurrenzlos günstige Preis-Leistungs-Angebote für sich zu interessieren<br />

und zu gewinnen. Was die illustrierte Presse seit Mitte des 19. Jahrhunderts auf der<br />

Ebene der Literatur geleistet hatte – erstmals ein literarisches Publikum zu fi nden,<br />

das (nicht nur im Ausnahmefall des Bestsellers) in die Hunderttausende ging – vollbrachte<br />

der Film auf der Ebene der Bildmedien und Veranstaltungsöffentlichkeiten<br />

in quantitativ neuer Weise, indem er eine neue kulturelle Öffentlichkeit für Millionen<br />

zuvor an der Unterhaltungskultur nicht Beteiligte schuf. Insofern markiert das Kino<br />

einen ganz zentralen und impulsgebenden Markstein zur Entstehung dessen, was wir<br />

heute unter einer Medienmoderne verstehen.<br />

16


‚Öffentlichkeit‘ und ‚<strong>Kinoöffentlichkeit</strong>’<br />

Schon dieser Exkurs in die Frühgeschichte des Kinos zeigt, wie produktiv es sein<br />

kann, den Begriff Öffentlichkeit in die Film- und Kinoforschung hineinzutragen.<br />

Denn dann zeigt sich: Das Kino markierte eine wichtige Zäsur in der Kulturgeschichte<br />

medialer Öffentlichkeiten deshalb, weil es sich mit seiner extrem schnellen und<br />

raumgreifenden Verbreitung massiv ins Alltagsleben der Zeitgenossen drängte und<br />

städtische Erscheinungsprofi le nachhaltig veränderte. Auch und nicht zuletzt auf diesen<br />

Ebenen bildete das Kino radikal neue Formen von Öffentlichkeit aus, die bereits<br />

dem Kaiserreich das Antlitz einer wilhelminischen ,Spaßgesellschaft’ 24 verleihen.<br />

Dimensionen von <strong>Kinoöffentlichkeit</strong><br />

Um solche Erkenntnisprozesse weiter voranzutreiben, schlagen wir vor, Begriff und<br />

Sache einer <strong>Kinoöffentlichkeit</strong> in terminologischer Hinsicht wie folgt zu vermessen.<br />

In diesem Sinne meint ,<strong>Kinoöffentlichkeit</strong>’ in unserem Hamburger Projekt:<br />

1. Die Gesamtheit aller topographischen, ökono mi schen, programmästhetischen<br />

und rezep tions historischen Faktoren, die zuerst im Rahmen be reits existierender<br />

Versammlungs öffentlich keiten (wie der des Varietés oder des ‚Doms’) und dann<br />

im Rahmen einer eigenen, dauerhaft präsenten Veranstal tungs öf fent lichkeit des<br />

ortsfesten Kinos die Produktion, die Distribution und die Rezep tion von Filmen<br />

ermög li chen und steuern (also alles, was im engeren Sinn zum ,Kino’ im Sinne des<br />

französischen Terminus ,cinéma’ gehört).<br />

2. Die Gesamtheit aller kulturellen Insti tu ti onen, in denen die Veranstaltungs-<br />

öffentlich keiten des Kinos in der Form einer refl exiven Begleitöffentlichkeit kommentiert<br />

(Presse), refl ektiert (Kinodebatten) und reglementiert (Polizeiberichte,<br />

Zensur) werden.<br />

3. Die strategisch anvisierten sowie, insofern sich dies gesichert feststellen lässt, die<br />

tatsächlich erreichten Publikumsschichten des Kinos.<br />

Was die im Rahmen dieses Modells zu berücksichtigenden Faktoren angeht, so verbinden<br />

wir mit ihrer Aufl istung nicht die Vorstellung, eine jede empirische Untersuchung<br />

müsse alle diese Faktoren ebenso vollständig wie mit gleicher Ausführlichkeit<br />

erheben und auswerten. Wir gehen vielmehr davon aus, dass die Idee eines Zusammenwirkens<br />

aller dieser Faktoren in Form einer heuristischen Leithypothese den<br />

Horizont konkreter Falluntersuchungen zur Gestalt und Bedeutung einer <strong>Kinoöffentlichkeit</strong><br />

im Ensemble kultureller Öffentlichkeiten produktiv erweitert. Die Frage,<br />

zu welchen dieser Faktoren im Einzelfall recherchiert und ausgewertet werden soll,<br />

wird sich an der jeweils zu ermittelnden Quellenlage und am konkreten Forschungsinteresse<br />

ausrichten.<br />

24 Bernd Kittlaus 2002 im Internet unter http://www.single-generation.de/wissenschaft /kaspar_maase.htm.<br />

17


‚Öffentlichkeit‘ und ‚<strong>Kinoöffentlichkeit</strong>’<br />

Will man auf diese Weise spezielle und allgemeine Forschungsperspektiven miteinander<br />

verknüpfen, dann erfordert dies eine genaue Unterscheidung zwischen Aussagen,<br />

die sich im Rahmen empirisch gesättigter Einzelstudien auf so exakt wie möglich<br />

erhobene Einzelfälle beziehen, und Aussagen, die typologisch verallgemeinern und sich<br />

darin als Vorgabe für weitere Forschungen bewähren oder auch nicht bewähren. Aus<br />

beidem zusammen kann dann so etwas wie ein Gesamtbild zur Entstehung, Etablierung<br />

und Differenzierung von <strong>Kinoöffentlichkeit</strong> zwischen <strong>1895</strong> und <strong>1920</strong> entstehen.<br />

Fasst man in diesem Sinne unsere bisherigen Überlegungen, die bis jetzt gewonnenen<br />

Ergebnisse des Hamburger Projekts sowie die Beiträge zu diesem Band, die<br />

aus einer internationalen Fachkonferenz im Dezember 2003 hervorgegangen sind, in<br />

einer Mischung aus Rückblick und Vorausschau zusammen, so lassen sich für eine<br />

Gesamtansicht von ,<strong>Kinoöffentlichkeit</strong>’ schon jetzt, mit der gebotenen Vorsicht, die<br />

folgenden generalisierenden Annahmen begründen:<br />

1. Gerade wenn man auf das Anregungspotential des Begriffs Öffentlichkeit nicht<br />

länger verzichten will, so setzt dies mit Nachdruck voraus, den Begriff Öffentlichkeit<br />

kategorial nicht mit dem gleichzusetzen, was sein Mitbegründer Habermas als<br />

Modell einer medial wie sozial homogenen Schrift-Öffentlichkeit zum Ausgangspunkt<br />

seiner Untersuchungen über den Strukturwandel der Öffentlichkeit im 19.<br />

und 20. Jahrhundert gemacht hat. Anzustreben ist statt dessen (aus Gründen, die<br />

im einzelnen dargelegt wurden) ein kulturell erweiterter Öffentlichkeitsbegriff,<br />

der darüber hinaus nicht länger normativ auf die Vorstellung einer kritischen<br />

Informations-Öffentlichkeit festgelegt ist.<br />

2. Um dies zu leisten, erscheint es als sinnvoll, unter ‚Kultur’ alle Zeichensysteme<br />

und Handlungen zu verstehen, in denen sich eine Gesellschaft über ihre Werte,<br />

Normen und sozialen Rituale verständigt, und von ‚Öffentlichkeit’ überall dort zu<br />

sprechen, wo Akteure in bestimmten Räumen mit Hilfe bestimmter Medien eine<br />

kommunikative Verständigung über die in ihrer Gesellschaft geltenden Werte,<br />

Normen und Sozialrituale anstreben. Ob es sich dabei um Information oder Unterhaltung<br />

oder um Bildungs- oder Populär-Kultur handelt, ist im Rahmen einer<br />

solchen Vorstellung von kultureller Öffentlichkeit erst in zweiter Linie wichtig.<br />

3. In dieser Perspektive liegt (wie sich unsere dazu bereits ausgeführten Überlegungen<br />

jetzt generalisieren ließen) die Bedeutung der technischen Massenmedien<br />

des 20. Jahrhunderts nicht darin begründet, dass sie die Form einer auf Medien<br />

gestützten kulturellen Kommunikation überhaupt erst geschaffen hätten, sondern<br />

darin, dass technische Massenmedien eine nur mit ihrer Hilfe herstellbare Intensivierung<br />

und Extensivierung dieser kulturellen Öffentlichkeit möglich gemacht<br />

haben. Dies führt dazu, dass (um unsere dazu schon gegebenen Beispiele zu ergänzen)<br />

akustische und/oder visuelle Daten in Echtzeit übertragen (Radio, Fernsehen)<br />

oder beliebig oft und an wechselnden Orten zugleich reproduziert werden<br />

können (Kino); demgegenüber konnten Präsenzmedien wie Theater, Variéte oder<br />

18


‚Öffentlichkeit‘ und ‚<strong>Kinoöffentlichkeit</strong>’<br />

Panorama-Rundgemälde in der Regel nur an ihrem jeweiligen Ausstellungsort ihr<br />

Massenpublikum mit einem vergleichsweise großen Kostenaufwand erreichen.<br />

4. Diese konstitutive Rolle technischer Massenmedien führt dazu, dass sich die Gesamtheit<br />

einer bis um 1900 illustrativ angereicherten homogenen Schrift- und<br />

Druck-Öffentlichkeit in die Pluralität jeweils unterschiedlicher kultureller Teilöffentlichkeiten<br />

zersplittert, und Kino repräsentiert in dieser Perspektive eine wichtige,<br />

ausgesprochen dynamische Teilöffentlichkeit in der Pluralität dieser Medienöffentlichkeiten.<br />

In ihr kann die Vorstellung von Gesamtöffentlichkeit entweder<br />

aus dem Zusammenwirken mehrerer Teilöffentlichkeiten (Radio, Film, Massenpresse,<br />

Fernsehen) oder aus dem Integrationsanspruch einer (heutzutage) sich<br />

selbst als universal verstehenden neuen Medienöffentlichkeit (Computer, ‚Neue<br />

Medien’) entstehen.<br />

5. Für das 20. Jahrhundert möchten wir für die Herausbildung nunmehr massenmedial<br />

geprägter Kulturöffentlichkeiten am Beispiel der <strong>Kinoöffentlichkeit</strong>, idealtypisch<br />

gesprochen, im Folgenden vier Phasen unterscheiden, wobei wir davon ausgehen,<br />

dass diese Phasen einander in chronologischer Hinsicht keineswegs ablösen<br />

oder in aufsteigender Linie aufeinander folgen, sondern einander überlagern oder<br />

sich ineinander verschieben können. Insofern meinen wir kein teleologisches Entfaltungsmodell,<br />

sondern denken eher an im Einzelfall genau auszumessende Gemengelagen<br />

aus einander überkreuzenden medialen Neu- und Umschichtungen.<br />

In diesem Sinne sprechen wir im folgenden von<br />

einer Phase der Entstehung/Emergenz im Rahmen bereits etablierter kultureller<br />

Öffentlichkeiten (z.B. Varieté, Theater, Jahrmarkt etc.);<br />

einer Phase der Etablierung autonomer Öffentlichkeiten (in und um mobile<br />

und/oder ortsfeste Kinos)<br />

eine Phase des Strebens nach kultureller Akzeptanz innerhalb intern ausdifferenzierter<br />

Kino-Öffentlichkeiten (mit Kinoreformbewegung, Kinderkino, ,Autorenfi<br />

lm’ oder Kinodebatte)<br />

eine Phase der Neupositionierung von <strong>Kinoöffentlichkeit</strong> im Rahmen eines<br />

neu auszutarierenden Medienverbunds aus ‚neuen’ und ‚alten’ Öffentlichkeiten .<br />

6. Im Rahmen eines solchen Phasenmodells lassen sich integrative von konfrontativen<br />

sowie forcierende von retardierenden Verlaufsmodellen unterscheiden. Hinzu<br />

kommen metropolitane und lokale Ausprägungen, wobei sich in beiden Bereichen<br />

neben kommerzialisierten Modellen auch kommunitäre und partizipative Modelle<br />

mitunter überraschend lange behaupteten. In diesem Sinne sprechen die bisher<br />

ermittelten Ergebnisse entschieden dafür, dass sich unterschiedliche regionale<br />

und soziale Rahmenbedingungen maßgeblich auf die Ausbildung unterschiedlicher<br />

Verlaufsmodelle auswirkten, so dass sich nicht von einem ‚ehernen Schema’<br />

sprechen lässt. Unsere Beiträge legen eher den Gedanken an eine Pluralisierung<br />

von Kino und Kinogeschichte nahe und dem wäre, in den Grenzen einer monographisch<br />

ausgerichteten Sammelpublikation, im folgenden zuzuarbeiten.<br />

19


‚Öffentlichkeit‘ und ‚<strong>Kinoöffentlichkeit</strong>’<br />

Zu diesem Band<br />

Aus dem Gesagten folgt, dass wir das Kino zum Ausgangspunkt einer Untersuchung<br />

von kultureller Öffentlichkeit und deren Geschichte nicht deshalb gewählt haben,<br />

weil wir damit die Geschichte moderner Massenmedien einem teleologischen Entwicklungsdiskurs<br />

unterwerfen wollen. In ihm würden Film und Kino linear und<br />

ohne große Widerstände einer vor allem vom Kino repräsentierten ‚Medienmoderne’<br />

zuarbeiten, wodurch frühere oder zeitgleiche Medien, die aus der Perspektive des Kinos<br />

als technisch unvollkommen oder unattraktiv erscheinen, zu bloßen ‚Vorläufern’<br />

oder Begleiterscheinungen des Films erklärt würden. Ganz im Gegensatz dazu richten<br />

die Autorinnen und Autoren dieses Bandes ihren Blick dezidiert auch auf andere<br />

Medien, um die Multi-Medialität einer vom Kino keineswegs erfundenen, sondern<br />

mitgeprägten Medienmoderne zu erkunden. In diesem Sinne sei’s noch einmal betont:<br />

Kino ist nicht ,die’ Medienmoderne, sondern ein Teil von Medienmoderne, der<br />

in ihr historisch zunehmend an Bedeutung gewinnt.<br />

I. Hamburger <strong>Kinoöffentlichkeit</strong> und frühe Filmgeschichte in Deutschland<br />

Um dies plausibel zu machen, beginnt die Sektion „<strong>Kinoöffentlichkeit</strong> in Hamburg<br />

und frühe Filmgeschichte in Deutschland“ im Beitrag von Joseph Garncarz (Köln) mit<br />

einem Blick auf die Phase der Entstehung oder auch Emergenz von <strong>Kinoöffentlichkeit</strong><br />

im Rahmen von Varieté-Programmen und Wanderkinos. Danach beleuchtet der Beitrag<br />

die Phase der Etablierung eigenständiger ortsfester Kinos um und nach 1905/6.<br />

Garncarz‘ diachron weiche Bestandsaufnahme kann zeigen, wie sehr der Erfolg<br />

des Films zuerst aus der Anpassung an die ihm vorgegebenen Programmformen des<br />

Varietés und an die Erwartungen der Besucher von Wanderkinos auf Jahrmärkten<br />

und Volksfesten resultierte, bevor die Etablierung ortsfester Kinos um 1905/06 dem<br />

neuen Medium eine ebenso dauerhafte wie autonome Form von Veranstaltungsöffentlichkeit<br />

verschaffen konnte. Was mit anderen Worten heißt, dass der Film sowohl<br />

in der geschmeidigen Integration in bereits etablierte mediale Nutzungsformen als<br />

auch in der Verselbstständigung seiner eigenen Nutzungsformen und Programmangebote<br />

die technisch neue Qualität seiner ‚lebenden Photographien’ ausspielen<br />

konnte. Dass das seit 1905/06 nicht länger nur in mobilen, sondern nunmehr auch<br />

in ortsfesten Räumen öffentlich zugängliche, öffentlich beworbene und öffentlich<br />

kommentierte Kino erlebt in dieser Phase seiner Entwicklung einen in technischer,<br />

kommerzieller und ästhetischer Hinsicht ausgesprochen expansiven Aufschwung.<br />

Für die Zeit um 1909 geht die medienkomparatistisch weit ausholende synchrone<br />

Bestandsaufnahme von Pelle Snickars (Stockholm) aus von einer Analyse von zwei<br />

ausgewählten Medien-Events des Jahres 1909, dem von der Presse mit inszenierten<br />

spektakulären Flugversuch Armand Zipfels in Berlin-Tempelhof und der Berichterstattung<br />

von der Erdbebenkatastrophe in Messina am 28.12.1908. Snickars bietet<br />

außerdem eine detaillierte Beschreibung der Presse-Berichterstattung über die Medien<br />

der Zeit. Dabei gelangt die Studie zu dem Schluss, dass ,<strong>Kinoöffentlichkeit</strong>’ im<br />

20


‚Öffentlichkeit‘ und ‚<strong>Kinoöffentlichkeit</strong>’<br />

Gesamtensemble der ,Medienöffentlichkeiten’ dieser Zeit eine besonders wirksame<br />

Teilöffentlichkeit darstellt. So gelingt es dem Kino gerade im Kontext konkurrierender<br />

Medien besonders effektvoll, die technischen wie affektiven Vorzüge seiner<br />

„wohlgelungenen lebenden Bilder“ (S. 44) herauszustellen.<br />

Denn als eine Teilöffentlichkeit unter anderen vermag das Kino um 1909 zwar in<br />

quantitativer Hinsicht mit dem Bekanntheitsgrad und der Publikumsresonanz der<br />

noch immer dominanten illustrierten wie nicht-illustrierten Tages- und Wochenpresse<br />

nicht mitzuhalten; fi ktionale Kino-Genres müssen sich zudem mit dem bildungskonservativen<br />

Vorwurf des wohlfeilen Unterhaltungsschunds auseinandersetzten<br />

und können daher mit dem Bildungs- und Kulturwert der als ebenso dokumentarisch<br />

wie lehrreich geltenden Photographien und Lichtbilder nicht mithalten; ja<br />

das Kino wird, als technisch bereits bekanntes Medium, mit dem technisch innovativen<br />

Anspruch von Phonographen, Grammophonen, Schallplatten, Sprechmaschinen<br />

und ersten Radiosendungen konfrontiert. Mit den Worten Pelle Snickars gesprochen:<br />

“Newspapers and fi lm, cinemas and mass cultural venues, illustrated weeklies and<br />

photographs, slides, gramophones and phonographs, created a media network,“(S.<br />

48) in dessen öffentlicher Präsentation, Konsumtion und Refl exion Kino und Film<br />

in qualitativer Hinsicht dort reüssieren können, wo sie mit ihrer dokumentarischen<br />

„optischen Berichterstattung“ schneller und affektiv eindringlicher als andere visuelle<br />

Medien reagierten. „Einer Zeit, in der das Leben ,durch das Auge‘“ (vgl. S. 62)<br />

wahrgenommen wird, kann das Kino (so darf man, in die Zukunft hinein gewendet,<br />

folgern) besonders gut zu entsprechen.<br />

Es entspricht den Befunden Pelle Snickars zur Führungsposition der Tages- und<br />

Wochen-Presse, wenn der gleichfalls synchron operierende Beitrag von Jeanpaul Goergen<br />

(Berlin) auf die wichtige Rolle kulturell angesehener Zeitungen dort hinweist, wo es<br />

darum ging, die kulturelle Akzeptanz des Kinos als gleichberechtigte Kunstform in der<br />

literarischen Kultur der Zeit durchzusetzen. Ein wichtiges Mittel dazu sollte der sich<br />

vom reinen Unterhaltungsmedium abgrenzende ,Autorenfi lm’ und ‚Monumentalfi lm’<br />

der Jahre 1913/14 sein. Dazu beobachtet Goergen gezielt zwei große Berliner Tageszeitungen<br />

im September 1913 und gleicht sie mit der Kinofachpresse in diesem Zeitraum<br />

ab. Dabei stellt er einen signifi kanten Zusammenhang zwischen den großen, kostspieli<br />

gen Werbeanzeigen der in Berlin konzentrierten Filmindustrie, den Filmpremieren in<br />

den Uraufführungskinos und den sich daran anschließenden positiven Besprechungen<br />

der Filme fest; ihre Zitation in werbewirksamen Kampagnen der Kinofachpresse sollte<br />

die Wirkung dieser Besprechungen noch verstärken.<br />

Ergänzt werden solche Maßnahmen durch exklusive First Screenings für die Presse<br />

vor der öffentlichen Uraufführung kunstverdächtiger Premiere-Neuheiten oder die Bereitstellung<br />

von Extrakarten für Journalisten nicht nur bei Erst- und Uraufführungen,<br />

sondern auch bei Programmwechseln. Hinzu kommen die Anregung an die Feuilletons,<br />

für Filmkritik eigene Kolumnen einzurichten; der Rat an Kinobesitzer, vorformulierte<br />

Artikel an die lokale Presse zu versenden oder die Berufung auf wichtige Künstler, die<br />

sich im Zuge der ‚Autorenfi lm’-Bewegung als angesehene Theaterschauspieler dem<br />

21


‚Öffentlichkeit‘ und ‚<strong>Kinoöffentlichkeit</strong>’<br />

Film zur Verfügung stellten. Dies alles ist ein Indiz dafür, wie aufwendig es war, in der<br />

Kultur- und Kunst-Metropole Berlin für das Kino einen gleichberechtigten Geltungsanspruch<br />

durchzusetzen.<br />

Die Aufmerksamkeit von Recherchen zur Programm- und Rezeptionsgeschichte<br />

des Kinos hat sich auf das zu konzentrieren, was Goergen das ‚sichtbare’ Kino genannt<br />

hat, worunter der Beitrag das Kino versteht, das es sich erlauben konnte, in den Tageszeitungen<br />

zu inserieren, und dann dort auch besprochen wurde; das ,unsichtbare’, weil<br />

selber nicht öffentlich in Erscheinung tretende und daher öffentlich nicht diskutierte<br />

(Vorstadt-)Kino bleibe dabei jedoch völlig unberücksichtigt. Demgegenüber machen<br />

es Recherchen zur Topographie des Kinos, die sich auf Adressbücher, lokale Bauakten,<br />

Polizeiberichte u. ä. stützen, möglich, die Gesamtheit der Kinowelt einer Region in seiner<br />

Genese und internen Differenzierung zu beschreiben. Daraus gewinnt der Beitrag<br />

Michael Tötebergs (Hamburg) eine das Stadtgebiet Hamburg sowie die damals noch<br />

preußischen Städte Altona und Wandsbek umfassende Topographie ortsfester Kinos.<br />

Diese ist in Tötebergs Beitrag eingelagert in eine historische Skizze der Stadtgeschichte<br />

und ihrer verkehrstechnischen Infrastruktur und zeigt, nach welchen Richtlinien die<br />

Kinogründer und Kinobetreiber ihre Standorte auswählten.<br />

Dabei stellt sich heraus, dass die Kinoerschließung Hamburgs auf der einen Seite<br />

einem Schema folgte, das man auch in anderen Städten wieder fi ndet: Das Kino<br />

suchte die Nähe zu etablierten Vergnügungs- oder Stadtzentren, an denen viel Betriebsamkeit<br />

herrschte wie Bahnhöfen oder S- und U-Bahnstationen, weil es dort<br />

mit zahlreicher Kundschaft rechnen konnte; hinzu kommt die Ansiedlung von Kinos<br />

an Verkehrsknotenpunkten, die die Basis für das Entstehen neuer kultureller Orte<br />

bildeten, so etwa um das Belle-Alliance-Theater am verkehrsreichen Hamburger<br />

Schulterblatt. Auf der anderen Seite zeigt sich eine stadtspezifi sche Besonderheit<br />

Hamburgs: Da die Entwicklung der Stadt vom Zusammenwachsen kleinerer Stadtbezirke<br />

und ehemaliger Dörfer geprägt war, besaß es noch nach der Wende zum 20.<br />

Jahrhundert viele Stadtzentren, so dass sich die an diesen Zentren angesiedelten Kinos<br />

über das ganze Stadtgebiet verteilten und damit in sozial sehr unterschiedlich<br />

zusammengesetzten Stadtvierteln auftraten (man vergleiche nur die ausgesprochen<br />

bürgerlichen und/oder noch ländlichen Stadtviertel Eppendorf, Uhlenhorst, Rotherbaum<br />

und Harvestehude mit den Arbeitervierteln Barmbek und Eilbek). Auch wenn<br />

es dabei zu Verteilungen kam, die in quantitativer Hinsicht nicht immer gleichgewichtig<br />

waren (vgl. den Anhang), so bleibt zu konstatieren, dass das Kino in Hamburg<br />

von Anfang an keine Angelegenheit von ‚Schmuddelvierteln’ war, sondern in<br />

nahezu allen Stadtbezirken ein in sozialer Hinsicht ebenso vielfältig wie regional geprägtes<br />

Publikum erreichte.<br />

Aufgrund der dadurch bereitgestellten topographischen Basisinformationen<br />

kann Corinna Müller (Hamburg) am Beispiel des Hamburger Kinoprojekts das<br />

Modell einer <strong>Kinoöffentlichkeit</strong> entwickeln, die dem Kino schon 1913 keineswegs<br />

mehr skeptisch bis ablehnend, sondern bis in die ‚besten Kreise’ hinein positiv gegenübersteht.<br />

Dies spricht entschieden für den Versuch, im Vergleich des Hambur-<br />

22


‚Öffentlichkeit‘ und ‚<strong>Kinoöffentlichkeit</strong>’<br />

ger Modells mit dem Berliner Modell die Aufmerksamkeit der Forschung auf die<br />

jeweils unterschiedlichen Verlaufsformen in der Entstehung, Etablierung und internen<br />

Ausdifferenzierung von <strong>Kinoöffentlichkeit</strong>en hinzulenken. Dabei geht es darum,<br />

Kriterien für überwiegend ‚integrative’ oder überwiegend ‚konfrontative’ Muster im<br />

Entstehen neuer Öffentlichkeiten zu bestimmen und anhand konkreter Fallbeispiele<br />

zu begründen. Beispiele aus dem europäischen Ausland werden in ganz ähnlicher<br />

Weise zeigen, wie wichtig es ist, bei der Analyse konkreter Verlaufsformen den Kontext<br />

der hier jeweils wirksamen städtischen Strukturen wie auch Vergnügungskulturen<br />

zu beachten.<br />

Für Hamburg mit entscheidend war, dass sich bereits das erste Auftreten der<br />

Kinematographie in Teilöffentlichkeiten vollzog, die als Veranstaltungsstätten einer<br />

weithin akzeptierten Vergnügungskultur verlässlich etabliert waren: in großen angesehenen<br />

Varietés, in etablierten Veranstaltungs gaststätten und auf dem Hamburger<br />

‚Dom’, dem alljährlich vor Weihnachten stattfi ndenden größten kulturellen und gesellschaftlichen<br />

Schausteller-Ereignis des Jahres für Hamburg, über das die Zeitungen<br />

berichteten und das daher weit entfernt war vom Ruch eines ‚billigen’ Jahrmarkts-<br />

Rummels. So gesehen erlebte Hamburg die Emergenz des Wander-Kinematographen<br />

nicht als dubiose Schaustellung, sondern als eine moderne, ‚seriöse’ Attraktion. Auch<br />

etablierte sich in Hamburg zwischen 1896 und 1899 ein ständiger ‚Kino’-Betrieb im<br />

Rahmen einer großen Automatenausstellung – ein sehr seltenes Phänomen in der<br />

Mediengeschichte des frühen Kinematographen, das sich auf eine 1896 auf drei Jahre<br />

abgeschlossene Lizenz zum Betrieb des Cinématographe Lumière gründete und eine<br />

Parallele wohl noch in Hannover fand.<br />

Diese ebenso fl exible wie geschmeidige Durchsetzungs- und Akzeptanzstrategie<br />

setzte sich dort fort, wo sich die Etablierung einer nunmehr in eigenen Räumen mit<br />

einem eigenen Publikum agierenden Kino-Öffentlichkeit an zentralen Verkehrsknotenpunkten<br />

der Stadt, in unmittelbarer Nachbarschaft zu Theatern und anderen<br />

kulturell akzeptierten Veranstaltungsstätten oder an lokal bedeutsamen Kleinzentren<br />

vollziehen konnte. Hinzu kommt die ungeachtet aller nicht zu vermeidenden<br />

Kontroversen weitgehend einvernehmliche und insofern durchaus als Pionierleistung<br />

anzusehende Einrichtung einer eigenen Veranstaltungsöffentlichkeit für Kinder<br />

und schulpfl ichtige Jugendliche in Hamburg (von der weiter der Beitrag von<br />

Kaspar Maase berichtet) oder das in der Tagespresse allenfalls mit wohlwollender<br />

Ironie zur Kenntnis genommene Drängen des Kinos nach Gleichberechtigung mit<br />

den bereits existierenden Künsten. Insofern spricht sehr vieles dafür, dass sich in<br />

Hamburg bereits um 1913 Prozesse einer internen Ausdifferenzierung innerhalb<br />

einer autonom gewordenen <strong>Kinoöffentlichkeit</strong> beobachten lassen, woraus sich die<br />

Hypothese ableiten lässt, dass in Hamburg Film und Kino, dank eines in Fragen der<br />

Kunst zur Lässigkeit neigenden Handels- und Bildungsbürgertums, nicht erst in den<br />

zwanziger Jahren, sondern bereits vor dem Ersten Weltkrieg als gleichberechtigte<br />

Unterhaltungskunst kulturelle Akzeptanz fi nden konnten.<br />

23


‚Öffentlichkeit‘ und ‚<strong>Kinoöffentlichkeit</strong>’<br />

Gerade vor diesem Hintergrund möchten wir anhand des die erste Sektion beschließenden<br />

Beitrags von Kaspar Maase (Tübingen) nicht die Frage diskutieren, ob<br />

wir (wie Kaspar Maase meint) das liberale Profi l einer Hamburger Teil-Öffentlichkeit<br />

für Kinder und Jugendliche zu hoch einschätzen; immerhin besteht ja Einigkeit darüber,<br />

dass das „Hamburger Modell [als] der elaborierteste Vertreter der sogenannten<br />

Kinder- oder Familienvorstellungen mit einem behördlich genehmigten Programm“<br />

gelten könne (S. 137). Für die Bedeutung dieser Kinderöffentlichkeit spricht auch,<br />

dass sich (so Maase weiter) im Rahmen dieser behördlich angeleiteten und polizeilich<br />

gestützten Ergänzungszensur für Kinder und Jugendliche so etwas wie eigenständige<br />

ästhetische Beurteilungskriterien für das neue Medium Kino herausbilden konnten.<br />

Das liest sich fast wie die Vorwegnahme eines Statements von Bertolt Brecht dazu,<br />

dass in den Auseinandersetzungen um die fi lmische 3-Groschen-Oper des Jahres 1931<br />

die Zensoren und Richter die einzigen gewesen seien, die spezifi sch fi lmisch denken<br />

und urteilen konnten. Dass ein Medium erst dann wirklich autonom wird, wenn<br />

es behördlich reglementiert und zensuriert wird, ist nur dann paradox, wenn man<br />

übersieht, wie eng und produktiv sich die Wechselwirkungen zwischen Zensur und<br />

Öffentlichkeit gestalten können.<br />

Noch wichtiger und entscheidender sind für uns die Hinweise des Autors darauf,<br />

wie aktiv und dynamisch die Prozesse einer Rezeption von Film im Rahmen<br />

einer über alle behördlichen Reglementierungen hinauszielenden eigenständigen<br />

Kinder- und Jugendkultur ausfallen können. Dass Kommunikation (so Maase mit<br />

Nachdruck) sich hier nicht auf die mehr oder weniger passive Rezeption von informierenden<br />

oder ästhetischen Wissensangeboten reduziert, sondern die Formen einer<br />

sich selbst organisierenden Kommunikation und aktiven Aneignung einschließt, entspricht<br />

ganz unserem Plädoyer für die dynamische Weiterentwicklung eines Öffentlichkeitsbegriffs,<br />

der nicht länger (so auch Maase) von der Norm eines in erster Linie<br />

informierenden „verständigungsorientierten rationalen Diskurses“ (S. 147) ausgeht,<br />

sondern die Wünsche, Affekte und Handlungen derer, die in Öffentlichkeiten kognitiv<br />

und emotional agieren, berücksichtigt. Daraus lässt sich folgern, dass der Begriff<br />

,Öffentlichkeit’ in der Perspektive einer kognitive und emotionale Affekte einschließenden<br />

kulturellen Kino-Öffentlichkeit die „praxeologische Perspektive“„selbstorganisierter<br />

(informeller) Kommunikations-Räume“ (S. 146) mit Nachdruck in sich<br />

aufnehmen sollte. Dazu werden, so hoffen wir, die Beiträge aus der nachfolgenden<br />

Sektion über metropolitane außerdeutsche <strong>Kinoöffentlichkeit</strong>en weitere Belege liefern.<br />

II. <strong>Kinoöffentlichkeit</strong> im internationalen Vergleich<br />

Hierzu kann zunächst der Beitrag von Guido Convents und Karel Dibbets zeigen, wie<br />

unterschiedlich sich die Geschichte von Kino und <strong>Kinoöffentlichkeit</strong> in den geographisch<br />

nicht allzu weit von einander entfernten nationalen Metropolen Brüssel und<br />

Amsterdam darstellt. So beginnt die Etablierung einer autonomen Kinokultur mit der<br />

Ansiedlung erster ortsfester Kinos in Belgien in einer internationalen Ausnahmeer-<br />

24


‚Öffentlichkeit‘ und ‚<strong>Kinoöffentlichkeit</strong>’<br />

scheinung schon 1905 mit einem regelrechten Kinoboom, während Amsterdam mit<br />

ersten Kinogründungen im Jahr 1907 im internationalen Vergleich deutlich hinterher<br />

läuft. Denn während in der belgischen Metropole Brüssel Königshaus, öffentliche<br />

Hand, städtische Wirtschaft und Kultur alles daran setzen, um für Touristen, Kaufleute,<br />

Industrielle und Investoren eine das Kino einschließende urbane Ausstellungs-<br />

und Vergnügungskultur bereitzustellen, reagieren städtische Behörden, Königshaus<br />

und Wirtschaft in Amsterdam eher verhalten bis misstrauisch. Hinzu kommt eine in<br />

Amsterdam rigorose Aufsplitterung des politischen, sozialen und kulturellen Lebens<br />

in getrennte religiöse und ideologische Milieus, wodurch die Integration des Kinos<br />

(anders als im religiös und politisch fl exibler durchmischten Brüssel) nicht gerade<br />

erleichtert wurde. Andere Perspektiven eröffnen sich hier erst mit der Ausbildung<br />

einer einheitlich modernistischen Kinoarchitektur in den dreißiger Jahren.<br />

Die bereits am Beispiel Brüssel erhellte formative Rolle von Kino und Kinokultur<br />

wird im Beitrag von André van der Velden zur Entwicklung des Kinos in Rotterdam<br />

noch stärker deutlich. Um dies zu erläutern, führt der Autor aus, wie sich städtische<br />

Verwaltung und Unternehmer um 1900 darum bemühen, im Newcomer Rotterdam<br />

eine zu den Handels- und Hafenkonkurrenten Antwerpen und Hamburg gleichwertige<br />

Metropol-Region mit Boulevards, Rathaus, Hauptpostamt und Börse aufzubauen.<br />

Dies neue moderne Rotterdam sollte das nunmehr als unzeitgemäß geltende<br />

alte Rotterdam vollkommen ersetzen – ein Vorhaben, das angesichts des vom Ersten<br />

Weltkrieg in ökonomischer Hinsicht dramatisch geschwächten Hafengeschäfts dann<br />

aber erheblich verzögert wurde.<br />

In dieser Situation beginnen ein tatkräftiger Kinounternehmer, ein erfi ndungsreicher<br />

Gastronom und die führende Stadtzeitung Rotterdams damit, jeweils an ihrem<br />

Ort an die Stelle der (noch) nicht realisierbaren Metropole die mediale Kreation<br />

einer ,virtuellen’ Metropole zu setzen (S. 157). Gemeint ist damit die weit in die 20er<br />

Jahre hineinreichende Transformation lokaler Kinos in architektonisch aufwendig<br />

ausgestaltete Vergnügungspaläste, die den von Siegfried Kracauer für das Berlin der<br />

Roaring Twenties herausgestellten „optischen Feenlokalen“ offenkundig in nichts<br />

nachstanden. 25 Hinzu kommt ein mit wechselnden bewegten Projektionsbildern<br />

ausgestatteter Tanzpalast, in dem vor Eiffelturm und Notredame, vor der Sykline von<br />

Manhattan oder vor als bayrisch geltenden Fachwerkbauten französische, amerikanische<br />

und bajuwarische Festlichkeiten veranstaltet wurden (oder besser: das, was<br />

man dafür hielt, mehr oder weniger ,echt’ simuliert wurde). Oder ,die’ große Rotterdamer<br />

Tageszeitung inszenierte Sport-Events, Ausstellungen, Theater-Performances<br />

und Kino-Freiluft-Projektionen anlässlich von politischen oder sportlichen Großereignissen<br />

bis hin zur visuellen Simultan-Übertragung eines Fußballspiels zwischen<br />

Belgien und Holland – eine Art von TV-Event avant la lettre (vgl. S. 166f.). In diesem<br />

25 Wir beziehen uns hier auf Siegfried Kracauer: „Kult der Zerstreuung. Über die Berliner Lichtspielhäuser“<br />

(1926). In: Ders.: Kleine Schrift en zum Film. Band 6.1: 1921-1927. Hrsg. v. Inka Müder-Bach. Frankfurt a.<br />

M. 2004, S. 208-213; hier S. 208.<br />

25


‚Öffentlichkeit‘ und ‚<strong>Kinoöffentlichkeit</strong>’<br />

in die 20er Jahre voraus greifenden Sinn kann man davon sprechen, dass die kulturelle<br />

Medienöffentlichkeit Rotterdams die Moderntität einer Metropole nicht abbildete,<br />

sondern im Medium Film all das überhaupt erst kreierte, was bereits damals als<br />

die mediale Essenz einer rückhaltlos modernen Urbanität gelten sollte.<br />

Vergleichbare Überlegungen werden dort fortgeführt, wo Werner Michael<br />

Schwarz, angeregt von einem Benjamin-Zitat, auf die „explosive“ Rolle des Kinos<br />

in den expandierenden Metropolen der Jahrhundertwende eingeht. Eine solche explosive<br />

Wirkung entfaltet sich, so Schwarz am Beispiel Wiens, zunächst einmal dort,<br />

wo das Kino inmitten einer städtischen Moderne, die geprägt ist von Verdichtung,<br />

Verkehrs-Regulation, Konsum und Arbeitsdisziplinierung, an der Präsentation einer<br />

Welt der „spectacular realities“ aus Tiergärten, Jahrmärkten und Schaustellungen<br />

,exotischer’ Menschen zuerst teilhat, diese lange mitgenutzten traditionsreichen Veranstaltungsöffentlichkeiten<br />

dann aber durch den Aufbau einer eigenen dauerhaften<br />

Veranstaltungsöffentlichkeit in qualitativer Hinsicht deutlich überfl ügelt.<br />

Dies liegt, so der Beitrag weiter, daran, dass die in „Kellern, Souterrainlokalen,<br />

ehemaligen Warenlagern, Gaststätten, Fabrikhallen, aufgelassenen Bahnhöfen, Theater-<br />

oder Varietébühnen“ (S. 174) entstehenden ortsfesten Kinos ihre Zuschauer<br />

äußerlich gesehen zwar auf „geometrisch angeordneten und arithmetisch nummerierten<br />

Stühlen“ (P. Virilio, zit. S. 174), kerkerförmig still stellen, ihnen damit aber<br />

zugleich die Möglichkeit bieten, sich im Schutz der Anonymität des Kinoraums in<br />

Welten hineinzuversetzen, die eine spielerische Distanz zu dem schaffen, womit sich<br />

die Städtebewohner der Jahrhundertwende in ihrem zunehmend durchregulierten<br />

und durchrationalisierten Alltag auseinandersetzen müssen. „So gesehen formiert<br />

das Kino das Publikum zwar zu einer geometrisch angeordneten Masse, entzieht es<br />

aber gleichzeitig der eigenen und fremden Kontrolle“ (S. 179), und es ist – so darf<br />

man folgern – dies alle quantitativen Vergleiche überbietende qualitative Merkmal,<br />

das erklären kann, warum sich das Kino im Verlauf seiner weiteren Geschichte im<br />

Medienverbund aus alten und neuen Medien derart erfolgreich durchsetzt.<br />

Um zu zeigen, wie und wodurch sich die damit angesprochenen qualitativen<br />

Entwicklungspotentiale durchsetzen können, schlägt Brigitte Flickinger am Beispiel<br />

des frühen Kinos in den Residenzstädten London und St. Petersburg vor, Kinoentwicklung<br />

stets in Relation zu dem in der jeweiligen Stadt nachweisbaren „Gefüge aus<br />

kulturellen, kommerziellen und kommunalen Faktoren“ (S. ) zu untersuchen. Wie<br />

auch in unserem Hamburger Projekt wird damit der Weg eingeschlagen, Kinogeschichte<br />

speziell im Kontext von Stadtgeschichte und Stadtkultur zu betrachten.<br />

Für die dann in den Blick geratenden kulturellen Faktoren kann der Beitrag für<br />

London wie St. Petersburg festhalten, dass in beiden Städten, nach der Sensation der<br />

ersten Kinematographen, in der Tagespresse zunächst entweder gar nicht oder nur<br />

sehr sparsam über Kinovorstellungen oder Kinoneubauten berichtet wurde, weshalb<br />

Kinobetreiber und Filmbranche zeitgleich mit der Etablierung ortsfester Kinos die<br />

autonome Form einer eigenen <strong>Kinoöffentlichkeit</strong> aus Kinozeitschriften, Branchenblättern<br />

und Publikumszeitschriften (mit Erfolg) entwickeln. Hier war es möglich, die<br />

26


‚Öffentlichkeit‘ und ‚<strong>Kinoöffentlichkeit</strong>’<br />

auch in der britischen wie in der russischen Hauptstadt nach 1905 heftig expandierenden<br />

ortsfesten Kinos publizistisch derartig nachhaltig zu begleiten, dass es nicht<br />

verwundert, wenn in London die Kinoindustrie bereits im Jahr 1913 mit einem Kapital<br />

von ca. 13 Millionen Pfund an die Börse gehen konnte.<br />

Was die topographische Verbreitung der Kinos angeht, so konnten in London<br />

teure Premierenkinos, regional bedeutsame Wiederaufführungskinos und lokale<br />

Vorstadtkinos eine nach Klassen getrennte, aber (wie in Hamburg) über mehrere<br />

Stadtzentren nahezu gleichgewichtig verteilte Ansiedlung der Kinos sicherstellen; in<br />

St. Petersburg machte sich dagegen eine stärker selektive Verdichtung der Kinozentren<br />

bemerkbar. Immerhin lassen sich aber auch für die russische Metropole für das<br />

Jahr 1917 für Drama, Musiktheater und Filmtheater nahezu gleichwertige Besucherzahlen<br />

ermitteln, was den Schluss erlaubt, dass auch „für den Petersburger Stadtbewohner<br />

[...] der Kinobesuch schon vor der Revolution (des Jahres 1917) ebenso<br />

zur Freizeitgestaltung gehörte wie für den Londoner Bürger“ (S. 195). Von einer mit<br />

den etablierten Medien gleichwertigen kulturellen Akzeptanz im Gesamtgefüge der<br />

öffentlichen Meinung könne man dagegen erst um 1930 sprechen.<br />

Der abschließende Beitrag von Judith Thissen demonstriert am Beispiel der Entstehung<br />

des Kinos im jüdischen New York, wie wichtig es ist, in der Untersuchung von<br />

Kino und <strong>Kinoöffentlichkeit</strong> den kulturellen Kontext einer Stadt bis in den Bereich einer<br />

hier ethnisch geprägten Stadtteilkultur hineinzuverfolgen. Um dies zu zeigen, entwirft<br />

der Beitrag zunächst einmal das Panorama einer jiddischen Freizeit- und Vergnügungskultur,<br />

so wie es sich in jiddischen Theatern, Music-Halls und kommunalen wie<br />

kommerziellen Mehrzweckgebäuden New Yorks am Ende des 19. Jahrhunderts entfaltet,<br />

wobei besonders für letztere charakteristisch ist, dass die unterschiedlichsten Freizeit-<br />

und Vergnügungsangebote mit Arbeiter-Versammlungen, landsmannschaftlichen<br />

Zusammenkünften, politischen Meetings oder Gottesdiensten koexistierten. Um den<br />

daraus entstehenden heterogenen Nutzungswünschen zu entsprechen, gab es in der im<br />

Beitrag wie in einem ‚Zoom’ hervortretenden ‚Golden Rule Hall’ in der Rivington Street<br />

Nr. 125 auf mehreren Stockwerken einen Salon, einen Essraum, eine Küche, einen Versammlungsraum<br />

und eine Behelfssynagoge. An der hier an den Bedürfnissen einer<br />

ethnischen Gemeinschaft orientierten ,niedrigpreisigen’ Veranstaltungsöffentlichkeit<br />

ist somit auffällig, dass sie (wie die bürgerlichen Öffentlichkeiten des 18. Jahrhunderts)<br />

an einem für die Mitglieder der Community öffentlich zugänglichen Ort stattfi ndet,<br />

überwiegend männlich geprägt ist und (darin anders als die politische Öffentlichkeit<br />

des Aufklärungsbürgertum) dezidiert Religion, Politik und Unterhaltung einschließt.<br />

Es war die schließlich übermächtig werdende Konkurrenz größerer kommerzieller<br />

Vergnügungspaläste, die zu einem Funktionsverlust solcher gemeinwirtschaftlicher<br />

Einrichtungen führte. Dies hatte zur Folge, dass deren Betreiber nacheinander<br />

die Nutzung als Tanzhalle, als jiddisches Vaudeville-Theater und schließlich als Vorführraum<br />

für Filme ausprobierten. Auf diese Weise konnte der Film in der genannten<br />

‚Golden Rule Hall’ innerhalb von zwei Jahren seinen Ort zuerst im Rahmen von Varieté-Programmen<br />

und schließlich als Hauptattraktion im Rahmen eines eigenen Pro-<br />

27


‚Öffentlichkeit‘ und ‚<strong>Kinoöffentlichkeit</strong>’<br />

grammangebots erringen. Auch wenn es über dieses eigenständige Kino-Programmangebot<br />

im Einzelnen keine genauen Informationen gibt (und wir uns damit, in der<br />

Terminologie von Jeanpaul Goergen gesprochen, auf dem Territorium des invisible<br />

cinema befi nden), so spricht nach den Recherchen der Autorin vieles dafür, dass es<br />

sich von den damals international üblichen Kinoprogrammen nicht unterschieden<br />

haben dürfte. Worin diese Form von <strong>Kinoöffentlichkeit</strong> dagegen ihre Besonderheit<br />

bewahrte, ist der Umstand, dass sie weiterhin im Kontext einer ethnischen Community<br />

mit den für diese charakteristischen gemeinschaftlichen Orientierungen stattfand.<br />

Erst die durchgreifende Kommerzialisierung von Kino und Kinoindustrie hat<br />

um 1925 dieses Beispiel einer eher kommunitären als kapitalistischen Vergnügungs-<br />

und Kinokultur beendet.<br />

Exkurs: Kino und Wissenschaft<br />

In einem ‚Zoom’ auf Spielarten der amerikanischen <strong>Kinoöffentlichkeit</strong> lenkt Marina<br />

Dalquist den Blick darauf, wie das Kino am Beispiel eines „Fliegen-Kreuzzugs“ zum<br />

Zweck der hygienischen Aufklärung durch wissenschaftliche Filme in der Öffentlichkeit<br />

instrumentalisiert und dabei das Potential des Kinos als neue, äußerst populäre –<br />

und daher auch propagandistisch nutzbare – Form der Versammlungsöffentlichkeit<br />

instrumentalisiert wurde. So gelang es in den USA zwischen 1912-15, mit Hilfe einer<br />

groß angelegten Kinokampagne einer Epidemien auslösenden Fliegenplage Herr zu<br />

werden. Dazu wurden an den Kinokassen Sammelbehälter für Fliegen eingerichtet,<br />

was vor allem die Kinder zu eifrigen Fliegensammlern werden ließ. Myriaden von<br />

Fliegen wurden so durch die Kinos eingesammelt, und man sagt, auf diese Weise<br />

seien die USA fl iegenfrei geworden.<br />

Diese Kampagne war deshalb erfolgreich, weil ihr eine konzertierte Aktion von<br />

Wissenschaft, Beststeller-Literatur, Politik, Frauenvereinen, Gesundheitsministerien<br />

und Tageszeitungen voraus ging, die über den Zusammenhang von Krankheitsepidemien,<br />

Bakterien und deren Übertragungswegen aufklärten und in die auch die<br />

Tradition des schon seit 1907 von den weltweit agierenden Filmfi rmen Pathé Frères<br />

und Gaumont gepfl ogenen wissenschaftlichen Films integriert wurde.<br />

Doch wie dem auch sei, wurde das Kino in den USA insofern schon äußerst früh<br />

als eine gänzlich neue und äußerst massenwirksame Form der kulturellen Versammlungsöffentlichkeit<br />

erkannt, die sich auch propagandistisch nutzbar machen ließ, und<br />

als solche für die hygienische Aufklärung der Bevölkerung instrumentalisiert wurde.<br />

III <strong>Kinoöffentlichkeit</strong> außerhalb der Metropolen<br />

Am Beitrag von Andrzej Gwóïdï zum Kino in Oberschlesien fällt auf, dass in dieser<br />

nationalpolitisch heftig umstrittenen deutsch-polnischen Grenzregion die Emergenz<br />

und Etablierung des Kinos von den gerade um 1900 sich zuspitzenden nationalen<br />

Auseinandersetzungen nicht wirklich beeinträchtigt wurde; auch die aus der Perspektive<br />

der großen Verleihfi rmen eher randständige Lage der Region hat die Ausbreitung<br />

des Kinematographen nicht nachhaltig behindert. Vielmehr führte ein vor<br />

28


‚Öffentlichkeit‘ und ‚<strong>Kinoöffentlichkeit</strong>’<br />

diesem Hintergrund als erstaunlich ,normal’ einzuschätzender Verlauf dazu, dass in<br />

der gesamten Region Oberschlesien vor dem Ersten Weltkrieg etwa 50 ortsfeste Kinos<br />

(mehrheitlich in deutschen Händen) entstehen konnten und in größeren Orten sogar<br />

in zwei Kinosälen projiziert wurde, worunter sich auch einige durchaus größere<br />

Kinokomplexe befanden. Propagandistische Instrumentalisierungen machen sich in<br />

den – äußerst erfolgreichen – Kinokampagnen des deutsch-nationalen Flottenvereins<br />

noch vor 1918 und dann im in die militärischen Auseinandersetzungen der Jahre<br />

1918-1921 eingreifenden Krieg der (Wander-) Kinematographen bemerkbar. Dies legt<br />

die Frage nahe, warum und worin gerade lokale <strong>Kinoöffentlichkeit</strong>en ein sogar die<br />

Aufmerksamkeit politischer Propagandisten erweckendes Wirkungspotential bereitstellen<br />

konnten.<br />

Der Beitrag von Martin Loiperdinger gibt dazu anhand der Trierer <strong>Kinoöffentlichkeit</strong><br />

der Jahre vor 1914 insofern eine erste Antwort, als der Autor die Attraktivität<br />

des überschaubar Lokalen anhand anschaulicher Quellentexte erörtert. In erster Linie<br />

geht es dabei darum, dass derart eingegrenzte <strong>Kinoöffentlichkeit</strong>en gerade aufgrund<br />

ihrer räumlichen Einschränkungen dem in diesen Räumen agierenden Publikum die<br />

Möglichkeit geben, sich selbst im Medium Film (wieder) zu entdecken. In diesem<br />

Sinne können sich die Einwohner der zu dieser Zeit noch kleineren Mittelstadt Trier<br />

anhand lokaler Aufnahmen in ihren ganz alltäglichen Lebenssituationen „in lebender<br />

Bewegung“ sehen (S. 240) während bei der Darstellung des Exotischen der immer<br />

wieder aus dem Hochdeutschen ins „trierische Platt“ (S. 238) wechselnde Dialekt<br />

des Kinoerklärers dafür sorgt, dass sogar Fremdartiges vertraut wirkt. Weiter sind zu<br />

nennen die zügige Aufzeichnung und Aufbereitung lokaler Großereignisse, wodurch<br />

Aktualität erzielt wurde, oder die fi lmische Anschauung unbekannter oder bekannter<br />

Personen, woraus sich so etwas wie ein kontrollierender Lokal-„Klatsch und Tratsch“<br />

ergeben konnte (S. 243). Dies gelang besonders dann, wenn es der vertraulich argumentierende<br />

Kinoerklärer verstand, den Zuschauer in eine eher private bis familiäre<br />

Kommunikationssituation hinein zu versetzen.. Schon daran wird deutlich, dass lokale<br />

<strong>Kinoöffentlichkeit</strong>en gerade aufgrund der Überschaubarkeit des Gezeigten auf<br />

ein entsprechend überschaubar mitagierendes lokales Publikum setzten.<br />

Solche Überlegungen werden im abschließenden Beitrag von Mariann Lewinski<br />

Sträuli in das Modell einer regionalen Kinogeschichte überführt; es will sich als ebenso<br />

,pluralistisches‘ wie ,antizentralistisches‘ Gegenmodell zu den an den städtischen<br />

Metropolen der Jahrhundertwende orientierten ,klassischen‘ Erzählmodellen verstehen.<br />

Eine solche Feststellung will erkennbar nicht bestreiten, dass nicht nur in großstädtischen,<br />

sondern auch in kleinstädtisch bis ländlich geprägten Regionen aus neuen<br />

medialen Darbietungsformen neue Formen von Kino-Öffentlichkeiten entstehen.<br />

Worauf es vielmehr ankommt, das ist der Versuch, mit Nachdruck herauszuarbeiten,<br />

dass neue Medienöffentlichkeiten im ländlich Regionalen zwar auch in „rascher Folge“<br />

und „voll entwickelt“ auftreten, einander aber keineswegs ablösen, sondern „dauerhaft<br />

nebeneinander“ weiterexistieren, woraus für die Autorin folgt, dass in der Film- und<br />

Kinogeschichte generell synchrone und diachrone Erzählmodelle „konturieren, kor-<br />

29


‚Öffentlichkeit‘ und ‚<strong>Kinoöffentlichkeit</strong>’<br />

rigieren, interpretieren“ sollten (S. 249f.). In diesem Sinne spricht angesichts der in<br />

dem Beitrag ebenso anschaulich wie facettenreich entwickelten Ungleichzeitigkeit<br />

von städtischer und ländlicher Entwicklung sehr viel dafür, vor allem für letztere<br />

Synchronie als Erklärungsparadigma anzusetzen.<br />

Für das Beispiel einer Geschichte von Kino und <strong>Kinoöffentlichkeit</strong> in der Nordostschweiz<br />

kann auf diese Weise gezeigt werden, dass der hier in Gasthäusern, Varietés<br />

oder Theater- und Konzertsälen sporadisch auftretende Saalkinematograph, der die<br />

Jahrmärkte und Messen der Zeit jahreszyklisch besuchende Zeltkinematograph und<br />

der im Dauerbetrieb eigene Programme bereitstellende ortsfeste Kinosaal einander<br />

keineswegs verdrängten, sondern deshalb „koexistierten, weil alle (drei) ökonomisch<br />

zweckmäßig waren“ (S. 258). Insofern könne man für die Region der Nordostschweiz<br />

zwar davon ausgehen, dass die in diesem Beitrag als Institutionalisierung bezeichnete<br />

Etablierung des Kinos um 1912 abgeschlossen wurde; mindestens ebenso wichtig sei<br />

aber auch, dass das in traditionelle Vergnügungskulturen eingelagerte mobile Kinogewerbe<br />

in der Kleinstadt und auf dem Land bis 1930 ,relevant‘, ja im Einzelfall bis<br />

1942 ,prosperierend‘ bleibe.<br />

Wenn man dazu, wie die Autorin anhand einer Fülle von Beispielen plausibel<br />

macht, weiter bedenkt, dass im Rahmen traditioneller lokaler Veranstaltungsöffentlichkeiten<br />

eher partizipative Kommunikationspraxen weiter existieren konnten, weshalb<br />

hier die in den Artikeln von Corinna Müller und Kapsar Maase erörterten behördlichen<br />

Reglementierungen ortsfester Kinos entweder gar nicht oder erst sehr viel<br />

später auch für das mobile Kinogewerbe galten, so gewinnt der bereits in dem Beitrag<br />

von Martin Loiperdinger auftretende lokale Befund einer dominant partizipativen<br />

<strong>Kinoöffentlichkeit</strong> eine durchaus generelle Bedeutung. Die abschließende Frage der<br />

Autorin, ob der „historiographische Normalfall“ auch „der beste Fall“ sei (S. 265), hat<br />

jedenfalls vieles für sich.<br />

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