1. Herbert Uerlings (Trier): Stigma Zigeuner. Formen der ... - Reviste

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Stigma Zigeuner 103 kontrollierte Armutspolitik nicht möglich. Die Zuständigkeit der Gemeinden für ihre Armen bzw. das Sesshaftigkeitsprinzip hatte jedoch eine paradoxe Folge: Jede Gemeinde war bemüht, Personen, die ihren Heimatstatus nicht einwandfrei nachweisen konnten, abzuweisen. Es kam zu einer systematischen Ausgrenzung ortsfremder Armer oder solcher, die in diesem Verdacht standen. Diese Paradoxie hat sich, in wechselnden Spielarten und unterschiedlichem Ausmaß, bis weit ins 20. Jahrhundert hinein ausgewirkt, erkennbar ist sie in älteren Zeiten häufig daran, dass der Dorfgendarm oder die Landjäger anreisende ‚Zigeuner‘ an der Gemeindegrenze in Empfang nahmen, um sie dann möglichst ohne Aufenthalt noch am selben Tage an der nächsten Gemeindegrenze den Kollegen zu übergeben. Im 20. Jahrhundert zeugen die widerstrebend geduldeten ‚Zigeunerlager’ am Rand der Städte von demselben Dilemma: Gerade die Durchsetzung des Prinzips der Sesshaftigkeit führte zu einem vermehrten ‚Wanderleben’ von Heimatlosen ohne Papiere; ähnlich paradox waren die Auswirkungen der Umstellung staatlicher Zugehörigkeit vom ‚Untertanen’ auf den ‚Staatsbürger’, vor allem wenn deren Gesamtheit als ‚Staatsnation’ definiert wurde. Es waren also auch hier nicht Eigenschaften von Personen, die sie zu ‚Zigeu-
104 Herbert Uerlings nern‘ gemacht haben, sondern ‚Zigeuner‘ wurden durch staat- liche Politik gemacht. (2) Im Spätabsolutismus waren, von staatlicher und nicht-staatlicher Seite aus, einige Versuche der Sesshaftmachung und Assimilation von ‚Zigeunern‘ unternommen worden. Diese Versuche waren, im wesentlichen aufgrund ihres Zwangscharakters und ihrer völlig unzureichenden Planung und Durchführung, gescheitert. Die Folge war aber, dass, etwa seit 1835, in polizeilicher Sicht ‚Zigeuner‘ als der „unverbesserliche“ Teil der ‚Gauner’ und ‚Vaganten’ galten. Auch hier änderte sich am soziographischen Gehalt der Definition zunächst nichts. (3) Dies änderte sich im ausgehenden 19. Jahrhundert im Zuge einer zunehmenden Professionalisierung der Polizeiarbeit, einer Kriminalisierung der fahrenden Lebensweise, der Durchsetzung des Nationalstaats und der Akzeptanz der kriminalbiologischen These vom ‚geborenen Verbrecher’ (Lombroso). Jetzt – also lange vor dem Nationalsozialismus – erfolgt eine dezidiertere Ethnisierung. Völlig verschwunden war sie aber auch vorher nie, denn mit der Bedeutung der Heimatzugehörigkeit war auch die der Stammbaummethode als Nachweisverfahren gewachsen und Steckbriefe, Polizeiblätter und Zigeunerkartotheken hatten nie ganz auf die Aufnahme ethnisierender Merkmale bzw. Stereotype
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