1. Herbert Uerlings (Trier): Stigma Zigeuner. Formen der ... - Reviste
1. Herbert Uerlings (Trier): Stigma Zigeuner. Formen der ... - Reviste
1. Herbert Uerlings (Trier): Stigma Zigeuner. Formen der ... - Reviste
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<strong>Stigma</strong> <strong>Zigeuner</strong><br />
<strong>Formen</strong> <strong>der</strong> <strong>Stigma</strong>tisierung <strong>der</strong> ‚<strong>Zigeuner</strong>‘ im<br />
deutschsprachigen Raum<br />
<strong>Herbert</strong> <strong>Uerlings</strong><br />
I. <strong>Stigma</strong><br />
Das Wort ‚<strong>Zigeuner</strong>‘ ist in Deutschland bzw. in den deutschsprachigen<br />
Län<strong>der</strong>n zu einem <strong>Stigma</strong>-Wort geworden. Bevor<br />
im Folgenden ein kurzer Blick auf die Gründe dafür, d.h. auf<br />
die lange Geschichte <strong>der</strong> <strong>Stigma</strong>tisierung geworfen wird, sei<br />
deutlich betont, dass die Befunde nur für die Verhältnisse in<br />
Deutschland und teilweise noch für einige weitere westeuropäische<br />
Län<strong>der</strong> gelten. Sie beanspruchen dagegen keine Gültigkeit<br />
für Rumänien, denn hier waren und sind die Verhältnisse<br />
an<strong>der</strong>s.<br />
Für Deutschland aber gilt: ‚<strong>Zigeuner</strong>’ sagt man nicht: Das<br />
Wort ‚<strong>Zigeuner</strong>‘ ist mit <strong>der</strong> langen, im NS-Völkermord gipfelnden<br />
Geschichte <strong>der</strong> Verfolgung und mit <strong>der</strong> Tätersprache<br />
so eng verbunden, dass es für viele zum <strong>Stigma</strong>-Wort geworden<br />
ist. In <strong>der</strong> bundesdeutschen Öffentlichkeit ist es, For<strong>der</strong>ungen<br />
<strong>der</strong> Bürgerrechtsbewegung deutscher Sinti und Roma
<strong>Stigma</strong> <strong>Zigeuner</strong><br />
in den achtziger Jahren folgend, weitgehend durch das Wortpaar<br />
‚Sinti und Roma’ als Sammelbezeichnung für alle Gruppen,<br />
also auch Kale, Manusch, Lalleri, Lovara etc. und meist<br />
auch Jenische, ersetzt worden. Die international gebräuchliche<br />
Bezeichnung ‚Rom’ (o<strong>der</strong> als deutsche Entsprechung ‚Roma’)<br />
hat sich dagegen im deutschsprachigen Bereich bislang nicht<br />
wirklich durchgesetzt. Das dürfte damit zusammenhängen,<br />
dass sie ungeeignet zu sein scheint, die größte einzelne im<br />
deutschen Sprachraum lebende Gruppe, die seit fast 600 Jahren<br />
hier ansässigen Sinti, angemessen mit zu bezeichnen. Hinzu<br />
kommt, dass man als ‚Roma’ im deutschen Sprachgebiet<br />
die aus Ost- und Südosteuropa stammenden Gruppen bezeichnet.<br />
Die Verän<strong>der</strong>ung im öffentlichen Sprachgebrauch zeigt eine<br />
größere Sensibilität <strong>der</strong> Mehrheitsgesellschaft für die Min<strong>der</strong>heit<br />
und eine größere Bereitschaft, Fremd- durch Eigenbezeichnungen<br />
und die mit ihnen verbundene Sicht zu ersetzen.<br />
Darin unterscheidet sich die jüngste Sprachpolitik von <strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
unmittelbaren Nachkriegszeit, in <strong>der</strong> das Wort ‚<strong>Zigeuner</strong>‘ durch<br />
‚Landfahrer’ ersetzt wurde – eine Sprachkosmetik, die die Kontinuität<br />
kriminalpolizeilicher Erfassung und Verfolgung nur<br />
mühsam verdeckte.<br />
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86 <strong>Herbert</strong> <strong>Uerlings</strong><br />
Allerdings gilt ‚<strong>Zigeuner</strong>‘ nur im öffentlichen Sprachge-<br />
brauch als <strong>Stigma</strong>-Wort, und auch das nicht unangefochten. In<br />
<strong>der</strong> Alltagssprache wird es weiterhin gleichberechtigt neben<br />
‚Sinti und Roma’ und nicht selten mit demselben Bedeutungsgehalt,<br />
d.h. insbeson<strong>der</strong>e ohne Abwertung, verwendet. Die<br />
Sinti Allianz Deutschland bevorzugt auch für den öffentlichen<br />
Sprachgebrauch den Begriff ‚<strong>Zigeuner</strong>‘ als neutrale Bezeichnung<br />
aller ziganischen Völker und verwendet ihn auch als<br />
Selbstbezeichnung. Letztere ist er über Jahrhun<strong>der</strong>te hinweg<br />
immer auch gewesen, viele Chronisten, Grabinschriften, ‚<strong>Zigeuner</strong>‘-Orchester<br />
und -Musiker bezeugen es. Eine weitere<br />
Spielart dieses Kampfes um die Bezeichnung einer verfolgten<br />
Min<strong>der</strong>heit ist – analog zur Sprachpolitik <strong>der</strong> ‚Schwulen’-Bewegung<br />
– das Self-Labeling, die offensive Annahme einer<br />
stigmatisierenden Bezeichnung. Die Bezeichnung ‚<strong>Zigeuner</strong>‘<br />
kann im Deutschen also durchaus so gebraucht werden, dass<br />
sie das Wissen um die Verfolgung beinhaltet.<br />
Diese Kämpfe um die <strong>Stigma</strong>-Bedeutung des Wortes ‚<strong>Zigeuner</strong>‘<br />
zeigen vor allem, dass die Geschichte <strong>der</strong> im Völkermord<br />
gipfelnden Exklusion ohne <strong>Stigma</strong>tisierung nicht denkbar<br />
gewesen ist und dass es sich dabei immer auch um sprachliche<br />
bzw. Zeichen-Prozesse gehandelt hat. Exklusion ist ein
<strong>Stigma</strong> <strong>Zigeuner</strong><br />
Prozess, bei dem Semantiken und Praktiken ineinan<strong>der</strong> grei-<br />
fen. Die wichtigste Form <strong>der</strong> Exklusionssemantik ist die <strong>Stigma</strong>tisierung,<br />
und gerade an ihr wird beson<strong>der</strong>s offensichtlich,<br />
dass – was heute common sense in den Kulturwissenschaften<br />
ist – auch Semantiken sich als Praktiken verstehen lassen, ohne<br />
das man deswegen den Unterschied zwischen semantischen<br />
und nicht-semantischen Praktiken verwischen müsste: Auch<br />
Semantiken sind Praktiken, durch die soziale Tatsachen geschaffen<br />
werden. Diesen Zusammenhang zwischen den Bezeichnungspraktiken<br />
und Prozessen <strong>der</strong> Inklusion / Exklusion<br />
zeigt gerade die älteste Form <strong>der</strong> <strong>Stigma</strong>tisierung beson<strong>der</strong>s<br />
deutlich, das Brandzeichen, mit dem entlaufene Sklaven (und<br />
später auch ‚<strong>Zigeuner</strong>‘) markiert wurden. <strong>Stigma</strong>tisierungen<br />
sind, so ließe sich weiter präzisieren, solche Zeichenpraktiken,<br />
durch die eine vollständige soziale Anerkennung verweigert<br />
wird. Dies ist die zentrale Funktion <strong>der</strong> <strong>Stigma</strong>tisierung. Durch<br />
die <strong>Stigma</strong>tisierung wird die Gruppe <strong>der</strong> <strong>Stigma</strong>tisierten erst<br />
gebildet. Es ‚gibt’ also nicht zunächst Träger einer diskreditierenden<br />
Eigenschaft, eines <strong>Stigma</strong>s, son<strong>der</strong>n es ist die Mehrheitsgesellschaft,<br />
die solche Eigenschaften und <strong>der</strong>en Träger<br />
bezeichnet. Mit an<strong>der</strong>en Worten: ‚<strong>Zigeuner</strong>‘ gibt es nicht, zum<br />
‚<strong>Zigeuner</strong>‘ wird man gemacht. Diese – zugegeben pointierte –<br />
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Formulierung verweist auf zwei Probleme: (1) Es ist in <strong>der</strong> Tat<br />
sehr schwierig, von einem ‚Volk’ o<strong>der</strong> einer ‚Nation’ <strong>der</strong> Roma<br />
(o<strong>der</strong> eben <strong>der</strong> ‚<strong>Zigeuner</strong>‘) zu sprechen. Ein entsprechendes<br />
politisches Gemeinschaftsbewusstsein fehlte in <strong>der</strong> Vergangenheit<br />
ganz. Ob es sich, wie die Bürgerrechtsbewegungen<br />
und Verbände hoffen, in nennenswerter Weise dauerhaft bildet,<br />
bleibt abzuwarten. Jedenfalls aber wird dabei die Erfahrung,<br />
einer gemeinsamen bzw. vergleichbaren <strong>Stigma</strong>tisierung<br />
ausgesetzt (gewesen) zu sein, eine zentrale Rolle spielen;<br />
sie tut es schon jetzt. (2) Das <strong>Stigma</strong> ‚<strong>Zigeuner</strong>‘ hat in <strong>der</strong><br />
Vergangenheit eine Vielzahl unterschiedlicher Gruppen und<br />
Individuen getroffen, die oft nichts als diese <strong>Stigma</strong>tisierung<br />
verbindet. Es gibt kein konstantes, gleichsam überhistorisches<br />
Kriterium dafür, wer als ‚<strong>Zigeuner</strong>‘ stigmatisiert wurde. Es<br />
lassen sich allenfalls idealtypisch zwei Begriffsverwendungen<br />
unterscheiden, die, in wechselndem Ausmaß und oft gleichzeitig,<br />
die Verfolgungspraxis bestimmt haben: ein soziographischer<br />
<strong>Zigeuner</strong>begriff, <strong>der</strong> alles fahrende Volk – also im<br />
Spätmittelalter weite Teile <strong>der</strong> Bevölkerung, später dann im<br />
Familienverband gewerbsmäßig umherziehende Personen –<br />
umfassen konnte, und ein ethnischer <strong>Zigeuner</strong>begriff, <strong>der</strong><br />
sich am Kriterium einer ‚Volks’-Identität orientierte, die wie-
<strong>Stigma</strong> <strong>Zigeuner</strong><br />
<strong>der</strong>um in erster Linie als Abstammungsgemeinschaft (und da-<br />
raus sich ergebenden Gemeinsamkeiten bzgl. Sprache, Religion,<br />
Sitten und Gebräuche etc.) verstanden wurde. Sesshafte<br />
Sinti galten deshalb häufig nicht als ‚<strong>Zigeuner</strong>‘, wohl aber<br />
umherziehende Nicht-Sinti. Hinzu kamen weitere semantische<br />
Unschärfen: Eine ‚zigeunerische Lebensweise’ konnte, auch<br />
im Alltagssprachgebrauch, beinahe jedem, <strong>der</strong> sich den herrschenden<br />
Normen nicht anpasste, zum Vorwurf gemacht werden,<br />
in an<strong>der</strong>en Zusammenhängen galten nur ausländische<br />
Fahrende als ‚<strong>Zigeuner</strong>‘ etc. Das <strong>Stigma</strong> ‚<strong>Zigeuner</strong>‘ konnte also<br />
nicht jeden zu je<strong>der</strong> Zeit treffen, aber sein Bedeutungsumfang<br />
deckte sich historisch betrachtet oft nicht mit dem <strong>der</strong><br />
Formel ‚Sinti und Roma’, son<strong>der</strong>n war zugleich weiter und<br />
enger. Wer sich mit <strong>der</strong> Geschichte des <strong>Stigma</strong>s befasst,<br />
kommt deshalb um die Verwendung des Wortes ‚<strong>Zigeuner</strong>‘ als<br />
Bezeichnung für die verfolgte Min<strong>der</strong>heit in ihrer wechselnden<br />
Zusammensetzung nicht herum. In diesem Sinne wird das Wort<br />
im vorliegenden Beitrag verwendet: als Bezeichnung für als<br />
‚<strong>Zigeuner</strong>‘ stigmatisierte Personen und Gruppen.<br />
Im Folgenden soll nicht noch einmal die Fülle <strong>der</strong> stereotypen<br />
Bil<strong>der</strong> und <strong>der</strong> Vorurteile ausgebreitet werden, die in<br />
guter, böser, sentimentaler o<strong>der</strong> ganz ohne Absicht aus Men-<br />
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90 <strong>Herbert</strong> <strong>Uerlings</strong><br />
schen ‚<strong>Zigeuner</strong>‘ machen. Es soll aber auch nicht mehr nur um<br />
das einzelne <strong>Stigma</strong>-Wort ‚<strong>Zigeuner</strong>‘ gehen, son<strong>der</strong>n um den<br />
komplexeren Prozess <strong>der</strong> <strong>Stigma</strong>tisierung: Um eine soziale<br />
Gruppe über 500 Jahre lange auszugrenzen, bedarf es einer<br />
Vielzahl von Geschichten, die einer Gruppe diskreditierende<br />
Eigenschaften zusprechen. In diesem Sinne ist ‚<strong>Zigeuner</strong>‘ ein<br />
komplexes Zeichen, das auf eine Fülle von <strong>Stigma</strong>tisierungsgeschichten<br />
verweist. Bei näherem Hinsehen und stärkerer Systematisierung<br />
zeigt sich dann, dass es vielleicht nur um eine<br />
überschaubare Zahl immer wie<strong>der</strong> variierter Geschichten geht<br />
– und um noch weniger Eigenschaften. Es sind im wesentlichen<br />
drei Eigenschaften: Heidentum, Nomadentum und Asozialität.<br />
Aus ihnen, einzeln o<strong>der</strong> in Kombination, werden seit<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ten alle Zuschreibungen und Wertungen entwickelt.<br />
Entsprechend wird im Folgenden unterschieden zwischen religiösen,<br />
soziographischen und ethnischen <strong>Stigma</strong>tisierungen.<br />
Den Kern <strong>der</strong> <strong>Stigma</strong>tisierung bildet, wie gesagt, die Zuschreibung<br />
einer diskreditierenden Eigenschaft. Dabei kommt<br />
es letztlich nicht darauf an, ob diese tatsächlich vorhanden ist<br />
o<strong>der</strong> nicht. Bei <strong>der</strong> Untersuchung von Stigmen ist es deshalb in<br />
<strong>der</strong> Regel wenig sinnvoll (und oft gar nicht möglich), die<br />
Referenz bzw. den Wahrheitsgehalt zu prüfen. Deshalb nutzt
<strong>Stigma</strong> <strong>Zigeuner</strong><br />
es auch den <strong>Stigma</strong>tisierten meist wenig, sich zu ‚assimilieren’:<br />
Assimilation ist meist ein Hase-und-Igel-Spiel mit dem<br />
Verfolger. Aus demselben Grund greift auch eine Politik des<br />
‚Wi<strong>der</strong>legens’ von <strong>Stigma</strong>tisierungen in <strong>der</strong> Regel zu kurz und<br />
bleibt wirkungslos. Stigmen haben eben weniger mit den Eigenschaften<br />
von <strong>Stigma</strong>tisierten als mit den Bedürfnissen <strong>der</strong><br />
<strong>Stigma</strong>tisierenden zu tun. Stigmen zu untersuchen, bedeutet<br />
daher in erster Linie, ihre Entstehung, ihren Gehalt, ihre Form<br />
und ihre Funktion für die Mehrheitsgesellschaft zu untersuchen.<br />
Was die Funktion betrifft, so ist jeweils historisch zu konkretisieren,<br />
worin die dem <strong>Stigma</strong> generell zukommende Funktion<br />
<strong>der</strong> Verweigerung vollständiger sozialer Anerkennung im<br />
Einzelfall besteht. Das kann in unterschiedlichen Hinsichten<br />
verständlich gemacht werden: psychologisch (meist als Projektion<br />
von Wünschen und Ängsten o<strong>der</strong> als Sündenbockprojektion),<br />
ökonomisch (z.B. bei <strong>der</strong> Austragung von Konkurrenzkämpfen),<br />
ideologisch (z.B. rassenideologisch, religiös/theologisch),<br />
politisch (z.B. als Folge von staatlichen Homogenisierungsprozessen,<br />
Verän<strong>der</strong>ungen in <strong>der</strong> Armutspolitik,<br />
Statuskämpfen etc.), moralisch (als Repräsentation von<br />
erwünschten / verbotenen Verhaltensmaximen) u.a.m. Außer-<br />
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92 <strong>Herbert</strong> <strong>Uerlings</strong><br />
dem kann nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen<br />
den <strong>Stigma</strong>tisierungen verschiedener Gruppen gefragt werden.<br />
Dafür bietet sich im Falle <strong>der</strong> ‚<strong>Zigeuner</strong>‘ <strong>der</strong> Vergleich mit den<br />
Juden an: Diese beiden Gruppen sind über Jahrhun<strong>der</strong>te hinweg<br />
die wichtigsten Min<strong>der</strong>heiten innerhalb <strong>der</strong> deutschen<br />
Mehrheitsgesellschaft gewesen, ihre Kulturen und Lebensweisen<br />
sowie ihr Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft sind sehr<br />
verschieden, aber beide sind wegen ihres behaupteten ‚An<strong>der</strong>s-<br />
Seins’ immer wie<strong>der</strong> verfolgt und im Prozess <strong>der</strong> <strong>Stigma</strong>tisierung<br />
zueinan<strong>der</strong> in Beziehung gebracht worden.<br />
II. Religiöse <strong>Stigma</strong>tisierungen<br />
Religiösen Antiziganismus, d.h. eine religiös begründete <strong>Zigeuner</strong>feindschaft,<br />
gibt es in Mitteleuropa seit <strong>der</strong> Ankunft <strong>der</strong><br />
Roma im frühen 15. Jahrhun<strong>der</strong>t. Das ist auf den ersten Blick<br />
erstaunlich, denn die ‚<strong>Zigeuner</strong>‘ galten als Christen. Bereits<br />
die Chronisten Cornerus (1417) und Andreas (1424) bemühen<br />
entsprechende religiöse Erzählungen zur Erklärung <strong>der</strong> Wan<strong>der</strong>schaft<br />
<strong>der</strong> Neuankömmlinge: Sie befänden sich auf einer<br />
Bußwallfahrt zur Erinnerung an die Flucht des Herrn nach<br />
Ägypten. Diese Begründungsgeschichte eröffnet zwei Mö-
<strong>Stigma</strong> <strong>Zigeuner</strong><br />
glichkeiten des Verhältnisses zwischen ‚<strong>Zigeuner</strong>n‘ und christ-<br />
licher Mehrheitsgesellschaft: die <strong>der</strong> Inklusion christlicher Pil-<br />
ger und die <strong>der</strong> Exklusion von Sün<strong>der</strong>n. Beide Möglichkeiten<br />
wurden realisiert. Anfangs scheinen sie sich noch die Waage<br />
gehalten zu haben, durchgesetzt hat sich aber, wenn auch nie<br />
vollständig, sehr schnell die zweite, die <strong>der</strong> <strong>Stigma</strong>tisierung.<br />
Die damit verbundenen Erzählungen säen Zweifel an <strong>der</strong><br />
Christlichkeit <strong>der</strong> Neuankömmlinge: Sie werden des Aberglaubens<br />
und <strong>der</strong> Zauberei beschuldigt, die Bußwallfahrt wird als<br />
Folge eines Rückfalls ins Heidentum gedeutet und es kommen<br />
weitere Attribute hinzu, die die ‚<strong>Zigeuner</strong>‘ als fremd und an<strong>der</strong>s<br />
markieren. Insbeson<strong>der</strong>e werden sie, schon bei Cornerus,<br />
in eine Reihe mit den ‚Heiden’ und ‚Tataren’ gestellt o<strong>der</strong> als<br />
solche bezeichnet. Dabei spielt die schwarze Hautfarbe eine<br />
entscheidende Rolle: Sie ist im christlichen Denken <strong>der</strong> Zeit<br />
unmittelbar mit heidnischer Gesinnung verbunden, wobei im<br />
Hintergrund die Erinnerung an die Mongoleneinfälle und die<br />
kriegerischen Auseinan<strong>der</strong>setzungen mit dem Islam stehen und<br />
sich mit den Schrecken <strong>der</strong> Pest, dem als Geißel Gottes empfundenen<br />
‚schwarzen Tod’, verbinden sowie natürlich mit <strong>der</strong><br />
symbolischen Bedeutung von Schwarz als Farbe des Teufels.<br />
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94 <strong>Herbert</strong> <strong>Uerlings</strong><br />
Ein regelrechter <strong>Stigma</strong>tisierungsschub erfolgte am Ende des<br />
15. Jahrhun<strong>der</strong>ts. Nachdem auf dem Reichstag zu Lindau 1497<br />
<strong>der</strong> Vorwurf erhoben worden war, die ‚<strong>Zigeuner</strong>‘ seien Spione<br />
<strong>der</strong> Türken in den christlichen Län<strong>der</strong>n, wurde auf dem<br />
Reichstag zu Freiburg 1498 <strong>der</strong> förmliche Beschluss gefasst,<br />
‚<strong>Zigeuner</strong>n‘ das Umherziehen und Handeltreiben zu verbieten,<br />
ihnen jeglichen Schutz zu verwehren und diejenigen, die dage-<br />
gen verstießen, für vogelfrei zu erklären. Dieser Reichstags-<br />
beschluss war die erste staatliche Maßnahme, die auf ein Verschwinden<br />
<strong>der</strong> ‚<strong>Zigeuner</strong>‘ durch Zerstörung ihrer Lebensweise,<br />
Vertreibung und Tod gerichtet war. Er bildete den Ausgangspunkt<br />
für eine Flut von entsprechenden Edikten bis ins<br />
späte 18. Jahrhun<strong>der</strong>t hinein, die aber das gesteckte Ziel nicht<br />
erreichten, weil weite Teile <strong>der</strong> Bevölkerung offenbar an<strong>der</strong>s<br />
dachten als die Obrigkeit und weil den Staaten noch die Voraussetzungen<br />
für eine effiziente Realisierung <strong>der</strong> Verfolgungspolitik<br />
fehlten. Es waren aber die frühneuzeitlichen staatlichen<br />
Formierungsprozesse, die zum Ausschluss <strong>der</strong> eigentumslosen<br />
und nicht-sesshaften außerständischen Gruppen führten, und<br />
die Herausbildung, Konsolidierung und Homogenisierung neuzeitlicher<br />
und später mo<strong>der</strong>ner Staatsstrukturen blieb eine Bedrohung<br />
für die ‚<strong>Zigeuner</strong>‘. Sie wurden zum Prototyp <strong>der</strong> früh-
<strong>Stigma</strong> <strong>Zigeuner</strong><br />
neuzeitlichen Ausgrenzungspraxis, die in diesem Fall religiös<br />
begründet wurde. Der Vorwurf <strong>der</strong> Spionagetätigkeit für die<br />
Türken, dem ‚Erzfeind <strong>der</strong> Christenheit’, erledigte sich eigen-<br />
tlich mit dem Sieg über die Osmanen vor Wien 1529, nicht<br />
aber die religiöse <strong>Stigma</strong>tisierung. Vier verschiedene Erzählungen<br />
lassen sich unterscheiden: Die ‚<strong>Zigeuner</strong>‘ galten (1) als<br />
Nachfahren Kains o<strong>der</strong> Hams, (2) als Leibwächter des Königs<br />
Pharao, die am Ufer zurückgeblieben seien, als dieser den Juden<br />
in das sich öffnende Rote Meer nachgesetzt sei, (3) als die<br />
Schmiede <strong>der</strong> Kreuznägel Christi und (4) als Volk, das <strong>der</strong><br />
Heiligen Familie bei ihrer Flucht nach Ägypten das Nachtquartier<br />
verweigert habe. All diesen Geschichten gemeinsam<br />
ist, dass die Wan<strong>der</strong>ung nicht mehr von <strong>der</strong> christlichen Gesinnung<br />
<strong>der</strong> ‚wallfahrenden <strong>Zigeuner</strong>‘ zeugen soll, son<strong>der</strong>n<br />
von einer in biblischer Zeit begangenen Verfehlung, die die<br />
Unchristlichkeit dieses Volkes belege. Im Blick auf Geschichte<br />
und Funktion von <strong>Stigma</strong>tisierungen sind vier Aspekte beson<strong>der</strong>s<br />
aufschlussreich: (1) Die Erzählungen sind erstaunlich<br />
langlebig und wandlungsfähig und sie finden sich in religiösen,<br />
literarischen und wissenschaftlichen Diskursen. So ist<br />
die Geschichte von <strong>der</strong> verweigerten Herberge 500 Jahre lang,<br />
vom 15. bis zum 20. Jahrhun<strong>der</strong>t, tradiert worden: von den<br />
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96 <strong>Herbert</strong> <strong>Uerlings</strong><br />
Chroniken über die humanistisch-protestantische Geschichts-<br />
und katholische Traktatliteratur, die Kuriositäten- und Magica-<br />
Buchproduktion in die Lexika des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts; seitdem<br />
galt sie als fester Bestandteil des Wissens über ‚<strong>Zigeuner</strong>‘ (vgl.<br />
Köhler-Zülch). (2) Der Wahrheitsgehalt erzählter Begründungen<br />
spielt paradoxerweise letztlich keine Rolle: Schon Aventinus,<br />
dessen "Annalen" (1522) <strong>der</strong> mutmaßliche Ursprungsort<br />
<strong>der</strong> Geschichte von <strong>der</strong> verweigerten Herberge sind, hält diese<br />
für unglaubwürdig, behauptet aber, gerade diese lügenhafte<br />
Selbstdarstellung belege das Unchristliche <strong>der</strong> ‚<strong>Zigeuner</strong>‘, wie<br />
es in <strong>der</strong> Erzählung selbst zum Ausdruck komme. Nach diesem<br />
Motto überlebt die Geschichte sogar den Nie<strong>der</strong>gang <strong>der</strong><br />
Theorie von <strong>der</strong> Herkunft <strong>der</strong> ‚<strong>Zigeuner</strong>‘ aus Ägypten: Hier<br />
zeige sich lediglich erneut, dass sie lügenhaft seien. Ähnlich<br />
wird mit <strong>der</strong> siebenjährigen Bußwallfahrt verfahren: Der Hinweis,<br />
dass die sieben Jahre längst verstrichen sind, wird nicht<br />
zum Anlass gesellschaftlicher Inklusion, son<strong>der</strong>n zum Ausweis<br />
<strong>der</strong> Lügenhaftigkeit bzw. zum Ausgangspunkt weiterer<br />
Erzählungen, die dann z.B. davon handeln, dass die erste Generation<br />
<strong>der</strong> ‚<strong>Zigeuner</strong>‘ zurückgekehrt sei, während die <strong>der</strong><br />
Gegenwart religiöse Scharlatanerie betrieben. (3) Religiöse<br />
<strong>Stigma</strong>tisierungsgeschichten kursieren als Selbst- und Fremd-
<strong>Stigma</strong> <strong>Zigeuner</strong><br />
äußerungen. Beide Parteien machen sie sich immer wie<strong>der</strong> zu<br />
eigen, um innerhalb religiös geprägter Weltbil<strong>der</strong> Verfolgungen<br />
und Vertreibung zu deuten. (4) Die Vorstellung, die ‚<strong>Zigeuner</strong>‘<br />
trügen ein <strong>Stigma</strong>, das sie zu ruhelosem Wan<strong>der</strong>n<br />
verdamme und ihre Vertreibung als dem Willen Gottes gemäß<br />
rechtfertige, erinnert an die antisemitische Figur Ahasvers, des<br />
‚ewigen Juden’, und ihre Funktion. Für diese Analogiebildung<br />
ließen sich viele antiziganistische <strong>Stigma</strong>tisierungsgeschichten<br />
anführen, allerdings kaum solche religiöser Art. So hält <strong>der</strong><br />
Nürnberger Gelehrte Johann Christoph Wagenseil 1697 die<br />
‚<strong>Zigeuner</strong>‘ für Nachfahren deutscher Juden, die sich zur Zeit<br />
<strong>der</strong> Pest und <strong>der</strong> Judenverfolgung ein halbes Jahrhun<strong>der</strong>t in<br />
Erdhöhlen verborgen gehalten und sich dann als ‚fremdes Volk’<br />
wie<strong>der</strong> gezeigt hätten. Auch diese abson<strong>der</strong>liche Geschichte<br />
blieb nicht ohne Gehör. Folgenreicher wurde aber Jacob Thomasius'<br />
De Cingaris (1652, dt. u.d.T. Curiöser Tractat von<br />
<strong>Zigeuner</strong>n, 1702), die erste systematische Zusammenfassung<br />
aller Quellen über ‚<strong>Zigeuner</strong>‘, durch die <strong>der</strong> bis dahin nur in<br />
fiktionalen Texten erhobene Kindsraubvorwurf – seither ein<br />
fester Bestandteil des Wissens über ‚<strong>Zigeuner</strong>‘ – wissenschaftlich<br />
hoffähig wurde. Möglicherweise erfolgt dies in Anlehnung<br />
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98 <strong>Herbert</strong> <strong>Uerlings</strong><br />
an die antijüdische Ritualmordlegende (vgl. Wippermann, 1997,<br />
S. 62).<br />
Religiöser Antiziganismus findet sich, in charakteristisch<br />
wechseln<strong>der</strong> Gestalt, auch in späteren Zeiten. Wenn Sebastian<br />
Münster in seiner "Cosmographey" (1550) nicht nur die Bußgeschichten<br />
als Lügen ("Fabeln") abtut, son<strong>der</strong>n rundum<br />
erklärt, die ‚<strong>Zigeuner</strong>‘ hätten "kein Religion", so gelten diese<br />
nicht mehr als Heiden im mittelalterlichen Sinne, also Menschen,<br />
die je<strong>der</strong>zeit zum Christentum bekehrt werden können.<br />
Das Fehlen <strong>der</strong> Religion meint jetzt vielmehr das Fehlen jeglicher<br />
Moralität und sittlicher Bildung zugunsten einer Lebensweise,<br />
die mit <strong>der</strong> <strong>der</strong> ‚wilden’ Goten, Hunnen und Wandalen<br />
und sogar mit <strong>der</strong> von Hunden verglichen wird. ‚<strong>Zigeuner</strong>‘<br />
wird hier zum <strong>Stigma</strong> eines (in <strong>der</strong> Regel fahrenden) Volkes,<br />
dem es an menschlicher Substanz mangelt. – Eine an<strong>der</strong>e<br />
Form nimmt <strong>der</strong> Vorwurf mangelhafter Religiosität innerhalb<br />
<strong>der</strong> Kirche an: Auf dem Konzil von Trient (1545-1563) geraten<br />
die ‚<strong>Zigeuner</strong>‘ unter Häresie-Verdacht und werden seitdem<br />
das <strong>Stigma</strong>, keine echten Christen zu sein o<strong>der</strong> gar unter dem<br />
Deckmantel konfessioneller Zugehörigkeit abergläubischen Überzeugungen<br />
anzuhängen, nicht mehr los. Die Tradition dieser<br />
theologischen bzw. kirchlichen <strong>Stigma</strong>tisierung ist noch
<strong>Stigma</strong> <strong>Zigeuner</strong><br />
weitgehend unerforscht. Man muss aber davon ausgehen, dass<br />
diese Spielart <strong>der</strong> religiösen <strong>Stigma</strong>tisierung sich auch nach<br />
1820, als die Verfolgung nachließ, erhalten hat und sich, wahrscheinlich<br />
geför<strong>der</strong>t durch die enge Verbindung von Nationalstaat<br />
und Kirche im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t, relativ ungebrochen erhalten<br />
hat (vgl. Solms). Jedenfalls ist in dem Standardwerk<br />
"Religion in Geschichte und Gegenwart" von 1931 über die<br />
‚<strong>Zigeuner</strong>‘ zu lesen: "Äußerlich nehmen sie den Glauben des<br />
Wirtsvolks an, innerlich bleiben sie ihm fremd." Das steht so<br />
o<strong>der</strong> ähnlich auch in an<strong>der</strong>en Lexika, nicht nur kirchlichen,<br />
son<strong>der</strong>n auch in Meyers Konversationslexikon und im Brockhaus<br />
– und es steht auch in neueren Auflagen von 1962<br />
(RGG), 1979 (Meyers) o<strong>der</strong> 1981 (Brockhaus).<br />
Der Völkermord an den Sinti und Roma vollzog sich nicht<br />
ohne aktive und passive Hilfe <strong>der</strong> Kirchen: Sie stellten den<br />
NS-Rasseforschern die Kirchenbücher zur Verfügung und<br />
ermöglichten dadurch die Suche nach ‚Halb’-, ‚Viertel’- und<br />
‚Achtelzigeunern’, sie ließen die rassekundliche Untersuchung<br />
und die Deportation von Sinti-Kin<strong>der</strong>n aus katholischen Heimen<br />
zu und sie schwiegen in <strong>der</strong> Öffentlichkeit zu all dem,<br />
nicht nur während des Krieges, son<strong>der</strong>n auch noch lange<br />
danach, d.h. auch noch in den ersten Schul<strong>der</strong>klärungen nach<br />
99
100 <strong>Herbert</strong> <strong>Uerlings</strong><br />
1945. Das än<strong>der</strong>te sich, unter dem Druck <strong>der</strong> Überlebenden<br />
und ihrer Nachfahren, erst in den 1980er Jahren. Angesichts<br />
<strong>der</strong> langen Geschichte <strong>der</strong> religiösen <strong>Stigma</strong>tisierung wird das<br />
Verhalten <strong>der</strong> beiden großen Kirchen und ihr Schweigen zum<br />
Mord an ihren Mitglie<strong>der</strong>n während des Dritten Reichs erklärlich:<br />
Letztlich betrachteten sie die Sinti und Roma offenbar<br />
nicht als ‚ihre’ Gläubigen. Der religiöse Antiziganismus war<br />
eines <strong>der</strong> dunkelsten Kapitel <strong>der</strong> Kirchen und seine Aufklärung<br />
steht bis heute deutlich hinter <strong>der</strong> des kirchlichen Antijudaismus<br />
zurück.<br />
Darüber, ob man den Völkermord an den Juden und den an<br />
den Sinti und Roma, die Shoah und den Porrajmos, vergleichen<br />
kann, wird viel gestritten. Einige Unterschiede sind unübersehbar:<br />
Nicht nur die Größe <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heiten und die<br />
Zahl <strong>der</strong> Opfer, son<strong>der</strong>n auch die Stellung bei<strong>der</strong> Gruppen in<br />
<strong>der</strong> und zu <strong>der</strong> Mehrheitsgesellschaft waren sehr verschieden;<br />
die rassistische <strong>Stigma</strong>tisierung hat in <strong>der</strong> NS-Ideologie und -<br />
Praxis unterschiedliche Bedeutungen und Folgen gehabt, Art<br />
und Ausmaß <strong>der</strong> Verfolgung in den nicht-deutschen europäischen<br />
Län<strong>der</strong>n waren charakteristisch verschieden u.a.m. Auch<br />
in <strong>der</strong> Zeit nach 1945 gibt es eine augenfällige Divergenz:<br />
Öffentlicher und staatlicher Antiziganismus haben viel länger
<strong>Stigma</strong> <strong>Zigeuner</strong><br />
101<br />
fortgewirkt als <strong>der</strong> Antisemitismus, nicht nur in <strong>der</strong> Polizeiarbeit,<br />
son<strong>der</strong>n auch in <strong>der</strong> Rechtssprechung, hier insbeson<strong>der</strong>e<br />
in Gestalt <strong>der</strong> langjährigen Verweigerung <strong>der</strong> Anerkennung als<br />
Opfer rassistischer Verfolgung. Unbeschadet dieser und<br />
weiterer Unterschiede gibt es eine entscheidende Gemeinsamkeit:<br />
Zweifelsohne hat es sich in beiden Fällen um einen<br />
Völkermord aus rassistischen Gründen gehandelt (vgl. Zimmermann).<br />
Was kann <strong>der</strong> Blick auf religiöse <strong>Stigma</strong>tisierungen zu dem<br />
Vergleich – und damit zur Frage <strong>der</strong> Plausibilität <strong>der</strong> Rede vom<br />
‚Antiziganismus’ – beitragen? Noch vor einiger Zeit hätte man<br />
die Unterschiede betont: Der Antisemitismus sei ursprünglich<br />
religiös begründet worden, während <strong>der</strong> Antiziganismus ohne<br />
religiöse Komponente sei. Aus heutiger Sicht haben sich die<br />
Gewichte verschoben (vgl. Wippermann 2005, Solms). Der<br />
Antisemitismus war und ist nicht rein religiös begründet, son<strong>der</strong>n<br />
hatte von Anfang an auch nicht-religiöse Züge, und <strong>der</strong><br />
Antiziganismus hatte von Anfang an auch religiöse Züge, und<br />
diese sind, zumindest was den kirchlichen Antiziganismus betrifft,<br />
bis heute nicht ganz verschwunden.
102 <strong>Herbert</strong> <strong>Uerlings</strong><br />
III. Soziographische <strong>Stigma</strong>tisierungen<br />
Den Kern des soziographischen <strong>Zigeuner</strong>begriffs bildet das<br />
gewerbsmäßige Umherziehen im Familienverband, eine Eigenschaft,<br />
die sich zusammensetzt aus Heimatlosigkeit (fehlen<strong>der</strong><br />
Gemeindezugehörigkeit), Unverheiratetsein (nach den Maßstäben<br />
von Kirche und Staat) und dem Wan<strong>der</strong>leben. Dieser <strong>Zigeuner</strong>begriff<br />
und seine Zuspitzung zum <strong>Stigma</strong> sind vor allem<br />
ein Produkt staatlicher Instanzen. Sie haben sich im wesentlichen<br />
im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t als ‚polizeilicher Ordnungsbegriff’<br />
durchgesetzt und lassen sich aus staatlichen Entwicklungen<br />
und Interessen erklären (vgl. Lucassen). (1) Ausschlaggebend<br />
für den polizeilichen Ordnungsbegriff ‚<strong>Zigeuner</strong>‘ war die<br />
Armutspolitik, d.h. die Umstellung von <strong>der</strong> kirchlich-religiösen<br />
Armenfürsorge auf die staatliche Armutspolitik. Sie ging<br />
seit dem Ende des 16. Jahrhun<strong>der</strong>ts einher mit <strong>der</strong> Einschränkung<br />
<strong>der</strong> Armenfürsorge auf ortsansässige Arme, später<br />
auf die Angehörigen einer Nation bzw. die Staatsbürger. Die<br />
Orientierung am Gemeindeprinzip machte die Sesshaftigkeit<br />
zum zentralen Thema, denn die Behörden hatten ein elementares<br />
Interesse daran, die Mobilität <strong>der</strong> Unterschichten einzuschränken:<br />
Ohne die Durchsetzung <strong>der</strong> Sesshaftigkeit war eine
<strong>Stigma</strong> <strong>Zigeuner</strong><br />
103<br />
kontrollierte Armutspolitik nicht möglich. Die Zuständigkeit<br />
<strong>der</strong> Gemeinden für ihre Armen bzw. das Sesshaftigkeitsprinzip<br />
hatte jedoch eine paradoxe Folge: Jede Gemeinde war bemüht,<br />
Personen, die ihren Heimatstatus nicht einwandfrei nachweisen<br />
konnten, abzuweisen. Es kam zu einer systematischen<br />
Ausgrenzung ortsfrem<strong>der</strong> Armer o<strong>der</strong> solcher, die in diesem<br />
Verdacht standen. Diese Paradoxie hat sich, in wechselnden<br />
Spielarten und unterschiedlichem Ausmaß, bis weit ins 20.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>t hinein ausgewirkt, erkennbar ist sie in älteren<br />
Zeiten häufig daran, dass <strong>der</strong> Dorfgendarm o<strong>der</strong> die Landjäger<br />
anreisende ‚<strong>Zigeuner</strong>‘ an <strong>der</strong> Gemeindegrenze in Empfang<br />
nahmen, um sie dann möglichst ohne Aufenthalt noch am<br />
selben Tage an <strong>der</strong> nächsten Gemeindegrenze den Kollegen zu<br />
übergeben. Im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t zeugen die wi<strong>der</strong>strebend geduldeten<br />
‚<strong>Zigeuner</strong>lager’ am Rand <strong>der</strong> Städte von demselben<br />
Dilemma: Gerade die Durchsetzung des Prinzips <strong>der</strong> Sesshaftigkeit<br />
führte zu einem vermehrten ‚Wan<strong>der</strong>leben’ von<br />
Heimatlosen ohne Papiere; ähnlich paradox waren die Auswirkungen<br />
<strong>der</strong> Umstellung staatlicher Zugehörigkeit vom<br />
‚Untertanen’ auf den ‚Staatsbürger’, vor allem wenn <strong>der</strong>en<br />
Gesamtheit als ‚Staatsnation’ definiert wurde. Es waren also<br />
auch hier nicht Eigenschaften von Personen, die sie zu ‚Zigeu-
104 <strong>Herbert</strong> <strong>Uerlings</strong><br />
nern‘ gemacht haben, son<strong>der</strong>n ‚<strong>Zigeuner</strong>‘ wurden durch staat-<br />
liche Politik gemacht. (2) Im Spätabsolutismus waren, von<br />
staatlicher und nicht-staatlicher Seite aus, einige Versuche <strong>der</strong><br />
Sesshaftmachung und Assimilation von ‚<strong>Zigeuner</strong>n‘ unternommen<br />
worden. Diese Versuche waren, im wesentlichen aufgrund<br />
ihres Zwangscharakters und ihrer völlig unzureichenden<br />
Planung und Durchführung, gescheitert. Die Folge war aber,<br />
dass, etwa seit 1835, in polizeilicher Sicht ‚<strong>Zigeuner</strong>‘ als <strong>der</strong><br />
„unverbesserliche“ Teil <strong>der</strong> ‚Gauner’ und ‚Vaganten’ galten.<br />
Auch hier än<strong>der</strong>te sich am soziographischen Gehalt <strong>der</strong> Definition<br />
zunächst nichts. (3) Dies än<strong>der</strong>te sich im ausgehenden<br />
19. Jahrhun<strong>der</strong>t im Zuge einer zunehmenden Professionalisierung<br />
<strong>der</strong> Polizeiarbeit, einer Kriminalisierung <strong>der</strong> fahrenden<br />
Lebensweise, <strong>der</strong> Durchsetzung des Nationalstaats und <strong>der</strong><br />
Akzeptanz <strong>der</strong> kriminalbiologischen These vom ‚geborenen<br />
Verbrecher’ (Lombroso). Jetzt – also lange vor dem Nationalsozialismus<br />
– erfolgt eine dezidiertere Ethnisierung. Völlig verschwunden<br />
war sie aber auch vorher nie, denn mit <strong>der</strong> Bedeutung<br />
<strong>der</strong> Heimatzugehörigkeit war auch die <strong>der</strong> Stammbaummethode<br />
als Nachweisverfahren gewachsen und Steckbriefe,<br />
Polizeiblätter und <strong>Zigeuner</strong>kartotheken hatten nie ganz<br />
auf die Aufnahme ethnisieren<strong>der</strong> Merkmale bzw. Stereotype
<strong>Stigma</strong> <strong>Zigeuner</strong><br />
105<br />
verzichtet. Aber erst seit dem ausgehenden 19. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
existieren soziographischer und ethnisieren<strong>der</strong> polizeilicher<br />
<strong>Zigeuner</strong>begriff annähernd gleichberechtigt nebeneinan<strong>der</strong> und<br />
greifen ineinan<strong>der</strong>. Auf diese Weise konnte man ‚<strong>Zigeuner</strong>‘<br />
von Jenischen (den ‚weißen <strong>Zigeuner</strong>n’) und (‚einheimischen’)<br />
Landfahrern unterscheiden und sie doch allesamt als „nach<br />
<strong>Zigeuner</strong>art Umherziehende“ erfassen und verfolgen. – In<br />
allen drei Hinsichten (Armutspolitik, scheiternde Zwangsassimilation,<br />
Kriminalpolitik) zeigt sich erneut, dass es nicht<br />
einfach Eigenschaften von Personen sind, die sie als ‚<strong>Zigeuner</strong>‘<br />
ausweisen, son<strong>der</strong>n dass Personen erst aufgrund einer<br />
durch staatliche Interessen ausgelösten und durch Behörden<br />
vorgenommenen <strong>Stigma</strong>tisierung zu ‚<strong>Zigeuner</strong>n‘ werden.<br />
IV. Ethnische <strong>Stigma</strong>tisierungen<br />
Ethnisch-rassische <strong>Stigma</strong>tisierungen sind dort möglich, wo<br />
<strong>der</strong> ‚<strong>Zigeuner</strong>‘-Begriff nicht soziographisch ist, son<strong>der</strong>n Kategorien<br />
wie ‚Stamm’, ‚Volk’, ‚Rasse’ o<strong>der</strong> ‚Ethnie’ zugrunde<br />
gelegt werden. Eine <strong>Stigma</strong>tisierung liegt dann vor, wenn (die<br />
Verweigerung vollständiger sozialer Anerkennung begründende)<br />
Eigenschaften unterstellt werden, die aus einem ‚unver-
106 <strong>Herbert</strong> <strong>Uerlings</strong><br />
än<strong>der</strong>lichen Wesen’ einer solchen Gruppe abgeleitet werden.<br />
Bei <strong>Stigma</strong>tisierungen diesen Typs handelt es sich daher um<br />
Rassismus. In <strong>der</strong> ‚biologistischen Ausprägung des Rassismus,<br />
seiner bekanntesten Form, ist das ganz offensichtlich: Die ‚<strong>Zigeuner</strong>‘<br />
werden als ‚fremdblütig’ und ‚min<strong>der</strong>wertig’ stigmatisiert.<br />
Es gibt jedoch eine weitere Form des Rassismus: In seiner<br />
‚kulturalistischen’ Ausprägung unterstellt er, dass es eine<br />
beson<strong>der</strong>e Kultur und Lebensweise <strong>der</strong> ‚<strong>Zigeuner</strong>‘ gebe, die<br />
unverän<strong>der</strong>lich und mit <strong>der</strong> Kultur und Lebensweise <strong>der</strong> Mehrheitsgesellschaft<br />
unvereinbar und deshalb abzulehnen bzw. zu<br />
bekämpfen sei (vgl. Zimmermann). Es hat jedoch immer schon,<br />
d.h. mindestens seit dem ausgehenden 18. Jahrhun<strong>der</strong>t, ein<br />
Nebeneinan<strong>der</strong> von kulturalistischem und biologistischem Rassismus<br />
gegeben, mitunter auch bei ein und demselben Autor.<br />
So erklärt <strong>der</strong> Aufklärer Heinrich Moritz Grellmann in seiner<br />
berühmt-berüchtigten Untersuchung Historischer Versuch<br />
über die <strong>Zigeuner</strong> (1787) einerseits die ‚<strong>Zigeuner</strong>‘ für nicht<br />
verän<strong>der</strong>ungsfähig, for<strong>der</strong>t aber an<strong>der</strong>erseits, sie "zu brauchbaren<br />
Bürgern umzuschaffen". Diese Spannung zwischen Erziehbarkeit<br />
und Unverän<strong>der</strong>lichkeit, zwischen <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung nach<br />
Assimilation und dem Zweifel an <strong>der</strong> Möglichkeit wird bei<br />
Grellmann erstmals in aller Deutlichkeit konstruiert und ist
<strong>Stigma</strong> <strong>Zigeuner</strong><br />
107<br />
seither, nicht zuletzt weil sein "Historischer Versuch" für 100<br />
Jahre das Wissen über die ‚<strong>Zigeuner</strong>‘ maßgeblich geprägt hat,<br />
aus dem Diskurs <strong>der</strong> Mehrheitsgesellschaft über die Betroffenen<br />
nicht mehr wegzudenken.<br />
Rassistische <strong>Stigma</strong>tisierungen <strong>der</strong> ‚<strong>Zigeuner</strong>‘ gibt es also<br />
seit langem. Eine zentrale Rolle bei staatlichem Handeln haben<br />
sie in <strong>der</strong> Phase des Nationalismus, d.h. in den Jahrzehnten<br />
zwischen dem ausgehenden 19. und <strong>der</strong> Mitte des 20.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ts, gespielt. Das hängt selbstverständlich mit <strong>der</strong> radikalen<br />
Ethnisierung politischer Auseinan<strong>der</strong>setzungen in dieser<br />
Zeit zusammen.<br />
Dabei ist vor allem an die große Bedeutung, die die zunächst<br />
in den USA entwickelte Eugenik um 1900 in Europa<br />
gewann, zu denken. Entscheidend wurde die Verknüpfung von<br />
Eugenik und Sozialpolitik. Sie sollte nicht nur für die Juden<br />
Europas, son<strong>der</strong>n auch für die Sinti, Roma und Jenischen<br />
katastrophale Folgen haben.<br />
Die wissenschaftspolitische Situation um 1900 – mit <strong>der</strong><br />
Medizin und insbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> Psychiatrie als Leitwissenschaft<br />
und <strong>der</strong> neuen Leitdifferenz ‚normal’ vs. ‚abnorm’ – schuf<br />
naturwissenschaftlich verbürgte Legitimationsgrundlagen für<br />
die politische Ausgrenzung und Diskriminierung, für die Inter-
108 <strong>Herbert</strong> <strong>Uerlings</strong><br />
nierung und den Maßnahmenvollzug und damit für die Bekämpfung<br />
von abweichenden Lebensformen. Der Essentialismus<br />
biologisch begründeter Klassifikationen hatte zudem einen<br />
potentiell eliminatorischen Zug, insbeson<strong>der</strong>e in Verbindung<br />
mit Degenerationstheorien, wie sie in <strong>der</strong> um 1900 aufkommenden<br />
Rassenhygiene verbreitet waren.<br />
Soziale Relevanz erhielten biologisch begründete Gesellschaftstheorien<br />
im Rahmen des Sozialdarwinismus und Rassismus.<br />
Analog zu Lombrosos ‚geborenem Verbrecher’, <strong>der</strong> als<br />
unstet, primitiv und arbeitsscheu beschrieben wurde, unterschieden<br />
Rassentheorien zwischen ‚wertvollen’ und ‚min<strong>der</strong>wertigen’<br />
Rassen, wobei sich letztere ebenfalls durch atavistische<br />
Merkmale auszeichneten, etwa die ‚<strong>Zigeuner</strong>‘ durch<br />
einen ‚angeborenen Wan<strong>der</strong>trieb’. Im Konstrukt des Atavismus<br />
verschmolzen Rassenlehre und Kriminalanthropologie zu<br />
einem Dispositiv <strong>der</strong> ‚gemeingefährlichen Min<strong>der</strong>wertigkeit’<br />
und des ‚unnützen’ Menschen, das schon um die Jahrhun<strong>der</strong>twende<br />
für viele einen hohen Grad an Plausibilität<br />
aufwies und zur herrschenden Ideologie wurde. Eine Mischung<br />
von naturwissenschaftlichen Spekulationen, bevölkerungspolitischen<br />
Visionen und Kostenargumenten bereitete den<br />
Boden für das eugenische ‚Versprechen’, die beiden angeblich
<strong>Stigma</strong> <strong>Zigeuner</strong><br />
109<br />
bedrohlichsten sozialpolitischen Probleme mit einem Schlag<br />
zu lösen: die Degeneration und die Armut.<br />
Die Beziehungen zwischen <strong>der</strong> Kriminalanthropologie Lombrosos<br />
und seiner Nachfolger und <strong>der</strong> ‚<strong>Zigeuner</strong>‘-Politik erschöpfen<br />
sich aber nicht in <strong>der</strong> bloßen Analogiebildung und<br />
gegenseitigen Verstärkung. Die Tendenz zur Pathologisierung<br />
von als ‚abnorm’ stigmatisierten Verhaltensweisen erfasste<br />
vielmehr nicht sesshaft lebende Personen in beson<strong>der</strong>em Ausmaß<br />
– bis hin zum tautologischen Kurzschluss zwischen Kriminalanthropologie<br />
und <strong>der</strong> <strong>Zigeuner</strong>forschung. Das Fahrende<br />
Volk schien die These von <strong>der</strong> angeborenen Neigung zum<br />
Verbrechen und zur Devianz exemplarisch zu bestätigen. Jede<br />
Kriminalstatistik belegte die rassenspezifische Neigung zur<br />
Kriminalität – wenn man ausblendete, dass aufgrund zahlreicher<br />
Son<strong>der</strong>gesetze und einer damit verbundenen beson<strong>der</strong>en<br />
Aufmerksamkeit <strong>der</strong> Polizeibehörden für Fahrende das<br />
Risiko, einer Gesetzeswidrigkeit überführt zu werden, beson<strong>der</strong>s<br />
hoch war.<br />
Schützenhilfe erhielten die erbbiologisch argumentierenden<br />
Sozial- und Polizeibehörden durch den Schweizer Psychiater<br />
Josef Jörger (1860-1933), einen <strong>der</strong> Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> psychiatrischen<br />
Erbtheorie. Jörger wurde durch seine genealogischen
110 <strong>Herbert</strong> <strong>Uerlings</strong><br />
Studien, mit denen er die Erblichkeit unerwünschter sozialer<br />
Verhaltensweisen von Jenischen nachweisen wollte, <strong>der</strong> Begrün<strong>der</strong><br />
jener psychiatrischen Theorien, die Roma, Sinti und<br />
Jenische als ‚erblich Min<strong>der</strong>wertige’ verschiedenen Verfolgungsstrategien<br />
auslieferten.<br />
Ohnehin hatte die Schweiz um 1900 und noch für lange<br />
Jahre danach in Europa eine Vorreiterrolle bei <strong>der</strong> Eugenik<br />
inne. Insbeson<strong>der</strong>e dem – im Übrigen antisemitisch eingestellten<br />
– Psychiater Auguste Forel (1848-1931) und seinen<br />
Schülern war es zu verdanken, dass Zürich zum Mekka <strong>der</strong><br />
Eugeniker wurde.<br />
In diesem Umfeld bildete sich in <strong>der</strong> Schweiz eine spezifische<br />
Form <strong>der</strong> Verfolgung <strong>der</strong> ‚<strong>Zigeuner</strong>‘ aus: Während die<br />
ausländischen ‚<strong>Zigeuner</strong>‘ ausgewiesen wurden, sollte die<br />
Assimilation <strong>der</strong> Jenischen gewaltsam erzwungen werden. Als<br />
dies durch Zwangsmaßnahmen wie Sterilisation o<strong>der</strong> Heiratsverhin<strong>der</strong>ung<br />
nicht gelang, betrieb seit 1926 das ‚Hilfswerk<br />
Kin<strong>der</strong> <strong>der</strong> Landstraße’ mit staatlicher Unterstützung systematisch<br />
eine Politik <strong>der</strong> Wegnahme und zwangsweisen Heimunterbringung<br />
jenischer Kin<strong>der</strong> – kulturalistische und biologistische<br />
<strong>Stigma</strong>tisierung griffen, in Form von Theorien milieubedingter<br />
und genetischer Vererbung und entsprechenden
<strong>Stigma</strong> <strong>Zigeuner</strong><br />
111<br />
Praktiken, ineinan<strong>der</strong>. Erst 1973 wurde dem, nach massiven<br />
Protesten von Betroffenen, ein Ende bereitet.<br />
Die Schweizer Eugenik hatte zur Rassenpolitik des Nationalsozialismus<br />
direkte Verbindungen; so war z.B. das 1933<br />
erlassene "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses"<br />
von Forels Schüler Erich Rüdin wesentlich mitgestaltet worden.<br />
Vor allem aber orientierte sich <strong>der</strong> deutsche Kriminalbiologe<br />
Robert Ritter (1901-1951), Direktor <strong>der</strong> ‚Rassehygienischen<br />
Forschungsstelle’ und führen<strong>der</strong> NS-‚<strong>Zigeuner</strong>forscher’,<br />
an seinen Schweizer Kollegen, insbeson<strong>der</strong>e an<br />
Josef Jörger. Ritter vertrat die Auffassung vom ‚unverän<strong>der</strong>lichen<br />
Erbschicksal’ <strong>der</strong> ‚<strong>Zigeuner</strong>‘ und war mit seinen<br />
rassistischen Studien direkt an <strong>der</strong> NS-Verfolgungspolitik<br />
beteiligt, die bis zu 500.000 europäischen Sinti und Roma das<br />
Leben gekostet hat. Auch in Deutschland gab es diesbezüglich<br />
1945 keine Stunde Null: Ritters Ansichten wurden noch längere<br />
Zeit weiter propagiert. Bis in die siebziger Jahre arbeiteten<br />
außerdem ehemalige Mitarbeiter <strong>der</strong> Rassehygienischen<br />
Forschungsstelle und die Kriminalpolizei mit den ‚<strong>Zigeuner</strong>akten’<br />
weiter – und nicht selten entschieden frühere (Mit-)Täter<br />
über die Entschädigungsansprüche ihrer Opfer.
112 <strong>Herbert</strong> <strong>Uerlings</strong><br />
Dennoch hat sich <strong>der</strong> biologische Rassismus gründlich und<br />
hoffentlich auf Dauer diskreditiert und spielt in <strong>der</strong> Öffentlichkeit<br />
keine nennenswerte Rolle mehr. Von einem Ende<br />
rassistischer <strong>Stigma</strong>tisierung kann deshalb jedoch nicht gesprochen<br />
werden. Ihre <strong>der</strong>zeit dominante Form ist <strong>der</strong> ‚kulturalistische<br />
Rassismus’, nicht nur im Blick auf die ‚<strong>Zigeuner</strong>‘,<br />
son<strong>der</strong>n auch und vor allem in <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung mit<br />
dem Islam, bei <strong>der</strong> dann religiöse <strong>Stigma</strong>tisierungen hinzukommen.<br />
Was die ‚<strong>Zigeuner</strong>‘ betrifft, so steht aber, an<strong>der</strong>s als<br />
im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t, nicht mehr die mangelnde Sesshaftigkeit<br />
als diskreditierte Eigenschaft im Mittelpunkt, son<strong>der</strong>n die Kriminalität.<br />
In dieser Form wirkt <strong>der</strong> Nationalsozialismus bis<br />
heute fort. Mit dem Argument, es habe sich bis 1943 um eine<br />
kriminalpräventive, nicht um eine rassistisch motivierte Verfolgung<br />
gehandelt, hatte <strong>der</strong> Bundesgerichtshof den Sinti und<br />
Roma die Anerkennung als Opfer des Nationalsozialismus lange<br />
verweigert, bis er dieses Urteil 1963 revidierte. In vielen<br />
an<strong>der</strong>en Bereichen zeigt sich dagegen, im Falle <strong>der</strong> ‚<strong>Zigeuner</strong>‘<br />
wie an<strong>der</strong>er Gruppen, dass die biologistische <strong>Stigma</strong>tisierung<br />
nicht einfach verschwindet, son<strong>der</strong>n oft lediglich durch die<br />
kulturalistische ersetzt wird. Das kulturalistische <strong>Stigma</strong> vom<br />
‚kriminellen <strong>Zigeuner</strong>’ ist heute, vor allem im Bereich von
<strong>Stigma</strong> <strong>Zigeuner</strong><br />
113<br />
Polizeiarbeit und Medienöffentlichkeit, wohl die wirksamste<br />
Form von antiziganistischem Rassismus.<br />
V. Gegenerzählungen<br />
Was kann man gegen <strong>Stigma</strong>tisierungen unternehmen? Die<br />
vielleicht älteste und am weitesten verbreitete Form <strong>der</strong> Gegenwehr<br />
ist die sog. ‚<strong>Zigeuner</strong>romantik’: die dezidiert positive<br />
Darstellung von ‚<strong>Zigeuner</strong>n‘, wie es sie seit <strong>der</strong> europäischen<br />
Romantik des 18./19. Jahrhun<strong>der</strong>ts vor allem im Bereich <strong>der</strong><br />
Künste (Literatur, Theater, Oper, Bildende Künste) gibt (vgl.<br />
Kugler). Hier sind nicht selten interessante und auch aus<br />
heutiger Sicht sehr ansprechende Auseinan<strong>der</strong>setzungen mit<br />
antiziganistischen Stigmen geschaffen worden (etwa mit Clemens<br />
Brentanos Erzählung "Die mehreren Wehmüller und<br />
ungarischen Nationalgesichter" (1817) o<strong>der</strong> Gottfried Kellers<br />
Novelle "Romeo und Julia auf dem Dorfe" (1856)), an<strong>der</strong>es,<br />
wie z.B. die Bearbeitungen des Carmen-Stoffs, ist von Fall zu<br />
Fall durchaus diskutierenswert, wobei bei <strong>der</strong> ‚<strong>Zigeuner</strong>romantik’<br />
im Bereich <strong>der</strong> Musik noch mit zu bedenken wäre,<br />
dass hier eine schnell aktiv von den Betroffenen selbst genutzte,<br />
mit sozialer Anerkennung verbundene Existenzmö-
114 <strong>Herbert</strong> <strong>Uerlings</strong><br />
glichkeit entstanden ist. – Das Hauptproblem <strong>der</strong> meisten gut<br />
gemeinten <strong>Zigeuner</strong>darstellungen und des Philoziganismus ist<br />
aber das <strong>der</strong> positiven <strong>Stigma</strong>tisierung. Das zeigt sich nicht nur<br />
in den Künsten. Himmlers Phantasie vom ‚arischen Charakter’<br />
‚reinrassiger <strong>Zigeuner</strong>‘ – ein barbarischer Fall von Philoziganismus<br />
– gehört ebenso hierher wie <strong>der</strong> - gut gemeinte –<br />
wissenschaftliche Philoziganismus einer Gießener Gruppe von<br />
Ethnologen und Historikern, die Anfang <strong>der</strong> 1980er Jahre den<br />
‚<strong>Zigeuner</strong>n‘ einen beson<strong>der</strong>en ‚Eigensinn’ zusprach. In all<br />
diesen Fällen wird das Grundprinzip <strong>der</strong> <strong>Stigma</strong>tisierung wie<strong>der</strong>holt<br />
und ein prinzipielles ‚An<strong>der</strong>ssein’ <strong>der</strong> ‚<strong>Zigeuner</strong>‘ behauptet.<br />
Positive <strong>Stigma</strong>tisierungen sind daher keine Lösung,<br />
son<strong>der</strong>n eine Wie<strong>der</strong>holung des Problems unter umgekehrtem<br />
Vorzeichen. In <strong>der</strong> Regel bleibt das Entscheidende gleich: Das<br />
Bild <strong>der</strong> ‚<strong>Zigeuner</strong>‘ ist eine Projektion, d.h. Ausdruck eigener<br />
Wünsche und Ängste.<br />
Gegen <strong>Stigma</strong>tisierung helfen nur Gegenerzählungen, hilft<br />
nur die Durchsetzung solcher Geschichten, die auf soziale Anerkennung<br />
zielen. Solche Gegenerzählungen gibt es: seit langem<br />
in <strong>der</strong> Literatur- und Kunstgeschichte <strong>der</strong> Mehrheitsgesellschaft<br />
wie <strong>der</strong> Roma, in vielen kritischen Veröffentlichungen,<br />
in Gestalt vieler Interventionen <strong>der</strong> Betroffenen und ihrer
<strong>Stigma</strong> <strong>Zigeuner</strong><br />
115<br />
Verbände in die öffentliche Repräsentationspraxis, in <strong>der</strong> Oral<br />
History u.a.m. Beson<strong>der</strong>s gelungen sind solche Gegenerzäh-<br />
lungen dann, wenn sie die Grundprinzipien <strong>der</strong> <strong>Stigma</strong>tisie-<br />
runggeschichten durchbrechen, indem sie z.B. Eigenschaften<br />
nicht exklusiv/dominant zusprechen, an<strong>der</strong>e und/o<strong>der</strong> reichhaltigere<br />
Attribuierungen vornehmen und den Akzent von <strong>der</strong> Typisierung<br />
auf die Individualisierung verschieben. Mit an<strong>der</strong>en<br />
Worten: Gelungene Gegenerzählungen sind solche, die nicht<br />
nur an<strong>der</strong>e Geschichten, son<strong>der</strong>n diese auch an<strong>der</strong>s erzählen.<br />
Literatur<br />
Anita Awosusi (Hg.): Stichwort: <strong>Zigeuner</strong>. Zur <strong>Stigma</strong>tisierung<br />
von Sinti und Roma in Lexika und Enzyklopädien.<br />
Heidelberg 1998.<br />
Jacqueline Giere (Hg.): Die gesellschaftliche Konstruktion des<br />
<strong>Zigeuner</strong>s. Zur Genese eines Vorurteils. Frankfurt am<br />
Main / New York 1996.<br />
Erving Goffman: <strong>Stigma</strong>. Über Techniken <strong>der</strong> Bewältigung<br />
beschädigter Identität. Frankfurt am Main 1967.<br />
Joachim S. Hohmann: Geschichte <strong>der</strong> <strong>Zigeuner</strong>verfolgung in<br />
Deutschland. Frankfurt am Main / New York 1988.<br />
Joachim S. Hohmann: Robert Ritter und die Erben <strong>der</strong><br />
Kriminalbiologie. „<strong>Zigeuner</strong>forschung“ im Nationalsozialismus<br />
und in Westdeutschland im Zeichen des<br />
Rassismus. Frankfurt am Main / Bern / New York /<br />
Paris 199<strong>1.</strong>
116 <strong>Herbert</strong> <strong>Uerlings</strong><br />
Wulf D. Hund (Hg.): <strong>Zigeuner</strong>. Geschichte und Struktur einer<br />
rassistischen Konstruktion. Duisburg 1996.<br />
Wulf D. Hund (Hg.): <strong>Zigeuner</strong>bil<strong>der</strong>. Schnittmuster rassistischer<br />
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Thomas Huonker: Fahrendes Volk – verfolgt und verfemt.<br />
Jenische Lebensläufe. 2. Aufl. Zürich 1990.<br />
Thomas Huonker: Diagnose: „moralisch defekt“. Kastration,<br />
Sterilisation und Rassenhygiene im Dienst <strong>der</strong> Schweizer<br />
Sozialpolitik und Psychiatrie 1890-1970. Zürich<br />
2003.<br />
Ines Köhler-Zülch: Die Heilige Familie in Ägypten, die<br />
verweigerte Herberge und an<strong>der</strong>e Geschichten von<br />
‚<strong>Zigeuner</strong>n’ – Selbstäußerung o<strong>der</strong> Außenbil<strong>der</strong>? In:<br />
Daniel Strauss (Hg.): Die Sinti/Roma-Erzählkunst im<br />
Kontext Europäischer Märchenkultur. Heidelberg 1992.<br />
Stefani Kugler: Kunst-<strong>Zigeuner</strong>. Konstruktionen des ‚<strong>Zigeuner</strong>s’<br />
in <strong>der</strong> deutschen Literatur <strong>der</strong> ersten Hälfte des<br />
19. Jahrhun<strong>der</strong>ts. <strong>Trier</strong> 2004.<br />
Leo Lucassen: <strong>Zigeuner</strong>. Die Geschichte eines polizeilichen<br />
Ordnungsbegriffes in Deutschland 1700-1945. Köln /<br />
Weimar / Wien 1996.<br />
Romani Rose: Bürgerrechte für Sinti und Roma. Das Buch<br />
zum Rassismus in Deutschland. Hg. vom Zentralrat<br />
Deutscher Sinti und Roma. Heidelberg 1987.<br />
Wilhelm Solms: „Kulturloses Volk“? Berichte über ‚<strong>Zigeuner</strong>’<br />
und Selbstzeugnisse von Sinti und Roma. Seeheim<br />
2006.<br />
Änne Winckel: Antiziganismus. Rassismus gegen Roma und<br />
Sinti im vereinigten Deutschland. Münster 2002.<br />
Wolfgang Wippermann: „Wie die <strong>Zigeuner</strong>“. Antisemitismus<br />
und Antiziganismus im Vergleich. Berlin 1997.
<strong>Stigma</strong> <strong>Zigeuner</strong><br />
117<br />
Wolfgang Wippermann: „Auserwählte Opfer?“ Shoah und<br />
Porrajmos im Vergleich. Eine Kontroverse. Berlin<br />
2005.<br />
Michael Zimmermann: Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische<br />
„Lösung <strong>der</strong> <strong>Zigeuner</strong>frage“. Hamburg<br />
1996.