Modalverben - ein Klassenkampf - German Grammar Group FU Berlin
Modalverben - ein Klassenkampf - German Grammar Group FU Berlin Modalverben - ein Klassenkampf - German Grammar Group FU Berlin
JAKOB MACHÉ MODALVERBEN – EIN ”KLASSENKAMPF” ? Diplomarbeit zur Erlangung des Magistergrades der Philosophie aus der Studienrichtung Deutsche Philologie eingereicht an der Geistes- und Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien Wien, 2004
- Seite 2 und 3: - Inhaltsverzeichnis - Abkürzungen
- Seite 4 und 5: Abkürzungen. ahd althochdeutsch DM
- Seite 6 und 7: nichts anderes als die Aufspaltung
- Seite 8 und 9: diese Charakteristika und zeigt, in
- Seite 10 und 11: (x) Bei MV steht in diesen Fällen
- Seite 12 und 13: diese Weise das gegenwärtige Syste
- Seite 14 und 15: wollen und möchte mit daß-Satz we
- Seite 16 und 17: egieren sie bei verbalen Ergänzung
- Seite 18 und 19: obligatorisch inkohärente Verben:
- Seite 20 und 21: spielen, auch wenn sie nicht im Sta
- Seite 22 und 23: leere Pronomen ”PRO” und in Anh
- Seite 24 und 25: (23) Jörg1 scheint [t1 wieder zu k
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- Seite 28 und 29: ebenfalls keine geeignete Lösung z
- Seite 30 und 31: Was die Negation betrifft, so kommt
- Seite 32 und 33: 1955/57: 76ff.), am besten als Eige
- Seite 34 und 35: Eine Lesart, in der das eingebettet
- Seite 36 und 37: Monoklausales zur Intraposition. Es
- Seite 38 und 39: 1.3 Semantische Aspekte. Eine wesen
- Seite 40 und 41: (51) Das Auto kann/darf/muß/soll v
- Seite 42 und 43: Infinitivkonstruktionen abheben, li
- Seite 44 und 45: Zusammenfassung. Auf der Suche nach
- Seite 46 und 47: weitere Besonderheit besteht darin,
- Seite 48 und 49: (65) a. ?? Du brauchst [nicht (zu)
- Seite 50 und 51: Futurbedeutung auf. Eine Präsensin
JAKOB MACHÉ<br />
MODALVERBEN – EIN ”KLASSENKAMPF” ?<br />
Diplomarbeit zur Erlangung des<br />
Magistergrades der Philosophie aus der<br />
Studienrichtung Deutsche Philologie <strong>ein</strong>gereicht an<br />
der Geistes- und Kulturwissenschaftlichen<br />
Fakultät der Universität Wien<br />
Wien, 2004
- Inhaltsverzeichnis -<br />
Abkürzungen. III<br />
0. Problemstellung 1<br />
1. Zur Phänomenalität der <strong>Modalverben</strong>. 3<br />
1.1 ”Klassische” Kriterien. 4<br />
1.2 Syntaktische Aspekte. 8<br />
1.2.1 Transitivität. 9<br />
1.2.2 Status und Kohärenz. 11<br />
1.2.3 Matrixsubjekt und Infinitiv. 16<br />
1.2.4 Skopusverhalten. 25<br />
1.2.5 Restrukturierung (R). 30<br />
1.3 Semantische Aspekte. 34<br />
1.3.1 Aktionsart der MV. 34<br />
1.3.2 Aspekt und Tempus des Infinitivkomplements. 35<br />
1.3.3 Deontischer und epistemischer Gebrauch. 38<br />
1.4 Polyfunktionalität als konstituierendes Merkmal? 40<br />
1.5 (nicht) brauchen und werden als MV? 42<br />
1.6 Zusammenfassung. 47<br />
2. Epistemizität. 49<br />
2.1 Abgrenzung DMV/EMV 49<br />
2.1.1 Morphologische Unterschiede. 50<br />
2.1.2 Syntaktische Unterschiede. 53<br />
2.1.3 Semantische Unterschiede. 55<br />
2.1.4 Unterschiede in der Distribution. 56<br />
2.1.5 Arten von Epistemizität. 61<br />
2.2 Andere Formen von Polyfunktionalität? 68<br />
2.2.1 Zählen ”sch<strong>ein</strong>en”, ”versprechen”, ”drohen” zu den MV?<br />
2.2.2 Lassen sich ”sch<strong>ein</strong>en”, ”versprechen”, ”drohen”<br />
68<br />
epistemisch interpretieren? 71<br />
I
2.3 Epistemizität und Tempus. 74<br />
2.4 Zusammenfassung. 78<br />
3. Herausbildung der EMV. 80<br />
3.1 Theoretische Vorbedingungen <strong>ein</strong>er diachronen<br />
Betrachtung der Syntax. 81<br />
3.1.1 Transparenzprinzip und Reanalyse. 81<br />
3.1.2 Lehmanns Theorie der Grammatikalisierung. 83<br />
3.1.3 Weitere Theoretische Voraussetzungen. 84<br />
3.2 Der Beginn der Entwicklung. 87<br />
3.3 Voraussetzungen für die Herausbildung EMV. 92<br />
3.3.1 Starke und obligatorische Kohärenz. 92<br />
3.3.2 Anhebung. 101<br />
3.3.3. Functional Restructuring (FR). 103<br />
3.3.4. Aspekt des Komplements. 104<br />
3.4 Herausbildung der EMV 108<br />
3.4.1 Vorkommen von EMV im Parzival? 108<br />
3.4.2 Reanalyse und EMV. 112<br />
3.5 Zusammenfassung. 115<br />
4. Vorteile <strong>ein</strong>es diachronen Ansatzes. 118<br />
5. Abschließende Betrachtungen. 120<br />
6. Appendix. 124<br />
7. Literaturliste. 153<br />
II
Abkürzungen.<br />
ahd althochdeutsch<br />
DMV Modalverb in deontischer Interpretation<br />
DWB Deutsches Wörterbuch der Gebrüder Grimm<br />
EMV Modalverb in epistemischer Interpretation<br />
FR Funktionale Restrukturierung<br />
FutE futurische Epistemizität<br />
FutEMV Modalverb in futurisch-epistemischer Interpretation<br />
GR Grammatikalisierung<br />
fnhd früh-neuhochdeutsch<br />
gwd gegenwartsdeutsch<br />
MV Modalverb<br />
mhd mittelhochdeutsch<br />
Nhd neuhochdeutsch<br />
PräE präsentische Epistemizität<br />
PräEMV Modalverb in präsentisch-epistemischer Interpretation<br />
R Restrukturierung<br />
UG Universalgrammatik<br />
V1 Verberststellung<br />
V2 Verbzweitstellung<br />
VL Verbletztstellung<br />
III
0. Problemstellung<br />
Im Laufe der letzten beiden Jahrzehnte hat die allgem<strong>ein</strong>e<br />
Sprachwissenschaft ihr Augenmerk verstärkt auf <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>es, überschauliches<br />
Grüppchen von Verben gelenkt, das gem<strong>ein</strong>hin unter der Bezeichnung<br />
”<strong>Modalverben</strong>” geläufig ist. Eine Reihe von bislang unerklärten Phänomen<br />
motiviert <strong>ein</strong>e wachsende Zahl an Forschern sich über die <strong>Modalverben</strong> den<br />
Kopf zu zerbrechen, sodaß die Beschäftigung mit diesen Verben langsam zu<br />
<strong>ein</strong>em prestigeträchtigen Unternehmen heranreift. Eines dieser Phänomene<br />
steht auch im Mittelpunkt dieser Untersuchung: 1 die Polyfunktionalität der<br />
deutschen <strong>Modalverben</strong> und deren Entstehung. 2<br />
Das in den letzten 30 Jahren stetig steigende Interesse für diese<br />
Verbgruppe spiegelt sich in jener Tatsache wider, daß unter anderem<br />
zahlreiche <strong>ein</strong>flußreiche Theorien zum Sprachwandel und zur<br />
Grammatikalisierung an zentralen Punkten <strong>Modalverben</strong> als Evidenz für ihre<br />
Thesen heranzogen. 3 Stellten die <strong>Modalverben</strong> ursprünglich vor allem für<br />
diachrone Morphologen <strong>ein</strong> ergiebiges Betätigungsfeld dar, so widmen sich<br />
ihnen heute mittlerweile zahlreiche synchrone sprachwissenschaftliche<br />
Disziplinen angefangen von der Psycholinguistik bishin zur Pragmatik und<br />
Soziolinguistik. 4 Seit dem Ersch<strong>ein</strong>en von Lightfoots ”Principles of diachronic<br />
syntax” (1979) finden die <strong>Modalverben</strong> samt ihrer Entwicklung auch in der bis<br />
dato strikt synchron vorgehenden formalen Linguistik verstärkt Beachtung,<br />
legt dieser Ansatz doch nahe, daß synchrone Theorien sinnvollerweise auch<br />
auf diachrone Daten Rücksicht nehmen sollten. Gerade <strong>ein</strong>e solche<br />
Vorgehensweise – wie später diskutiert wird – erlaubt es womöglich, die<br />
Polyfunktionalität der <strong>Modalverben</strong> adäquater zu erklären, als es bisher der<br />
Fall war.<br />
Das gilt natürlich auch für die deutschen <strong>Modalverben</strong>, den Gegenstand<br />
dieser Arbeit. Hinter dem Begriff der Polyfunktionalität verbirgt sich nämlich<br />
1<br />
Weitere Phänomene: <strong>Modalverben</strong> als Konjunktiversatz, Lühr (1997a,b); MV als Futurmarker,<br />
Fritz (2000); MV als Indikator der Redewiedergabe, Letnes (2002a&b) – diese Auflistung ließe<br />
sich nahezu beliebig lange weiterführen.<br />
2<br />
Die Bezeichung ”Polyfunktionalität” habe ich von Diewald (1999) übernommen.<br />
3<br />
So zum Beispiel: Lightfoot (1979), Sweetser (1990), H<strong>ein</strong>e (1995), Lehmann (1995: 27ff.),<br />
Diewald (1999), Roberts/Roussou (1999).<br />
1
nichts anderes als die Aufspaltung der <strong>Modalverben</strong> in zumindest zwei<br />
Unterarten, die deontischen und die epistemischen <strong>Modalverben</strong>. 56 Diese<br />
beiden Lesarten lassen sich nun offensichtlich am ehesten über ihre<br />
Geschichte erklären. Aus dem Blickwinkel der Syntax verfolgt diese Arbeit<br />
eben genau diesen Entwicklungsprozeß, mit dem Hauptaugenmerk auf der<br />
”exotischeren” epistemischen Lesart.<br />
Untrennbar mit der Polyfunktionalität ist das altbekannte<br />
Klassifizierungsproblem der deutschen <strong>Modalverben</strong> verbunden, dem sich<br />
schon zahlreiche Untersuchungen angenommen haben. 7 Dementsprechend<br />
bildet die Frage der Klassifizierung der <strong>Modalverben</strong> auch den thematischen<br />
Rahmen und den Ausgangspunkt dieser Arbeit. Die <strong>ein</strong>leitende<br />
Aus<strong>ein</strong>andersetzung mit dem Klassifizierungsproblem dient außerdem dazu,<br />
<strong>ein</strong>erseits auf die mannigfaltigen Besonderheiten der <strong>Modalverben</strong><br />
hinzuweisen und andererseits wesentliche Kriterien dieser Verbgruppe zu<br />
erarbeiten.<br />
Auf diese thematische Einleitung bauen dann die beiden zentralen Kapitel<br />
dieser Abhandlung auf, in der erstens vorrangig die Epistemizität und<br />
zweitens ihre Herausbildung unter die Lupe genommen werden. Im Zuge<br />
dessen werden mögliche Erklärungen für die Besonderheiten der<br />
epistemischen Lesart überprüft, die die diversen Ansätze in der<br />
Modalverbforschung in der Vergangenheit vorgebracht haben. Da viele<br />
dieser Theorien diachron vorgehen, kommt auch diese Untersuchung nicht<br />
umhin, sich mit Belegen aus den früheren Sprachständen des Deutschen<br />
aus<strong>ein</strong>anderzusetzen. Kurz zusammengefaßt: das Ziel der vorliegend Arbeit<br />
besteht darin, die Charakteristika der epistemischen <strong>Modalverben</strong> sowie<br />
deren Entstehung herauszuarbeiten und diese Entwicklungsgeschichte vom<br />
Ahd ins Gwd grob nachzuzeichnen.<br />
4<br />
Ein recht heterogenes Spektrum bilden folgende Sammelbände mit MV-Schwerpunkt:<br />
Fritz/Gloning (1997), Müller/Reis (2001), Fabricius-Hansen/Leirbukt/Letnes (2002).<br />
5<br />
Diese beiden Verwendungsweisen der <strong>Modalverben</strong> haben in der Literatur schon <strong>ein</strong>e Reihe<br />
von verschiedenen Bezeichnungen erfahren. Für <strong>ein</strong>e umfangreiche Auflistung siehe<br />
Öhlschläger (1989: 28).<br />
6<br />
Darüberhinaus unterscheidet De Haan (2001) noch die evidentielle Lesart, die aber hier nicht<br />
behandelt wird.<br />
7<br />
Die wichtigsten: Öhlschläger (1989), Fritz (1997), Reis (2001), mit Abstrichen beschäftigt sich<br />
auch Vater (1975) mit der Klassifikationsfrage.<br />
2
1. Zur Phänomenalität der <strong>Modalverben</strong>.<br />
Was macht <strong>Modalverben</strong> eigentlich ”modal”? Oder: wodurch genau grenzen<br />
sich die <strong>Modalverben</strong> von den anderen Verben ab? – Die Beantwortung<br />
dieser Fragen ist um <strong>ein</strong> vielfaches schwieriger, als der erste Blick vermuten<br />
läßt. Kurz gesagt, es ist gar nicht <strong>ein</strong>mal sicher, ob von <strong>ein</strong>er Klasse<br />
”Modalverb” (in der Folge nur noch MV) die Rede s<strong>ein</strong> kann. Insoferne<br />
stehen wir hier vor <strong>ein</strong>em gewaltigen Problem: wir wollen <strong>ein</strong>en Gegenstand<br />
untersuchen, ohne zu wissen, wie er genau aussieht, ja ob er überhaupt in<br />
der Form existiert.<br />
Der Einfachkeit halber gehen wir in der folgenden Untersuchung von jenen<br />
sechs Verben aus, die gem<strong>ein</strong>hin als MV bezeichnet werden, und versuchen<br />
nach und nach ihre Gem<strong>ein</strong>samkeiten und Verschiedenheiten<br />
herauszufiltern. Anhand dessen hoffen wir, bestimmen zu können, ob es<br />
überhaupt sinnvoll ist, von <strong>ein</strong>er <strong>ein</strong>heitlichen Modalverbklasse zu reden.<br />
Nach weitverbreiteter M<strong>ein</strong>ung existiert <strong>ein</strong>e Gruppe von Verben, die als<br />
MV bezeichnet werden und aus folgenden sechs Lexemen bestehen:<br />
können, müssen, sollen, dürfen, mögen, wollen. Diese traditionelle<br />
Auffassung – wenn auch leicht revidiert – wird nach wie vor in zahlreichen<br />
grundlegenden Werken der Modalverbforschung vertreten, wie in<br />
Öhlschläger (1989) oder Diewald (1999). Nun lassen sich aber leider kaum<br />
Kriterien finden, die diese 6 MV allesamt mit<strong>ein</strong>ander teilen, was die<br />
Sinnhaftigkeit <strong>ein</strong>er MV-Klasse gehörig in Frage stellt.<br />
Ausgehend von <strong>ein</strong>er Zusammenstellung von zahlreichen Beobachtungen,<br />
die im Zusammenhang mit den MV immer wieder gemacht wurden,<br />
beschäftigen sich die folgenden vier Abschnitte mit den besonderen<br />
Eigenschaften der MV. In 1.1 beleuchte ich <strong>ein</strong>e von Öhlschläger (1989)<br />
zusammengetragene An<strong>ein</strong>anderreihung von Merkmalen, anhand derer die<br />
MV immer wieder charakterisiert wurden, in kritischem Licht. Die Abschnitte<br />
1.2 und 1.3 relativieren, ergänzen und systematisieren die Kriterien aus 1.1<br />
mit dem Ziel, die relevanten Beobachtungen auf <strong>ein</strong>e möglichst geringe Zahl<br />
von Charakteristika mit großer Erklärungskraft zurückzuführen. 1.4 diskutiert<br />
3
diese Charakteristika und zeigt, inwieferne sie für das Wesen der MV<br />
Bedeutung haben. Zum Abschluß des 1. Kapitels starten wir <strong>ein</strong>en neuen<br />
Versuch, die Klasse der MV zu definieren, der auf den vorangegangenen<br />
Beobachtungen basiert.<br />
1.1 “Klassische” Kriterien.<br />
Öhlschläger (1989: 4f.) hat <strong>ein</strong>e Liste von Kriterien zusammengestellt, wie<br />
sie in der früheren Literatur zur Beschreibung der MV immer wieder<br />
verwendet wurden, und gleichzeitig auf die mangelnde Adäquatheit dieser<br />
Merkmale hingewiesen.<br />
(i) MV haben besonderes Flektionsparadigma:<br />
- 1. und 3. Person Singular Indikativ Präsens endungslos:<br />
ich kann-ø/muß-ø/darf-ø/soll-ø/will-ø/mag-ø<br />
sie kann-ø/muß-ø/darf-ø/soll-ø/will-ø/mag-ø<br />
- Wechsel des Stammvokals zwischen Indikativ Präsens Singular<br />
und Indikativ Präsens Plural:<br />
ich kann/muß/darf/will/mag/soll<br />
wir können/müssem/dürfen/wollen/mögen – aber (Anm. JM): sollen(.)<br />
- Vokalunterschied zwischen Infinitiv und Indikativ Präteritum.<br />
können-konnte(n/t); müssen-mußte(n/t); dürfen-durfte(n/t); mögenmochte(n/t);<br />
– aber (Anm. JM): sollen-sollte(n/t); wolle-wollte(n/t);<br />
(ii) MV bilden k<strong>ein</strong>en Imperativ.<br />
*/?? Kann/Muß/Darf/Soll/Will/Mag schwimmen.<br />
(iii) MV bilden k<strong>ein</strong> Passiv.<br />
*Es wird tanzen gekonnt/gemußt/gedurft/gesollt/gewollt/gemocht.<br />
4
(iv) MV stehen mit dem Infinitiv ohne zu.<br />
*Sie kann/muß/darf/soll/will/mag zu schlafen.<br />
Sie kann/muß/darf/soll/will/mag schlafen.<br />
aber auch (Anm. JM):<br />
Er läßt sie schlafen.<br />
(v) Subjektisidentität zwischen Modalverb und dem Verb im Infinitiv.<br />
(vi) MV können auch mit Infinitiv Perfekt stehen.<br />
Sie kann/muß/darf/soll/will/mag geschlafen haben.<br />
aber auch (Anm. JM):<br />
Sie sch<strong>ein</strong>t geschlafen zu haben.<br />
(vii) MV lassen jedes beliebiges Vollverb als Infinitivverb zu.<br />
Aber (Anm. JM): *Es will regnen/schneien.<br />
(viii) MV können k<strong>ein</strong>e nominalen Objekte nehmen.<br />
*Er darf/muß/soll/will dieTätigkeit .<br />
Aber (Anm. JM):<br />
Susanne kann das Gedicht.<br />
Helene mag Jürgen.<br />
(ix) Beim Gebrauch mit <strong>ein</strong>em Infinitiv steht bei den MV statt des<br />
Partizips II der Infinitiv (”Ersatzinfinitiv”).<br />
*Sie hat ihn sehen gekonnt/gemußt/gedurft/gesollt/gewollt/gemocht.<br />
Sie hat ihn sehen können/müssen/dürfen/sollen/wollen/mögen.<br />
aber auch:<br />
*Er hat sie schlafen gelassen.<br />
Er hat sie schlafen lassen.<br />
5
(x) Bei MV steht in diesen Fällen das finite Verb in <strong>ein</strong>geleiteten<br />
Nebensätzen nicht wie üblich am Ende des Satzes, sondern vor<br />
den infiniten Verbformen.<br />
*…daß sie ihn sehen können/müssen/dürfen/sollen/wollen/mögen<br />
hat.<br />
…daß sie ihn sehen hat können/müssen/dürfen/sollen/wollen/mögen.<br />
(xi) Bei MV ist bei analytisch gebildeten Formen sowie in<br />
<strong>ein</strong>geleitetet Nebensätzen k<strong>ein</strong>e Extraposition der<br />
Infinitivkonstruktion möglich.<br />
*…daß<br />
sehen.<br />
sie ihn hat können/müssen/dürfen/sollen/wollen/mögen<br />
*Sie hat ihn können/müssen/dürfen/sollen/wollen/mögen sehen.<br />
(xii) Die MV weisen <strong>ein</strong>e spezifische Semantik auf.<br />
Die in (i) angeführten morphologischen Besonderheiten verdanken die<br />
<strong>Modalverben</strong> ihren präteritopräsentischem Charakter, dem zufolge sie<br />
ursprünglich starke Präteritumformen bildeten, aber im Laufe der<br />
Sprachgeschichte als Präsensformen umgedeutet wurden, und sich ihr<br />
Paradigma mit neuen Formen für Präteritum, Perfekt,… auffüllte. Um genau<br />
zu s<strong>ein</strong>, entstammen aber nicht alle sechs Lexeme dieser Gruppe: wollen<br />
ging aus <strong>ein</strong>er alten Optativform hervor und glich sich lautlich und<br />
morphologisch an die Präteritopräsentia an.<br />
Dieses Bündel an morphologischen Merkmalen (i) stellt sich nun insofern<br />
schon als problematisch heraus, da es nicht <strong>ein</strong>mal für jene sechs Lexeme<br />
Gültigkeit hat, die herkömmlich als MV aufgefaßt werden. Für wollen treffen<br />
nur die ersten beiden dieser Kriterien zu, für sollen gar nur das erste.<br />
Bemerkenswert an dieser Stelle ist, daß das Präteritopräsens sollen sich<br />
noch markierter verhält als das Nicht-Präteritopräsens wollen.<br />
Dieses Merkmalsbündel (i) besitzt aber insofern Relevanz, da es diese<br />
sechs Verben mehr oder minder von den meisten Verben deutlich abhebt. Im<br />
Mittelenglischen trug diese morphologische Abgrenzung der sich<br />
herausbildenden <strong>Modalverben</strong> sogar erheblich dazu bei, daß sie <strong>ein</strong>e Reihe<br />
6
von neuen grammatikalischen Eigenschaften erwarben. 8 Im Deutschen ist<br />
dieses Bündel an Merkmalen jedoch von geringerer Bedeutung, da im<br />
Unterschied zum Englischen neben den <strong>Modalverben</strong> auch noch andere<br />
Präterito-präsentien in ihrer spezifischen Form überlebt haben, wie vor allem<br />
das Verb wissen (ich/er weiß-ø, wir wissen, zu wissen-wußte), welches sich<br />
infolge stärker wie <strong>ein</strong> Modalverb verhielte, als die Lexeme sollen und wollen.<br />
Öhlschläger (1989: 5) zufolge gelten auch die beiden morphologischen<br />
Kriterien (ii) und (iii) nur <strong>ein</strong>geschränkt. Die falsche Vorhersage, die durch<br />
(vii) getroffen wird, berührt <strong>ein</strong>en ganz entscheidenden, in der Literatur wild<br />
umstrittenen Aspekt der Modalverbsyntax, nämlich die Beziehung zwischen<br />
Matrixsubjekt und Modalverb. 9 Im Laufe der nächsten Abschnitte setzen<br />
auch wir uns ausführlich mit diesem Verhältnis aus<strong>ein</strong>ander und den<br />
verschiedenen Möglichkeiten, es zu beschreiben. Auch (viii) kann nicht<br />
un<strong>ein</strong>geschränkt Gültigkeit behaupten: selbst wenn manche der sechs<br />
Lexeme transitiven Gebrauch nicht zulassen, existieren Konstruktionen, die<br />
doch <strong>ein</strong>deutig transitiv sind, die nominale Komplemente regieren und auch<br />
nicht auf Ellipsen des Infinitivs zurückgeführt werden können, wie<br />
Öhlschläger (1989: 68ff.) und Diewald (1999: 54) gezeigt haben.<br />
Dieses An<strong>ein</strong>anderreihung von morphologischen, syntaktischen und<br />
semantischen Eigenschaften stellt uns nun vor zwei Probleme. Einerseits<br />
haben sich zahlreiche der Kriterien deskriptiv als nicht adäquat erwiesen, das<br />
heißt ihre Definition war zu eng oder zu breit, um genau diese sechs Verben<br />
allesamt zu erfassen. Andererseits hat <strong>ein</strong> Haufen an ”zufällig”<br />
neben<strong>ein</strong>ander liegenden Beobachtungen k<strong>ein</strong>e Erklärungskraft, das heißt,<br />
dieses bloße An<strong>ein</strong>anderreihen kann auch nicht mit explanativer Adäquatheit<br />
in Einklang gebracht werden. 10 Die Plausibilität <strong>ein</strong>er Theorie steigt nämlich<br />
erst gerade damit, je mehr der beobachteten Aspekte sie im Stande ist, auf<br />
<strong>ein</strong>fache Art zu erklären. Während Öhlschlägers Blick <strong>ein</strong> synchroner bleibt<br />
und er in s<strong>ein</strong>er Abhandlung über die <strong>Modalverben</strong> viele Fragen offen läßt,<br />
gibt es Hoffnung, diese Probleme mit diachronen Methoden zu lösen, um auf<br />
8 Siehe Lightfoot (1979: 101).<br />
9 Wichtige Stellungnahmen zu dieser Debatte befinden sich in: Axel (2001), Diewald (1999),<br />
Kiss (1995), Öhlschläger (1989), Reis (2001), Ross (1969), Suchsland (1987) und Wurmbrand<br />
(1999, 2001).<br />
10 Einen guten Überblick über die ”beiden Adäquatheiten” verschafft Grewendorf (2002: 11ff.).<br />
7
diese Weise das gegenwärtige System der <strong>Modalverben</strong> besser zu erfassen,<br />
wie Lightfoot (1979) nahelegt. In der Tat liegen in der jüngeren<br />
Forschungsgeschichte mit Fritz (1997), Diewald (1999), Axel (2001), Leiss<br />
(2003) bemerkenswerte diachrone Ansätze vor.<br />
Das heißt abschließend, daß sich diese Merkmale in der oben<br />
dargebrachten Form nicht eignen, um das Wesen der <strong>Modalverben</strong> adäquat<br />
zu erfassen. Zunächst jedoch verbleiben wir aber noch in der synchronen<br />
Perspektive und begeben uns dort auf die Suche nach Zusammenhängen.<br />
Erst wenn wir uns <strong>ein</strong> Bild über den sehr komplex zu s<strong>ein</strong> sch<strong>ein</strong>enden Ist-<br />
Zustand dieser Verben gemacht haben, können wir uns in vergangene<br />
Sprachstufen zurückwagen, die wir ohnehin nicht mit der gleichen<br />
Kompetenz beherrschen, wie unsere Gegenwartssprache.<br />
1.2 Syntaktische Aspekte.<br />
Abschnitt 1.1 hat uns auf <strong>ein</strong> grundlegendes Problem aufmerksam<br />
gemacht: diese sechs Lexeme lassen sich offensichtlich nicht intensional,<br />
höchstens extensional als Klasse zusammenfassen, was aber deren<br />
Das<strong>ein</strong>sberechtigung untergraben würde. Kurz gesagt: unser Problem<br />
besteht darin, daß <strong>ein</strong>e Definition dieser Klasse durch die in 1.1.<br />
vorgestellten Kriterien nicht mit den Eigenschaften ihrer Mitgliedern<br />
harmoniert. Um diesen unbefriedigenden Zustand zu beseitigen, bieten sich<br />
zwei grundlegende Möglichkeiten an: Entweder wir verändern den Umfang<br />
der Klassenangehörigen oder wir modifizieren die Liste der Kriterien.<br />
Betrachten wir zunächst noch<strong>ein</strong>mal das mannigfaltige Bündel an<br />
Beobachtungen aus Abschnitt 1.1. Da sich die morphologischen Kriterien<br />
auch nach der oben angestellten <strong>ein</strong>gehenden Betrachtung als höchst<br />
problematisch erwiesen haben, ersparen wir uns vorläufig <strong>ein</strong>e weitere<br />
Aus<strong>ein</strong>andersetzung mit selbigen. An dieser Stelle beschäftigen wir uns<br />
vielmehr mit <strong>ein</strong>er Reihe an syntaktischen Aspekten, zu denen sich viele der<br />
Beobachtungen aus Abschnitt 1.1. zusammenfassen lassen. Diese Aspekte<br />
benenne ich hier mit 1.) Transitivität, 2.) Status und Kohärenz und 3.) die<br />
Beziehung zwischen Matrixsubjekt und Infinitiv.<br />
8
1.2.1 Transitivität.<br />
MV wurden also – wie oben erwähnt – zum Teil als Verben charakterisiert,<br />
die k<strong>ein</strong>e nominale Komplemente regieren können. Tatsächlich lassen die<br />
meisten dieser Lexeme k<strong>ein</strong>e (direkten) Objekte zu:<br />
(1) *Caro muß/darf/soll die Aufgabe.<br />
(2) *Peteri muß/darf/kann/soll, daß er*i/*j bleibt.<br />
Die drei Verben müssen, sollen, dürfen und mit Einschränkung auch<br />
können und mögen ergeben in Kombination mit direkten Objekten<br />
beziehungsweise Objektsätzen ungrammatische Konstruktionen.<br />
Wohlgemerkt bleibt (2) ungeachtet der Referenz des Pronomens im<br />
Konstituentensatz inakzeptabel. Anders verhalten sich die volitiven Verben<br />
mögen und wollen sowie können in s<strong>ein</strong>er Fähigkeitslesart:<br />
(3) Alfred mag Rotw<strong>ein</strong>.<br />
(4) Thomas mag Margot.<br />
(5) Jörg will/möchte, daß Herbert geht.<br />
(6) ?Fritz mag (nicht), daß Maria am Donnerstag kommt.<br />
(7) Susanne kann das Gedicht.<br />
(8) Wolfgang kann k<strong>ein</strong> Englisch.<br />
Die Konstruktionen in (3) und (4) bedürfen wohl k<strong>ein</strong>er weiteren Diskussion;<br />
hier liegt mögen ganz <strong>ein</strong>deutig in transitiver Verwendung mit nominalen<br />
Objekten vor und verhält sich hier ganz ähnlich dem Verb lieben. Auch die<br />
Fähigkeit zur Subkategorisierung von Objektssätzen in (5) und (6) ist Indiz für<br />
transitiven Gebrauch. Ebenso liegen in (7) und (8) ganz klar transitive<br />
Konstruktionen vor, in diesem Fall wieder mit nominalen Komplementen. Daß<br />
es sich in diesen Fällen k<strong>ein</strong>eswegs um Ellipsen des Infinitivs handeln kann,<br />
sondern sich um Vollverbformen handeln muß, haben bereits Öhlschläger<br />
(1989: 68ff.) und Diewald (1999: 54) gezeigt.<br />
Die Konstruktionen mit sententialem Objekt verdienen dessen ungeachtet<br />
gesonderte Beachtung, b<strong>ein</strong>halten sie doch <strong>ein</strong>e Zahl von Besonderheiten.<br />
Zunächst ist festzustellen, daß sich die Sätze in (5) und (6) unterscheiden:<br />
9
wollen und möchte mit daß-Satz weisen offensichtlich <strong>ein</strong> weitaus höheres<br />
Maß an Akzeptabilität auf als mögen mit sententialem Komplement in s<strong>ein</strong>en<br />
übrigen Flexionsformen. So wird mag + daß-Satz nur in wenigen deutschen<br />
Dialekten verwendet, so etwa im Wienerischen. In negierten Kontexten ist<br />
diese Konstruktion aber in vielen Teilen des deutschen Sprachraums<br />
gebräuchlich. Nichtsdestotrotz sch<strong>ein</strong>t sich möchte von s<strong>ein</strong>em Paradigma<br />
mehr und mehr loszulösen; es eignete sich schon <strong>ein</strong>e Reihe von<br />
Eigenschaften an, durch die es sich klar von s<strong>ein</strong>em Stammlexem<br />
unterscheidet. möchte verhält sich im Gegensatz zu mag immer ganz klar<br />
volitiv und ähnelt in s<strong>ein</strong>em Gebrauch frappant dem volitiven MV wollen.<br />
Offensichtlich aus diesem Grunde nimmt möchte auch k<strong>ein</strong>e nominalen<br />
Objekte mehr:<br />
(9) *Thomas möchte Margot.<br />
Beispiel (9) zeigt, daß möchte nicht nur die Fähigkeit, nominale Objekte zu<br />
subkategorisieren, verloren hat, sondern auch, daß im Gegenzug mögen<br />
diese Form aus s<strong>ein</strong>em Paradigma ausgeschlossen hat und um den<br />
Konjunktiv II auszudrücken ausschließlich auf die analytische Konstruktion<br />
mit würde zurückgreift. Eine konjunktivische Interpretation ist nämlich ebenso<br />
ausgeschlossen, wie <strong>ein</strong>e als volitives MV.<br />
(10) Thomas würde Margot mögen.<br />
Aufgrund dieser Besonderheiten wird möchte vielfach als eigenständige<br />
Form oder gar Lexem behandelt, wie unter anderem in Öhlschläger (1989:<br />
7), Kiss (1995: 162f.), Fritz (1997: 103), Wurmbrand (2001: 183ff.), Diewald<br />
(1999: 144f.), Axel (2001: 40), und mit Einschränkung auch Reis (2001).<br />
Auch wir betrachten ab sofort möchte als eigenständiges Mitglied der MV-<br />
Klasse, zumindest vorläufig. Diese Veränderung des Klassenumfangs hat<br />
auch schon ihre erste Konsequenz, nämlich, daß die MV fortan noch<br />
schlechter durch morphologische Kriterien zusammengefaßt werden können.<br />
Doch das stört uns nicht, da wir oben ohnehin schon die mangelnde<br />
Adäquatheit <strong>ein</strong>er solchen Vorgehensweise aufgezeigt haben.<br />
10
Zahlreiche Gründe sprechen nun dagegen, Transitivität zur Klassifizierung<br />
der MV heranzuziehen. Einerseits hat sich das in 1.1 vorgeschlagene<br />
Kriterium (viii) nicht bewahrheiten können, da <strong>ein</strong>ige der MV-Lexeme<br />
(können, mögen) auch als transitive Verben mit nominalen Objekt<br />
auftreten. 11 Andererseits existieren darüberhinaus noch MV-Lexeme<br />
(möchte, wollen, volitives (nicht) mögen), die zwar auch transitiv gebraucht<br />
werden können, aber lediglich sententiale Objekte subkategorisieren. 12<br />
Hinsichtlich der Transitivität erweisen sich die MV also äußerst heterogen.<br />
Zum <strong>ein</strong>en verfügen nicht alle dieser Verben über die Fähigkeit, transitiv zu<br />
konstruieren. Zum anderen verhalten sich all jene Formen, die <strong>ein</strong>e transitive<br />
Verwendung erlauben, bei weitem nicht <strong>ein</strong>heitlich. Das heißt, Transitivität<br />
taugt nicht, als Generalisierung über MV, sie vermittelt uns vielmehr den<br />
Eindruck, welche Vielfalt diese Klasse in sich birgt.<br />
1.2.2 Status und Kohärenz.<br />
Im Gegensatz zur eben besprochenen Transitivität stellen Status und<br />
Kohärenz verhältnismäßig junge Konzepte dar. Sie gehen beide auf die<br />
wegweisenden Studien über das deutsche Verbum infinitum von Gunnar<br />
Bech (1955/57) und sind aus der heutigen Infinitivsyntax nicht mehr<br />
wegzudenken.<br />
Bech geht davon aus, daß die Verben in Deutschen nicht nur nominale und<br />
sententiale Komplemente subkategorisieren können, sondern auch verbale<br />
Komplemente. Während sie bei nominalen Objekten den Kasus regieren,<br />
11 Natürlich könnte man nun behaupten, daß im Falle dieser transitiven Verben gar nicht von<br />
<strong>Modalverben</strong> die Rede s<strong>ein</strong> kann, sondern lediglich von syntaktisch völlig verschiedenen<br />
Homonymen. Auf diese Diskussion kommen wir im Verlauf der Untersuchung noch zurück.<br />
12 Diese Unterscheidung der transitiven Formen ist sicher nicht ganz unumstritten. Diewald<br />
(1999: 54) ist der M<strong>ein</strong>ung, daß wollen in Analogie zu mögen und können in der<br />
Fähigkeitslesart auch für nominale Komplemente subkategorisiert ist:<br />
(1) Sie will/möchte <strong>ein</strong> Eis (haben).<br />
Nach Öhlschläger (1989: 68ff.) handelt es sich in diesen Fällen jeweils um Ellipsen des<br />
Infinitivs. Den entscheidenden Punkt in der Frage, ob nun <strong>ein</strong>e Ellipse vorliegt oder nicht, sieht<br />
er in der Form des zu ergänzenden Infinitivs. Muß jedesmal der Infinitiv <strong>ein</strong> und desselben<br />
Lexems hinzugefügt werden, ist nach Öhlschläger von <strong>ein</strong>er Ellipse die Rede. Im Fall vom<br />
(verm<strong>ein</strong>tlich) ”transitiven” wollen trifft dies zu. In jedem Fall lassen sich die Infinitive haben und<br />
auch bekommen ergänzen.<br />
Die Diskussion kann hier nicht endgültig entschieden werden. Deswegen betrachte ich<br />
sicherheitshalber nur jene MV als transitiv mit nominalen Komplement, über die weiter Konsens<br />
herrscht, also können in der Fähigkeitslesart mögen als primäres Experiencerverb.<br />
11
egieren sie bei verbalen Ergänzungen etwas, das Bech als Status<br />
bezeichnet. Status ist wie Kasus – und darauf legt Bech besonders großen<br />
Wert – nichts anderes als <strong>ein</strong>e Morphemform. Im Deutschen kommen nun 3<br />
verschiedene Status vor:<br />
(11) 1. Status: Jörg wollte gehen.<br />
(12) 2. Status: Jörg versprach zu gehen.<br />
(13) 3. Status: Jörg ist geblieben.<br />
Unter dem 1. Status versteht Bech den ”r<strong>ein</strong>en Infinitiv” wie in (11), unter<br />
dem 2. Status zu + INFINITIV und schließlich unter dem 3. Status das<br />
Partizip II in Passiv- und Perfektkonstruktionen. Den morphematischen<br />
Charakter des Status im Deutschen stützen auch zahlreiche jüngere<br />
Forschungsarbeiten, wie von Haider (1990) und Abraham (2004), die sich vor<br />
allem zur Rolle des zu in Konstruktionen des 2. Status äußern.<br />
Als weitaus schwieriger erweist sich jedoch die Beschreibung des<br />
Phänomens Kohärenz. Grob gesagt, betrifft dieses Konzept die Topologie<br />
von Infinitivkonstruktionen. Bech nimmt zunächst <strong>ein</strong>mal an, daß jedes Verb<br />
V n in <strong>ein</strong>em Satz s<strong>ein</strong> eigenes Verbalfeld F n besitzt, das aus allen von V n<br />
abhängenden Elementen besteht – außer <strong>ein</strong>em etwaigen V n+1 und dessen<br />
Verbalfeld F n+1 .<br />
(14) [F´Peter gestandV´ ihm sofort], [F´´´in der Eile den Krug<br />
zerbrochenV´´´] [F´´zu habenV´´]<br />
Davon unterscheidet sich das Kohärenzfeld. Dieses enthält mindestens <strong>ein</strong><br />
Verbalfeld. Besteht <strong>ein</strong> Kohärenzfeld aber aus mehreren Verbalfeldern, so<br />
wird dieses als ”kohärente Konstruktion” bezeichnet. Ungeachtet der in ihm<br />
enthaltenen Verbalfelder zerfällt <strong>ein</strong> Kohärenzfeld (K) immer in zwei<br />
Bestandteile: <strong>ein</strong> Schlußfeld (S) und <strong>ein</strong> Restfeld (R), wobei ersteres alle<br />
finiten und statusregierten Verben umfaßt (außer das finite Hauptsatzverb)<br />
und letzteres sich aus den verbleibenden Elementen zusammensetzt<br />
(inklusive dem etwaigen finiten Hauptsatzverb).<br />
12
(15) a. Im März des Vorjahres, [F´(R´ als sich die schwarz-blaue Koalition)<br />
(S´anschickteV´)], [F´´(R´´am Wolfgangsee <strong>ein</strong>e Regierungsklausur)<br />
(S´´abzuhaltenV´´)], sorgte Finz im Vorfeld für koalitionäre<br />
Spannungen: [...] (Salzburger Nachrichten 29.10.03)<br />
b. Im März des Vorjahres, [F´(R´ als sich die schwarz-blaue Koalition,<br />
[F´´am Wolfgangsee <strong>ein</strong>e Regierungsklausur) (S´abzuhaltenV´´]<br />
anschickteV´)],<br />
Spannungen:<br />
sorgte Finz im Vorfeld für koalitionäre<br />
In (15a) liegt <strong>ein</strong>e inkohärente Konstruktion vor, weil V´ anschickte von V´´<br />
abhalten zwar regiert aber nicht mit ihm im selben Schlußfeld steht. In<br />
kohärenten Konstruktionen kann aber nur <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>ziges Schlußfeld existieren,<br />
das im Beispiel von (15b) aus V´´ abhalten und V´ anschickte besteht. In der<br />
Regel ist im Deutschen der regierte Verbalkomplex in kohärenten Fällen<br />
”links” von s<strong>ein</strong>em Regens und in inkohärenten Fällen nach rechts<br />
extraponiert. In kohärenten Konstruktionen kann das Schlußfeld neben dem<br />
obligaten Unterfeld auch noch über <strong>ein</strong> Oberfeld verfügen, das sich dadurch<br />
auszeichnet, daß die sich darin befindlichen Verben in der Reihenfolge V n ,<br />
V n+1 , V n+2 … auftreten, also spiegelverkehrt zum Unterfeld.<br />
Oberfeldkonstruktionen weisen darüber hinaus <strong>ein</strong>e markierte<br />
Akzentsetzung auf. Im nachstehenden Beispiel umfaßt das Oberfeld die<br />
Verben V0 V1 und das Unterfeld V4 V3 V2. Gem<strong>ein</strong>sam ergeben sie <strong>ein</strong><br />
Schlußfeld <strong>ein</strong>er kohärenten Konstruktion.<br />
(R … ) (SV0 V1 | V4 V3 V2 )<br />
Ob sich <strong>ein</strong>e Konstruktion kohärent oder inkohärent verhält, hängt vor allem<br />
von den Eigenschaften des Verbs ab. Bech (1955/57: 69ff.) unterscheidet<br />
anhand s<strong>ein</strong>er Kohärenzregel diesbezüglich 3 verschiedene Arten von<br />
verbalen Lexemen. Erstens obligatorisch kohärente Verben: diese<br />
erlauben nur kohärente Konstruktionen. Zu ihnen zählen ALLE Verben, die<br />
den 1. oder 3. Status regieren, sowie <strong>ein</strong>e handvoll den 2. Status regierende<br />
Verben. Zweitens fakultativ kohärente Verben: diese lassen sowohl<br />
kohärente als auch inkohärente Konstruktionen zu. Ihnen sind die meisten<br />
Verben, die den 2. Status regieren zuzurechnen. Und schließlich drittens<br />
13
obligatorisch inkohärente Verben: diese treten nur in inkohärenten<br />
Konstruktionen auf und regieren allesamt den 2. Status. Kohärenz und<br />
Status, zwei Eigenschaften, die wir am Anfang des Abschnittes gesondert<br />
betrachtet haben, stehen also in <strong>ein</strong>em besonders engen Naheverhältnis, wie<br />
die Bech´sche Kohärenzregel klar gemacht hat.<br />
Kiss (1995:25) reformuliert die Erkenntisse Bechs ver<strong>ein</strong>facht in Termini der<br />
jüngeren Grammatiktheorie: Kohärenz bedeutet nichts anderes als die<br />
Zusammengehörigkeit zu <strong>ein</strong>- und derselben lokalen syntaktischen Domäne.<br />
Mit anderen Worten: In kohärenten Konstruktionen übernimmt das<br />
statusregierende Verb V n alle syntaktischen Argumente und Modifikatoren<br />
vom regierten Verb V n+1 , sodaß dessen Subkategorisierungsrahmen entleert<br />
ist. Die übernommenen Elemente von V n+1 enstprechen übrigens dem, was<br />
in der Bechschen Terminologie als ”Verbalfeld F n+1 ” bezeichnet würde. Im<br />
Unterschied dazu dominiert V n in inkohärenten Fällen <strong>ein</strong>e komplexe<br />
Konstituente, die sich aus dem syntaktischen Kopf V n+1 und den von ihm<br />
abhängenden Argumenten und Modifikatoren zusammensetzt.<br />
Da der Bech´sche Kohärenzbegriff immer wieder zu Mißverständnissen<br />
geführt hat, folgt im Anschluß <strong>ein</strong>e kurze Aus<strong>ein</strong>andersetzung mit jenen acht<br />
Kriterien, die Kiss (1995:27ff.) basierend auf Bech zur Charakterisierung von<br />
Kohärenz formuliert hat: 13<br />
(i) Befinden sich die zwei Verbalfelder F´ und F´´ in <strong>ein</strong>em<br />
Kohärenzfeld, so können Elemente von F´´ vor F´ stehen.<br />
(ii) Ein zu V´´ gehörender Negationsträger kann auch auf V´<br />
bezogen werden (Kohäsion).<br />
(iii) Ein Oberfeld ist nur in kohärenten Konstruktionen möglich.<br />
13 Grewendorf (1987: 133) warnt davor, <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>heitliches Schlußfeld als <strong>ein</strong>ziges Kriterium für<br />
Kohärenz heranzuziehen. In Ausnahmefällen können die Schlußfelder von inkohärenten<br />
Konstruktionen an<strong>ein</strong>andergrenzen und somit den Ansch<strong>ein</strong> von Kohärenz erwecken:<br />
(1) weil Peter versucht anzufangen abzunehmen.<br />
Ein aus drei Verben bestehendes Kohärenzfeld ist hier auszuschließen, da die Verben in <strong>ein</strong>er<br />
mit Kohärenz unverträglichen Reihenfolge stehen. Deswegen bilden vielmehr V1 versucht und<br />
V2 anzufangen <strong>ein</strong> Kohärenzfeld (mit V1 im Oberfeld und V2 im Unterfeld) und V3 abzunehmen<br />
<strong>ein</strong> weiteres.<br />
14
(iv) Das Bezugsnomen <strong>ein</strong>er Anapher kann in kohärenten<br />
(v)<br />
Konstruktionen jedes N s<strong>ein</strong>.<br />
Kohärent konstruierende Verbalfelder bilden <strong>ein</strong>e intonatorische<br />
Einheit.<br />
(vi) Zwei Verbalfelder F´ und F´´ sind inkohärent, wenn die<br />
abhängigen Elemente von F´´ zwischen V´ und V´´<br />
intervenieren können.<br />
(vii) Sind F´ und F´´ inkohärent, und F´´ enthält <strong>ein</strong> Relatum dann<br />
kann F´´ vor F´ gestellt werden.<br />
(viii) Wenn F´ und F´´ kohärent, dann können V´ und V´´ gem<strong>ein</strong>sam<br />
vor dem finiten Hauptsatzverb stehen.<br />
Was bedeutet das nun für die MV? Bech (1955/57) kennt nur wenige<br />
Verben, die den 1. Status regieren: zunächst die sechs MV, werden, tun,<br />
bleiben und haben. Darüber hinaus erwähnt er noch die AcI- oder ECM-<br />
Verben: lassen, hören, sehen, fühlen sowie weitere Verben der<br />
Wahrnehmung. Abgesehen von nur in hochmarkierten Konstruktionen<br />
auftretendem haben ist festzuhalten, daß die meisten Konstruktionen des 1.<br />
Status <strong>ein</strong> hohes Maß an Grammatikalisierung aufweisen. 14<br />
Dieser Umstand ist sicherlich auf das obligatorisch kohärente Verhalten<br />
zurückzuführen, das diesen Verben des 1. Status ja innewohnt.<br />
Konstruktionen des 1. und des 3. Status weisen offensichtlich <strong>ein</strong>e höhere<br />
Anfälligkeit für Verbalkomplexbildungen auf. Doch all<strong>ein</strong> daraus zu schließen,<br />
daß alle kohärenten Konstruktionen automatisch auch monosentential sind<br />
oder Auxiliarkomplexe bilden, entpuppt sich als Trugschluß, wie schon<br />
Öhlschläger (1989: 101) und Wurmbrand (2001) gezeigt haben.<br />
Nichtsdestotrotz stellen Kohärenz und Status für die Erforschung und<br />
Charakterisierung der MV unabdingbare Kriterien dar, die in der noch zu<br />
diskutierenden Konvergenzhypothese von Reis (2001) die zentrale Rolle<br />
14 In diesem Zusammenhang wäre es interessant <strong>ein</strong>e Untersuchung über <strong>ein</strong> paar Verben<br />
anzustellen, die in der Literatur hinsichtlich Status und Kohärenz noch kaum Beachtung fanden:<br />
(1) Ich gehe spazieren/schwimmen/<strong>ein</strong>kaufen.<br />
(2) Ich kann nicht glauben, daß Herbert tanzen lernt.<br />
(3) Komm mit uns spielen.<br />
(4) Sonja ist gerade duschen.<br />
15
spielen, auch wenn sie nicht im Stande sind, alle Besonderheiten der MV<br />
adäquat zu erfassen. Wir werden im Laufe dieser Untersuchung noch oft auf<br />
diese Instrumentarien zurückgreifen.<br />
In diesem Abschnitt haben wir aber nicht nur mit nützlichen Kriterien<br />
Bekanntschaft gemacht, sondern uns ist es auch gelungen, uns der Intension<br />
des MV-Begriffs zu nähern. Ein paar der losen Beobachtungen aus 1.1<br />
haben sich zunächst bewahrheitet (nämlich: iv, x, xi). In <strong>ein</strong>em weiteren<br />
Schritt hat sich erwiesen, daß sich diese systematisieren und zu <strong>ein</strong>em<br />
Kriterium zusammenzuführen lassen: Kohärenz aufgrund des ersten Status.<br />
1.2.3 Matrixsubjekt und Infinitiv.<br />
Auch das jetzt im Anschluß diskutierte Kriterium stellt <strong>ein</strong> sehr wichtiges<br />
Instrumentarium für diese Untersuchung dar, das s<strong>ein</strong>er Bedeutung<br />
entsprechend <strong>ein</strong>er ausführlichen Auss<strong>ein</strong>andersetzung bedarf.<br />
Schon Bechs (1955/57: 31ff.) monumentale Abhandlung über den Infinitiv<br />
im Deutschen beschäftigte sich mit der Beziehung zwischen Matrixsubjekt<br />
und Infinitiv. Bech beobachtete zunächst, daß das logische, aber nicht<br />
explizierte Subjekt des Infinitivs entweder <strong>ein</strong>em Objekt oder dem Subjekt<br />
des Matrixsatzes entsprechen kann. Diese Beziehung bezeichnet er als<br />
”Orientierung”, die vermittels des sogenannten ”Koeffizienten” ausgedrückt<br />
werden kann. Um das Orientierungsverhalten <strong>ein</strong>es Infinitivs zu bestimmen,<br />
greift Bech vor allem auf die ”Reflexivitätsprobe” zurück. 15 In dieser<br />
kombiniert er <strong>ein</strong>en Infinitiv <strong>ein</strong>es reflexiven Verbes mit <strong>ein</strong>em<br />
statusregierenden Verb, um anhand der Eigenschaften des<br />
Reflexivpronomens das nicht sichtbare Subjekt des Infinitivs zu<br />
rekonstruieren. In finiten Fällen kongruiert das Subjekt ja jeweils mit s<strong>ein</strong>em<br />
Reflexivpronomen:<br />
15 Siehe Bech (1955/57: 33).<br />
(16) a. Sie1 beeilt sich1.<br />
b. Sie1 kann/muß/darf/soll/will/möchte sich1 beeilen.<br />
(17) a. Ihr1 beeilt euch1.<br />
b. Ihr1 könnt/müßt/dürft/sollt/wollt/möchtet euch1 beeilen.<br />
16
Genau wie in den (a)-Sätzen muß auch in den (b)-Sätzen das Subjekt von<br />
beeilen mit s<strong>ein</strong>em Reflexivpronomen über<strong>ein</strong>gestimmt s<strong>ein</strong>. Daraus<br />
wiederum läßt sich ableiten, daß das Infinitivsubjekt in den (b)-Beispielen<br />
auch mit dem Matrixsubjekt referenzident s<strong>ein</strong> muß. Auf welche Konstituente<br />
des übergeordneten Satzes sich das logische Subjekt des Infinitivs nun<br />
bezieht, wird laut Bech vor allem durch das übergeordnete Verb festgelegt. 16<br />
In den (b)-Beispielen bestimmen also jeweils die finiten MV im Matrixsatz,<br />
daß sich das Infinitivssubjekt von beeilen auf das Matrixsubjekt bezieht. Bech<br />
versieht die MV generell mit dem Koeffizienten (N´:N´´), was soviel bedeutet,<br />
daß <strong>ein</strong> von MV <strong>ein</strong>gebetteter Infinitiv s<strong>ein</strong> logisches Subjekt immer auf das<br />
Subjekt des MV referieren muß. Durch ihren Koeffizienten (N´:N´´) heben<br />
sich die MV von <strong>ein</strong>er Reihe von anderen den 1. Status regierenden Verben<br />
ab, nämlich vor allem den AcI- oder ECM-Verben lassen, hören ECMs ab.<br />
Nur sehr wenige Verben mit dem Koeffizienten (N´:N´´) regieren den 1.<br />
Status. 17<br />
Wie auch schon mit s<strong>ein</strong>en Ausführungen zur Rektion des Infinitivs hat<br />
Bech auch mit s<strong>ein</strong>em Überblick über das Orientierungsverhalten der<br />
Infinitive <strong>ein</strong> paar grundlegende Entwicklungen der Generativen Grammatik<br />
zum großen Teil vorweggenommen, die erst zwanzig Jahre nach dem<br />
Ersch<strong>ein</strong>en der Bechschen Studien folgen sollten. Kiss (1995: 2) betont aber,<br />
daß in <strong>ein</strong>em entscheidenden Punkt Bechs Theorien zum Infinitiv noch nicht<br />
ganz ausgereift waren, da diese vor allem die Relation zwischen<br />
Matrixsubjekt und Matrixprädikat völlig außer Acht läßt. Doch gerade hier<br />
setzt die jüngere Generative Theorie mit ihrer plausiblen Unterscheidung<br />
zwischen Kontroll- und Anhebungskonstruktion an. Diese Unterscheidung<br />
beruht auf der Annahme, daß Infinitive über <strong>ein</strong> Subjekt mit leerer<br />
phonetischer Merkmalsmatrix verfügen, dessen Natur vom jeweiligen Kontext<br />
abhängig ist. So geht die Generative Theorie davon aus, daß am Infinitiv<br />
anstelle des Subjektsnominativ in Kontrollkonstruktionen das phonetisch<br />
16 In manchen Fällen spielt auch der Status des Infinitivkomplements <strong>ein</strong>e Rolle. Da diese<br />
Konstruktionen für diese Studie unerheblich sind und ziemlich sicher auf <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>fachere Weise<br />
beschrieben werden können, gehe ich nicht weiter darauf <strong>ein</strong>. Näheres dazu siehe Bech<br />
(1955/57: 33f.)<br />
17 Bech (1955/57) zählt zu dieser Gruppe neben den sechs MV auch noch werden, tun, bleiben<br />
und haben. Wie ich in Fn. 14 schon erwägt habe, könnten gehen, kommen, s<strong>ein</strong> und lernen<br />
womöglich auch noch zu dieser Gruppe gehören.<br />
17
leere Pronomen ”PRO” und in Anhebungskonstruktionen <strong>ein</strong>e Spur ”t” <strong>ein</strong>er<br />
versetzten NP steht.<br />
Die gegenwärtige gängige Auffassung von Kontrolle geht im Wesentlichen<br />
auf die Kontrolltheorie von Chomsky (1993: 74ff.) zurück. Das<br />
Projektionsprinzip und das Thetakriterium verlangen, daß auf jeder<br />
Repräsentationsebene die thematischen Rollen korrekt vergeben sind. Da<br />
Infinitive aber über k<strong>ein</strong> overtes Subjekt verfügen, bleibt zunächst unklar,<br />
welches Element als Träger der noch nicht zugewiesenen Subjektsthetarolle<br />
fungieren soll.<br />
(18) a. Bettina1 schwört, PRO1 ihn zu kennen.<br />
b. Herbert bittet ihn1, PRO1 zu kommen.<br />
c. Ich1 verspreche dir, PRO1 morgen zu kommen.<br />
Beide Verben, sowohl das Kontrollverb versprechen als auch s<strong>ein</strong><br />
Infinitivkomplement kommen, verteilen ihre thematischen Rollen vollständig<br />
und dem Thetakriterium entsprechend. Daraus folgt, daß das PRO-Subjekt<br />
des Infinitivs und das Matrixsubjekt verschiedene Thetarollen tragen.<br />
Die Kontrolltheorie stellt uns aber vor auch vor die Frage, wie denn die<br />
Referenz zwischen PRO und Antezedenten hergestellt werden soll. Welche<br />
Faktoren motivieren Subjektskontrolle (18a,c), und welche Objektskontrolle<br />
(18b)?<br />
Siebers-Ott (1983: 112ff.) sieht hier k<strong>ein</strong>e andere Möglichkeit, als das<br />
Kontrollverhalten des Infinitivkomplements im Lexikon<strong>ein</strong>trag des<br />
Kontrollverb festzulegen, und zeigt, daß alle Ansätze, die r<strong>ein</strong> formalstrukturell<br />
vorgehen zum Scheitern verurteilt sind. Daß PRO nicht immer dem<br />
nächstmöglichen Kontroller zugewiesen werden kann, macht (18c) deutlich,<br />
wo das Matrixsubjekt über <strong>ein</strong> Matrixobjekt hinweg kontrolliert. Gegen <strong>ein</strong><br />
Vorgehen, in dem Kontrolle auf <strong>ein</strong>e Relation von PRO und der nächsten<br />
Matrixkonstituente beschränkt wird, wendet sich implizit auch Landau (2000).<br />
Er wehrt sich dagegen, daß Kontrolle <strong>ein</strong> Phänomen, das sich <strong>ein</strong>heitlich<br />
beschreiben läßt und schlägt <strong>ein</strong>e Typologie an etlichen Subtypen von<br />
Kontrolle vor. Welcher spezifische Subtyp nun vorliegt, hängt vor allem vom<br />
18
Kontrollverb und Komplementstyp ab. 18 Es liegt nahe, <strong>ein</strong>en Großteil der<br />
Kontrolleigenschaften also im Lexikon<strong>ein</strong>trag des Kontrollverbs zu regeln.<br />
Ähnliche Schlüsse zieht Wurmbrand (2001: 248).<br />
Die Annahme der NP-Anhebung geht auf <strong>ein</strong>e ähnliche Motivation zurück,<br />
wie jene der Kontrolle: auch hier gilt es, <strong>ein</strong>en geeigneten Träger der<br />
Subjektsthetarolle des <strong>ein</strong>gebetteten Infinitivs ausfindig zu machen.<br />
Betrachten wir zunächst <strong>ein</strong>mal folgende Konstruktionen:<br />
(19) Jörg sch<strong>ein</strong>t wieder zu kommen.<br />
(20) Es sch<strong>ein</strong>t, daß Jörg wieder kommt.<br />
(21) Es sch<strong>ein</strong>t zu regnen.<br />
(22) Ihm sch<strong>ein</strong>t schlecht zu s<strong>ein</strong>.<br />
Zwei Beobachtungen in diesen Beispielen verdienen größere<br />
Aufmerksamkeit. Erstens läßt das Verb sch<strong>ein</strong>en in (20), (21) und (22) auch<br />
expletive Subjekte zu. Das bedeutet nun, daß in diesen Fällen nicht von<br />
Kontrolle die Rede s<strong>ein</strong> kann. Denn da der Matrixsatz k<strong>ein</strong>e echten<br />
Argumente enthält, liegt k<strong>ein</strong>e Konstituente vor, die die Funktion des<br />
Kontrollers übernehmen könnte. Zweitens besteht selbst in jenen Fällen<br />
k<strong>ein</strong>e thematische Beziehung zwischen Matrixsubjekt und Prädikat, in denen<br />
<strong>ein</strong> Argument die Subjektsstelle füllt: Jörg in (19) ist eben k<strong>ein</strong> ”Sch<strong>ein</strong>er”.<br />
Nun stellt sich aber auch die Frage von welchem Element die NP Jörg ihre<br />
Thetamarkierung erhält. Die naheliegenste Antwort ist, daß Jörg eigentlich<br />
das Subjekt des <strong>ein</strong>gebetteten Infinitivs ist, in die Matrixsubjektsstelle<br />
angehoben wurde und an s<strong>ein</strong>er ursprünglichen Position <strong>ein</strong>e Spur<br />
hinterläßt. 19<br />
18 Auch wenn ich nicht in allen Details mit Landau über<strong>ein</strong>stimme, speziell was die Existenz von<br />
Partial Control betrifft, gebe ich ihm Recht, daß Kontrolle nicht als uniformes Phänomen<br />
betrachtet werden kann und zahlreiche Unterarten existieren müssen, wie zum Beispiel<br />
arbiträre Kontrolle.<br />
19 Die daraus folgenden Konsequenzen, wie daß die daraus entstehende Antezedens-Spur<br />
Relation der Subjazenzbedingung genügen muß, spare ich an dieser Stelle aus, da dies für den<br />
weiteren Verlauf dieser Arbeit unerheblich ist. Genaueres dazu befindet sich in Chomsky (1993:<br />
56ff.)<br />
19
(23) Jörg1 sch<strong>ein</strong>t [t1 wieder zu kommen].<br />
(24) a. (e1) Ihm2 (e1) sch<strong>ein</strong>t (e1) [t1 t2 schlecht zu s<strong>ein</strong>].<br />
b. Es1 sch<strong>ein</strong>t ihm [t1 schlecht zu s<strong>ein</strong>].<br />
Ein schwerwiegender Grund spricht dagegen, die Sätze (23) und (24)<br />
analog zu behandeln, wie es Axel (2001: 40) suggeriert. Denn ihm in (24a)<br />
kongruiert im Gegensatz zum tatsächlichen syntaktischen Subjekt in (23)<br />
nicht. Das heißt, es erfüllt im Matrixsatz auch <strong>ein</strong>e ganz andere Rolle.<br />
Vielmehr muß in (24a) <strong>ein</strong> phonologisch leeres Expletivum oder <strong>ein</strong> pro aus<br />
der <strong>ein</strong>gebetteten impersonalen Konstruktion angehoben worden s<strong>ein</strong>, mit<br />
dem das Matrixprädikat die Kongruenzbeziehung letztendlich <strong>ein</strong>geht. 20<br />
Vergleiche das artverwandte Beispiel (24b), das im Wienerischen durchaus<br />
üblich ist.<br />
Der zentraler Unterschied besteht für uns also darin, daß Kontrollverben<br />
das Matrixsubjekt thetamarkieren, während hingegen Anhebungsverben<br />
k<strong>ein</strong>e thematische Relation mit ihrem syntaktischen Subjekt <strong>ein</strong>gehen. 21<br />
Desweiteren haben wir gesehen, daß Kontrolle und Anhebung Eigenschaften<br />
sind, die im Lexikon<strong>ein</strong>trag des jeweiligen Verbs geregelt werden müssen.<br />
Nun zurück zu unseren MV. 22 Zählen sie zu den Kontrollverben oder zu den<br />
Anhebungsverben? Eine erste Einschränkungen können wir anhand der<br />
Bechschen Studie schon vornehmen: MV sind k<strong>ein</strong>e Objektskontrollverben,<br />
da sie den Koeffizienten (N´:N´´) haben. Das heißt, als mögliche<br />
Konstruktionstypen kommen nur noch Subjektskontrolle oder Anhebung in<br />
Frage. Welche der beiden Varianten vorzuziehen ist, bleibt in der Literatur<br />
wild umstritten.<br />
Zunächst werfen wir <strong>ein</strong>en Blick auf Ansätze, die für MV als<br />
Anhebungsverben plädieren. Axel (2001) hat <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>ige Diagnostika für<br />
Anhebungskonstruktionen zusammengestellt: Kontrolle ist ausgeschlossen,<br />
20<br />
Über das genaue Zustandekommen der Wortstellung in (24a) kann ich an dieser Stelle nur<br />
mutmaßen. Ich nehme aber an, daß ihm höchstwahrsch<strong>ein</strong>lich durch <strong>ein</strong>en<br />
Topikalisierungsprozeß an die erste Stelle gelangt. Was das Expletivum e betrifft, werde ich hier<br />
k<strong>ein</strong>e weiteren Überlegungen anstellen, an welcher der vorgeschlagenen Stellen dieses genau<br />
stehen muß.<br />
21<br />
Nichstdestotrotz berichtet Landau (2000: 30) von Tendenzen, Kontrolle zugunsten von<br />
Anhebung teilweise aufzugeben.<br />
22<br />
In diesem Abschnitt widmen wir uns vorerst nur den MV in deontischer Verwendung. Dem<br />
epistemischen Gebrauch ist das gesamte nächste Kapitel gewidmet<br />
20
wenn die Matrixsubjektstelle durch <strong>ein</strong> Expletivum besetzt ist (25), (26); wenn<br />
<strong>ein</strong> Subjektssatz vorliegt (27); wenn <strong>ein</strong> unpersönliches Passiv <strong>ein</strong>gebettet<br />
wird (28) und wenn <strong>ein</strong>e aus transitiven Verben gebildete Medialkonstruktion<br />
vorliegt (29).<br />
(25) Ich bezweifle, daß es in dieser Gegend richtig schütten kann.<br />
(=Karin Axel 3a)<br />
(26) Ihrem Kind darf/kann während der Behandlung ruhig <strong>ein</strong> bißchen<br />
schlecht werden[...] (=KA 3b´)<br />
(27) Daß sich das BSE-Virus ausbreitet, kann/darf/muß/soll durch<br />
drastische Maßnahmen verhindert werden. (=KA 3d)<br />
(28) Ich bezweifle, daß hier getanzt werden kann/darf/soll/muß. (=KA<br />
3e)<br />
(29) Das Buch darf/soll/muß/?kann sich leicht lesen. (=KA 3f)<br />
Axel (2001) schließt daraus, daß MV mit <strong>ein</strong>er kl<strong>ein</strong>en Einschränkung<br />
generell zu den Anhebungsverben zählen. Nur wollen, möchte und können in<br />
der Fähigkeitslesart erfüllen Axels Diagnostika <strong>ein</strong>deutig nicht, sodaß sie<br />
diese MV in ihrer Anhebungshypothese nicht mehr berücksichtigt. Zu <strong>ein</strong>em<br />
ähnlichen Resultat kommt Wurmbrand (2001: 183ff.), die für derartige Fälle<br />
<strong>ein</strong>e dritte Art der Modalität postuliert (neben Deontizität und Epistemizität):<br />
die Dynamizität. Auch Reis (2001: 301ff.) und Kiss (1995) sehen die MV mit<br />
oben genannter Einschränkung als Anhebungsverben.<br />
Öhlschläger (1989: 77ff.) ebenfalls <strong>ein</strong> Verfechter der <strong>ein</strong>geschränkten<br />
Anhebungshypothese hat <strong>ein</strong> weiters Diagnostikum entwickelt, anhand<br />
dessen die Zugehörigkeit der MV (ohne möchte, wollen und ”Fähigkeitskönnen”)<br />
zu den Anhebungsverben ersichtlich werden soll. Ausgehend von<br />
der Annahme, daß die Passivierung <strong>ein</strong>es Satzes dessen Bedeutung nicht<br />
grundlegend verändert, nimmt Öhlschläger (1989) auch an, daß ähnliches<br />
unter Anhebungsverben <strong>ein</strong>gebettete Konstruktionen gelten muß: Diese<br />
vergeben nämlich k<strong>ein</strong>e eigene Thetarolle für ihr syntakisches Subjekt, somit<br />
dürfte sich die Bedeutung des Satzes nicht verändern, wenn statt <strong>ein</strong>es<br />
aktiven Infinitivkomplementes s<strong>ein</strong> passiviertes Äquivalent subkategorisiert<br />
wird. Öhlschlägers Analyse sagt daher voraus, daß zwischen Sätzen (31a,b)<br />
analog zu den Sätzen (30a,b) k<strong>ein</strong> semantischer Unterschied vorliegen darf:<br />
21
(30) a. Der Junge besucht Paula. (=Günther Öhlschläger 86a)<br />
b. Paula wird von dem Jungen besucht. (=GÖ 86b)<br />
(31) a. Der Junge darf/kann/... Paula besuchen. (=GÖ 85a)<br />
b. Paula darf/kann/... von dem Jungen besucht werden. (=GÖ 85b)<br />
S<strong>ein</strong>e Prognose trifft nach dem eigenen Ermessen Öhlschlägers auch zu.<br />
Diewald (1999: 62ff.) zeigt aber auf, daß die Annahme, daß MV k<strong>ein</strong>e<br />
Subjektsthetarollen vergeben und somit Anhebungsverben sind, nicht astr<strong>ein</strong><br />
ist. Öhlschlägers Beispiele (31a,b) sind eben nicht synonym. Denn Träger<br />
der Erlaubnis/Pflicht in (31a) ist nämlich der Junge, in (31b) jedoch Paula.<br />
Diesen Effekt vermag die Anhebungshypothese nicht ohne weiteres zu<br />
erklären.<br />
Auch Suchsland (1987) steht vor dem selben Problem, wenn er behauptet,<br />
daß sich MV mit aktiven Infinitivkomplement zwar als Kontrollverben<br />
verhalten, mit passiviertem Komplement aber als Anhebungsverben.<br />
Suchsland (1987: 655f.) geht von der Annahme aus, daß aktive und<br />
passivierte Verben die gleichen Subkategorisierungseigenschaften haben<br />
und gemäß Projektionsprinzip aus dem Lexikon heraus projiziert werden.<br />
Das Matrixsubjekt müßte dann in passivierten Infinitivkomplementen deren<br />
<strong>ein</strong>gebettetes TiefenstrukturOBJEKT kontrollieren. Daraus folgt, daß das<br />
TiefenstrukturSUBJEKT nicht PRO s<strong>ein</strong> kann, weil nicht mit dem Kontroller<br />
koindiziert. Die Thetarollen sind aber in Suchslands Beispielsatz nach <strong>ein</strong>em<br />
anderen Muster vergeben:<br />
(32) a. weil der Roman gelesen werden will/darf/soll/kann/muß.<br />
(=PS 15a)<br />
b. weil die Romane gelesen werden wollen/dürfen/sollen/können/<br />
müssen. (= PS 15b)<br />
Das Matrixsubjekt geht in diesen Beispielen im Gegensatz zu jenem in<br />
(31b) in der Tat k<strong>ein</strong>erlei thematische Relation mit dem MV <strong>ein</strong>. Vielmehr<br />
muß der Roman s<strong>ein</strong>e Thetarolle vom <strong>ein</strong>gebetteten passiviertem Verb<br />
erhalten haben und anschließend angehoben worden s<strong>ein</strong>. Daran vermag<br />
auch k<strong>ein</strong>e Theorie der koverten thematischen Rollen etwas zu verändern,<br />
22
wie sie Abraham (2001, 2003b, 2003c) vorgeschlagen hat. Betrachten wir<br />
folgendes Beispiel:<br />
(33) a. Der Schlüssel muß immer an den Schlüsselhaken. (=WA 10a)<br />
b. [Der Schlüssel]1 muß t1 immer an den Schlüsselhaken gehängt<br />
werden.<br />
Da es sich in (33a) nach Öhlschläger (1989: 70ff.) um <strong>ein</strong>e Ellipse handeln<br />
muß, habe ich zur Verdeutlichung mit (33b) auch die naheliegendste<br />
vollständige Variante dieses Satzes angeführt. Abraham (2003b, 2003c) geht<br />
in s<strong>ein</strong>er Analyse davon aus, daß auch in (33a) das Matrixsubjekt der<br />
Schlüssel vom Prädikat muß thetamarkiert wird. Das MV ”müssen x,y,z”<br />
vergibt mit dem koverten Erteiler der Pflicht x, dem optional kovertem Träger<br />
der Pflicht y und der auszuführenden Handlung z drei Thetarollen. Für (33a)<br />
sollte nun gelten, daß x und y kovert und nur z (=Schlüssel an den Haken)<br />
sichtbar ist. Wenn dem so ist, stehen wir wieder vor <strong>ein</strong>em Problem. Denn<br />
dieses Argument z ist, wie (33b) zeigt, aufgespalten. So <strong>ein</strong> geteiltes<br />
Argument, von dem <strong>ein</strong> Teil in die Subjektstelle angehoben werden mußte,<br />
spricht aber dann wieder <strong>ein</strong>deutig gegen Kontrolle. Denn das phonetisch<br />
leere Subjekt des Infinitivs müßte nach so <strong>ein</strong>er Extraktion vielmehr <strong>ein</strong>e<br />
Spur als <strong>ein</strong> PRO s<strong>ein</strong>. Außerdem besteht in <strong>ein</strong>em solchen Fall erst recht<br />
die Notwendigkeit, daß vor dieser Extraktion <strong>ein</strong> Expletivum die<br />
Matrixsubjektstelle besetzt haben muß. In der Tat spricht vieles dagegen,<br />
daß in (33a/b) <strong>ein</strong> implizit dreiwertiges Kontrollverb müssen vorliegt. Theorien<br />
die für (deontische) MV prinzipiell Kontrollkonstruktionen annehmen, wie<br />
Diewald (1999), Landau (2000) oder Abraham (2001, 2003b, 2003c), sind mit<br />
offensichtlich unüberwindbaren empirischen Problemen konfrontiert, sofern<br />
die Kontrolltheorie in der aktuellen Form beibehalten wird.<br />
Anders als Öhlschläger (1989), Kiss (1995), Wurmbrand (1999, 2001), Axel<br />
(2001) und Reis gehe ich aber nicht davon aus, daß auch in (31b) <strong>ein</strong>e<br />
Anhebungskonstruktion vorliegt. Denn wie oben gezeigt, liegt hier den<br />
thematischen Verhältnissen zu schliessen nach sehr wohl <strong>ein</strong>e<br />
Kontrollkonstruktion vor. Zu bestreiten, daß MV wie müssen, können, dürfen<br />
überhaupt Thetarollen vergeben, wie Wurmbrand (1999: 610), sch<strong>ein</strong>t mir<br />
23
ebenfalls k<strong>ein</strong>e geeignete Lösung zu s<strong>ein</strong>, da dies den auftretenden<br />
Bedeutungsunterschied zwischen (31a) und (31b) nicht mehr zu erklären<br />
vermag.<br />
Ganz offensichtlich gestaltet sich die Verteilung Anhebung vs. Kontrolle<br />
auch nicht genau entlang der Linie müssen/können/dürfen vs. möchte/wollen,<br />
da in (32) wollen auch als Anhebungsverb belegt ist. Diese Form bleibt aber<br />
trotzdem <strong>ein</strong>e sehr marginale Verwendungsweise und dieses Lexems.<br />
Eine der wenigen Aussagen, die sich mit großer Sicherheit über das<br />
Verhalten der MV treffen läßt, besteht darin, daß jene Lexeme von denen die<br />
”modale Kraft” vom Matrixsubjekt ausgeht, wie möchte, wollen, Fähigkeitskönnen<br />
Kontrollverben sind. Diese Gruppe schlage ich vor, im weiteren<br />
Verlauf als subjektssensible MV zu bezeichnen. Auch die verbleibenden<br />
MV, in weiterer Folge subjektsindifferente MV genannt, treten offensichtlich<br />
in solchen Konstruktionen auf, sofern der Träger der Modalität explizit im<br />
Satz steht. In jenen Fällen, in denen k<strong>ein</strong> geeigneter Modalitätsträger explizit<br />
ersch<strong>ein</strong>t, dürfte es sich wahrsch<strong>ein</strong>lich immer um Anhebungsverben<br />
handeln.<br />
Möglicherweise ließe sich das Problem durch die Annahme lösen, daß die<br />
MV über Thetarollen verfügen, die optional vergeben werden können. Eine<br />
andere, weniger elegante Möglichkeit bestünde darin, daß jedes MV je nach<br />
Konstruktionsweise über mehrere Lexikon<strong>ein</strong>träge verfügt. Dafür spräche<br />
das marginal gebrauchte Anhebungsverb wollen. Ich lege mich aber vorerst<br />
nicht weiter fest, wie diese hier dargelegte Formenvielfalt der MV am besten<br />
zu erfassen ist. Wurmbrand (2001: 183ff.) gesteht <strong>ein</strong>, das selbst jene MV,<br />
die ich als subjektindifferent bezeichnet habe, nicht ausschließlich als<br />
Anhebungsverben klassifiziert werden können. Neben deontischer und<br />
epistemischer Modalität, die im Falle der MV ausnahmslos durch<br />
Anhebungsverben repräsentiert werden, nennt sie mit der dynamischen<br />
Modalität noch <strong>ein</strong>e dritte Art, die offensichtlich durch Kontrollkonstruktionen<br />
kodiert werden muß. Wurmbrand (2001: 183) weist zwar darauf hin, daß die<br />
meisten modalen Elemente alle drei Modalitäten ausdrücken können, bringt<br />
aber abgesehen von den von mir als subjektsensible Lexeme bezeichneten<br />
wollen, möchte und Fähigkeits-können k<strong>ein</strong>e Beispiele hierfür.<br />
24
Nun zählt <strong>ein</strong> Ansatz, der <strong>ein</strong>e derartige Formenvielfalt zuläßt, für viele zum<br />
methodisch unelegantesten, was man überhaupt machen kann. Mir sch<strong>ein</strong>t<br />
diese Vorgehensweise aus oben genannten Gründen aber kaum zu<br />
vermeiden zu s<strong>ein</strong>. Abgesehen davon benötigt dieser Ansatz k<strong>ein</strong> großes<br />
Maß an äußerst komplexen Hilfstheorien. Kurz gesagt, ich betrachte die<br />
subjektsensiblen MV wollen, möchte und Fähigkeits-können durchweg als<br />
Kontrollverben, sowie die subjektsindifferenten MV als Verben, die sowohl in<br />
Kontrollkonstruktionen, als auch in Anhebungskonstruktionen auftreten<br />
können.<br />
Trotzalldem sind wir uns in diesem Abschnitt über <strong>ein</strong>en weiteren<br />
Zusammenhang zweier Kriterien aus der in 1.1 kritisch betrachteten<br />
Zusammenstellung von Beobachtungen verschafft, nämlich den<br />
Zusammenhang zwischen der ”Subjektsidentität” von Matrixprädikat und<br />
<strong>ein</strong>gebettetem Infinitiv (v), und unter welchen Umständen er die freie Wahl<br />
des Infinitivkomplements <strong>ein</strong>schränkt (vii).<br />
Auf die Mängel des losen Bündels an Beobachtungen aus 1.1 habe ich<br />
schon mehrfach hingewiesen. In der jüngeren Literatur wurden im<br />
Zusammenhang mit den MV noch mehrere syntaktische Aspekte diskutiert,<br />
die in dieser Liste noch unberücksichtigt blieben. Um die Syntax der MV im<br />
Detail zu erfassen, dehne ich die Untersuchung auf diese neueren<br />
Gesichtspunkte aus. Ähnlich wie Abschnitt 1.2.2 & 1.2.3 beschäftigen sich<br />
diese vor allem mit der Frage, ob MV monoclausale oder biclausale<br />
Strukturen erzeugen.<br />
1.2.4 Skopusverhalten. 23<br />
Öhlschläger (1989: 80ff.) versucht anhand des Verhalten des<br />
Negationsskopus und der Bezugsmöglichkeiten adverbialer Bestimmungen<br />
zu entscheiden, ob der Komplex MV + INFINITIV als mono- oder biclausale<br />
Struktur zu betrachten ist.<br />
23 Um Verwechslungen vorzubeugen: Dieser Abschnitt beschäftigt nicht mit dem Gegensatz<br />
verbaler vs. propositionaler MV-Skopus, wie es vor allem in Diewald (1999) der Fall ist, sondern<br />
mit dem Skopus der Negation, von Quantoren und von adverbialen Bestimmungen.<br />
25
Was die Negation betrifft, so kommt Öhlschläger zu dem Schluß, daß ihr<br />
Skopus in allen ihren Lesarten prinzipiell ambig ist, auch wenn jedes Lexem<br />
s<strong>ein</strong>e eigenen Präferenzen hat 24 :<br />
(34) Fritz darf nicht tanzen. (=GÖ 109)<br />
(35) a. Fritz kam nicht zum Fest, obwohl er nicht tanzen durfte.<br />
(=GÖ 114a)<br />
b. Fritz kam nicht zum Fest, weil er nicht tanzen durfte. (=GÖ 114b)<br />
Sogesehen ist (34) hinsichtlich s<strong>ein</strong>es Skopus ambig. Üblicherweise wird<br />
dürfen + NEG mit weitem Negationsskopus interpretiert, das heißt, mit<br />
Skopus über das MV samt s<strong>ein</strong>en Komplementen. Wenn auch ungewohnt,<br />
(34) läßt sich aber auch mit engem Skopus lesen. In diesem Fall bezieht sich<br />
die Negation nur auf den Infinitiv. 25 Die enge Interpretation von (34) wäre<br />
somit in etwa: ”die Erlaubnis haben, nicht zu tanzen.” Da im Deutschen<br />
meistens die Präferenzen der MV für die <strong>ein</strong> oder andere Skopusvariante<br />
verschieden stark geregelt sind, fällt es oft schwer die zweite Variante<br />
herauszubekommen. Öhlschläger (1989) gibt zu, daß dazu oft <strong>ein</strong><br />
sprachlicher Kontext erforderlich ist – siehe Satz (35a). Statt der zweiten<br />
Skopusvariante wird aber meist <strong>ein</strong> anderes sprachliches Mittel<br />
herangezogen, um diese Bedeutung zu kodieren. Im Beispiel von (35a),<br />
würden die meisten Sprecher wohl [nicht [tanzen] müssen] anstelle von<br />
[[nicht tanzen] dürfen] verwenden. In anderen Fällen ist trotz verschiedener<br />
Skopusvarianten kaum <strong>ein</strong> Bedeutungsunterschied feststellbar:<br />
(36) a. Ich [will nicht [tanzen]].<br />
b. Ich [will [nicht tanzen]].<br />
24 Öhlschlägers (1989) Argumentation diesbezüglich weist im Endeffekt Inkonsistenzen auf: Auf<br />
der <strong>ein</strong>en Seite behauptet er ALLE MV ungeachtet ihrer Modalität wären biclausal, da sie beide<br />
Skopustypen der Negation zulassen: engen und weiten. Subjektiven EMV gesteht er aber nur<br />
den engen Skopus zu. Um die Behauptung, auch EMV ließen prinzipiell beide Skopustypen zu,<br />
aufrechtzuerhalten, ist Öhlschläger gezwungen zur Gruppe der subjektiven EMV weitere<br />
Lexeme hinzuzufügen, die auch den weiten Negationskopus erlauben: eben die objektiven<br />
EMV. Dennoch kämpft er weiterhin mit dem Problem, MV zu haben, die nur mit dem engen<br />
Skopus konstruieren. das spricht ganz klar gegen s<strong>ein</strong>e Biklausalitätshypothese. Näheres dazu<br />
siehe Abschnitt 2.1.4 & 2.1.5.<br />
26
Was die Bezugsmöglichkeiten der Adverbialbestimmungen betrifft, so<br />
resümiert Öhlschläger (1989: 94ff.), daß sich in ihnen die Situation des<br />
ambigen Negatiosskopus widerspiegelt. Auch adverbiale Ergänzungen<br />
lassen prinzipiell den Bezug sowohl auf MV, als auch auf Infinitiv zu.<br />
(37) Fritz darf/kann/mag/muß/soll/will/möchte jetzt kommen.<br />
(=GÖ159)<br />
(i) Fritz darf folgendes: jetzt kommen.<br />
(ii) Es ist der jetzt der Fall, daß Fritz folgendes darf: kommen.<br />
Öhlschläger (1989) schließt nun daraus, daß MV prinzipiell biclausal<br />
konstruieren und ihnen aufgrund dessen Vollverbcharakter zu attestieren ist.<br />
Dagegen spricht aber, daß Anhebungsverben prinzipiell eben diese<br />
Skopusambiguitäten aufweisen: 26<br />
(38) Die Brücke droht jetzt/nicht <strong>ein</strong>zustürzen.<br />
(39) Die Brücke sch<strong>ein</strong>t jetzt/nicht <strong>ein</strong>zustürzen.<br />
Zugegeben sind die Lesarten mit Bezug aufs Matrixprädikat eher<br />
ungewöhnlich, aber nichtsdestotrotz grammatikalisch. Auch Wurmbrand<br />
(2001: 155) argumentiert dafür, daß Monoklausalität nichts darüber aussagt,<br />
wieviele Ereignisse durch die entsprechende Konstruktion denotiert werden.<br />
Bemerkenswert ist auch der Umstand, daß diese Skopusmehrdeutigkeiten<br />
in kohärenten Konstruktionen prinzipiell auftreten, in Konstruktionen also, die<br />
allgem<strong>ein</strong> als stärker grammatikalisiert gelten. Diese Effekte sch<strong>ein</strong>en im<br />
Widerspruch zu Öhlschläger gerade Indiz für vorangeschrittene<br />
Grammatikalisierung zu s<strong>ein</strong>. Offensichtlich lassen sich diese<br />
Skopusambiguitäten, ähnlich wie der Effekt der Kohäsion (siehe Bech<br />
25 Nach Wurmbrands (2001: 115ff.) Ansicht handelt es sich in diesen Fällen innerer Negation<br />
k<strong>ein</strong>eswegs um Vorkommen <strong>ein</strong>er Satznegation, sondern um Konstituentennegation.<br />
26 Darüber hinaus können auch die von Öhlschläger als Hilfsverben klassifizierten Lexeme s<strong>ein</strong>,<br />
haben und werden trotz ihrer klaren Präferenz für den engen Negationsskopus mit weitem<br />
Skopus auftreten. In diesen Fällen wird die durch das Hilfsverbausgedrückte Funktion negiert.<br />
Derartige Konstruktionen sind aus pragmatischen Gründen aber extrem selten:<br />
(1) Jörg WIRD nicht kommen, Jörg IST schon gekommen.<br />
27
1955/57: 76ff.), am besten als Eigenschaft des Phänomens Kohärenz<br />
beschreiben.<br />
Weiter zu Wurmbrand (1999, 2001) und ihrer Darstellung des<br />
Skopusverhaltens von Quantoren bei MV. Sie untersucht darin vor allem<br />
zwei Belange: Einerseits das Skopusverhältnis zwischen Subjekt und finitem<br />
MV und andererseits das Skopusverhältnis zwischen Matrixsubjekt und<br />
<strong>ein</strong>gebetteten Objekt. Zum Ersten erklärt sie anhand des Englischen<br />
Ambiguitäten des Subjektsskopus die bei allen MV-Konstruktionen auftreten.<br />
Im Deutschen sch<strong>ein</strong>t sich die Sache ganz genauso zu verhalten:<br />
(40) Zwei österreichische Schifahrer müssen im nächsten Rennen<br />
<strong>ein</strong>en Podestplatz erreichen. (Beispiel in Analogie zu Susi<br />
Wurmbrand 1999 17a, Übersetzung JM)<br />
i. Es ist notwendig, daß zwei Österreicher im nächsten Rennen <strong>ein</strong>en<br />
Podestplatz erreichen.<br />
ii. Es gibt zwei Österreicher und für jeden von ihnen ist es notwendig,<br />
<strong>ein</strong>en Podestplatz zu erreichen.<br />
In Interpretation (i) hat das MV Skopus über Subjekt, und wird im Hinblick<br />
auf das Subjekt ”niederer Skopus” bezeichnet. Im Gegensatz dazu hat in (ii)<br />
das Subjekt Skopus über MV, woraus sich die Bezeichnung ”hoher Skopus”<br />
ableitet. Wurmbrand weist nun daraufhin, daß <strong>ein</strong>e solche Ambiguität, wie sie<br />
in (40) vorliegt, in Kontrollkonstruktionen nie zum Vorsch<strong>ein</strong> kommt:<br />
(41) Ein Österreicher versucht morgen das Rennen zu gewinnen.<br />
(42) Ein Österreicher will morgen das Rennen gewinnen.<br />
Kontrolle erlaubt nur den hohen Skopus des Subjekts, das heißt das<br />
Subjekt muß das Prädikat immer c-kommandieren und nicht umgekehrt. Die<br />
Ambiguität ist Wurmbrand (1999, 2001) zufolge Ergebnis der<br />
Subjektsanhebung: Der niedere Skopus ist darauf zurückzuführen, daß das<br />
Subjekt an s<strong>ein</strong>er Basisstelle <strong>ein</strong>e Spur hinterläßt, die vom Prädikat ckommandiert<br />
wird. Der hohe Skopus wird durch die Anhebung des Subjekts<br />
vor das Prädikat ermöglicht, wodurch es dieses auch c-kommandiert. Auf<br />
28
diese Weise stehen auf LF zwei Positionen zur Skopusinterpretation zur<br />
Verfügung.<br />
Zum zweiten macht Wurmbrand darauf aufmerksam, daß in MV-<br />
Konstruktionen auch das <strong>ein</strong>gebettete Objekt Skopus über das Matrixsubjekt<br />
haben kann:<br />
(43) Gemäß Universitätsbestimmungen muß mindestens <strong>ein</strong><br />
Professor jeden Studenten betreuen. (= SW 1999 19)<br />
i. Universitätsbestimmungen verlangen, daß mindestens <strong>ein</strong> Professor<br />
jeden Student betreut.<br />
ii. Universitätsbestimmungen verlangen, daß jeder Student von<br />
mindestens <strong>ein</strong>em Professor betreut wird.<br />
Interpretation (i) ist wohl die unmarkiertere. In (ii) liegt der besprochene<br />
Effekt vor und tritt laut Wurmbrand (1999) auch nur in<br />
Anhebungskonstruktionen auf, da jener auf ganz ähnliche Faktoren wie die<br />
oben beschriebene Skopusambiguität zurückzuführen ist. Tatsächlich<br />
schließen Kontrollverben <strong>ein</strong>e solche Lesart aus (44), während<br />
Anhebungsverben Ambiguität vorweisen (45).<br />
(44) Ein Professor versprach jeden Studenten zu betreuen.<br />
(=SW 18a)<br />
(45) Ein Professor sch<strong>ein</strong>t jeden Studenten zu betreuen. (=SW 18b)<br />
Das Verhalten der MV in (43) spricht Wurmbrand zufolge dafür, selbige<br />
geschlossen den Anhebungsverben zuzurechnen. Folglich müßte (46) eben<br />
diese Ambiguität aufweisen:<br />
(46) Ein Professor muß/kann/darf/soll jeden Studenten betreuen.<br />
(i) Es ist notwendig/möglich/erlaubt/vorgeschrieben, daß mindestens <strong>ein</strong><br />
Professor jeden Studenten betreut.<br />
(ii) *Es ist notwendig/möglich/erlaubt/vorgeschrieben, daß jeder Student<br />
von mindestens <strong>ein</strong>em Professor betreut wird.<br />
29
Eine Lesart, in der das <strong>ein</strong>gebettete Objekt über das Subjekt Skopus hat<br />
(ii), ist aber hier für jedes der MV ausgeschlossen. Unter der Voraussetzung<br />
daß dieses Diagnostikum geeignet ist, um zwischen Anhebung und Kontrolle<br />
zu unterscheiden, spräche es ganz klar dagegen, die MV den<br />
Anhebungsverben zuzuordnen. 27 Da Wurmbrands erstes Kriterium hingegen<br />
allen subjektsindifferenten genügt, ist <strong>ein</strong>e Entscheidung, ob MV prinzipiell<br />
als Anhebungsverben gelten können oder nicht, weiterhin zu vertagen.<br />
In diesem Abschnitt haben wir in Erfahrung gebracht, daß die von<br />
Öhlschläger untersuchten Skopusambiguitäten offensichtlich nur <strong>ein</strong>e weitere<br />
Besonderheit der oben schon ausführlich diskutierten Kohärenz darstellen,<br />
während hingegen Wurmbrand sich mit Skopuseffekten von Quantoren<br />
beschäftigt, die sie auf die Art der infinitivischen Konstruktion zurückführt:<br />
Anhebung ermöglicht Skopusverhalten, das unter Kontrolle ausgeschlossen<br />
ist.<br />
1.2.5 Restrukturierung (R).<br />
Restrukturierung ist <strong>ein</strong> verhältnismäßig junger Terminus, der in der<br />
Generativen Grammatik im letzten Jahrzehnt zu <strong>ein</strong>em der Schlüsselbegriffe<br />
schlechthin für die Infinitivsyntax avancierte. Ausgehend von der Annahme,<br />
daß im Regelfall Verben Infinitive als CPs subkategorisieren, bedeutet R nun,<br />
daß in gewissen Fällen Infinitive als weniger komplexe Kategorie – wie TPs,<br />
vPs oder VPs – <strong>ein</strong>gebettet werden können. Ob Infinitive jetzt immer als<br />
eigenständige CPs generiert werden und dann in bestimmten Fällen durch<br />
<strong>ein</strong>e Reihe von Operationen zu weniger komplexen Strukturen ”restrukturiert”<br />
werden (u.a. Grewendorf 1987) oder ob in diesen Fällen Infinitive gleich als<br />
<strong>ein</strong>fachere Struktur erzeugt werden (Wurmbrand 2001), bleibt in der<br />
27 Die Korrektheit dieses Diagnostikums ist in der Tat <strong>ein</strong> bißchen zweifelhaft. Denn auch<br />
Konstruktionen mit anderen Anhebungsverben, wie drohen und versprechen, ersch<strong>ein</strong>en mit<br />
Objektsskopusinterpretation eher fragwürdig:<br />
(1) ??Ein Professor droht jeden Student schlecht zu benoten.<br />
(2) ??Ein Professor verspricht jeden Studen zu betreuen.<br />
Für die Richtigkeit dieses Diagnostikums spricht aber das Verhalten der meisten epistemischen<br />
MV. Abgesehen von wollen sind sie allesamt Anhebungsverben. Im Gegensatz zu den oben<br />
getesteten deontischen Entsprechung lassen sie den weiten Objektsskopus <strong>ein</strong>deutig zu.<br />
Details siehe Abschnitt 2.1.2.<br />
30
Forschung umstritten. Einen guten Überblick über die rezente Diskussion<br />
verschafft Wurmbrand (2001: 5ff.).<br />
In ihrer eigenen Theorie geht Wurmbrand (2001) davon aus, daß Verben,<br />
die Infinitive <strong>ein</strong>betten, je nach Eigenschaften verschieden komplexe<br />
syntaktische Kategorien selegieren. Lexical-restructuring-Prädikate (LR)<br />
nehmen r<strong>ein</strong>e VPs, reduzierte non-restructuring-Prädikate (NR) nehmen TPs<br />
oder vPs und non-restructuring-Prädikate sind ausschließlich für CPs<br />
subkategorisiert.<br />
Darüber hinaus verweist Wurmbrand noch auf die sogenannte functionalrestructuring-Prädikate<br />
(FR), die im Gegensatz zu den anderen drei über<br />
k<strong>ein</strong>e eigene VP/vP-schalen mehr verfügen, sondern höher oben in <strong>ein</strong>er<br />
eigenen funktionalen Projektion basisgeneriert werden. Die anderen Fälle<br />
von (non)-restructuring bilden vollständige Projektionen von der CP bis zur<br />
VP der (non-)restructuring-Prädikates hinunter, das je nach Typus <strong>ein</strong>e<br />
infinitivische VP/vP/TP/CP <strong>ein</strong>bettet. FR stellt somit den stärksten Fall von<br />
restructuring dar, das sich auch in s<strong>ein</strong>en Eigenschaften erheblich von den<br />
anderen unterscheidet. Und genau zu dieser Verbklasse zählen Wurmbrand<br />
zufolge alle MV und Anhebungsverben, deren syntaktische Besonderheiten<br />
im IPP-Effekt, der Subjektsanhebung und der Unmöglichkeit von<br />
Matrixpassiv, Extraposition des Infinitivs und Relativsatz-pied-piping<br />
bestehen.<br />
Wurmbrands Begriff der Restrukturierung ist k<strong>ein</strong>eswegs mit Bechs<br />
(1955/57) Kohärenz gleichzusetzen. Während Bechs kohärente Infinitive per<br />
definitionem nicht extraponiert werden können (genauso wenig wie sich<br />
inkohärente Infinitive intraponieren lassen), bringt Wurmbrand<br />
(2001:49ff.&291ff.) Beispiele für extraponierte (=inkohärente) restructuring-<br />
Infinitive und intraponierte (kohärente) non-restructuring-Infinitive. Der<br />
Unterschied zwischen monoklausalen und biklausalen Infinitivkonstruktionen<br />
wird durch Wurmbrands Typologie der Restrukturierung adäquater erfaßt als<br />
von Bechs Kohärenzbegriff. Kurz zusammen gefaßt, ist Wurmbrand<br />
(2001:294) der Auffassung, daß je <strong>ein</strong>facher und kl<strong>ein</strong>er die syntaktische<br />
Kategorie <strong>ein</strong>es Infinitivkomplements ist, desto eher muß dieses intraponiert<br />
werden, und je komplexer die Kategorie ist, desto eher besteht der Zwang,<br />
dieses Komplement zu extraponieren. Biklausales tendiert zur Extraposition,<br />
31
Monoklausales zur Intraposition. Es besteht aber k<strong>ein</strong>eswegs <strong>ein</strong> 1:1-<br />
Verhältnis. Nur die stark reduzierten FR-Prädikate, zu den die MV sämtlich<br />
zählen, unterliegen <strong>ein</strong>em Extrapositionsverbot oder obligatorischer<br />
Kohärenz, wie es Bech nennt.<br />
Die wichtigste für unseren Ansatz verwertbare Erkenntnis liegt darin, daß<br />
die MV sich von den meisten anderen Verben durch besonders enge<br />
Bindung zum Infinitivkomplement absondern, wie auch schon Reis (2001)<br />
gezeigt hat. Ansatzweise gelingt Wurmbrand der Brückenschlag zwischen<br />
den bisher zentralen Begriffen der (deutschen) Infinitivsyntax, nämlich<br />
zwischen Beschaffenheit des Infinitivsubjekts und (In-)Kohärenz.<br />
Zusammenfassung.<br />
In diesem Abschnitt haben wir die Aufgabe verfolgt, uns <strong>ein</strong>er möglichen<br />
Definition der MV über ihre syntaktischen Eigenschaften zu nähern.<br />
Folgende Einsichten wurden uns zu Teil:<br />
Während die meisten MV ausschließlich intransitiv zu gebrauchen sind,<br />
erlauben manche MV (mögen, können, möchte, wollen) transitive Objekte,<br />
zerfallen aber hinsichtlich ihres Subkategorisierungsverhalten in zwei<br />
Untergruppen. Transitivität taugt folglich nicht als Klassifikationskriterium.<br />
Vielmehr legt die hier zu Tage tretende Heterogenität nahe, MV nicht als<br />
gem<strong>ein</strong>same Klasse zu behandeln.<br />
Trotzdem lassen sich zahlreiche Kriterien finden, die allen sechs MV +<br />
möchte, das wir an dieser Stelle als eigenständiges Klassenmitglied<br />
aufgenommen haben, gem<strong>ein</strong> sind: erstens regieren alle MV den ersten<br />
Status (Abschnitt 1.2.2), zweitens konstruieren alle MV folglich obligatorisch<br />
kohärent (Abschnitt 1.2.2) und drittens teilen alle MV den Koeffizienten<br />
(N´:N´´) (Abschnitt 1.2.3).<br />
Schwierigkeiten treten aber entlang der Unterscheidung zwischen Kontrollund<br />
Anhebungskonstruktion auf: Erstens zerfallen die MV zumindest in zwei<br />
Subklassen, nämlich subjektsensitive MV (möchte, wollen, Fähigkeitskönnen),<br />
die in Kombination mit <strong>ein</strong>em Infinitiv immer als Kontrollverb<br />
auftreten müssen, und subjektsindifferente MV, auf die das nicht zutrifft.<br />
Zweitens ersch<strong>ein</strong>t es unmöglich, die subjektsindifferenten MV durchwegs<br />
32
als Anhebungs- oder durchwegs als Kontrollverben zu klassifizieren. 28 Ihr<br />
Status bleibt unklar, es drängt sich die vage Vermutung auf, daß die<br />
subjektsindifferenten MV in beiden Konstruktionstypen auftreten. Ahnliche<br />
Schlüsse zieht Wurmbrand (2001) (siehe S.22) Kapauz.<br />
Des weiteren tauchen noch <strong>ein</strong>e Reihe weiterer syntaktischer<br />
Eigenschaften auf, die sich aber auf Kohärenz und Konstruktionstypus<br />
(=Beschaffenheit des Infinitivsubjekts) zurückführen lassen. Diese beiden<br />
Begriffe haben sich in diesem Abschnitt als die zentralen der MV-Syntax<br />
erwiesen. Wir haben mit Wurmbrand (2001) <strong>ein</strong>e Theorie kennengelernt, die<br />
ansatzweise im Stande ist, den erwünschten Zusammenhang zwischen den<br />
beiden unter den Schlüsselbegriffen Kohärenz und Konstruktionstypus<br />
verstandenen Phänomenen herzustellen. Ihre Auffassung, restructuring-<br />
Infinitive hätten überhaupt k<strong>ein</strong>e Subjekte, stößt aber auf altbekannte<br />
Schwierigkeiten. Auf diese Weise könnten die <strong>ein</strong>gebetteten Infinitive ihre<br />
Subjektsthetarolle nicht mehr vergeben.<br />
Unser Versuch, die MV all<strong>ein</strong> über ihre Syntax zu definieren, muß letztlich<br />
aber scheitern. Es lassen sich <strong>ein</strong>e Reihe von Verben finden, die kohärent,<br />
im ersten Status und mit dem Koeffizienten (N´:N´´) konstruieren: werden,<br />
tun, bleiben, s<strong>ein</strong>, lernen, kommen, gehen und andere Bewegungsverben.<br />
Da somit auch syntaktische Aspekte all<strong>ein</strong>e nicht ausreichen, um das<br />
Wesen der MV zu erfassen, wenden wir uns im Abschnitt 1.3 den<br />
semantischen Eigenschaften der hier im Mittelpunkt stehenden Verben zu.<br />
28 Ein ähnliches Problem taucht bei den Phasenverben beginnen, anfangen, aufhören, u.a. auf.<br />
Auch hier kann sowohl <strong>ein</strong> Expletivum (1) als auch <strong>ein</strong> Agens (2) an der Position des<br />
Matrixsubjekts stehen, was auf die Zulässigkeit beider Konstruktionstypen hindeutet. Schließlich<br />
kann kaum bestritten werden, daß Alexander in (2) vom Matrixverb aufhören <strong>ein</strong>e thematische<br />
Rolle (Agens) zugewiesen bekommt. Das beweist auch der Imperativ in (3), der ja bei<br />
Anhebungsverben nicht möglich ist.<br />
(1) Es hört auf zu regnen.<br />
(2) Alexander hört auf zu rauchen.<br />
(3) Alexander, hör auf zu rauchen.<br />
Um diese Schwierigkeit zu meistern, muß entweder die Kontrolltheorie dahingehend<br />
umgekrempelt werden, daß auch Expletiva kontrollieren können (Vorschlag von Diewald 1999:<br />
61) oder in Anlehnung an Diewald (1999: 61ff) die gesamte Thetatheorie neuausgedüftelt<br />
werden, damit Subjekte von Anhebungsinfinitiven im Laufe ihres Anhebungsprozeßes mehrere<br />
Thetarollen aufsammeln können. Solche Veränderungen wären aber mit <strong>ein</strong>er<br />
unüberschaubaren Fülle an Implikationen verbunden. Eine andere Variante bestünde lediglich<br />
darin, zuzulassen, daß manche Verben sowohl als Kontroll als auch als Anhebungsverben<br />
auftreten können.<br />
33
1.3 Semantische Aspekte.<br />
Eine wesentliche Eigenschaft der MV haben wir bisher unterschlagen: ihre<br />
Polyfunktionalität. Dieser Abschnitt beschäftigt sich damit, diese<br />
Eigenschaft auf s<strong>ein</strong>e Eignung hin als Definitionskriterium zu prüfen.<br />
Der Grund für die späte Behandlung dieses Kriteriums liegt darin, daß k<strong>ein</strong>e<br />
Klarheit darüber besteht, inwiefern Polyfunktionalität sich auch auf die Syntax<br />
der MV auswirkt. Im Gegensatz dazu herrscht Konsens darüber, daß die<br />
verschiedenen Funktionen oder Verwendungsweisen der MV zumindest auf<br />
semantischen Gegebenheiten beruhen. Aus diesem Grund beschränkten<br />
sich die bisherigen Betrachtungen auf die im Deutschen stärker verbreiteten<br />
und wohl unmarkierteren Vorkommen der MV, nämlich auf jene MV in<br />
deontischer Lesart (DMV). Bevor wir uns aber den näheren Eigenschaften<br />
der epistemischen Lesart (EMV) und damit dem polyfunktionalen Charakter<br />
der MV widmen, werfen wir noch <strong>ein</strong>en Blick auf semantische<br />
Gem<strong>ein</strong>samkeiten der behandelten Lexeme.<br />
1.3.1 Aktionsart der MV.<br />
Aktionsart wird im allgem<strong>ein</strong>en als lexikalisch-semantische, in der<br />
Verbbedeutung fix verankerte Kategorie behandelt, die sich in vier Aspekte<br />
aufgliedert (Bußmann 1990): (a) Dynamizität der verbalen Aktion (statisch vs.<br />
dynamisch), (b) ihre Verlaufsweise (durativ vs. nicht-durativ), (c) Frequenz &<br />
Wiederholung (semelfaktiv vs. iterativ/habituativ) und schließlich (d)<br />
Kausalität (durch Agens bewirkt oder nicht).<br />
(47) Hermine kann/muß/darf/soll/will/möchte ihre Tochter besuchen.<br />
Nun denotieren alle MV statische Zustände, das Matrixprädikat in (47)<br />
impliziert nämlich k<strong>ein</strong>erlei Zustandsänderung, woraus auch folgt, daß sie<br />
durativer Natur s<strong>ein</strong> müssen. Kriterium (c) spielt hier k<strong>ein</strong>e Rolle und kann<br />
vernachläßigt werden. Was (d) betrifft, so haben hier die MV <strong>ein</strong>e<br />
Besonderheit aufzuweisen. Mit der Ausnahme von wollen gehen sie wie<br />
schon erwähnt auf Präteritalformen zurück und markierten somit <strong>ein</strong>e<br />
vergangene Handlung. Diese Entwicklung wird durch den resultativen<br />
Charakter der gegenwärtigen MV reflektiert, sie denotieren nämlich das<br />
34
”Erteilt-haben-bekommen” <strong>ein</strong>er Direktive (Diewald 1999: 120&150). Aus<br />
diesem Muster schert aber wollen aus. Diewald (1999: 140) versucht auch,<br />
wollen resultativen Charakter zu unterstellen, in dem sie behauptet, es könne<br />
auch als Verb gesehen werden, dessen Subjekt die Direktive von sich selbst<br />
erhalten hat. Ich halte aber die Diskussion darüber müßig, da sich selbst Ur-<br />
Präteritopräsentien wie Fähigkeits-können nur mit Schwierigkeiten in dieses<br />
Schema integrieren lassen, beziehungsweise bildete sich aus <strong>ein</strong>em anderen<br />
Präteritopräsentium mit möchte <strong>ein</strong> MV-Form heraus, die der verwegenen<br />
Semantik von wollen im Großen und Ganzen gleicht. Viel bedeutender ist der<br />
Umstand, daß MV allesamt <strong>ein</strong>e stative Semantik aufweisen.<br />
1.3.2 Aspekt und Tempus des Infinitivkomplements.<br />
Welche morphologischen und syntaktischen Distributionsrestriktionen für<br />
die Einbettung von Infinitivkomplementen unter MV gelten, haben ich in<br />
Abschnitt 1.2 unter den Schlagworten Kohärenz und Status schon<br />
ausführlich dargestellt. Nun drängt sich die Annahme auf, daß für die<br />
Einbettung <strong>ein</strong>es Infinitivs unter <strong>ein</strong> MV auch semantische<br />
Selektionsbeschränkungen bestehen könnten. Als Merkmale zur<br />
Unterscheidung bieten sich vor allem Aktionsart und Tempus des<br />
<strong>ein</strong>gebetteten Verbs an.<br />
Hinsichtlich der Aktionsart interessiert uns, ob Infinitive existieren, die ob<br />
ihrer Semantik nicht von MV selektiert werden können. Die Spezifikation des<br />
Subjekts hat darauf womöglich Einfluß:<br />
(48) Raimund kann/muß/soll/darf/will/möchte nächste Woche nach<br />
Thailand fliegen.<br />
SUBJ = [+belebt]; INF = [+perfektiv]<br />
(49) Raimund kann/muß/soll/darf/will/möchte heute zuhause bleiben.<br />
SUBJ = [+belebt]; INF = [-perfektiv]<br />
(50) An dieser Stelle kann/muß/soll/darf <strong>ein</strong> Unfall passieren.<br />
SUBJ = [–belebt], INF = [+perfektiv]<br />
35
(51) Das Auto kann/darf/muß/soll vor der Tür stehen.<br />
SUBJ = [–belebt], INF = [-perfektiv]<br />
Prinzipiell sind offensichtlich alle Varianten zulässig. Diewald (1999: 250)<br />
bemerkt aber, daß diese vier Varianten in verschieden starker Frequenz<br />
auftreten, es bestehen ganz klare Präferenzen zu belebtem Subjekt mit<br />
perfektiven Infinitiv (1) und unbelebtem Subjekt mit durativen Infinitiv (4). Für<br />
diese Korrelation sch<strong>ein</strong>t mir aber weniger das MV auschlaggebend zu s<strong>ein</strong>,<br />
als vielmehr die Selektionsvorlieben der <strong>ein</strong>gebetteten Infinitive.<br />
Wenden wir uns dem Verhältnis zwischen Tempus und dem<br />
Infinitivkomplement des MV zu. Die erste Frage die sich hier aufdrängt, ist,<br />
inwiefern der Infinitiv <strong>ein</strong>e andere Tempusrelation ausdrücken kann, als jene,<br />
die im MV kodiert ist. Sind verschiedene Tempora möglich, so müßten den<br />
beiden Verben zwei verschiedene Temporaladverbien zugewiesen werden<br />
können.<br />
(52) a. Im Moment kann/muß/soll/darf/will/möchte er nach Thailand<br />
fliegen.<br />
b. Im Moment kann/muß/soll/darf/will/möchte er morgen nach<br />
Thailand fliegen.<br />
c. Im Moment kann/muß/soll/darf/will/möchte er morgen zuhause<br />
bleiben.<br />
(53) a. Im Moment kann/darf/muß/soll das Auto vor der Tür stehen.<br />
b. ?Im Moment kann/darf/muß/soll das Auto morgen vor der Tür<br />
stehen.<br />
(52b) und mit Einschränkung (53b) sprechen klar dafür, daß die<br />
Infinitivhandlung über <strong>ein</strong>e eigene temporale Spezifikation verfügen kann, die<br />
<strong>ein</strong>e gewisse Nachzeitigkeit zur Matrixhandlung ausdrückt. In (52a) und (53a)<br />
wird aber deutlich, daß Tempus von MV und Infinitiv ident s<strong>ein</strong> können, was<br />
angesichts von (53b) auch als weniger markiertere der beiden Varianten<br />
ersch<strong>ein</strong>t. Daß die quasi-Futurbedeutung, die dem Infinitiv in den (b)-<br />
Beispielsätzen anhaftet, k<strong>ein</strong>eswegs nur durch perfektive Aspektualität<br />
ausgelöst werden kann, zeigt (52c), wo mit bleiben das MV <strong>ein</strong>en ganz klar<br />
durativen Infinitiv regiert (ohne daß die Akzeptabilität darunter leidet).<br />
36
Generell fällt auf, daß das doppelte Tempus am besten mit volitiven MV<br />
wollen, möchte verträglich ist.<br />
Der Infinitiv kann auch mit Einschränkung auf Ereignisse die vor der<br />
Matrixhandlung stattgefunden haben Bezug nehmen:<br />
(54) a. Er will in Paris gewohnt haben.<br />
b. Petra muß den Friedensnobelpreis gewonnen haben.<br />
c. Das Haus kann gebrannt haben.<br />
d. Er dürfte es vergessen haben.<br />
e. Sie muß ihn fürchterlich geliebt haben.<br />
Der vom MV unmittelbar <strong>ein</strong>gebette Infinitiv denotiert aber k<strong>ein</strong> Ereignis,<br />
das der Matrixhandlung voranging, sondern dessen Erfolgt-S<strong>ein</strong> zum<br />
Zeitpunkt der Matrixhandlung. Streng genommen gilt auch für diese Infinitive<br />
in (54a-e) die oben getroffene Generalisierung, daß das Ereignis im Infinitiv<br />
zeitgleich mit der Matrixhandlung oder später stattfindet, wie (55).<br />
(55) Er dürfte ihn morgen schon verkauft haben.<br />
Die Konstruktionen mit Infinitiv Perfekt weisen im Gegensatz zu den<br />
<strong>ein</strong>fachen Infinitivkonstruktionen <strong>ein</strong>e Besonderheit auf: die Aktionsart des<br />
unmittelbar <strong>ein</strong>gebetteten Infinitivs ist immer stativ. Das läßt sich darauf<br />
zurückführen, daß in Infinitiv-Perfekt-Konstruktionen das unmittelbar<br />
<strong>ein</strong>gebettete Verb in jedem Falle von <strong>ein</strong>em der beiden von Natur aus<br />
stativen Auxiliare s<strong>ein</strong> und haben verkörpert wird. Offensichtlich leitet sich<br />
auch hieraus die Präsens/Futurbedeutung in solchen Konstruktionen ab.<br />
S<strong>ein</strong> und haben denotieren ja auch in <strong>ein</strong>fachen Infinitivkonstruktionen<br />
gegenwärtige und zukünftige Ereignisse.<br />
Inwieweit Infinitivkomplemente von MV <strong>ein</strong>e eigene TP brauchen, um die<br />
temporale Unabhängigkeit zu kodieren oder inwieweit dies auch durch die<br />
Modifikation der Infinitiv-VP erfolgen kann, lasse ich an dieser Stelle offen.<br />
Nur soviel dazu, da sich die auffallend enge Beziehung zwischen MV und<br />
ihrem Infinitivkomplement nach Auffassung von Bech (1955/57), Kiss (1995),<br />
Reis (2001) und Wurmbrand (2001) von den meisten übrigen<br />
37
Infinitivkonstruktionen abheben, liegt der Schluß nahe, daß in derartigen<br />
syntaktischen Gebilden <strong>ein</strong> monoklausaler Komplex vorliegt. Nach<br />
Wurmbrands Analyse zählen die MV zu den radikalsten restructuring-<br />
Prädikaten überhaupt. Das spricht tatsächlich dafür, daß infinitivische MV-<br />
Komplemente k<strong>ein</strong>e eigene T-Projektion mehr erfordern und temporale<br />
Spezifikation über die VP möglich s<strong>ein</strong> muß.<br />
Mit <strong>ein</strong>er weiteren semantischen Besonderheit der Infinitiv-Perfekt-<br />
Einbettung unter MV beschäftigt sich Abschnitt 1.3.3.<br />
1.3.3 Deontischer und epistemischer Gebrauch.<br />
Nach weitreichender M<strong>ein</strong>ung, wie H<strong>ein</strong>e (1995) oder Diewald (1999), teilen<br />
alle MV die Eigenschaft, unter Einbettung des Infinitivs Perfekt stark zu <strong>ein</strong>er<br />
anderen Interpretation zu neigen, die wir in weiterer Folge als ”epistemisch”<br />
(EMV) bezeichnen werden:<br />
(56) a. Clara kann/muß/darf/soll/will/möchte/mag den Film sehen.<br />
b. Clara kann/muß/dürfte/soll/will/??möchte/mag den Film gesehen<br />
haben.<br />
Der deontische Gebrauch der <strong>Modalverben</strong> (DMV), wie er in (56a) vorliegt,<br />
ist im Deutschen sicherlich weitgehend der üblichere. Er ist gekennzeichnet<br />
durch <strong>ein</strong>e ausgeprägte Semantik des MV, das in den meisten Fällen <strong>ein</strong>e<br />
bestimmte modale Kraft zwischen dem Satzsubjekt und der Infinitivhandlung<br />
ausdrückt. Demgegenüber verleiten die Beispiele in (54a-e & 56b) zu <strong>ein</strong>er<br />
anderen Interpretation, nämlich <strong>ein</strong>er gewissen Distanz des Sprechers zur<br />
Faktizität der in der Infinitivhandlung ausgedrückten Proposition: er vermutet<br />
oder beruft sich auf andere. Diese sogenannte Polyfunktionalität aufgrund<br />
der Epistemizität trifft auf alle hier betrachteten Lexeme zu.<br />
Nur zwei Notizen dazu: möchte wird höchstwahrsch<strong>ein</strong>lich nie von<br />
Sprechern in s<strong>ein</strong>er quotativ-epistemischen Lesart verwendet. Das hat aber<br />
<strong>ein</strong>en besonderen Grund: die Kontexte in denen volitive MV, wie möchte und<br />
wollen, in ihrer quotativ-epistemischen Interpretation gebraucht werden, sind<br />
extrem rar. Tritt so <strong>ein</strong> Kontext auf, dann kommt meist das gebräuchlichere<br />
wollen zum Zug. Nichtsdestotrotz wäre an dieser Stelle <strong>ein</strong>e Substitution<br />
durch möchte denkbar. Der Form möchte würde am ehesten die<br />
38
Bezeichnung potentielles quotatives EMV oder MV mit schlafender quotativepistemischer<br />
Lesart gerecht.<br />
Zweitens möchte ich auf <strong>ein</strong>e Besonderheit hinweisen, die das Verb dürfen<br />
betrifft. In s<strong>ein</strong>er Indikativform kann dürfen nur als DMV auftreten (57). S<strong>ein</strong>e<br />
Konjunktivform hat sich hingegen weitgehend auf die epistemische<br />
Verwendung festgelegt. Eine deontische Interpretation ist wenn überhaupt<br />
nur ganz marginal möglich (58).<br />
(57) *Clara darfEMV den Film gesehen haben.<br />
(58) Wenn ich ihre Mutter wäre, dürfteDMV Clara den Film sehen.<br />
Auf dieser Beobachtung basierend deklariert Wurmbrand (2001) dürfteEMV<br />
sogar als eigenes Lexem. Dieser Aufspaltung folgen wir nicht, da die<br />
Konjunktivform dürfte im Gegensatz zur (theoretischen) Konjunktivform<br />
möchte durchaus noch in s<strong>ein</strong>er ursprünglichen konjunktivischen Bedeutung<br />
Verwendung findet, siehe Beispiel (9) und (10) auf Seite 9.<br />
Polyfunktionalität erweist sich hiermit als Merkmal, das allen MV zuteil wird.<br />
Nun stellt sich aber die Frage, inwieweit dieses Merkmal nur auf die bisher<br />
betrachteten sieben Lexeme zutrifft. Und es zeigt sich, daß ähnliche<br />
Phänomene auch bei anderen Verballexemen auftreten:<br />
(59) a. Clara wird den Film sehen.<br />
b. Clara wird den Film gesehen haben.<br />
(60) a. Clara braucht den Film nicht (zu) sehen.<br />
b. Clara braucht den Film nicht gesehen (zu) haben.<br />
Auch in diesen Fällen tritt ganz analog zu den sieben bisher betrachteten<br />
Lexemen der oben erläuterte Effekt auf. Nebenbei sei auf <strong>ein</strong>e Besonderheit<br />
von brauchen hingewiesen, die darin besteht, daß es als MV nur mit<br />
Negation akkzeptabel ist. Im Anschluß untersuchen wir, inwieweit es Sinn<br />
macht, diese beiden Lexeme zur Gruppe der MV hinzuzufügen.<br />
39
Zusammenfassung.<br />
Auf der Suche nach den semantischen Wesensmerkmalen der MV, stellte<br />
sich heraus, daß sie an sich stativ hinsichtlich ihrer Aktionsart sind,<br />
zumindest DMV sowohl perfektive als auch imperfektive Infinitivkomplemente<br />
<strong>ein</strong>betten und unabhängig von deren Aktionsart Präsens- oder Futurbezug<br />
aufweisen können. 29 Das Wesen der MV sch<strong>ein</strong>t aber in ihrer<br />
Polyfunktionalität zu liegen, die aussagt, daß jedes MV sowohl als DMV als<br />
auch als EMV auftreten kann. Diese Ansicht vertritt auch Reis (2001). Diese<br />
Polyfunktionalität bildet <strong>ein</strong> Privileg <strong>ein</strong>er kl<strong>ein</strong>en Gruppe, derer die MV<br />
sämtlich Teil sind. Insofern stellt diese <strong>ein</strong> Merkmal dar, anhand dessen die<br />
beobachteten sieben Lexeme weitgehend von der großen Masse an Verben<br />
isoliert werden können. Offensichtlich korreliert diese Polyfunktionalität auch<br />
mit den syntaktischen Eigenheiten der MV. Doch bevor wir uns ausführlich<br />
mit dem möglichen Einfluß der Syntax auf die Polyfunktionalität beschäftigen,<br />
widmen wir uns noch der Frage, wie wir mit den beiden offensichtlich<br />
polyfunktionalen Lexemen (nicht) brauchen und werden verfahren sollen.<br />
1.4 Polyfunktionalität als konstituierendes Merkmal?<br />
Die meisten der <strong>ein</strong>gangs in 1.1 erwähnten Merkmale erwiesen sich als<br />
nicht ausreichend oder für sich betrachtet inkonsistent, das heißt sie gelten<br />
entweder nur für <strong>ein</strong> paar der MV oder gleich für <strong>ein</strong> großes Maß an Verben<br />
mehr. Eine umfassende Definition durch die vorgeschlagenen Merkmale in<br />
Summe ist somit zum Scheitern verurteilt.<br />
Im Laufe der Untersuchung kristallisierte sich jedoch <strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>e Menge an<br />
Merkmalen heraus, die für alle sieben Lexeme zutreffen und zum Teil (fast)<br />
nur für diese:<br />
1. MV haben immer den koeffizienten (N´:N´´), das heißt, das<br />
Matrixsubjekt ist immer mit dem Infinitivsubjekt referenzident.<br />
29<br />
Eine Untersuchung der EMV hinsichtlich dieser Kriterien steht noch aus und folgt in den<br />
Abschnitten 2.1.4 und 2.2.<br />
40
2. MV sind obligatorisch kohärent, da sie den 1. Status regieren<br />
(oder nach Wurmbrands (2001) Terminologie FR <strong>ein</strong>leiten). 30<br />
3. In MV-Konstruktionen kann die Negation Skopus sowohl über das<br />
MV als auch über den <strong>ein</strong>gebetteten Infinitiv haben. Ähnlich<br />
können sich Adverbialbestimmungen entweder auf das MV oder<br />
auf den Infinitiv beziehen.<br />
4. MV sind stativ hinsichtlich ihrer Aktionsart.<br />
5. Zumindest unter DMV lassen sich sowohl perfektive als auch<br />
imperfektive Infitive <strong>ein</strong>betten, ungeachtet dessen kann das<br />
gesamte Komplement Präsens- oder Futurbezug haben.<br />
6. MV verfügen prinzipiell über <strong>ein</strong>e deontische und auch über <strong>ein</strong>e<br />
epistemische Interpretation.<br />
Ansonsten tauchen allerhand Eigenschaften auf, die zwar für <strong>ein</strong>e Reihe<br />
der MV Gültigkeit besitzt, aber eben nicht für alle. Genaugenommen hat so<br />
ziemlich jedes dieser sieben Lexeme s<strong>ein</strong>e Eigenheiten: so hat wollen k<strong>ein</strong>e<br />
präteritopräsentische Vergangenheit und deswegen auch <strong>ein</strong>e leicht<br />
abweichende Morphologie, es kann als transitives Verb mit daß-Satz<br />
auftreten, ist immer Kontrollverb, hat wie wir noch sehen werden auch <strong>ein</strong>e<br />
markierte epistemische Interpretation. Demgegenüber weicht das<br />
präteritopräsentische sollen noch stärker von der typischen MV-Morphologie<br />
ab, wählt – wie ich noch zeigen werde – in s<strong>ein</strong>er DMV Lesart den dafür<br />
unüblichen engen Negationsskopus und hat ebenso <strong>ein</strong>e hochmarkierte –<br />
weil quotative – epistemische Lesart. Auch können läßt sich als transitives<br />
Verb verwenden, darüberhinaus tritt es auch als Kontrollverb auf. Im Falle<br />
von dürfen hingegen zeichnet sich <strong>ein</strong>e Arbeitsteilung hinsichtlich der<br />
Polyfunktionalität ab. Während die epistemische Modalität <strong>ein</strong>zig und all<strong>ein</strong><br />
durch die Konjunktiv-II-Form dürfte ausgedrückt werden kann, beschränkt<br />
sich die Indikativform auf den Ausdruck der deontischen Modalität. Wie<br />
soviele andere MV auch kann mögen transitiv verwendet werden. Eine<br />
30 Die von Bech als obligatorisch kohärent bezeichneten Verben entsprechen übrigens ziemlich<br />
genau jenen, die Wurmbrand (2001) als ”Functional-Retructuring” bezeichnet. Da sich die<br />
beiden Begriffe inhaltlich kaum unterscheiden, verwende ich weiterhin Bechs Terminologie,<br />
obgleich Wurmbrands Analyse geeigneter ersch<strong>ein</strong>t, um die verschiedenen Arten Verb-Cluster-<br />
Bildung zu erklären.<br />
41
weitere Besonderheit besteht darin, daß es in den meisten deutschen<br />
Dialekten in Kombination mit Infinitiv nur negiert auftritt, dort also negativ<br />
polar ist. Das betrifft aber nur die deontische Verwendung. Im Übrigen trifft<br />
das auch auf <strong>ein</strong>en etwaigen transitiven Gebrauch mit daß-Satz zu. Als EMV<br />
unterliegt es dieser Beschränkung aber nicht. Außerdem zeichnet sich<br />
mögen durch s<strong>ein</strong> breites semantisches Spektrum aus, daß von der<br />
Denotation <strong>ein</strong>er Möglichkeit bis hin zur subjektiven Zuneigung reicht. Daraus<br />
entwickelte sich und ist im Begriff sich weiterhin abzuspalten, die neue Form<br />
möchte. Die vormalige Konjunktiv II Form von mögen wird nicht mehr mit der<br />
ursprünglichen Bedeutung assoziert, und erwarb nach und nach <strong>ein</strong>e volitive<br />
Semantik, wodurch es nun stark dem MV wollen ähnelt. Dementsprechend<br />
viele Besonderheiten besitzt es auch, angefangen damit, daß es über gar<br />
k<strong>ein</strong>e eigene Infinitivform verfügt, bis dahin, daß es nur <strong>ein</strong> potentielles EMV<br />
verkörpert. Ansonsten teilt es noch <strong>ein</strong>e Menge von Idiosynkrasien, die wir<br />
schon anhand von wollen abgehandelt haben. Einzig müssen verhält sich als<br />
MV relativ unspektakulär.<br />
Diese Auflistung sollte veranschaulichen, wie heterogen die Ansammlung<br />
der verschiedenen MV tatsächlich ist. Das Problem, die MV <strong>ein</strong>heitlich zu<br />
beschreiben, verschärft sich durch die Aufnahme neuer Elemente, wie wir es<br />
am Beispiel von möchte gerade gesehen haben. Im Moment könnten wir<br />
nicht <strong>ein</strong>mal die für Verben äußerst triviale Generalisierung machen, daß<br />
jedes MV auch <strong>ein</strong>en Infinitiv besitzt. Wir stünden vor noch größeren<br />
Schwierigkeiten, wenn wir gezwungen wären für dürfteEMV, <strong>ein</strong>en eigenen<br />
Lexikon<strong>ein</strong>trag anzunehmen, wie unter anderem Wurmbrand (2001: 186)<br />
verfährt. Denn auf diese Weise verlöre die als konstituierendes Merkmal der<br />
MV vorgeschlagene Polyfunktionalität ihre Plausibilität. Auf diese Weise<br />
hätten wir zwei neue (Ex-?)MV, die beide ihrer Polyfunktionalität beraubt<br />
wären. Ich komme im Verlauf der Untersuchung noch auf diese Problematik<br />
zurück.<br />
1.5 (nicht) brauchen und werden als MV?<br />
Wenn wir die Polyfunktionalität als Wesensmerkmal der MV heranziehen,<br />
dann sind wir unweigerlich gezwungen, uns mit der Frage zu beschäftigen,<br />
42
wie wir beiden offensichtlich auch polyfunktionalen Lexemen (nicht) brauchen<br />
und werden verfahren.<br />
Zunächst zu (nicht) brauchen. Die negative Polarität dieses potentiellen MV<br />
braucht uns nicht zu kümmern, da sie in <strong>ein</strong>em ähnlichen Maße in den<br />
meisten Dialekten auch für mögen gilt.<br />
(61) a. Wolfgang mag heute nicht am Klavier spielen.<br />
b. ?Wolfgang mag heute am Klavier spielen.<br />
(62) a. Bettina braucht heute nicht am Klavier (zu) spielen.<br />
b. ?Bettina braucht heute am Klavier (zu) spielen.<br />
Abgesehen davon zeigte Lenz (1996) schon, daß die negative Polarität von<br />
brauchen Bedingung war, um überhaupt in die Nähe der MV zu kommen.<br />
Wenden wir uns aber zuerst <strong>ein</strong>mal jenen Kriterien zu, deren Gültigkeit sich<br />
über alle MV erstreckt. Erstens hat auch brauchen den Koeffizienten (N´:<br />
N´´):<br />
(63) Ihri braucht euchi nicht (zu) genieren.<br />
Zweitens ist brauchen wie alle MV obligatorisch kohärent. Im Gegensatz zu<br />
diesen muß es aber nicht den 1. Status regieren. Die Rektion des 2. Status<br />
ist mindestens genauso verbreitet:<br />
(64) a. *daß ihr euch nicht braucht, (zu) genieren.<br />
b. daß ihr euch nicht (zu) genieren braucht.<br />
Aufgrund s<strong>ein</strong>er negativen Polarität treten im Falle von brauchen<br />
Schwierigkeiten hinsichtlich der doppelten Bezugsmöglichkeiten der<br />
Negation auf. Der enge Negationsskopus all<strong>ein</strong>e sch<strong>ein</strong>t nicht möglich zu<br />
s<strong>ein</strong> (65a). Die Möglichkeit der doppelten Negation in (65b) zeigt aber, daß<br />
auch am Infinitiv Platz für <strong>ein</strong>e Negation s<strong>ein</strong> muß. Weitaus<br />
unproblematischer verhält es sich mit dem doppelten Bezug der<br />
Adverbialbestimmung (66).<br />
43
(65) a. ?? Du brauchst [nicht (zu) kommen].<br />
b. ?Du brauchst jetzt nicht [nicht (zu) kommen].<br />
(66) Im Moment brauchst Du morgen nicht kommen.<br />
Viertens ist brauchen stativ, da es den Zustand <strong>ein</strong>er negierten<br />
Notwendigkeit beschreibt. Fünftens verhält sich brauchen hinsichtlich der<br />
temporalen und aspektuellen Spezifikation s<strong>ein</strong>er möglichen<br />
Infinitivkomplemente ident wie die übrigen MV.<br />
(67) Die Projektteilnehmer brauchen jetzt/ab morgen nicht in <strong>Berlin</strong><br />
(zu) wohnen.<br />
(68) Du brauchst morgen/jetzt sofort nicht weg(zu)fahren.<br />
Sechstens wie wir schon in Abschnitt 1.3.3 gesehen haben findet brauchen<br />
sowohl als DMV als auch als EMV Verwendung. Darüber hinaus tritt bei<br />
brauchen <strong>ein</strong> Phänomen auf, das zwar nicht alle MV erfaßt, aber dafür fast<br />
ausschließlich bei diesen anzutreffen ist: der sogenannte infinitivus-proparticipio-(IPP-)Effekt.<br />
Umso erstaunlicher, daß ihn sich brauchen vollständig<br />
angeeignet hat. Der IPP-Effekt besteht darin, daß in periphrastischen<br />
Tempora anstelle des Partizips Perfekt des betreffenden Verbs dessen<br />
Infinitiv stehen muß. Das gilt im vollen Umfang auch für brauchen, das als<br />
MV derartige periphrastische Tempora ausschließlich mit dem Infinitiv bildet.<br />
(69) a. Claudia hat den Mühlst<strong>ein</strong> nicht tragen<br />
können/*gekonnt/müssen/*gemußt/sollen/*gesollt/dürfen/*gedurft/<br />
wollen/*gewollt/mögen/*gemocht/*möchte*-n.<br />
b. Claudia hat den Mühlst<strong>ein</strong> nicht (zu) tragen<br />
brauchen/*gebraucht.<br />
Schließlich kann brauchen wie so viele andere MV auch als transitives<br />
Verbum verwendet werden. Brauchen wurde schon vielfach als MV<br />
bezeichnet, wie von Vater (1975), Lenz (1996), Fritz (1997) oder auch Reis<br />
(2001). Aufgrund der oben gewonnenen Erkenntnisse schließe ich mich<br />
dieser Ansicht an, wenn ich auch nicht gleich über den <strong>ein</strong>zigen wackligen<br />
Punkt hinwegsehe, daß brauchen in vielen Fällen den 2. Status regiert und<br />
44
sich somit von den ”herkömmlichen” MV etwas abhebt. Viel entscheidender<br />
ist aber, daß sich brauchen vor allem in der gesprochenen Sprache auch den<br />
1. Status angeeignet hat, der nur <strong>ein</strong>er geringen Zahl an Verben zu Teil wird.<br />
Somit spricht eigentlich alles dafür, brauchen als gleichwertiges MV zu<br />
betrachten. Von <strong>ein</strong>em funktionalen Standpunkt wäre sogar fahrlässig, nicht<br />
derartig vorzugehen. 31<br />
Etwas schwieriger gestaltet sich der Sachverhalt im Beispiel von werden. 32<br />
Wie schon angedeutet sch<strong>ein</strong>t auch dieses Element auf <strong>ein</strong>e gewisse Art und<br />
Weise polyfunktional zu s<strong>ein</strong>. Ebenso teilt es mit den MV die Eigenschaften<br />
der obligatorischen Kohärenz, die in diesem Fall auf die Rektion des 1.<br />
Status zurückzuführen ist, sowie die Identität von Infinitivsubjekt und<br />
Matrixsubjekt:<br />
(70) a. daß wiri unsi darüber freuen werden.<br />
b. *daß wiri unsi werden darüber freuen.<br />
Außerdem läßt werden sowohl perfektive als auch imperfektive<br />
Infinitivkomplemente zu.<br />
(71) a. Gleich wird das Dach <strong>ein</strong>stürzen.<br />
b. Morgen werde ich den ganzen Tag schlafen.<br />
Während sich werden in den übrigen Punkten hinsichtlich s<strong>ein</strong>er<br />
epistemischen Variante genauso verhält wie die übrigen MV, unterscheidet<br />
sich s<strong>ein</strong>e nicht-epistemische Lesart zum Teil gravierend vom üblichen<br />
Verhalten der DMV. 33 Da werden + INFINITIV im Gegensatz zu den DMV als<br />
r<strong>ein</strong>er Futurmarker dient, weisen die Infinitivkomplemente automatisch<br />
31<br />
Im weiteren Verlauf der Arbeit werde ich sehr oft darauf verzichten, (nicht) brauchen in den<br />
Satzbeispielen mit<strong>ein</strong>zubeziehen. Da dies erforderlich machen würde, aufgrund s<strong>ein</strong>er<br />
negativen Polarität, ausschließlich auf negierte Sätze zurückzugreifen, was zu Ungenauigkeiten<br />
führen könnte. M<strong>ein</strong> Vorgehen bedeutet aber k<strong>ein</strong>eswegs, daß (nicht) brauchen in den<br />
betreffenden Kontexten ausgeschlossen ist. Ich gehe vielmehr davon aus, daß es aufgrund der<br />
auffallenden Ähnlichkeiten auch in allen mit müssen verträglichen Distributionen auftreten kann.<br />
32<br />
Untersuchungen von werden im Zusammenhang mit den MV liegen unter anderen von Vater<br />
(1975) und Erb (2001) vor.<br />
33<br />
Vater (1975) behauptet sogar, daß werden + INF in k<strong>ein</strong>em Fall als Futurmarker auftritt,<br />
sondern immer nur als EMV. Denn im Deutschen ist dieses Hilfsverb gar nicht notwendig, um<br />
Zukunftsbezug zu kodieren. Das kann unteranderem durch die Aktionsart oder durch<br />
Temporaladverbien erfolgen.<br />
45
Futurbedeutung auf. Eine Präsensinterpretation für nicht-epistemische Form<br />
ist somit ausgeschlossen. Die Negation kann bis auf hochmarkierte<br />
Ausnahmefälle nur Skopus über den Infinitiv haben. 34 Die doppelte<br />
Bezugsmöglichkeit von Adverbialbestimmungen sch<strong>ein</strong>t aber möglich zu<br />
s<strong>ein</strong>: 35<br />
(72) Im Moment werde ich morgen kommen.<br />
Auch in anderen Punkten unterscheidet sich die nicht-epistemische Form<br />
von werden von den anderen DMV. Eine Konstruktion der Art werdenDMV +<br />
INFINITIV beschreibt zwei Zustände. Einen ersten in dem die Aussage<br />
gemacht wird und <strong>ein</strong>en notwendig darauf folgenden zweiten, in dem die<br />
Infinitiv Handlung <strong>ein</strong>tritt. Kurz gesagt werdenDMV denotiert den Wandel <strong>ein</strong>es<br />
Zustands in den anderen. Die DMV verhalten sich hier anders: sie<br />
beschreiben nur <strong>ein</strong>en Zustand, nämlich den des Aktivs<strong>ein</strong>s <strong>ein</strong>er modalen<br />
Kraft, der unabhängig von dem Eintreten der Infinitivhandlung ist. So sagt <strong>ein</strong><br />
DMV nichts darüber aus, ob die Infinitivhandlung gerade erfolgt, irgendwann<br />
erfolgen wird oder durch das Erfolgen die modale Kraft erlischt. werdenDMV im<br />
Gegensatz dazu setzt aber voraus, daß zwischen Äußerungszeitpunkt und<br />
Eintreten der Infinitivhandlung <strong>ein</strong>e zeitliche Distanz liegt. Unter der<br />
Vorraussetzung ”Franzi arbeitet gerade” sind in (73) darum nur die<br />
klassischen DMV können, müssen, sollen, dürfen, wollen, mögen möglich.<br />
(73) Franzi kannDMV/mußDMV/sollDMV/darfDMV/willDMV/möchteDMV<br />
/*wirdDMV im Moment arbeiten.<br />
Zwei Möglichkeiten existieren um dieses Problem zu lösen: Erstens werden<br />
besitzt gar k<strong>ein</strong>e nicht-epistemische Lesart und ist r<strong>ein</strong> EMV, wie es Vater<br />
34 Ausnahme siehe Fn. 26.<br />
35 Diese ist sogar in Futursätzen ohne werden möglich und somit Evidenz dafür, daß Futur im<br />
Deutschen nicht overt am Verb repräsentiert werden muß:<br />
(1) Im Moment komme ich morgen.<br />
Wie derartige Konstruktionen mit ”widersprüchlichen” Temporalspezifikationen analysiert<br />
werden müssen, kann ich an dieser Stelle nicht sagen, da dieses Komplex <strong>ein</strong>er ausführlichen<br />
Aus<strong>ein</strong>andersetzung bedarf.<br />
46
(1975) behauptet. Dieser Ansatz impliziert, daß werden nur EMV, somit nicht<br />
polyfunktional im oben besprochenen Sinne und somit auch nicht zu den MV<br />
zu zählen wäre. Zweitens werden existiert tatsächlich als optionaler<br />
Futurmarker im Lexikon. Ich komme im Verlauf der Untersuchung noch<br />
<strong>ein</strong>mal auf dieses Problem zurück. Vorerst betrachte ich werden ebenfalls als<br />
MV, auch wenn dies im Gegensatz zu brauchen <strong>ein</strong> paar Schwierigkeiten mit<br />
sich bringt. Nichtsdestotrotz begehen wir k<strong>ein</strong>en Fehler, wenn wir werden in<br />
die Nähe der MV rücken, da wollen und sollen ursprünglich auch als<br />
Futurmarker dienten und sich selbst heute noch Fälle finden in denen sie<br />
diese Aufgabe übernehmen. Näheres dazu bei Fritz (1997, 2000). Daß MV<br />
und Futurmarker tendenziell in <strong>ein</strong>em Naheverhältnis stehen, zeigt Lehmann<br />
(1995: 28).<br />
Polyfunktionalität erweist sich tatsächlich als effizientestes Kriterium, um<br />
MV von den anderen Verben zu isolieren. Es ist <strong>ein</strong>es der wenigen, das alle<br />
MV und auch nur diese besitzen. Natürlich existieren Zusammenhänge<br />
zwischen syntaktischen und semantischen Gem<strong>ein</strong>samkeiten der MV, die wir<br />
im Laufe dieses Kapitels isoliert haben. Die nächsten beiden Kapitel werden<br />
sich mit genau diesen Zusammenhängen beschäftigen.<br />
1.6 Zusammenfassung.<br />
Kapitel 1 verfolgte die Absicht, den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit,<br />
die deutschen MV in ihrem Wesen zu erfassen. Der bloße Umfang des<br />
Kapitels wie das Ausbleiben <strong>ein</strong>es konkreten Ergebnisses zeugen davon, als<br />
wie kompliziert sich so <strong>ein</strong> Unterfangen tatsächlich herausstellt,<br />
beziehungsweise nähren sie den Zweifel, daß <strong>ein</strong>e griffige Klassendefinition<br />
gar nicht möglich zu s<strong>ein</strong> sch<strong>ein</strong>t. Denn die betrachteten Verben erwiesen sich<br />
als ziemlich heterogene Ansammlung, denn als homogene Klasse. Während<br />
uns nicht gelungen ist, <strong>ein</strong>e passende Klassendefinition für die MV zu<br />
formulieren, haben wir es aber geschafft, die zahlreichen Besonderheiten der<br />
MV auf wenige wesentliche syntaktische und semantische Eigenschaften<br />
zurückzuführen. Wir haben mit Wurmbrand (2001) auch <strong>ein</strong>en Ansatz kennen<br />
gelernt, dem es zum Teil gelingt alle relevanten Eigenschaften zu ver<strong>ein</strong>en,<br />
auch wenn er noch fundamentaler Revisionen bedarf. Einen Sonderstatus<br />
unter den MV-Eigenschaften nimmt die Polyfunktionalität <strong>ein</strong>, die als <strong>ein</strong>ziges<br />
47
Merkmal die MV von den übrigen Verben absondert, worauf auch schon Reis<br />
(2001) hingewiesen hat. Doch auch dieses Kriterium ergibt nicht automatisch<br />
<strong>ein</strong>e homogene und unstreitbare MV-Klasse. Vielmehr konfrontiert es uns<br />
zunächst mit <strong>ein</strong>er Reihe von Hürden:<br />
Erstens bereitet uns möchte aufgrund der nie realisierten epistemischen<br />
Lesart ernsthaftes Kopfzerbrechen. Einerseits sehen wir uns gezwungen, es<br />
aufgrund s<strong>ein</strong>er wachsenden Autonomie als eigenständiges MV-Lexem zu<br />
bezeichnen, andererseits sollte es dann unserer Definition gemäß auch als<br />
EMV auftreten. Wie wir aber oben bemerkt haben, sch<strong>ein</strong>t möchte aber<br />
prinzipiell als EMV möglich zu s<strong>ein</strong>.<br />
Zweitens stehen wir spätestens dann mit unserer Klassifikation vor<br />
gravierenden Problemen, wenn sich dürfteEMV von dürfenDMV vollständig<br />
abspaltet, denn in diesem Falle lägen zwei monofunktionale MV-Lexeme vor.<br />
Drittens führt k<strong>ein</strong> Weg daran vorbei, auch andere Lexeme als die<br />
klassischen MV in die von uns vorgeschlagene Klasse aufzunehmen. Auf alle<br />
Fälle trifft das auf (nicht) brauchen zu. Wie oben beschrieben, spricht auch<br />
<strong>ein</strong>iges dafür, auch werden hinzuzuziehen. Ein endgültiges Urteil in dieser<br />
Frage behalten wir uns zunächst noch vor. Manche Autoren rücken auch<br />
sch<strong>ein</strong>en, drohen und versprechen aufgrund ihrer offenkundigen Epistemizität<br />
in die Nähe der MV. Wurmbrand (2001: 205) zählt bestimmte ihrer<br />
Gebrauchsweisen sogar explizit zu den EMV. Ihr Verhältnis zu den MV wird in<br />
Kapitel 2 ausführlich untersucht.<br />
Wenn MV <strong>ein</strong> Wesensmerkmal haben, das ihnen allen eigen ist, dann kann<br />
dieses nur Polyfunktionalität s<strong>ein</strong>. Was wir hier als MV beschrieben läßt sich<br />
aber nicht als homogene Klasse erfassen, die sich durch <strong>ein</strong> Merkmal [+/-MV]<br />
konstituiert. Vielmehr handelt es sich bei diesen Elementen um <strong>ein</strong>e Gruppe<br />
verwandter Verballexeme, die in verschieden starkem Ausmaß über <strong>ein</strong>e<br />
Reihe von Besonderheiten verfügen. Die Darstellung der MV als<br />
geschlossene, nach außen hin abgegrenzte Klasse (wie unter anderem in<br />
Diewald 1999) entspricht nicht der Empirie, da zwischen MV anderen Verben<br />
k<strong>ein</strong>e absoluten und strikten Grenzen herrschen, sondern vielmehr fließende<br />
Übergänge bestehen, wie im Anschluß noch gezeigt wird. Die folgenden<br />
Kapitel setzen sich mit etwaigen Gründen für diese Vielfalt der MV<br />
aus<strong>ein</strong>ander.<br />
48
2. Epistemizität.<br />
Kapitel 1 bescherte uns die Erkenntnis, daß sich die MV dadurch<br />
charakterisieren und gleichzeitig von allen anderen Verben abheben, daß sie<br />
sowohl in <strong>ein</strong>er deontischen als auch in <strong>ein</strong>er epistemischen Verwendung<br />
auftreten. Diese Eigenschaft haben wir im Einklang mit der Literatur als<br />
Polyfunktionalität bezeichnet.<br />
Während Kapitel 1 fast ausschließlich den deontischen Gebrauch zum<br />
Gegenstand hatte, steht in Abschnitt 2.1 die noch ausstehende<br />
Charakterisierung des epistemischen Gebrauchs im Zentrum der<br />
Beobachtung. Dazu vergleichen wir in Abschnitt 2.2 & 2.3 die MV noch mit<br />
<strong>ein</strong>er Reihe von Verben, die oft in ihre Nähe gerückt werden. Schlußendlich<br />
verf<strong>ein</strong>ern wir die im Kapitel 1 vorgeschlagene Definition des<br />
Wesensmerkmals der MV.<br />
2.1 Abgrenzung DMV/EMV<br />
Bisher hat sich die vorliegende Untersuchung bestenfalls marginal mit dem<br />
Wesen der EMV aus<strong>ein</strong>andergesetzt. Der <strong>ein</strong>zige Anhaltspunkt zur<br />
Unterscheidung von DMV und EMV, den wir bislang kennengelernt haben<br />
(vgl. Abschnitt 1.3.3), besteht darin, daß <strong>ein</strong> MV in Kombination mit dem<br />
Infinitiv Perfekt in den meisten Fällen als epistemisch interpretiert wird: das<br />
ergab <strong>ein</strong>erseits H<strong>ein</strong>es (1995: 24) Korpusstudie, aber auch Diewalds (1999:<br />
380ff.) diachrone Studie. Zu vergleichbaren Ergebnissen kommt unabhängig<br />
davon auch noch Krause (1997: 94f.) Dennoch bedeutet dieses auffällige<br />
Verhalten noch lange nicht, daß der Infinitiv Perfekt all<strong>ein</strong> mit epistemischen<br />
Kontexten verträglich ist.<br />
(1) Einmal soll man dort gewesen s<strong>ein</strong>.<br />
Beispiel (1) b<strong>ein</strong>haltet nun k<strong>ein</strong>e Annahme beziehungsweise k<strong>ein</strong>en<br />
Verweis auf <strong>ein</strong>e andere Quelle, sondern denotiert vielmehr <strong>ein</strong>e<br />
(abgeschwächte) Direktive. Umgekehrt muß <strong>ein</strong> EMV nicht immer unbedingt<br />
49
<strong>ein</strong>en Infinitiv Perfekt involvieren.<br />
(2) Er dürfte noch schlafen.<br />
Kurz zusammengefaßt: Auch wenn EMV und Infinitiv Perfekt meistens<br />
mit<strong>ein</strong>ander kookkurieren, besteht zwischen den beiden k<strong>ein</strong>erlei<br />
Implikation. 36 Insoferne ist es unerläßlich, nach weiteren Kriterien zu suchen,<br />
die zu <strong>ein</strong>er <strong>ein</strong>deutigen Unterscheidung von EMV und DMV taugen.<br />
Beginnend mit den morphologischen Verschiedenheiten zeige ich im<br />
Anschluß Möglichkeiten auf, wie diese Unterteilung erfolgen könnte.<br />
2.1.1 Morphologische Unterschiede.<br />
Im Gegensatz zu den DMV weisen die EMV nach weit verbreiteter M<strong>ein</strong>ung<br />
lediglich <strong>ein</strong> stark defektives Paradigma auf. Abraham (2001) weist auf das<br />
Fehlen <strong>ein</strong>es EMV-Infinitivs hin. Implizit ist auch Vater (1975: 127) dieser<br />
Position sehr nahe, wenn er <strong>ein</strong> Iterationsverbot für EMV annimmt. Diewald<br />
(1999: 25f) hält fest, daß EMV k<strong>ein</strong>e analytischen Tempora bilden und ihre<br />
Präteritalformen streng auf die literarische Erzählform der ”erlebten Rede”<br />
limitiert ist. Ein Verbot der periphrastische Tempora für EMV postulieren auch<br />
Durbin/Sprouse (2001). 37<br />
(3) *Die neue Mannschaft versucht/sch<strong>ein</strong>t/dürfte heute verlieren<br />
könnenEMV/müssenEMV/sollenEMV/wollenEMV/mögenEMV/werdenE<br />
MV.<br />
(4) *Die neue Mannschaft hat/hatte zuvor verlieren<br />
könnenEMV/müssenEMV/sollenEMV/wollenEMV/mögenEMV/werdenEMV.<br />
Ohne eigenständigen Infinitiv kann <strong>ein</strong> EMV auch nie im werden-Futur<br />
stehen. Diese Restriktionen gelten aber nicht un<strong>ein</strong>geschränkt. In <strong>ein</strong>igen<br />
36<br />
Vor voreiligen Generalisierungen im Hinblick auf das Verhältnis zwischen MV und Infinitiv<br />
Perfekt warnen auch Diewald (1999), H<strong>ein</strong>e (1995) und Krause (1997: 94f.).<br />
37<br />
Wie Durbin/Sprouse aber zeigen, betrifft das Periphrase-Verbot nicht die Konjunktivformen<br />
der EMV:<br />
(1) Naja, da hätte sich Peter aber schwer täuschen müssenEMV.<br />
(=D/S 10)<br />
(2)<br />
50
Sonderfällen können EMV <strong>ein</strong>ander <strong>ein</strong>betten beziehungsweise als Infinitiv<br />
auftreten.<br />
(5) Morgen wird er bestimmt wieder etwas Interessantes gehört<br />
haben wollenDMV/EMV. (=OL 2002b)<br />
Ole Letnes (2002b) zieht dieses Beispiel in s<strong>ein</strong>er Untersuchung als<br />
Beispiel dafür heran, um die Verträglichkeit von wollenEMV mit<br />
periphrastischen Tempora zu belegen. Dieses Beispiel über Letnes´<br />
Feststellungen hinaus noch zwei Besonderheiten: <strong>ein</strong>erseits belegt es <strong>ein</strong>en<br />
EMV-Infinitiv, zweitens enthält es <strong>ein</strong>e Lesart in der <strong>ein</strong> EMV (werden) <strong>ein</strong><br />
anderes (wollen) <strong>ein</strong>bettet. Denn schenkt man Vater (1975) Glauben, so<br />
existiert werden nur als EMV. Ist man der anderen Auffassung, daß werden +<br />
INFINITV sowohl in epistemische als auch in nicht-epistemischer Variante<br />
auftritt, so ist zumindest auch die Lesart möglich, in der werden als EMV<br />
verwendet wird. Schließlich läßt es sich ohne große Bedeutungsveränderung<br />
durch das EMV dürfte ersetzen:<br />
(6) Morgen dürfte er bestimmt wieder etwas Interessantes gehört<br />
haben wollenDMV/EMV.<br />
Auch Reis (2001: 294f.) bringt ähnliche Beispiele, die dafür sprechen, daß<br />
die Infinitivlücke bei den EMV k<strong>ein</strong>e absolute Gültigkeit beanspruchen kann.<br />
Erstens lassen sich sollenEMV und wollenEMV aufgrund ihrer eigentümlichen<br />
evidentiellen Semantik definitiv von anderen EMVs <strong>ein</strong>betten. Zweitens<br />
existieren periphrastische Konjunktivkonstruktionen, die <strong>ein</strong> infinites EMV<br />
b<strong>ein</strong>halten können. 38<br />
Andere Autoren, wie Durbin/Sprouse (2001: 141) oder Öhlschläger (1989:<br />
210), führen auch Beispiele anderer Art an, die von der Iterierbarkeit von<br />
EMV zeugen sollen:<br />
38 Siehe Fn. 37.<br />
(7) Der Angeklagte kann der Täter s<strong>ein</strong> müssen. (=GÖ 333)<br />
51
Diese Autoren unterscheiden in ihren Ansätzen 2 Arten von Epistemizität,<br />
von denen die sogenannte objektive Epistemizität <strong>ein</strong>mal iteriert werden<br />
kann, während hingegen die subjektive Epistemizität sich unter k<strong>ein</strong>en<br />
Umständen als Infinitiv <strong>ein</strong>betten läßt. Eine derartige Unterscheidung ist<br />
m<strong>ein</strong>er M<strong>ein</strong>ung nach irreführend, worauf ich im Anschluß noch <strong>ein</strong>gehe.<br />
Ich würde diese Kookurrenz aber anders beurteilen. Ich bezweifle, daß<br />
durch zwei mit <strong>ein</strong>ander kombinierte EMV doppelte Epistemizität ausgedrückt<br />
wird. Vielmehr sehe ich darin <strong>ein</strong>en redundanten Gebrauch von EMV, sodaß<br />
tatsächlich nur <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>zige Epistemizität zum Ausdruck kommt. Anderenfalls<br />
müßte nachstehendes Beispiel auf kaum nachvollziehbare Art und Weise<br />
interpretiert werden:<br />
(8) sie werdenEMV ihn in Leipzig oft genug müssenEMV gesehen<br />
haben, den bösen buben (Lenz ges. schr. (1828: 1, 70) = DWB<br />
Bd. 12, S. 256)<br />
Wie wir gesehen haben, stellt sich die Behauptung, EMV hätten <strong>ein</strong> stark<br />
verarmtes Paradigma, als fragwürdig heraus. Reis (2001: 291ff.) geht in ihren<br />
Ausführungen soweit, daß sie den EMV <strong>ein</strong> komplettes Paradigma<br />
zugesteht, das aber aus semantischen Gründen nur selten voll genutzt wird.<br />
Demgemäß lassen sich die EMV nicht in allen oben diskutierten Belangen<br />
als absolut defektiv beschreiben. Wenn diesen heute auch <strong>ein</strong>ige Tempora<br />
fehlen, verfügen <strong>ein</strong>ige Formen noch über <strong>ein</strong>en Infinitiv. Es handelt sich<br />
hierbei also nicht immer um absolute Lücken, sondern oft nur um Tendenzen<br />
zum Abbau <strong>ein</strong>er speziellen Form.<br />
Im Gegensatz zu den klassischen MV + (nicht) brauchen hat werden +<br />
INFINITIV selbst nicht nur s<strong>ein</strong>e Präteritalform – wie Vater (1975: 127ff.)<br />
berichtet –, sondern auch s<strong>ein</strong>en Infinitiv vollständig verloren. Das läßt<br />
zweierlei Schlüsse zu: <strong>ein</strong>erseits, daß es <strong>ein</strong> hoch grammatikalisierter<br />
Tempusmarker geworden ist, andererseits, daß es sich zu <strong>ein</strong>em hoch<br />
grammatikalisierten, r<strong>ein</strong>en EMV verwandelt hat.<br />
52
Zu den eben beschriebenen morphologischen Besonderheiten der EMV<br />
gesellen sich noch jene, die den MV generell gem<strong>ein</strong> und sie somit nicht von<br />
den DMV unterscheiden. Einen Überblick über jene Kriterien geben unter<br />
anderem Durbin/Sprouse (2001).<br />
2.1.2 Syntaktische Unterschiede.<br />
In der MV-Forschung wurde immer wieder versucht, die verschiedenen<br />
Gebrauchsformen auf wesentliche Unterschiede in ihren syntaktischen<br />
Strukturen zurückzuführen.<br />
Abraham (2001, 2003a,b, 2004) und Diewald (1999) analysieren in der<br />
Tradition von Ross (1969) die DMV durchgängig als Kontrollverben und die<br />
EMV durchgängig als Anhebungsverben. Daß <strong>ein</strong>e derartige Analyse nicht<br />
aufrechtzuerhalten ist, zeigte schon der Abschnitt 1.2.3, der Vorkommen von<br />
DMV in Anhebungskonstruktionen belegt. Abgesehen davon existiert mit<br />
wollenEMV <strong>ein</strong> EMV, das zweifellos <strong>ein</strong> Kontrollverb ist. Erstens geht die<br />
Subjektswahl nicht vom <strong>ein</strong>gebetteten Infinitiv aus, sondern vom MV, wie<br />
(10) beweist, und zweitens besteht darüber hinaus <strong>ein</strong>e thematische Relation<br />
zwischen MV und Matrixsubjekt, die sich folgendermaßen beschreiben läßt:<br />
der Subjektagens besteht darauf, daß die Infinitivhandlung Gültigkeit besitzt.<br />
Auch viele andere Autoren, wie Kiss (1995), Öhlschläger (1989) und Reis<br />
(2001) zählen wollenEMV zu den Kontrollverben.<br />
(9) Der Angeklagte will von all dem nichts gewußt haben.<br />
(10) *Es will geregnet haben.<br />
Diese Annahme wird dadurch gestärkt, daß wollenEMV als <strong>ein</strong>ziges EMV<br />
nicht die Lesart zuläßt, in der das Objekt Skopus über das Subjekt hat.<br />
Sprich: nur (12) kann paraphrasiert werden als: ”Es sch<strong>ein</strong>t daß, jeder<br />
Student von mindestens <strong>ein</strong>em Professor betreut wurde.”<br />
(11) *Ein Professor will jeden Studenten betreut haben.<br />
(12) Ein Professor kann/muß/dürfte/soll/wird jeden Studenten betreut<br />
haben.<br />
53
In Anbetracht dieses Diagnostikums ergibt sich <strong>ein</strong> weiteres Argument<br />
gegen die Annahme, daß alle subjektsindifferenten DMV durchweg zu den<br />
Anhebungsverben zu zählen sind. 39 Während die DMV – wie wir in Abschnitt<br />
1.2.4 bereits gezeigt haben – in SVO-Stellung k<strong>ein</strong>en Skopus des Objekts<br />
über das Subjekt dulden, lassen die EMV <strong>ein</strong>en derartigen Skopuseffekt<br />
ohne weiteres zu. Das deutet darauf hin, daß der syntaktische Status von<br />
DMV und EMV ganz offensichtlich <strong>ein</strong> verschiedener ist. Subjektsindifferente<br />
DMV können somit nicht bedingungslos Anhebungsverben s<strong>ein</strong>, wie es Axel<br />
(2001), Kiss (1995), Öhlschläger (1989) und Reis (2001) vorschlagen.<br />
Genaueres vermag ich, an dieser Stelle über die syntaktischen Unterschiede<br />
zwischen EMV und DMV auchn nicht zu sagen.<br />
Abgesehen von dem wollenEMV (und <strong>ein</strong>em etwaigen möchteEMV), fallen die<br />
restlichen EMV geschlossen unter die Anhebungsverben und können im<br />
Unterschied zu ihren deontischen Gegenstücken niemals als Kontrollverben<br />
auftreten.<br />
Wurmbrand (2001) erwägt <strong>ein</strong>e alternative Variante, in der sie MV in drei<br />
Gruppen teilt: Dynamische MV, die offensichtlich in etwa unseren<br />
subjektssensitiven MV entsprechen und den Kontrollverben zuzurechnen<br />
sind, DMV und EMV. Letztere beide zählt sie geschlossen zu den<br />
Anhebungsverben. Jedes MV erzeugt s<strong>ein</strong>e eigene Projektion, die je nach<br />
dessen Art und der MV-Hierarchie entsprechend (EMV > DMV > DynMV)<br />
verschiedene Positionen im Strukturbaum <strong>ein</strong>nehmen. Da sie aber ihre<br />
Analyse nicht hinreichend expliziert, unter anderem nicht erwähnt, welche<br />
Rolle wollenEMV <strong>ein</strong>nimmt, hat es an dieser Stelle wenig Sinn, sich mit dieser<br />
Theorie weiterhin aus<strong>ein</strong>anderzusetzen. Ganz abgesehen davon verböte<br />
dieser Ansatz <strong>ein</strong>e Einbettung <strong>ein</strong>es Auxiliars unter <strong>ein</strong> MV, egal welchen<br />
Typs, was im Anbetracht der EMV, die präferiert mit Infinitiv Perfekt auftreten,<br />
schon große empirische Probleme bereiten würde. 40<br />
Syntaktische Unterschiede zwischen EMV und DMV dürften aller<br />
Wahrsch<strong>ein</strong>lichkeit nach existieren. Vermutlich bestehen sie unter anderem<br />
auch darin, daß EMV an <strong>ein</strong>er höheren (funktionalen) Projektion<br />
basisgeneriert werden als dies bei den DMV der Fall ist, wie Wurmbrand<br />
(2001) auch annimmt. Wie oben gezeigt wurde verhalten sich EMV und DMV<br />
39 Siehe auch Fn. 27 und Abschnitt 1.2.4.<br />
54
hinsichtlich ihrer semantischen Beziehungen zum Matrixsubjekt, aber<br />
k<strong>ein</strong>eswegs so homogen, wie es sich Wurmbrand vorstellt. Vielmehr<br />
sch<strong>ein</strong>en diese Verschiedenheiten, die im unterschiedlichen Skopusverhalten<br />
von EMV und DMV zum Ausdruck kommen, weitere Anhaltspunkte für <strong>ein</strong>e<br />
syntaktische Unterscheidung s<strong>ein</strong>.<br />
2.1.3 Semantische Unterschiede.<br />
Leichter als die syntaktischen Verschiedenheiten, sind schon die<br />
semantischen zu erfassen. Zwei wesentliche Theorien hat die Forschung<br />
hervorgebracht:<br />
Die <strong>ein</strong>e, unter anderem vertreten von Reisenbichler (1994), grenzt die<br />
EMV von DMV dadurch ab, daß sie für jene <strong>ein</strong>e uniforme Bedeutung<br />
postuliert, während hingegen diese sich durch lexemspezifische Bedeutung<br />
charakterisieren. Diese <strong>ein</strong>heitliche Bedeutung bestünde darin, daß <strong>ein</strong> EMV<br />
immer <strong>ein</strong>e Vermutung des Sprechers zum Ausdruck bringt. Daß diese<br />
Auffassung falsch ist, zeigt nicht nur die eigentümliche Semantik von<br />
wollenEMV und sollenEMV: Beide denotieren die Wiedergabe von indirekter<br />
Rede entweder <strong>ein</strong>es beliebigen Erzählers oder <strong>ein</strong>es solchen der<br />
gleichzeitig das Subjekt des MV-Satzes darstellt.<br />
Als adäquater erweisen sich da Ansätze im Stile von Abraham (2003b) oder<br />
Diewald (1999), in denen EMV noch Reste der ursprünglichen DMV-<br />
Bedeutung widerspiegeln. Diese These wird darüber hinaus durch andere<br />
Konstruktionen empirisch gestützt, denen wir uns in Abschnitt 2.2 zuwenden<br />
werden.<br />
Doch auch derartige Ansätze müssen mit Vorsicht genossen werden, da sie<br />
nicht un<strong>ein</strong>geschränkt richtige Vorhersagen treffen. So enthält dürfteEMV<br />
k<strong>ein</strong>erlei Rückstände von <strong>ein</strong>er Erteilung <strong>ein</strong>er Erlaubnis, und mögenEMV<br />
verweist weder auf Zuneigung noch auf <strong>ein</strong>en Willen. Lösungsvorschläge für<br />
Abweichungen dieser Art bieten die Kapitel 3 und 4 an.<br />
Ein wesentlicher semantischer Unterschied zwischen EMV und DMV<br />
besteht darin, daß sich erstere immer auf die Zeit der Äußerung beziehen. 41<br />
Ein EMV drückt also <strong>ein</strong>e Vermutung des Sprechers oder <strong>ein</strong>en Verweis auf<br />
<strong>ein</strong>e andere Quelle zu genau jenem Zeitpunkt aus, zu der er selbiges<br />
40 Siehe Wurmbrand (2001: 185 ff.).<br />
55
ausspricht. Ein EMV mit Futur- oder Perfektmarkierung würde nun aber<br />
bedeuten, daß <strong>ein</strong>e vergangene oder künftige Vermutung zum<br />
Äußerungszeitpunkt Geltung haben sollte. Und das ist mit Ausnahme der<br />
erlebten Rede nicht möglich, in der <strong>ein</strong> innerer Monolog, der oft EMV enthält,<br />
ins Präteritum gesetzt wird. Daraus leitet sich die Tempusrestriktion für EMV<br />
ab. Von diesem Phänomen ist wollenEMV übrigens wieder <strong>ein</strong>mal<br />
ausgenommen, da es – wie das semantisch nah verwandte behaupten –<br />
weitgehend unabhängig von der Äußerungszeit <strong>ein</strong>gesetzt werden kann.<br />
Im Gegensatz zu den EMV können DMV Modalitäten enkodieren, die vor<br />
dem Äußerungszeitpunkt bereits beendet sind oder erst danach wirksam<br />
werden.<br />
2.1.4 Unterschiede in der Distribution.<br />
Hinsichtlich ihrer Distribution verhalten sich EMV und DMV in höchstem<br />
Maße verschieden. Betrachten wir zunächst die syntaktische und<br />
semantische Umgebung innerhalb des Satzes.<br />
Zum <strong>ein</strong>en haben die Eigenschaften des Infinitivkomplements Einfluß<br />
darauf, ob das MV als EMV oder DMV aufgefaßt wird: so tritt <strong>ein</strong> EMV<br />
meistens mit stativem Infinitiv auf, während <strong>ein</strong> DMV <strong>ein</strong>en perfektiven<br />
Infinitiv mit Handlungssemantik bevorzugt, wie Diewald (1999: 255f.) belegt.<br />
Daraus folgt aber k<strong>ein</strong>eswegs, daß <strong>ein</strong> DMV k<strong>ein</strong>e imperfekten Komplemente<br />
erlaubt. Daß diese Kombination nicht zu den abwegigen zu zählen ist, haben<br />
wir schon in 1.3.2 (Beispiele 59,51) gesehen. Abraham (2001, 2002, 2003a)<br />
und Leiß (2003a,b), die ebenfalls festhalten, daß sich MV in diesem Sinne<br />
aspektsensibel verhalten, vertreten nun die Ansicht, daß EMV terminative<br />
Komplemente prinzipiell verbieten. Ich bezweifle aber, daß diese Forderung<br />
in dieser Rigorosität zutrifft, schließlich lassen sich auch Konstruktionen<br />
finden, wie (13) und (14), die zweifellos <strong>ein</strong> EMV b<strong>ein</strong>halten.<br />
(13) Sie dürfte spätestens in drei Stunden <strong>ein</strong>schlafen.<br />
(14) Euch dürfte ziemlich schlecht werden.<br />
41 Siehe Marga Reis (2001:298).<br />
56
Das alles spricht für H<strong>ein</strong>es (1995) und Diewalds (1999) Ansicht, diese<br />
distributiven Präferenzen von EMV und DMV nicht als absolute<br />
Charakteristika anzusehen, sondern wirklich nur als Tendenzen.<br />
Ebensowenig vermag das Subjekt festzulegen, welche der beiden<br />
Modalitäten nun zum Ausdruck kommt. Zwar bevorzugt <strong>ein</strong> DMV <strong>ein</strong><br />
agentivisches und vor allem <strong>ein</strong> belebtes Subjekt, setzt <strong>ein</strong> solches aber<br />
k<strong>ein</strong>eswegs voraus, wie auch schon Diewald (1999: 255) und H<strong>ein</strong>e (1995)<br />
festgestellt haben.<br />
Auch im Skopusverhalten der Negation treten Unterschiede zwischen DMV<br />
und EMV zu Tage. Während jedes DMV s<strong>ein</strong>e eigenen Präferenzen<br />
hinsichtlich der Wahl des Negationsskopus hat, tendieren alle EMV stark<br />
zum engen Skopus der Negation. Öhlschläger (1989: 207) vertritt sogar die<br />
Ansicht, daß (subjektive) EMV weiten Negationsskopus generell verbieten.<br />
Daß dies nicht un<strong>ein</strong>geschränkt gilt, haben wir aber schon in Abschnitt 1.2.4<br />
gesehen. Diese Neigung der EMV zum engen Negationsskopus hat ihren<br />
ganz <strong>ein</strong>fachen Grund darin, daß <strong>ein</strong> Sprecher viel eher in <strong>ein</strong>e Situation<br />
kommt, in der er Vermutungen über <strong>ein</strong>e negierte Handlung anstellt, als in<br />
<strong>ein</strong>e Situation, in der er das Vermuten selbst negiert. In solchen Fällen würde<br />
er im Normalfall auf den Gebrauch <strong>ein</strong>es EMV verzichten. Der Vollständigkeit<br />
halber noch <strong>ein</strong> Beispiel, in dem durch weiten Skopus die Epistemizität<br />
negiert wird.<br />
(15) Sie [DÜRFTEN ihn nicht] festgenommen haben, sie haben ihn<br />
tatsächlich geschnappt.<br />
Nichtsdestotrotz lassen sich Beispiele finden, in denen <strong>ein</strong> negiertes EMV<br />
auftritt, ohne daß aber s<strong>ein</strong>e Epistemizität negiert ist. 42<br />
42 Öhlschläger (1989: 208) behauptet, es kann k<strong>ein</strong> subjektives EMV müssen mit<br />
morphologischer Negation geben, da k<strong>ein</strong> entsprechendes epistemisches Adverb mit<br />
morphologischer Negation existiert. nicht können hingegen hat in unmöglich und dürfte nicht in<br />
unwahrsch<strong>ein</strong>lich s<strong>ein</strong> Äquivalent. Ich halte diese Argumentation für nicht stichhaltig, deswegen<br />
57
(16) a. Der Koffer [muß/braucht nicht] verschwunden s<strong>ein</strong>. (Er kann<br />
noch hier s<strong>ein</strong>.)<br />
b. Der Koffer kann [nicht verschwunden s<strong>ein</strong>].<br />
c. Der Koffer [muß/*braucht] nicht verschwunden s<strong>ein</strong>.<br />
(17) a. Der Koffer [kann nicht] verschwunden s<strong>ein</strong>. (Er muß noch hier<br />
s<strong>ein</strong>.)<br />
b. Der Koffer muß [nicht verschwunden s<strong>ein</strong>].<br />
In (16) und (17) liegen ausschließlich EMV vor. Dennoch verhalten sie sich<br />
hinsichtlich ihres Negationsverhalten exakt wie DMV. Anstelle den engen<br />
Skopus der Negation zu wählen, nehmen sie jenen Negationsskopus, den ihr<br />
deontisches Äquivalent bevorzugt. müssen und können konstruieren als<br />
DMV vor allem mit weitem Negationsskopus, (nicht) brauchen ist sogar nur<br />
mit diesem möglich (16a/c). Auch zu <strong>ein</strong>ander stehen diese negierten<br />
epistemischen Varianten von können, müssen und (nicht) brauchen im<br />
selben Verhältnis wie ihre deontischen Geschwister. [nicht können] läßt sich<br />
ersetzen durch [[nicht] müssen] und [nicht müssen] und [nicht brauchen]<br />
durch [[nicht] können], siehe (16a/b) und 17(a/b). Im Unterschied zu (15)<br />
bleibt die Epistemizität unnegiert.<br />
Öhlschläger (1989:208) gesteht <strong>ein</strong>, daß dieses Phänomen auch für die<br />
subjektive Epistemizität gilt. Um das Verbot der weiten Negation für EMV<br />
weiterhin aufrecht zu erhalten, ist er gezwungen, davon auszugehen, daß in<br />
den oben illustrierten Fällen Negationspartikel und Verb zusammen <strong>ein</strong><br />
eigenständiges Lexem ergeben. Das ist auch plausibel, da in diesen Sätzen<br />
die Epistemizität Skopus über die Negation hat und nicht umgekehrt.<br />
Grundsätzlich bestehen zwei Möglichkeiten, diesen Konflikt zu lösen:<br />
entweder man dehnt Abrahams (2003b) These, EMV spiegeln Reste der<br />
DMV-Bedeutung wieder, dahingehend aus, daß sich auch das Verhalten der<br />
Negation der EMV von ihren DMV Äquivalenten herleitet. In diesem Lichte<br />
erschiene dann <strong>ein</strong>e These im Sinne Öhlschlägers, EMV verbieten weite<br />
Negation, nicht mehr haltbar. Oder man geht davon aus, daß EMV in ihren<br />
unmarkierten Vorkommen tatsächlich nur den engen Skopus dulden, wie es<br />
scheue ich mich nicht, nicht müssen und nicht brauchen hinzuziehen, während ich dürfte<br />
weglasse, da es mir in diesem Gebrauch völlig fremd ist.<br />
58
für die meisten EMV oder ihnen nahestehenden Verben, wie drohen, werden<br />
oder sch<strong>ein</strong>en ohnehin der Fall ist. Dann aber müssen die oben diskutierten<br />
MV von den EMV zu unterscheiden s<strong>ein</strong>. Ich halte mich an dieser Stelle mit<br />
etwaigen Bewertungen zurück und überlasse das künftigen Untersuchungen.<br />
Die Distributionspräferenzen von EMV und DMV beschränken sich aber<br />
nicht nur auf ihre unmittelbare syntaktische Umgebung. Auch der Satztypus<br />
spielt unter anderem <strong>ein</strong>e Rolle. Im Gegensatz zu DMV sind EMV in<br />
Fragesätzen so gut wie ausgeschlossen, wie auch schon H<strong>ein</strong>e (1995),<br />
Diewald (1999) und Reis (2001) gezeigt haben. 43<br />
(18) a. Wohin *muß/*dürfte/??mag/*wird er s<strong>ein</strong>en Schlüssel gelegt<br />
haben?<br />
b. Wohin ?will/?soll sie ihren Schlüssel gelegt haben?<br />
c. Wohin kann ich m<strong>ein</strong>en Schlüssel gelegt haben?<br />
Unter der Vorraussetzung, daß man (18) nicht als Echofrage interpretiert,<br />
denn solche erlauben durchweg die Einbettung von Epistemizität, sind hier<br />
die klassischen EMV sämtlich ausgeschlossen. Das davon abweichende<br />
Verhalten von (18b) läßt sich auf die spezielle Semantik von sollenEMV und<br />
wollenEMV zurückführen. Letzteres ist uns schon des öfteren ob s<strong>ein</strong>es<br />
untypischen EMV-Verhalten ins Auge gestochen. Wie ist aber (18c) zu<br />
beurteilen? Liegt hier <strong>ein</strong> epistemischer Gebrauch von können in <strong>ein</strong>em<br />
Fragesatz vor, der sich <strong>ein</strong>deutig auch nicht als Echofrage interpretieren<br />
läßt? N<strong>ein</strong>, denn offensichtlich darf können mit imperfektivem Komplement<br />
grundsätzlich in Fragesätzen ersch<strong>ein</strong>en, was für die EMV grundsätzlich fast<br />
nie erlaubt ist. Mehr Plausibilität hat da schon der Ansatz, diese Variante von<br />
können als DMV zu betrachten. Und tatsächlich handelt es sich hierbei um<br />
jene DMV-Variante, die dem im Kapitel 1 oft erwähnten Fähigkeits-können<br />
gegenübersteht, nämlich um das subjektindifferente können (siehe Abschnitt<br />
1.2.3). Wir dürfen uns nicht vom Infinitiv-Perfekt irreführen lassen, denn<br />
dieser kann auch von DMV <strong>ein</strong>gebettet werden:<br />
43<br />
Inwieweit sich EMV doch in Fragesätze <strong>ein</strong>betten lassen, hängt offensichtlich nicht nur vom<br />
jeweiligen Lexem ab, sondern vor allem davon, um welchen Typus von Frage es sich genau<br />
handelt. mir sch<strong>ein</strong>t es gefährlich zu s<strong>ein</strong>, alle Fragetypen in diesem Aspekt gleich zu<br />
behandeln.<br />
59
(19) D.h. dag kann das gar nicht so im ORF-Frühradio gehört haben.<br />
(Der Standard 21.01. 2004)<br />
Auch wenn sich dann zugegebenermaßen im Falle von können DMV und<br />
EMV kaum noch unterscheiden lassen, abgesehen davon, daß nur letztere<br />
im Fragesatz akzeptabel sind. Interessanterweise tritt auch ver<strong>ein</strong>zelt bei<br />
mögen <strong>ein</strong> ähnliches Verhalten zu Tage:<br />
(20) Wer mag/kann das gewesen s<strong>ein</strong>?<br />
(21) Wer mag/kann der Herr wohl von diesem Häuschen s<strong>ein</strong> ?<br />
Diese Ähnlichkeit sollte uns eigentlich wenig wundern, da mögen lange Zeit<br />
zum Ausdruck <strong>ein</strong>er abstrakten Möglichkeit herangezogen wurde, also die<br />
gleiche Funktion inne hatte, wie das gwd DMV können. Die Verwendungen in<br />
(20) und (21) sind in diesem Sinne Reminiszenzen s<strong>ein</strong>er früheren Semantik.<br />
Es ist offensichtlich genau dieser Gebrauch von können, der vielfach und<br />
irreführenderweise als objektiv epistemischer Gebrauch bezeichnet wurde –<br />
wie von Öhlschläger (1989). Diese Behauptung ist mit dem Problem<br />
konfronitiert, zu erklären, worin der Unterschied zwischen objektiv<br />
epistemischen können und DMV können besteht. Ich habe k<strong>ein</strong>en gefunden,<br />
weshalb ich zumindest für können k<strong>ein</strong>e objektiv epistemische Lesart<br />
annehme.<br />
Trotzdem kann die Behauptung, daß EMV sich prinzipiell nie mit<br />
Fragesätzen vertragen, nicht aufrechterhalten werden. Je nach Typ der<br />
Frage und Eigenheiten des Lexems sind gewisse Kombinationen zulässig.<br />
Reis (2001:296f) postuliert für die EMV <strong>ein</strong>e assertive Restriktion mit<br />
unscharfen Rändern, die je nach EMV differieren. Daß Epistemizität aber<br />
dennoch mit Fragesätzen schwerlich in Einklang zu bringen ist, zeigt der<br />
Umstand, daß sich auch epistemische Satzadverbien nicht in solche Sätze<br />
<strong>ein</strong>betten lassen.<br />
(22) *Wohin habe ich vielleicht/wahrsch<strong>ein</strong>lich/sicher m<strong>ein</strong>en<br />
Schlüssel gelegt?<br />
60
Als weitere distributive Restriktion führen Diewald (1999: 82-84) und<br />
Öhlschläger (1989: 209) an, daß subjektive EMV (=EMV in unserem Sinne)<br />
nicht <strong>ein</strong>gebettet werden können. Reis (2001: 297), die nicht zwischen<br />
objektiven und subjektiven EMV unterscheidet, macht die Beschränkung vom<br />
Typ des Komplementsatzes abhängig: Während unter Glaubens-, Sagensund<br />
inferentiellen Prädikaten <strong>ein</strong>gebettete Gliedsätze sich mit EMV<br />
kompatibel erweisen, sind diese in den anderen Arten von Nebensätzen<br />
weitgehend ausgeschlossen.<br />
Auch wenn sich in diesem Abschnitt kaum <strong>ein</strong>e Distribution als derartig<br />
erwiesen hat, daß sie nur <strong>ein</strong>e der beiden Modalitäten zuläßt, so haben wir<br />
zahlreiche distributiven Kriterien kennen gelernt, die von DMV<br />
beziehungsweise EMV bevorzugt werden. Absolute Diagnostika sch<strong>ein</strong>t es<br />
auch hier nicht wirklich zu geben, bestenfalls von verschieden starken<br />
distributiven Präferenzen kann die Rede s<strong>ein</strong>.<br />
2.1.5 Arten von Epistemizität.<br />
In den letzten Abschnitten war des öfteren von <strong>ein</strong>er Unterteilung in<br />
objektive und subjektive EMV die Rede. An dieser Stelle suchen wir nach<br />
etwaigen Gründen für diese Trennung und prüfen deren Stichhaltigkeit.<br />
Während sich zahlreiche Autoren, wie Diewald (1999) oder Öhlschläger<br />
(1989) zwar dieser Unterteilung der deutschen MV in DMV, objektive EMV<br />
und subjektive EMV angenommen haben, besteht weiterhin Unklarheit über<br />
deren genauen Status. Öhlschläger und Durbin/Sprouse (2001) auf der <strong>ein</strong>en<br />
Seite rücken sie eher in die Nähe der subjektiven EMV, Diewald (1999) auf<br />
der anderen Seite zählt sie zu den nicht-deiktischen MV, die eher den hier<br />
als DMV identifizierten MV entsprechen. 44<br />
Worin besteht nun die Idee der Unterteilung? Öhlschläger (1989) und<br />
Diewald (1999) haben bemerkt, daß sich <strong>ein</strong>e Reihe von MV in typischen<br />
EMV-Distributionen in manchen Punkten unterschiedlich verhalten als die<br />
meisten anderen modalen Lexemen in derartigen Kontexten. Die beiden<br />
Autoren gehen folglich davon aus, daß hier zwei verschiedene Arten von<br />
44 Diese Zuordnung ist aber alles andere als genau, da Diewald ihre Unterscheidung anhand<br />
des Kriteriums der Deiktizität vornimmt. Unter den deiktischen MV versteht sie lediglich jene<br />
Lexeme, mittels derer sich der Sprecher vom Wahrheitsgehalt der Infinitivhandlung distanziert.<br />
Wir hingegen unterscheiden die EMV von den DMV anhand ihrer verblaßten Semantik.<br />
61
EMV vorliegen müssen. Die objektiven EMV kodieren <strong>ein</strong>en logischen<br />
Schluß aus Evidenz und beruhen somit auf Tatsachen – der Zusammenhang<br />
zwischen Sachlage und Möglichkeit der Proposition ist für jeden zugänglich.<br />
Die subjektiven EMV hingegen b<strong>ein</strong>halten <strong>ein</strong>e Faktizitätsbewertung der<br />
Proposition durch den Sprecher. Diewald nimmt an, daß die objektiven EMV<br />
zum propositionalen Gehalt der Äußerung gehören, während subjektive EMV<br />
die gesamte Proposition inklusive alle ihre Modalisierungen erfaßt.<br />
Subjektive EMV kodieren die Distanz des Sprechers zum Gehalt der<br />
Proposition. Öhlschläger (1989: 207ff.) folgert daraus, daß sich bestimmte<br />
Kontexte nicht mit der Kodierung <strong>ein</strong>er Bewertung durch den Sprecher<br />
vertragen. In solchen Kontexten sind also bestenfalls DMV oder objektive<br />
EMV anzutreffen. Im Anschluß folgt <strong>ein</strong>e kritische Auss<strong>ein</strong>andersetzung mit<br />
diesen Vorschlägen Öhlschlägers.<br />
Erstens behauptet Öhlschläger, daß nur objektive EMV den Hauptakzent<br />
tragen können. Diese Behauptung kann so nicht aufrechterhalten werden.<br />
Einerseits lassen sich Situationen finden, in denen der Akzent dazu<br />
verwendet kann, um des Sprechers Vermutung Nachdruck zu verleihen, was<br />
vor allem dann auftreten kann, wenn die Vermutung vom Gesprächspartner<br />
schon bezweifelt worden ist, siehe (23). Andererseits benötigen die von<br />
Öhlschläger als EMV klassifizierten Verben gerade den Hauptakzent dazu,<br />
um die ambige Negationspartikel auf sich zu beziehen, wenn sie mit<br />
“morphologischer” Negation konstruieren (24). Darüber hinaus sind noch<br />
Beispiele denkbar, in denen nur die epistemische Funktion negiert wird<br />
(siehe 1.2.4 Beispiele (38) und (39), sowie Fußnote 25) .<br />
(23) Er WIRD ihn gesehen haben. Ich kann mir gar nichts anderes<br />
vorstellen.<br />
(24) Er MUSS/KANN/BRAUCHT ihn nicht gesehen haben.<br />
(25) Du MUSST/??WIRST/??DÜRFTEST/?KANNST ihn gesehen<br />
haben.<br />
Daß in (25) müssen an dieser Stelle am besten verträglich ersch<strong>ein</strong>t, ist<br />
offenbar auf Idiosynkrasien zurückzuführen. Einerseits sind die<br />
verschiedenen Lexeme in verschiedenem Grade akzeptabel, <strong>ein</strong>zig mit<br />
müssen liegt <strong>ein</strong> reibungsloser Satz vor. Daß dieses müssen hier aber<br />
62
k<strong>ein</strong>eswegs nach obiger Definition objektiv epistemisch s<strong>ein</strong> kann, legt der<br />
Umstand nahe, daß es hier k<strong>ein</strong>eswegs <strong>ein</strong>en logischen Schluß aus Evidenz<br />
denotiert, der jedermann zugänglich ist. Vielmehr verhält es sich<br />
diesbezüglich genau wie das unbetonte müssen: es kodiert nämlich <strong>ein</strong>e<br />
Annahme des Sprechers. Der <strong>ein</strong>zige Unterschied der hier durch die<br />
Akzentverschiebung ausgelöst wird, besteht darin, daß durch die Betonung<br />
der Vermutung mehr Nachdruck verliehen wird.<br />
Zweitens postuliert Öhlschläger, daß die subjektiven EMV niemals negiert<br />
ersch<strong>ein</strong>en können. Dadurch daß er aber selbst <strong>ein</strong>räumt, daß <strong>ein</strong>e Quasi-<br />
Form des weiten Negationsskopus auch bei den subjektiven EMV möglich<br />
ist, beraubt er sich <strong>ein</strong>es der wenigen Argumente, die für <strong>ein</strong>e Unterteilung<br />
der epistemischen Lesart sprechen. Auf die Problematik, die aus der<br />
Annahme der Möglichkeit <strong>ein</strong>es weiten Negationsskopus für die EMV<br />
enspringt, habe ich schon in Abschnitt 2.1.4. aufmerksam gemacht. Da in<br />
diesen Fällen Epistemizität ganz klar Skopus über die Negation hat, tendiere<br />
ich zu <strong>ein</strong>em Ansatz, der diese als <strong>ein</strong>e Art morphologische Negation<br />
betrachtet. Im Unterschied zu Öhlschläger sehe ich dann k<strong>ein</strong>e<br />
Notwendigkeit mehr, noch <strong>ein</strong>e weitere Art von MV anzunehmen. Denn mit<br />
obenstehender Analyse lassen sich alle epistemischen Vorkommen von MV<br />
als subjektive EMV adäquat erfassen. Eine zweite Art von fast<br />
bedeutungsgleichen MV anzunehmen erwiese sich angesichts dessen als<br />
überflüssig.<br />
Öhlschläger führt noch drei weitere Kriterien an: subjektive EMV können<br />
niemals im Skopus von Einstellungsausdrücken stehen, nie in<br />
Konditionalsätzen auftreten und sind nie direkt kommentierbar. Für mich sind<br />
aber Öhlschlägers objektive und subjektive EMV in derartigen Kontexten<br />
gleich gut beziehungsweise schwer verträglich, bis auf die Ausnahme von<br />
<strong>ein</strong>er bestimmten Gebrauchsweise von können, auf die ich noch<br />
zurückkomme.<br />
Öhlschläger (1989: 207ff.) findet drei Lexeme, auf die s<strong>ein</strong>e fünf Kriterien<br />
anwendbar sind: können, dürfen, müssen. Diesen drei MV gesteht<br />
Öhlschläger <strong>ein</strong>e objektiv-epistemische Lesart zu. S<strong>ein</strong>e Beweisführung ist<br />
aber leicht trügerisch. Diesen drei Lexemen stellt er <strong>ein</strong>zig und all<strong>ein</strong> magEMV<br />
gegenüber, das nie als objektives EMV auftritt. Trifft <strong>ein</strong> Kriterium auf dieses<br />
63
EMV nicht zu, verallgem<strong>ein</strong>ert Öhlschläger dessen Gültigkeit gleich für alle<br />
EMV. Öhlschläger übersieht aber, daß die Semantik von magEMV zum Teil<br />
hochmarkiert, zum Teil archaisch ist, sodaß sich die Unverträglichkeiten mit<br />
s<strong>ein</strong>en Kriterien nicht selten daraus ergeben. 45<br />
Diewald (1999: 82f.) stimmt mit den obigen Kriterien zur Charakterisierung<br />
der objektiv-epistemischen Lesart im Großen und Ganzen über<strong>ein</strong>.<br />
Gesonderte Beachtung verdient der Umstand, daß sie ihre Diagnostika<br />
ausschließlich anhand von können expliziert. So ist es wenig verwunderlich,<br />
daß sie noch weitere Kriterien zur Unterscheidung von subjektiver und<br />
objektiver EMV hinzufügen kann: nämlich daß subjektive EMV weder<br />
<strong>ein</strong>bettbar noch erfragbar sind. Denn dieses können, das sie für ihre<br />
Beweisführung heranzieht, ist ganz klar <strong>ein</strong> DMV, wie wir in 2.1.4 schon<br />
gesehen haben (Beispiele 18a-c). Es wird schwer s<strong>ein</strong>, andere MV-Lexeme<br />
zu finden, die in dem Maße Diewalds Kriterien für objektive Epistemizität<br />
erfüllen. Der Grund warum dieser DMV-Gebrauch von können zu den EMV<br />
gerechnet wird, liegt offenbar darin, daß die deontische Bedeutung kaum von<br />
der epistemischen zu trennen ist. Somit unterscheidet sich der hier<br />
vertretene Ansatz mit jenem Diewalds eigentlich nur durch unterschiedliche<br />
Terminologie. Ihre objektiven EMV entsprechen dem hiesigen unmarkierten<br />
DMV-Gebrauch von können.<br />
Anders verhält sich die Sache bei Öhlschläger. Gehen wir davon aus, daß<br />
s<strong>ein</strong> objektiv epistemisches können unserem DMV-können gleichkommt,<br />
verbleiben noch zwei weitere Lexeme, denen er <strong>ein</strong>e objektiv-epistemische<br />
Lesart unterstellt: dürfte und müssen. Abgesehen davon, daß diese nie in<br />
echten Fragesätzen auftreten, unterscheiden sie sich auch in <strong>ein</strong>em weiteren<br />
Punkt von dem verm<strong>ein</strong>tlich objektiv-epistemischen können: sie sind beide<br />
(subjektive) EMV. Der <strong>ein</strong>zige Unterschied in Öhlschlägers (1989: 192ff.)<br />
Ausführungen zwischen den subjektiv-epistemischen und den objektivepistemischen<br />
Vorkommen von dürfte und müssen liegt letzten Endes darin,<br />
daß er sie verschieden paraphrasiert. Während er die beiden objektiven EMV<br />
müssen und dürfte als logische Folge (mit <strong>ein</strong>er gewissen<br />
Wahrsch<strong>ein</strong>lichkeit) aus <strong>ein</strong>er Evidenz umschreibt, deren Ergebnis der Inhalt<br />
der Infinitivhandlung ist, charakterisiert er deren subjektiv-epistemischen<br />
45 Zur Semantik von magEMV siehe Diewald (1999: 236ff.) und Fritz (1997: 95).<br />
64
Gebrauch als verschieden starke Vermutung des Sprechers, daß <strong>ein</strong><br />
Sachverhalt besteht. Ich halte <strong>ein</strong>e derartige Unterscheidung, wie oben<br />
schon angedeutet für nicht plausibel: Nicht nur, daß diese verschiedenen<br />
Paraphrasierungen in den unterschiedlichen Kontexten nach m<strong>ein</strong>em<br />
Beurteilungsvermögen immer im gleichen Maße verträglich oder<br />
unverträglich sind, gewissermaßen ist auch der Bedeutungsunterschied<br />
zwischen den beiden Paraphrasierungen verschwindend gering. Denn <strong>ein</strong><br />
Sprecher, der <strong>ein</strong>e Vermutung anstellt, tut dies genauso aufgrund irgend<strong>ein</strong>er<br />
Evidenz und aufgrund mehr oder weniger logischer Prinzipien – also analog<br />
zu Öhlschlägers objektiver Epistemizität.<br />
Auch die Annahme, objektive Epistemizität zeichnet sich dadurch aus, daß<br />
der logische Schluß und die Evidenz allgem<strong>ein</strong> zugänglich ist und allgem<strong>ein</strong><br />
geteilt wird, kann unserer Analyse nicht standhalten. Wie wir oben gesehen<br />
haben, korreliert die allgem<strong>ein</strong>e Zugänglichkeit des logischen Schlusses<br />
eben nicht mit den postulierten syntaktischen Besonderheiten der objektivepistemischen<br />
MV. Denn es lassen sich Sätze wie (25) finden, in denen das<br />
EMV zwar den Satzakzent trägt, aber deswegen k<strong>ein</strong>en allgem<strong>ein</strong><br />
zugänglichen Schluß enkodiert. Schließlich gesteht Öhlschläger (1989: 210)<br />
noch weitere Schwierigkeiten <strong>ein</strong>, die s<strong>ein</strong>e Unterscheidung in objektive und<br />
subjektive EMV beschert: <strong>ein</strong>erseits nimmt er diese Trennung aufgrund von<br />
Einstellungsausdrücken (Satzadverbien etc.) vor, die <strong>ein</strong>e den subjektiven<br />
EMV entsprechende Bedeutung haben, auf der anderen Seite können diese<br />
durchwegs genau in jenen fünf Kontexten stehen, in denen er die subjektiven<br />
EMV kategorisch ausschließt. Darum plädiere ich für Analysen, wie jene<br />
Reis´ (2001), die nahelegt, daß sich EMV k<strong>ein</strong>eswegs so homogen verhalten<br />
müssen, wie es aussieht.<br />
Wenn von verschiedenen Arten von Epistemizität die Rede ist, muß im<br />
Falle der MV noch <strong>ein</strong> weiteres Problem berücksichtigt werden. Es stellt sich<br />
nämlich die Frage, inwieweit die nicht-deontischen Varianten von wollen und<br />
sollen ob ihrer eigentümlichen Semantik überhaupt zu den EMV gezählt<br />
werden können. Während die anderen nicht-deontischen Lexeme <strong>ein</strong>e<br />
epistemische Lesart im klassischen Sinne besitzen, das heißt <strong>ein</strong>en<br />
verschieden starken Grad <strong>ein</strong>er Vermutung ausdrücken, verhalten sich die<br />
nicht-deontischen Verwendungen von wollen und sollen deutlich anders.<br />
65
Diese verweisen nämlich darauf, daß nicht der Sprecher der Urheber der<br />
Proposition ist, sondern jemand anders. Im Falle von wollen ist diese andere<br />
Person notwendigerweise mit Satzsubjekt ident, im Falle von sollen<br />
notwendigerweise von diesem verschieden. Diewald (1999: 136&225ff.)<br />
begründet diese markante Abweichung dieser beiden E(?)MV damit, daß ihre<br />
modale Quellen beide <strong>ein</strong> volitives Element enthalten: <strong>ein</strong>mal ist der Wille<br />
des Satzsubjekts involviert, das andere Mal <strong>ein</strong> fremder.<br />
Doch ist es vor allem wollen, das uns schweres Kopfzerbrechen bereitet: im<br />
Unterschied zu allen übrigen EMV ist es klar Kontrollverb, kann es<br />
problemlos erfragt werden (26, 27) und ohne weiteres weiten<br />
Negationsskopus tragen (28).<br />
(26) Was wollen die denn schon darüber wissen?<br />
(27) Will sie ihn schon gesehen haben?<br />
(28) Er [will nicht] dort gewesen s<strong>ein</strong>. Das hat er nie behauptet.<br />
Das alles spricht tatsächlich dafür, zumindest wollen nicht zu den EMV zu<br />
zählen. Gestärkt wird diese Annahme dadurch, daß in anderen Sprachen<br />
Verben mit <strong>ein</strong>er wollen entsprechenden Bedeutung gar nicht zu den MV<br />
gezählt werden, wie im Englischen. 46 Darüber hinaus tritt offensichtlich<br />
vergleichbare ”Polyfunktionalität” (?) auch in Wendungen mit ähnlicher<br />
Bedeutung auf:<br />
(29) Ihm ist wichtig, in <strong>Berlin</strong> studiert zu haben.<br />
(i) Denn für s<strong>ein</strong>e persönliche Entfaltung war dies unabdingbar.<br />
Implikation: er hat wirklich dort studiert.<br />
(ii) Er legt Wert darauf, daß wir von ihm denken, er habe in <strong>Berlin</strong><br />
studiert. Ob er es wirklich getan hat, bleibt offen.<br />
So gesehen könnte man m<strong>ein</strong>en, daß wollen + INFINITIV PERFEKT gar<br />
k<strong>ein</strong> epistemischer Gebrauch ist, sondern dem <strong>ein</strong>fachen Vollverbgebrauch<br />
zuzurechnen ist.<br />
46 Siehe Abraham (2001), Classen (1987).<br />
66
Dennoch sollten wir bedenken, was <strong>ein</strong> Aberkennen <strong>ein</strong>er epistemischen<br />
Lesart von wollen im weiteren Sinne für Implikationen hat. Ohne dieser<br />
zweiten Lesart kann es nicht mehr als polyfunktional erachtet werden, sprich<br />
wir könnten es nicht mehr zu den MV zählen. Je nachdem wie eng man die<br />
epistemische Lesart definiert, könnte dieser Funke auch auf sollen<br />
überspringen und auch dieses Lexem aus dem Kreise der MV verbannen.<br />
Wir bleiben aber lieber vorerst bei der in Kapitel 1 vorgeschlagenen Gruppe<br />
an Lexemen und halten uns an die These, die Abraham (2003b) und Diewald<br />
(1999) vorgeschlagen haben, daß nämlich EMV die Kernbedeutung s<strong>ein</strong>es<br />
äquivalenten DMV widerspiegelt. Wenn man diese These auf syntaktische<br />
Aspekte ausweitet, so können wir auch <strong>ein</strong>e Reihe von anderen Problemen<br />
erklären: das augensch<strong>ein</strong>liche Kontrollverhalten von wollenEMV oder das<br />
merkwürdige Negationsverhalten von könnenEMV und müssenEMV.<br />
Zusammenfassung.<br />
In diesem Abschnitt haben wir uns mit der Abgrenzung der DMV von den<br />
EMV beschäftigt und sind zu folgendem Ergebnis gekommen. Zwischen<br />
EMV und DMV bestehen gewisse Unterschiede, die sich aber in den meisten<br />
Fällen nicht durch absolute Verallgem<strong>ein</strong>erungen erfassen lassen, sondern<br />
vielmehr in verschieden starken Präferenzen zum Ausdruck kommen.<br />
Das läßt sich darauf zurückführen, daß zum Beispiel gewisse Formen der<br />
EMV nicht <strong>ein</strong>fach im morphologischen Paradigma fehlen, sondern aus<br />
pragmatischen und semantischen Gründen sehr selten oder so gut wie nie<br />
zum Einsatz kommen. Das trifft zum Beispiel auf den Infinitiv der EMV zu,<br />
wie Reis (2001) gezeigt hat. Ähnliches gilt für die Unterschiede in der<br />
Distribution; auch diese sind nicht zwangsläufig syntaktisch festgelegt,<br />
sondern oft darauf zurückzuführen, daß bestimmte Kombinationen aus<br />
semantischen Gründen sehr selten verwendet werden.<br />
Dennoch lassen sich die EMV klar von den DMV abgrenzen. Im<br />
Unterschied zu diesen bevorzugen EMV imperfektive Komplemente, und ihre<br />
Vorkommen beschränken sich vor allem auf assertive Kontexte. Eine weitere<br />
Einsicht von Abschnitt 2.2 besteht darin, daß sich EMV bei weitem nicht als<br />
homogene Klasse verhalten, sondern viele Lexeme ihre Eigenheiten haben.<br />
Das läßt sich aber darauf zurückführen, daß sie offenbar ihre zentralen<br />
67
Eigenschaften von der deontischen Vollform geerbt haben. Außerdem erwies<br />
sich <strong>ein</strong>e Unterteilung der epistemischen Interpretation in objektivepistemische<br />
und subjektiv-epistemische Lesart als unscharf und damit nicht<br />
notwendig.<br />
2.2 Andere Formen von Polyfunktionalität?<br />
Da wir nun wissen, worin das Wesen der EMV und somit auch der<br />
Polyfunktionalität besteht, können wir uns jenen Verben zuwenden, die so oft<br />
mit den (E)MV und Polyfunktionalität in Verbindung gebracht werden:<br />
sch<strong>ein</strong>en, versprechen, drohen, von manchen Autoren, wie Wurmbrand<br />
(2001: 205) sogar explizit als EMV bezeichnet werden. Im Anschluß ermitteln<br />
wir, inwieweit diese Verben die wesentlichen MV-Eigenschaften aufweisen.<br />
Darauf folgt <strong>ein</strong>e Aus<strong>ein</strong>andersetzung mit den epistemischen<br />
Verwendungsweisen dieser drei Verben.<br />
2.2.1 Zählen ”sch<strong>ein</strong>en”, ”versprechen”, ”drohen” zu den MV?<br />
Im Kapitel 1 haben sich vor allem zwei Kriterien als wesentlich für die MV<br />
herausgestellt: obligatorische Kohärenz (FR) und Polyfunktionalität, wovon<br />
wir letzteres als das eigentliche klassenkonstituierende Merkmal angesehen<br />
haben. Beginnen wir auch mit diesem:<br />
(30) Die Abgesandte droht zu spät zu kommen.<br />
(i) Die Abgesandte droht: ”Ich komme zu spät.”<br />
(ii) Es droht die Situation, daß die Abgesandte zu spät kommt.<br />
(31) Die Abgesandte verspricht pünktlich zu ersch<strong>ein</strong>en.<br />
(i) Die Abgesandte verspricht: ”Ich ersch<strong>ein</strong>e pünktlich.”<br />
(ii) Alle Evidenz verspricht, daß die Abgesandte pünktlich ersch<strong>ein</strong>t.<br />
(32) Die Abgesandte sch<strong>ein</strong>t morgen zu kommen.<br />
(i) *Die Abgesandte sch<strong>ein</strong>t: ”Ich komme morgen.”<br />
(ii) Es hat den Ansch<strong>ein</strong>, daß die Abgesandte morgen kommt.<br />
Während drohen und versprechen tatsächlich zwei verschiedene<br />
Gebrauchsformen mit Infinitiv aufweisen – von denen <strong>ein</strong>e Ähnlichkeiten mit<br />
68
der epistemischen Lesart hat –, gilt das für sch<strong>ein</strong>en <strong>ein</strong>deutig nicht. Somit<br />
kommen nur noch erstere als MV in Frage. Deswegen kann sch<strong>ein</strong>en nach<br />
unserer Definition aufgrund der fehlenden Polyfunktionalität nicht<br />
hinzugezogen werden. Der selben Auffassung ist Reis (2001: 312). Der<br />
Grund für diesen Unterschied ist darin zu suchen, daß sch<strong>ein</strong>en + INFINITIV<br />
im Gegensatz zu drohen und versprechen niemals als Vollverb mit eigener<br />
Thetazuweisung verwendet werden konnte. Zur Sicherheit und wegen s<strong>ein</strong>er<br />
dennoch großen Ähnlichkeit zu den (E)MV schließen wir aber sch<strong>ein</strong>en noch<br />
nicht aus unserem Vergleich aus.<br />
Eine weitere Eigenschaft, die sich für die MV als unentbehrlich erwies, stellt<br />
die obligatorische Kohärenz dar, die in ihrem Falle durch die Rektion des<br />
ersten Status ausgelöst wird. 47<br />
(33) a. daß die Abgesandte droht, zu spät zu kommen.<br />
(*epistemisch)<br />
b. daß die Abgesandte zu spät zu kommen droht.<br />
(34) a. daß die Abgesandte verspricht, pünktlich zu ersch<strong>ein</strong>en.<br />
(*epistemisch)<br />
b. daß die Abgesandte pünktlich zu ersch<strong>ein</strong>en verspricht.<br />
(35) a. *daß die Abgesandte sch<strong>ein</strong>t, morgen zu kommen.<br />
b. daß die Abgesandte morgen zu kommen sch<strong>ein</strong>t.<br />
Zwar verhalten sich die ”epistemischen” Varianten dieser Verben ebenso<br />
wie die richtigen EMV obligatorisch kohärent, was aber nicht dazu verleiten<br />
darf, jene vorschnell den MV zuzurechnen. Zumindest zwei Aspekte trennen<br />
diese Verben von den bisherigen MV:<br />
Erstens konstruieren die nicht-epistemischen Formen von drohen und<br />
versprechen im Gegensatz zu den DMV optional kohärent. Natürlich könnte<br />
man an dieser Stelle entgegnen, DMV seien grundsätzlich auch Vollverben<br />
und aufgrund dessen ihr obligatorisch kohärentes Verhalten all<strong>ein</strong> auf r<strong>ein</strong><br />
47<br />
Wenn Kontexte, in denen epistemische Verben <strong>ein</strong>gebettet auftreten, auch eher die<br />
Ausnahmeersch<strong>ein</strong>ung darstellen, erlaube ich mir hier zu Zwecken der Veranschaulichung,<br />
Konstituentensätze für die Beweisführung heranzuziehen, anhand derer der Unterschied<br />
zwischen obligatorischer Kohärenz und Inkohärenz deutlicher ersichtlich ist. Auch wenn ich<br />
Wurmbrands (2001) Ansatz gegenüber jenem Bechs (1955/57) den Vorzug gegeben habe, was<br />
die Charakterisierung von Infinitivkonstruktionen betrifft, greife ich in diesem Punkt weiter auf<br />
Bechs Terminologie zurück. Denn im Falle der hier relevanten obligatorischen Kohärenz<br />
besteht kaum <strong>ein</strong> Unterschied zu Wurmbrands Konzept des functional-restructuring.<br />
69
morphologische Faktoren, nämlich die Rektion des 1. Status zurückzuführen.<br />
Folglich könnten sie ihrem syntaktischen und semantischen Verhalten nach,<br />
die gleichen Stelle auf dem Grammatikalisierungspfad <strong>ein</strong>nehmen, wie die<br />
Vollverbformen von drohen und versprechen. Dagegen spricht aber nicht nur<br />
die DMV-Verwendung von (nicht) brauchen, die trotz des 2. Status´ k<strong>ein</strong>e<br />
inkohärenten Infinitivkomplemente zuläßt (siehe 1.4 Beispiel (64a/b)).<br />
Wurmbrand (2001: 205ff.&265ff.) verschafft in dieser Angelegenheit<br />
endgültige Klarheit, indem sie zeigt, daß sich die nicht-epistemischen<br />
Formen von drohen und versprechen in zahlreichen syntaktischen Aspekten<br />
erheblich von den DMV unterscheiden. Während sie erstere den nichtrestrukturierenden<br />
Prädikaten zurechnet, klassifiziert sie DMV wie EMV als<br />
die radikalsten Restrukturierungsprädikate, die in Verbindung mit dem<br />
Infinitiv auftreten. Daran schließt <strong>ein</strong>e weitere interessante Beobachtung an.<br />
Auch wenn der Bedeutungsunterschied zwischen EMV und DMV <strong>ein</strong> ziemlich<br />
klarer ist, beschränken sich die syntaktischen Unterschiede auf <strong>ein</strong> Minimum.<br />
EMV, die als Anhebungsverben auftreten, haben in der Regel auch <strong>ein</strong><br />
entsprechendes DMV mit Anhebungsverben. wollenEMV demgegenüber bleibt<br />
wie s<strong>ein</strong> nicht-epistemisches Äquivalent Kontrollverb. Darüber hinaus<br />
konstruieren alle MV ungeachtet ihrer Modalität obligatorisch kohärent. Im<br />
Gegensatz dazu lassen sich die epistemischen(?) Varianten von drohen und<br />
versprechen syntaktisch ziemlich deutlich von ihren Vollverbformen<br />
abgrenzen. Während sich erstere obligatorisch kohärent verhalten und<br />
zweifellos zu den Anhebungsverben zählen, sind letztere <strong>ein</strong>deutig<br />
Kontrollverben, die k<strong>ein</strong>e Form von Restrukturierung dulden.<br />
In <strong>ein</strong>em weiteren Aspekt heben sich drohen und versprechen Verben auch<br />
noch von den MV ab: sie regieren im Gegensatz zu den MV den 2. Status.<br />
M<strong>ein</strong>es Erachtens kommt diesem Unterschied k<strong>ein</strong>e tragende Bedeutung zu.<br />
Immerhin existiert mit (nicht) brauchen <strong>ein</strong> MV-Lexem, das mit Rektion des 2.<br />
Status sowohl die deontische als auch die epistemische Interpretation zuläßt.<br />
Im Gegensatz zu Reis (2001: 312), die die Ansicht vertritt, daß<br />
Polyfunktionalität durch obligatorische Kohärenz qua Rektion des 1. Status´<br />
ausgelöst würde, bin ich der M<strong>ein</strong>ung, daß der Infinitivmarker zu mit<br />
epistemischen Kontexten prinzipiell verträglich ist. So gesehen ist das<br />
70
entscheidende Kriterium in der obligatorischen Kohärenz ungeachtet<br />
jedweder Statusrektion zu suchen. Diewald (2001: 108) bringt Indizien dafür,<br />
daß sich zumindest sch<strong>ein</strong>en, wie schon brauchen hinsichtlich s<strong>ein</strong>er<br />
Statusrektion den MV anpaßt, in s<strong>ein</strong>er diachronen Entwicklung aber erst<br />
später.<br />
Eine frappante Ähnlichkeit zwischen MV und drohen und versprechen ist<br />
dennoch zu verzeichnen: Auch in den verblaßten Bedeutungen der<br />
epistemischen Varianten dieser Verben spiegeln sich zentrale Aspekte der<br />
Semantik des Vollverbs wieder. Das entspricht ganz dem typischen MV-<br />
Verhalten, wie es Abraham (2003b) oder Diewald (1999) festgestellt haben.<br />
Im Gegensatz zu den MV kann im Falle der epistemischen Varianten von<br />
drohen und versprechen von syntaktischen Reflexen der nicht-epistemischen<br />
Form k<strong>ein</strong>e Rede s<strong>ein</strong>.<br />
2.2.2 Lassen sich ”sch<strong>ein</strong>en”, ”versprechen”, ”drohen” epistemisch<br />
interpretieren?<br />
Abschnitt 2.2.1 ließ uns im Zweifel darüber, inwieweit drohen und<br />
versprechen den MV zuzurechnen wären, inwieweit sich die in ihnen<br />
offensichtlich zu Tage tretende Polyfunktionalität mit jener der MV deckt. Das<br />
bedarf zunächst <strong>ein</strong>er Klärung der Frage, ob diese Verben überhaupt <strong>ein</strong>e<br />
mit den EMV vergleichbare Interpretation zulassen. Der Vollständigkeit<br />
halber lassen wir in unserer Untersuchung das bereits disqualifizierte<br />
sch<strong>ein</strong>en nicht außer Acht, womöglich ist dieses tatsächlich <strong>ein</strong> r<strong>ein</strong>es EMV,<br />
wie es Wurmbrand (2001: 205ff.) nahelegt.<br />
Während Reis (2001: 311ff.) sch<strong>ein</strong>en volle epistemische Interpretation<br />
zugesteht, stellt sie diese im Falle von drohen und versprechen aus zweierlei<br />
Gründen in Abrede: erstens erfordert die Herausbildung <strong>ein</strong>er epistemischen<br />
Lesart aus <strong>ein</strong>em Vollverb, daß dieses stark kohärent konstruiert, das heißt,<br />
obligatorisch kohärent bei Rektion des 1. Status. Folglich kann zweitens die<br />
zweite Lesart dieser beiden Verben k<strong>ein</strong>e epistemische s<strong>ein</strong>, da in ihr – so<br />
Reis – der Sprecher die Faktizität nicht epistemisch, sondern durch s<strong>ein</strong>e<br />
negative oder positive Einstellung relativiert.<br />
Ich bin aber der Auffassung, daß diese Verschiedenheit in der Art der<br />
Relativierung k<strong>ein</strong>en hinreichenden Grund ausmacht, drohen und<br />
71
versprechen <strong>ein</strong>e epistemische Interpretation abzuerkennen. Vielmehr läßt<br />
sich die Wesensverwandtschaft dieser drei Verben <strong>ein</strong>fach nicht leugnen:<br />
(36) Die Brücke sch<strong>ein</strong>t/droht/verspricht <strong>ein</strong>zustürzen.<br />
Während sch<strong>ein</strong>en <strong>ein</strong>e Annahme (des Sprechers) mitausdrückt,<br />
inkludieren drohen und versprechen, <strong>ein</strong>e Befürchtung (des Sprechers) oder<br />
<strong>ein</strong>e Gewißheit (des Sprechers). Mir ist k<strong>ein</strong> Grund bekannt, der dagegen<br />
spricht, diese drei Verben in (36) analog zu behandeln. Ganz im Gegenteil,<br />
unsere Annahme, daß sich in den epistemischen Varianten immer noch <strong>ein</strong><br />
Rest der Ursprungsbedeutung widerspiegelt, trifft sogar diese Vorhersage,<br />
daß sich drohen und vesprechen als epistemische Verben so verhalten<br />
müssen.<br />
Vergleichen wir aber nun diese drei Verben mit den MV. Wie wir schon in<br />
Erfahrung gebracht haben, ergeben sich epistemische Interpretationen<br />
typischerweise beim Infinitiv Perfekt oder imperfektiven Komplementen:<br />
(37) a. Die Brücke kann/muß/dürfte/soll/will/mag/wird <strong>ein</strong>gestürzt s<strong>ein</strong>.<br />
b. Die Brücke sch<strong>ein</strong>t/*droht/*verspricht <strong>ein</strong>gestürzt zu s<strong>ein</strong>.<br />
(38) a. Er kann/muß/dürfte/soll/will/mag/wird in <strong>Berlin</strong> wohnen.<br />
b. Er sch<strong>ein</strong>t/*droht/*verspricht in <strong>Berlin</strong> zu wohnen<br />
Im Gegensatz zu sch<strong>ein</strong>en und den klassischen EMV sperren sich drohen<br />
und versprechen in ihrer ”quasi-epistemischen” Lesart gegen derartige<br />
Kontexte. Worin liegt der Grund dafür? Ist die Aktionsart des Komplements<br />
oder dessen Tempusspezifikation dafür verantwortlich? Oder verfügen diese<br />
Lexeme tatsächlich über k<strong>ein</strong>erlei epistemische Interpretation? Folgende<br />
Sätze geben mehr Aufschluß darüber.<br />
(39) a. Die Brücke droht/verspricht noch lange zu stehen.<br />
b. Die Brücke sch<strong>ein</strong>t noch lange zu stehen.<br />
c. Die Brücke dürfte noch lange stehen.<br />
(40) a. *Die Brücke droht/verspricht seit langem zu stehen.<br />
b. Die Brücke sch<strong>ein</strong>t seit langem zu stehen.<br />
c. Die Brücke dürfte seit langem stehen.<br />
72
(41) a. *Die Brücke droht/verspricht [gerade <strong>ein</strong>zustürzen].<br />
b. Die Brücke sch<strong>ein</strong>t [gerade <strong>ein</strong>zustürzen].<br />
c. Die Brücke dürfte [gerade <strong>ein</strong>stürzen].<br />
Tatsächlich lassen sich Beispiele finden in denen die ”quasi-epistemischen”<br />
Vorkommen von drohen und versprechen stative Infinitive regieren. Also<br />
kann die mangelnde Akzeptabilität in (37b, 38b) nicht auf die Selektion <strong>ein</strong>es<br />
Komplementes mit falscher Aktionsart zurückgeführt werden. Vielmehr zeigt<br />
sich Tempusspezifikation des Infinitivkomplementes verantwortlich für die<br />
Ungrammatikalität der Sätze in (37b, 38b). drohen und versprechen ergeben<br />
in ihrer ”quasi-epistemischen” Interpretation nur dann akzeptable Ergebnisse,<br />
wenn ihr Infinitivkomplement als Konstituente für <strong>ein</strong>e Futurlesart spezifiziert<br />
ist, wie in (39a), und nicht für Präsens wie (40a, 41a). sch<strong>ein</strong>en und dürfte,<br />
das hier repräsentativ für die restlichen EMV steht, hingegen weisen beide<br />
k<strong>ein</strong>erlei Sensitivität des Infinitivtempus auf.<br />
Doch dieser Sachverhalt bedeutet noch k<strong>ein</strong>eswegs, daß diese Verben<br />
überhaupt k<strong>ein</strong>e epistemische Interpretation haben müssen. Denn nach wie<br />
vor bestehen Kontexte, in denen sie den EMV in ihren Wesensmerkmalen<br />
gleichen:<br />
(42) a. Die Brücke droht/verspricht <strong>ein</strong>zustürzen.<br />
b. Die Brücke dürfte <strong>ein</strong>stürzen.<br />
Eine genauere Auss<strong>ein</strong>andersetzung mit derartigen Kontexten erfolgt in<br />
Abschnitt 2.3.<br />
Zusammenfassung.<br />
Zu Beginn von Abschnitt 2.2 stellten wir uns die Frage, inwieweit drohen,<br />
versprechen und sch<strong>ein</strong>en zu den MV zählen. Gehen wir von der<br />
Polyfunktionalität als <strong>ein</strong>endes Kriterium der MV aus, sch<strong>ein</strong>t das für alle drei<br />
Lexeme mit Vorbehalten nicht der Fall zu s<strong>ein</strong>. Einerseits sperrt sich<br />
sch<strong>ein</strong>en gegen <strong>ein</strong>e Aufnahme zu den MV, da ihm trotz s<strong>ein</strong>er<br />
offenkundigen Epistemizität jegliche Polyfunktionalität fehlt. Abgesehen<br />
davon verfügt es im Gegensatz zu den MV über <strong>ein</strong> optionales<br />
Dativargument, wie Pafael (1989) gezeigt hat. Andererseits entsprechen<br />
73
die epistemischen Verwendungen von drohen und versprechen nicht jenen<br />
der bisher behandelten EMV: während diese nicht sensitiv hinsichtlich der<br />
temporalen Spezifikation ihres Infinitivkomplements sind, lassen jene nur<br />
Infinitive mit Zukunftslesart zu. Nimmt man nun auch für drohen und<br />
versprechen Polyfunktionalität an, so läßt sich bei aller<br />
Wesensverwandtschaft ihrer epistemischen Verwendungen mit jenen der MV<br />
nicht leugnen, daß sich auch große Unterschiede auftun, so zum Beispiel<br />
was die Eigenschaften ihrer nicht-epistemischen Formen anbelangt. Die in<br />
diesem Abschnitt gewonnene Erkenntnis, über die verschiedene temporale<br />
Spezifikation von EMV-Komplementen, werden wir nun etwas <strong>ein</strong>gehender<br />
betrachten.<br />
2.3 Epistemizität und Tempus.<br />
Die Einsicht, die uns Abschnitt 2.2 bescherte, legt nahe die epistemische<br />
Modalität hinsichtlich ihrer temporalen Spezifikation zu unterscheiden. Denn<br />
die bei drohen und versprechen beobachtbaren Effekte, gelten auch für die<br />
EMV und sch<strong>ein</strong>en und somit offenkundig für epistemische Verben generell.<br />
(43) a. Sie droht/verspricht gleich <strong>ein</strong>zuschlafen.<br />
b. Sie sch<strong>ein</strong>t gleich <strong>ein</strong>zuschlafen.<br />
c. Sie kann/muß/dürfte/soll/will/wird gleich <strong>ein</strong>schlafen.<br />
(44) a. *Sie droht/verspricht jetzt zu schlafen.<br />
b. Sie sch<strong>ein</strong>t jetzt zu schlafen<br />
c. Sie kann/muß/dürfte/soll/will/wird jetzt schlafen<br />
Während die Sätze in (43) <strong>ein</strong>e Vermutung/Befürchtung/Gewißheit (...) über<br />
<strong>ein</strong>e noch <strong>ein</strong>zutretende Aktion zum Ausdruck bringen, denotieren die Sätze<br />
in (44) <strong>ein</strong>e Vermutung (...) über <strong>ein</strong>en gegenwärtigen Zustand. Ich schlage<br />
zur besseren Unterscheidung vor, jene epistemische Modalität, die sich auf<br />
die Gegenwart bezieht, als präsentische epistemische Modalität (PräE) zu<br />
bezeichnen, und jene Modalität, die in die Zukunft weist, als futurische<br />
epistemische Modalität (FutE) zu bezeichnen. Elemente, die <strong>ein</strong>e<br />
Interpretation der jeweiligen Epistemizität zulassen, nenne ich in der Folge<br />
FutEMV und PräEMV.<br />
74
Daß es sich hierbei wirklich um zwei verschiedene Arten von Epistemizität<br />
handeln muß, legt <strong>ein</strong>e Reihe von interessanten Beobachtungen nahe.<br />
Wir haben oben aufgrund von nicht zu leugnenden Verwandtschaften in<br />
ihrem Wesen mit den EMV drohen und versprechen Epistemizität unterstellt.<br />
Dennoch vertragen sie sich nicht mit <strong>ein</strong>er Reihe von geradezu typischen<br />
EMV-Kontexten. Im Gegensatz zu den MV aber auch sch<strong>ein</strong>en erlauben<br />
drohen und versprechen, wie schon mehrfach gezeigt, k<strong>ein</strong>e PräE<br />
Interpretation. Woran mag das liegen? Werfen wir <strong>ein</strong>en Blick zurück auf die<br />
Aus<strong>ein</strong>andersetzungen in Abschnitt 1.3.2. Darin erwiesen sich die DMV mit<br />
prinzipiell allen Arten von temporal spezifizierten Infinitivkomplementen<br />
kompatibel: sowohl mit jenen, die Gleichzeitigkeit mit der Matrixhandlung<br />
ausdrücken, als auch mit jenen, die Nachzeitigkeit zur Matrixhandlung<br />
denotieren. Die Vollverbformen von versprechen und drohen lassen sich<br />
hingegen aus semantischen Gründen nur kaum mit präsentischen<br />
Infinitivkomplementen kombinieren, denn Drohungen und Versprechungen<br />
weisen per se in die Zukunft. So wundert es wenig, daß auch die<br />
epistemischen Varianten von drohen und versprechen ausschließlich<br />
Komplemente mit Zukunftsbezug selegieren können. Unsere Annahmen<br />
erweisen sich als weitere Evidenz für die schon mehrfach zitierte<br />
Reflextheorie von Abraham (2003a,b) und Diewald (1999), die sich darin<br />
ausdrückt, daß sich gewisse Eigenschaften der nicht-epistemischen Form in<br />
der epistemischen Form widerspiegeln. Dem oben erwähnten Problem,<br />
warum drohen und versprechen k<strong>ein</strong>e PräE-Interpretation dulden, könnten<br />
wir mit der Annahme entgegnen, daß zwar EMV und sch<strong>ein</strong>en indifferent<br />
bezüglich Tempus des Infinitivkomplements sind, drohen und versprechen in<br />
ihrer epistemischen Interpretation aber nur für FutE-Komplemente<br />
subkategorisiert sind.<br />
All diese Annahmen werden aber noch durch weitere Evidenz gestützt.<br />
Abraham (2001, 2002) hat gezeigt, daß perfektive Komplemente mit EMV in<br />
dergleichen Kontexten nur dann möglich sind, wenn ihnen <strong>ein</strong>e progressive<br />
Bedeutung zukommt. Das gilt aber nicht un<strong>ein</strong>geschränkt, sondern nur für<br />
die PräEMV. FutEMV lassen sich nämlich mit Infinitivkomplementen jeglicher<br />
Aktionsart kombinieren, wie ich schon in Abschnitt 2.2.2 gezeigt habe. Das<br />
heißt aber auch, daß EMV prinzipiell perfektive Komplemente zulassen,<br />
75
wenn sie futurisch Interpretiert werden. Diese FutE-Interpretation ist im Falle<br />
der MV nicht immer leicht zu finden, da die Kontexte, in denen sie auftritt,<br />
eigentlich focal zu der weitaus üblicheren DMV-Interpretation <strong>ein</strong>laden.<br />
Sehen wir uns noch <strong>ein</strong>mal die Sätze aus (43), hier wiederholt als (45) an:<br />
(45) a. Sie kann/muß/soll/will/wird gleich <strong>ein</strong>schlafen.<br />
b. Sie droht/verspricht gleich <strong>ein</strong>zuschlafen.<br />
c. Sie sch<strong>ein</strong>t gleich <strong>ein</strong>zuschlafen.<br />
d. Sie dürfte gleich <strong>ein</strong>schlafen.<br />
(45a) ist zunächst ambig. Die deontische Interpretation ist leichter verfügbar<br />
und liegt somit auf der Hand. (45b) zeigt aber, daß dieses Komplement<br />
zumindest in Kombination mit anderen Verben auch <strong>ein</strong>e futurischepistemisch<br />
Interpretation erfahren kann. (45c) macht deutlich, daß sich<br />
dieser Effekt k<strong>ein</strong>eswegs auf die verm<strong>ein</strong>tlich nicht-epistemischen Verben<br />
drohen und versprechen beschränkt, sondern auch das von Reis (2001: 311)<br />
als epistemisch klassifizierte Verb sch<strong>ein</strong>en erfaßt. In (45d) sehen wir, daß<br />
selbst das fast ausschließlich epistemisch gebrauchte MV dürfte davon<br />
betroffen ist. Und tatsächlich können die MV in (45a) auch auf diese Weise<br />
interpretiert werden. Reis´ (2001: 312) Behauptung, drohen und versprechen<br />
erlauben k<strong>ein</strong>e epistemische Interpretation, läßt sich nur mit Mühe<br />
aufrechterhalten. Einerseits ist ihre Bedeutung fast synonym zu jener der<br />
EMV, anderseits lassen sich die semantischen Unterschiede aber auch<br />
durch die für die MV entworfene Reflextheorie erklären.<br />
Die lang gehegte Ansicht, EMV wären nur hinsichtlich des Aspekts sensibel<br />
(siehe unter anderem Abraham (2001, 2002) oder Leiss (2003)), ist<br />
angesichts dessen überholt. Somit stimmt aber auch die von Leiss und<br />
Abraham vertretene Generalisierung nicht mehr, EMV vertrügen k<strong>ein</strong>e<br />
perfektive Komplemente. Sie muß vielmehr auf die PräEMV beschränkt<br />
werden. Aber Vorsicht, aus der Generalisierung, daß perfektive<br />
Komplemente in Kombination mit EMV nur als FutEMV interpretiert werden<br />
können, folgt k<strong>ein</strong>eswegs, daß stative Komplemente in Kombination mit EMV<br />
<strong>ein</strong>e PräE-Interpretation erzwingen. Denn wie schon Beispiel (39) in<br />
Abschnitt 2.2.2 gezeigt hat, kann <strong>ein</strong> FutEMV durchaus <strong>ein</strong>en stativen Infinitiv<br />
selegieren. Das darf aber wiederum nicht zu dem Fehlschluß verleiten,<br />
76
FutEMV harmonierten mit wirklich aller Art von infinitivischen Komplementen.<br />
Gewisse Selektionsrestriktionen dürften auch für diese gelten, wie folgendes<br />
Beispiel nahelegt:<br />
(46) a. *Die Brücke droht <strong>ein</strong>gestürzt zu s<strong>ein</strong>.<br />
b. ??Die Brücke droht morgen <strong>ein</strong>gestürzt zu s<strong>ein</strong>.<br />
Der Zukunftsbezug in (46b) macht zwar den Satz grammatikalischer, läßt<br />
ihn aber trotzdem sehr markiert.<br />
Die Annahme von zweierlei epistemischen Modalitäten hat aber auch <strong>ein</strong>e<br />
Implikation für die MV. Denn diese müßten dann aufgrund der oben<br />
getroffenen Annahmen allesamt beide Interpretationen aufweisen, was aber<br />
zumindest in zwei Fällen auf Probleme stößt.<br />
wollenEMV sch<strong>ein</strong>t auf den ersten Blick r<strong>ein</strong> PräEMV zu s<strong>ein</strong>, <strong>ein</strong>e FutEMV-<br />
Interpretation weicht in (45a) zugunsten der DMV Interpretation zurück. Das<br />
mag aber <strong>ein</strong>erseits daran liegen, daß sich die Bedeutungen von DMV und<br />
FutEMV nur marginal unterscheiden, und andererseits daran, daß wollen als<br />
EMV so selten ist, daß davon nur <strong>ein</strong> verschwindend geringer Anteil die<br />
unüblichere FutE-Interpretation ausmacht. Dennoch beharre ich auf dem<br />
Standpunkt, daß wollen theoretisch auch <strong>ein</strong>e FutE-Interpretation erlaubt.<br />
Ähnlich geartet aber als etwas schwieriger stellt sich der Sachverhalt von<br />
werden dar. Wenn wir werden + INFINITIV als r<strong>ein</strong>es EMV betrachten, wie<br />
dies Vater (1975) tut, dann sind wir mit k<strong>ein</strong>erlei Probleme konfrontiert. Denn<br />
das was gem<strong>ein</strong>hin als werden-Futur bezeichnet wird, entspräche dann ganz<br />
<strong>ein</strong>fach unserem FutEMV-Gebrauch. Nur liegen nun Vorkommen von werden<br />
+ INFINITIV vor, die sich in Fragesätzen <strong>ein</strong>betten lassen:<br />
(47) Wann wird sie <strong>ein</strong>schlafen?<br />
(48) Wird sie <strong>ein</strong>schlafen?<br />
Da EMV in derartigen Kontexten nicht akzeptabel sind, muß es sich hier um<br />
<strong>ein</strong>e andere Form handeln. Offensichtlich liegt hier der in Abschnitt 1.4<br />
gesuchte nicht-epistemische-Gebrauch vor. Wenn aber werden auch über<br />
<strong>ein</strong>en nicht-epistemischen Gebrauch verfügt, dann stellt sich aber die Frage,<br />
ob nicht in jenen Kontexten, wo es sich mit perfektiven Infinitiven paart,<br />
77
durchwegs eben dieser nicht-epistemische Gebrauch vorliegt, anstelle <strong>ein</strong>er<br />
FutEMV-Interpretation. Aber auch im Falle von werden dürfte mit großer<br />
Sicherheit <strong>ein</strong>e Verwendung als FutEMV existieren, die ich hier aber nicht mit<br />
griffigen Diagnostika vom nicht-epistemischen Gebrauch trennen vermag.<br />
Ein Anhaltspunkt könnte in der Möglichkeit <strong>ein</strong>er Kombination mit<br />
epistemischen Satzadverbien liegen. Doch auch dadurch läßt sich der<br />
FutEMV-Gebrauch nicht klar isolieren, denn die Epistemizität könnte dann<br />
all<strong>ein</strong> durch die Satzadverbien getriggert s<strong>ein</strong>. Nichtsdestotrotz sprechen die<br />
oben angestellten Beobachtungen zumindest dafür, werden als<br />
polyfunktionales Element anzusehen. Zugegebenermaßen weist werden<br />
über <strong>ein</strong>e andere Form von Polyfunktionalität auf als die MV, da s<strong>ein</strong>e nichtepistemische<br />
Form nicht als deontische bezeichnet werden kann, sondern<br />
als Futur-Auxiliar. So kann dieses im in s<strong>ein</strong>er nicht-epistemischen Form im<br />
Gegensatz zu den DMV nur Zukunftsbezug haben.<br />
Um etwaigen Mißverständissen vorzubeugen, weise ich abschließend<br />
darauf hin, daß ich FutEMV und PräEMV nicht als verschiedene Lexeme<br />
betrachte, sondern verschiedene Arten der Interpretation, die durch die<br />
temporale Spezifikation der infinitivischen Komplemente ausgelöst wird und<br />
die für manche Lexeme bestimmte Beschränkungen erfährt.<br />
2.4 Zusammenfassung.<br />
Die Erkenntnisse aus Kapitel 2 sind wie folgt zusammenzufassen. Erstens<br />
läßt sich das unterschiedliche Verhalten von EMV und DMV nur in den<br />
seltensten Fällen auf absolute Verschiedenheiten zurückführen. Während<br />
DMV nur wenige Beschränkungen auferliegen, sind die EMV aufgrund ihrer<br />
Semantik in vielen Kontexten schwer verträglich. Beide Arten von MV<br />
bevorzugen bestimmte Distributionen, EMV wählen typischerweise stative<br />
Komplemente in assertiven Kontexten, DMV paaren sich meist mit<br />
perfektiven Komplementen mit Handlundssemantik. Die Annahme <strong>ein</strong>er<br />
dritten Modalität von Öhlschläger (1989), Diewald (1999) und Durbin/Sprouse<br />
(2001) , den objektiven EMV, erwies sich als müßig.<br />
Demgegenüber muß Epistemizität aber hinsichtlich ihrer temporalen<br />
Spezifikation unterteilt werden: Erstens in PräE, die nur die Einbettung von<br />
imperfektiven beziehungsweise perfektiven Komplementen in progressiver<br />
78
Bedeutung zuläßt, und zweitens in FutE, die offensichtlich k<strong>ein</strong>erlei<br />
Einschränkungen für die Aktionsart des Verbs aufweist. drohen und<br />
versprechen erlauben in ihrer epistemischen Form nur die Einbettung von<br />
FutE-Komplementen, was auf die Semantik ihres Vollverbgebrauchs<br />
zurückzuführen ist und verhalten sich somit wie die (E)MV der Reflextheorie<br />
entsprechend. In ihrer Polyfunktionalität unterscheiden sie sich dennoch von<br />
den MV, da zwischen ihren Vollverbformen und ihren epistemischen Formen<br />
große syntaktische Unterschiede bestehen. Die Frage, ob nun sie folglich zu<br />
den MV zu zählen sind oder nicht, halte ich für nicht essentiell und zum<br />
jetzigen Standpunkt nicht ohne Willkür zu beantworten. Als viel wichtiger<br />
erachte ich es, festzuhalten, daß <strong>ein</strong> nicht zu leugnendes Naheverhältnis<br />
zwischen MV und drohen und versprechen besteht und daß diese beiden<br />
Verben über <strong>ein</strong>e Eigenschaft verfügen, die der Polyfunktionalität sehr<br />
nahekommt oder sogar exakt entspricht. Es bleibt der Willkür des<br />
Forschenden überlassen, je nachdem, wie er die Definition von<br />
Polyfunktionalität formt, drohen und versprechen den MV zuzurechnen oder<br />
nicht. Das bleibt aber nur <strong>ein</strong>e r<strong>ein</strong> begriffliche Frage und ist deswegen auch<br />
nur von sekundärer Bedeutung. Primär sind nämlich vielmehr die<br />
empirischen Fakten, die von <strong>ein</strong>er Wesensverwandtschaft der beiden Verben<br />
mit den MV zeugen. Demgegenüber hat sich sch<strong>ein</strong>en ziemlich deutlich<br />
disqualifiziert, da es nur als epistemisches Verb auftritt, somit über k<strong>ein</strong>erlei<br />
Polyfunktionalität verfügt. Dafür haben wir im Falle von werden klare Evidenz<br />
gefunden, die dafür spricht, es auch als polyfunktionales Lexem zu<br />
behandeln, und nicht nur als r<strong>ein</strong>es EMV, wie es Vater (1975) erwägt.<br />
EMV verhalten sich ganz und gar nicht homogen. Dies liegt aber nicht so<br />
sehr an der Aufnahme neuer Lexeme, sondern vielmehr an den klassischen<br />
MV selbst. So hebt sich vor allem wollen aber auch sollen von den anderen<br />
EMV ab. All<strong>ein</strong> die Reflextheorie vermag all diese epistemischen Verben<br />
zusammenzuhalten und lieferte auch noch für andere Ersch<strong>ein</strong>ungen<br />
Erklärungen. Dennoch gelang es bisher noch nicht, mögliche Gründe für<br />
diese Vielfalt und Heterogenität der MV zu finden, die zur Folge hat, daß<br />
diese Verben begrifflich so schwer zu erfassen sind. Damit beschäftigt sich<br />
das nächste Kapitel.<br />
79
3. Herausbildung der EMV.<br />
Einer wesentlichen Implikation der These, daß das Wesensmerkmal der MV<br />
in ihrer Polyfunktionalität besteht, haben wir bisher kaum Beachtung<br />
geschenkt. Wenn <strong>ein</strong> Verb erst dann als MV bezeichnet werden kann, wenn<br />
es polyfunktional ist, erfaßt unser Begriff von MV die oben untersuchten<br />
Verben erst ab jenem Zeitpunkt, zu dem sie systematisch <strong>ein</strong>e deontische<br />
und <strong>ein</strong>e epistemische Variante ausgebildet haben. An dieser Stelle<br />
ersch<strong>ein</strong>t es als wünschenswert, den Zeitpunkt und die Umstände der<br />
Herausbildung der Polyfunktionalität genauer zu bestimmen, um die MV<br />
besser von ihren Vorläufern abgrenzen zu können. 48<br />
Angesichts der sich bisher offenbart habenden Vielfalt an idiosynkratischen<br />
Eigenschaften der verschiedenen MV-Lexeme, sch<strong>ein</strong>t <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>heitliche<br />
Behandlung aller epistemischen Formen mit wachsenden Schwierigkeiten<br />
verbunden. Ganz zu schweigen von <strong>ein</strong>er gem<strong>ein</strong>samen Betrachtung der<br />
diachronen Entwicklung der EMV. So aussichtslos die Lage aber hier zu s<strong>ein</strong><br />
sch<strong>ein</strong>t, könnte sich <strong>ein</strong> diachroner Ansatz auch als eigentlicher Schlüssel<br />
zum Problem erweisen, weswegen sich Kapitel 3 mit der<br />
Entwicklungsgeschichte der (Prä-)MV, im Speziellen mit der Herausbildung<br />
jenes Merkmals beschäftigt, das wir als wesentlich charakterisiert haben: der<br />
Polyfunktionalität. Darüber hinaus erwarte ich von <strong>ein</strong>er Analyse der<br />
Entstehung dieses klassenkonstituierendes Merkmals der MV weitere<br />
Aufschlüsse über das Wesen der MV selbst.<br />
Bevor wir <strong>ein</strong>en Blick auf die Entwicklung der MV-Syntax werfen können,<br />
bedarf es noch <strong>ein</strong>er groben theoretischen Aus<strong>ein</strong>andersetzung mit jenen<br />
Bedingungen, die all<strong>ein</strong>e im Stande sind, in der diachronen Syntax <strong>ein</strong>e<br />
methodisch zuverlässige Analyse zu gewährleisten.<br />
48 Abraham (2003b) erwägt indes, daß Polyfunktionalität den MV aufgrund ihrer<br />
präteritopräsentischem Wesen schon von Beginn an zu eigen war. Das Ergebnis der folgenden<br />
diachronen Untersuchung liefert aber k<strong>ein</strong>e Evidenz für derartige Überlegungen, noch können<br />
solche <strong>ein</strong>deutig widerlegt werden. Der Umstand, daß bis zum Fnhd k<strong>ein</strong>e systematisch<br />
herausgebildeten EMV vorliegen, spricht aber gegen derartige Erwägungen.<br />
80
3.1 Theoretische Vorbedingungen <strong>ein</strong>er diachronen Betrachtung der<br />
Syntax.<br />
Anders als synchrone Sprachbetrachtung ist die diachrone Syntax mit <strong>ein</strong>er<br />
Zahl an erheblichen Schwierigkeiten konfrontiert, die ihrer synchronen<br />
Schwesterdisziplin fremd sind. Um die syntaktischen Eigenschaften der MV<br />
darstellen zu können, bedarf es zunächst der Rekonstruktion der<br />
syntaktischen Eigenschaften der Vorläufer der gwd MV, die wiederum nicht<br />
ohne methodologischen Rahmenbedingungen erfolgen kann. Diese<br />
Bedingungen erweisen sich für die historisch vergleichende Syntax als<br />
äußerst komplex, da sie sich im Gegensatz zur diachronen Phonologie und<br />
auch Morphologie mit schwer faßbaren, lexemübergreifenden Strukturen<br />
beschäftigt. 49 Mehr Aufschluß über die Möglichkeit, syntaktische<br />
Zusammenhänge zurückliegender Sprachstände zu rekonstruieren, gibt die<br />
im Anschluß folgende kurze Aus<strong>ein</strong>andersetzung mit den Gründen und<br />
Voraussetzungen für syntaktischen Wandel.<br />
3.1.1 Transparenzprinzip und Reanalyse.<br />
Lightfoot (1979) hat sich als erster an <strong>ein</strong>er umfassenden generativen<br />
Theorie der diachronen Syntax versucht, zeigte jedoch auch die ziemlich<br />
engen Grenzen <strong>ein</strong>es derartigen Vorgehens auf. Er kommt zu dem Schluß,<br />
daß syntaktischer Sprachwandel <strong>ein</strong>e Funktion ist, die durch <strong>ein</strong>e Reihe<br />
Notwendigkeiten reglementiert und von <strong>ein</strong>er Unzahl an<br />
extragrammatikalischen Faktoren be<strong>ein</strong>flußt wird. 50 Ihre Beschränkungen<br />
erfährt diese Funktion vor allem durch synchrone Prinzipien. Einerseits muß<br />
die erneuerte Sprache auch allen UG-Prinzipien gehorchen, andererseits<br />
darf <strong>ein</strong>e Sprache niemals in ihrem Regelwerk soviel Komplexität anhäufen,<br />
daß <strong>ein</strong> gewisses verarbeitbares Maß überschritten wird. Ist das jedoch der<br />
Fall, erfolgt <strong>ein</strong>e ”therapeutische” Reanalyse, die den Grad an Komplexität<br />
<strong>ein</strong>er Grammatik wieder reduziert. Eine Grammatik muß für den Sprecher<br />
immer in <strong>ein</strong>em gewissen Maße transparent s<strong>ein</strong> – das besagt zumindest<br />
Lightfoots (1979: 121ff.) Transparenzprinzip, das dessen Auffassung nach<br />
nur Teil der synchronen Grammatiktheorie (=UG) s<strong>ein</strong> kann. Die <strong>ein</strong>zige<br />
49<br />
Eine detailliertere Unterscheidung der diachronen Syntax von älteren historisch-vergleichenden<br />
Disziplinen führt Lightfoot (1979: 5ff.) an.<br />
50<br />
Siehe Lightfoot (1979: 405ff.).<br />
81
Beschränkung von Lightfoots Funktion, die nicht durch die Grammatiktheorie<br />
(=UG) erfolgt, und als diachrones Prinzip formuliert werden müßte, besteht<br />
darin, daß Grammatiken von Sprechern aus auf<strong>ein</strong>anderfolgenden<br />
Generationen nur soweit von <strong>ein</strong>ander differieren dürfen, daß unter diesen<br />
Sprechern noch Kommunikation ohne Verständnisschwierigkeiten möglich<br />
ist. Lightfoot (1979: 143) sieht aber k<strong>ein</strong>en Weg, diese Restriktion zu<br />
formalisieren.<br />
Die <strong>ein</strong>zigen formalen Beschränkungen, denen Sprachwandel unterliegt,<br />
sind somit ausschließlich jene Prinzipien, aus denen sich die UG selbst<br />
zusammensetzt. Sprachwandel ist nach Lightfoots Auffassung vor allem<br />
Resultat der ver<strong>ein</strong>fachenden Lernmechanismen des Erstspracherwerb.<br />
Demnach versuchen Kinder dem aufgenommenen Input die <strong>ein</strong>fachste<br />
Struktur zu unterstellen, die anhand ihres bisherigen Regelwissens möglich<br />
ist. Auf diese Weise erwerben Kinder im Laufe der Zeit zwar <strong>ein</strong>e Grammatik,<br />
die <strong>ein</strong>erseits in etwa in der Lage ist, Sätze nach <strong>ein</strong>em Muster zu<br />
generieren, das jenem der Eltern sehr ähnlich ist, die aber andererseits<br />
k<strong>ein</strong>eswegs mit der Grammatik der Elterngeneration vollkommen identisch<br />
ist. Dementsprechend sieht Lightfoot (1979: 375) den Erstspracherwerb als<br />
eigentlichen Ort des Sprachwandels an. Ver<strong>ein</strong>facht ließe sich diese These<br />
als <strong>ein</strong>e Art ”Stille Post”-Spiel darstellen, in dem eben nicht nur für <strong>ein</strong> Wort,<br />
sondern für <strong>ein</strong>e gesamte Sprache von jedem Teilnehmer aufs Neue <strong>ein</strong>e<br />
Analyse und deren Weitervermittlung versucht wird.<br />
Auch wenn Lightfoots Ideen zwar viel Richtiges enthalten, bleiben sie<br />
gesamt gesehen ungenau. So verkennt s<strong>ein</strong> Ansatz zum Beispiel die<br />
Dynamizität, der die individuelle Grammatiken aller Sprecher offenkundig<br />
unterworfen sind. Auch erwachsene Sprecher bleiben für Veränderungen<br />
ihrer parametrischen Konfiguration empfänglich, wenngleich auch bei weitem<br />
nicht in dem Maße, wie dies beim Kl<strong>ein</strong>kind der Fall ist. So passen sich<br />
Erwachsene nach <strong>ein</strong>em Wechsel des Wohnorts häufig den parametrischen<br />
Gegebenheiten des neuen Dialekts an. Ein anderes Beispiel bieten gewisse<br />
Formen neologistischer Verwendungen, die langsam in den Sprachgebrauch<br />
auch von Erwachsenen <strong>ein</strong>sickern. Einen rezenten Fall stellt das Partikelverb<br />
anerkennen dar, das vermehrt als nicht-trennbares Verb reanalysiert wird,<br />
auch von Sprechern, die vormals die andere Variante verwendeten (Er<br />
82
anerkannte dieses Begehren statt Er erkannte dieses Begehren an). Darüber<br />
hinaus lädt Lightfoots Theorie zu dem Fehlschluß <strong>ein</strong>, daß sich<br />
Sprachwandel tatsächlich in <strong>ein</strong>er ähnlich gewaltigen Geschwindigkeit<br />
fortpflanzt, wie das sich stets ändernde Wort im ”Stille Post”-Spiel: Die<br />
Elterngeneration produziert <strong>ein</strong>en Satz als Struktur1, während ihn die jüngere<br />
Generation ver<strong>ein</strong>fachte Struktur2 versteht und reproduziert. Auf diese Weise<br />
müßte sich <strong>ein</strong>e Sprache binnen weniger Generationen rasant verändern.<br />
Tatsächlich sind im Sprachwandel noch zahlreiche Faktoren mehr involviert,<br />
unter anderem solche die ihn bremsen, wie das Vorhandens<strong>ein</strong> <strong>ein</strong>er<br />
überregionalen im Volk weitverbreiteten Schriftsprache.<br />
Lightfoots Einschätzung, daß die <strong>ein</strong>zigen formalen Beschränkungen des<br />
syntaktischen Sprachwandels durch die UG-Prinzipien erfolgen, daß die<br />
Grammatiken aller älteren Sprachen auch alles ”mögliche” Grammatiken s<strong>ein</strong><br />
müssen, vermag all<strong>ein</strong>e recht wenig zur diachronen Analyse der MV<br />
beisteuern, weswegen ich weitere Ansätze hinzuziehe.<br />
3.1.2 Lehmanns Theorie der Grammatikalisierung.<br />
Im Unterschied zu Lightfoot, der auf der Suche nach die ganze Syntax<br />
betreffende diachronen Prinzipien ist, begnügt sich Lehmann (1995) mit<br />
<strong>ein</strong>em kl<strong>ein</strong>eren Teilbereich der historisch-vergleichenden<br />
Sprachwissenschaft, der Grammatikalisierung (GR). Roussou/Roberts (1999:<br />
1011) und Abraham (2003d) verstehen unter GR in Termini der generativen<br />
Grammatik den Wandel von lexikalischem Material zu funktionalem – was<br />
weitgehend auch der Auffassung Lehmanns (1995: 9ff) entspricht.<br />
In s<strong>ein</strong>en Ausführungen erarbeitet Lehmann (1995: 121ff.) sechs<br />
Parameter, anhand derer sich der Fortgeschrittenheitsgrad der GR <strong>ein</strong>es<br />
Zeichen zu erkennen gibt. Jeder dieser Parameter kann Werte entlang <strong>ein</strong>es<br />
Vektors annehmen, der vom vollen lexikalischen Status <strong>ein</strong>es Zeichens bis<br />
zu dessen kompletten Verschwinden reicht. Lehmann (1995: 18) sieht GR<br />
als unidirektionalen Prozess, in dem <strong>ein</strong> lexikalisches Zeichen nach und nach<br />
s<strong>ein</strong>en komplexen phonologischen und semantischen Gehalt und s<strong>ein</strong>e<br />
Unabhängigkeit aufgibt. Roussou/Roberts (1999: 1014) zufolge bedeutet GR<br />
immer auch strukturelle Ver<strong>ein</strong>fachung.<br />
83
Lehmanns (1995: 25ff.) Ansatz zeichnet sich des weiteren durch die<br />
Annahme von sogenannten GR-Kanälen aus. Jedes Lexem ist aufgrund<br />
s<strong>ein</strong>er Bedeutung und syntaktischen Funktion für <strong>ein</strong>en oder mehrere<br />
bestimmte GR-Kanäle prädestiniert. Ein solcher GR-Kanal legt für das<br />
betreffende Element nun fest, auf welche Weise es sich entwickeln kann.<br />
Den für die MV relevanten Kanal beschreibt Lehmann (1995: 27&33) auf<br />
folgende Weise: Aus bestimmten Vollverben entstehen zunächst die MV, die<br />
mit fortschreitendem Grade der GR sich in Modusaffixe verwandeln.<br />
Während für die Stufe der MV genügend Evidenz vorliegt, hat Lehmann<br />
jedoch für aus MV entstandene Modusmorpheme noch k<strong>ein</strong>e Belege<br />
gefunden. Diewald (1999: 21&181f.) pflichtet Lehmann in ihrem Ansatz bei,<br />
indem sie zu zeigen versucht, daß die (E)MV im Deutschen bereits<br />
vollständig ins Modusparadigma integriert sind, was gewissermaßen als<br />
unentbehrliche Vorstufe zur Entwicklung hin zum Affix aufzufassen ist. Ich<br />
schließe mich aber an dieser Stelle der M<strong>ein</strong>ung von Reis (2001: 293) an,<br />
der zufolge die deutschen MV (noch) nicht als Teil des Modusparadigmas zu<br />
sehen sind.<br />
Bieten die GR-Kanäle <strong>ein</strong>e Lösung für Lightfoots Problem, daß sich<br />
Sprachwandel nicht vorhersehen läßt? N<strong>ein</strong>, auch das Konzept der GR-<br />
Kanäle ist im Endeffekt nicht im Stande, die Entwicklung <strong>ein</strong>es<br />
Zeichens/<strong>ein</strong>er Zeichenkombination vorherzusagen. Denn, wie wir im<br />
weiteren Verlauf der Arbeit noch sehen werden, sagt der gegenwärtige Grad<br />
der GR <strong>ein</strong>es Lexems all<strong>ein</strong>e niemals etwas darüber aus, ob und wie dieses<br />
sich entwickeln wird. Da Sprachwandel zum großen Teil <strong>ein</strong>er<br />
unüberschaubaren Fülle an außersprachlichen Faktoren unterworfen ist, die<br />
Lightfoot als ”Zufall” umschreibt, läßt er sich nicht zuverlässig voraussagen.<br />
Sprachentwicklung bleibt somit ebenso schwer vorhersagbar wie die Zukunft<br />
selbst. Nichtsdestotrotz kann Lehmanns Konzept der GR-Kanäle zumindest<br />
Hilfestellung s<strong>ein</strong>, um vergangene Formen zu rekonstruieren.<br />
3.1.3 Weitere theoretische Voraussetzungen.<br />
Eine weitere Schwierigkeit, mit der die diachrone Syntax zu kämpfen hat,<br />
hat Lightfoot (1979: 5ff) schon angedeutet: Syntax ist gleichsam ”unsichtbar”.<br />
Im Unterschiede zur Phonologie, die in der Regel auf phonetisch<br />
84
wahrnehmbare Einheiten zurückgreifen kann, beschäftigt sich die Syntax mit<br />
Beziehungen zwischen Elementen, die sich nur mithilfe der jeweiligen<br />
Sprachkompetenz rekonstruieren lassen. Ausgehend von der Annahme, daß<br />
sich die gwd Syntax von ihren mhd und ahd Vorläufern unterscheidet, stehen<br />
wir vor <strong>ein</strong>em schweren methodischen Problem: wir müssen uns nämlich der<br />
Möglichkeit bewußt s<strong>ein</strong>, daß syntaktische Konstruktionen in früheren<br />
Sprachständen des Deutschen deutlich anders zu interpretieren s<strong>ein</strong><br />
konnten, als es unsere muttersprachliche Kompetenz vermuten läßt.<br />
So treten die gwd MV in den allermeisten Fällen in Verbindung mit dem<br />
Infinitiv auf, was dazu verlockt, diese Form als standardtypischen MV-<br />
Gebrauch anzusehen. Folglich tendieren Sprecher des nhd häufig dazu,<br />
infinitivlose Vorkommen von MV <strong>ein</strong>fach als Ellipsen aufzufassen. Das heißt<br />
aber noch lange nicht, daß Sprecher der verschiedenen Sprachstufen des<br />
Deutschen immer schon zu ähnlichen Analysen geneigt waren.<br />
Einen bemerkenswerten Beitrag liefert an dieser Stelle das DWB im Eintrag<br />
von sollen. 51<br />
doch gibt es zahlreiche gebrauchsweisen, wo sollen ohne inf. auftritt.<br />
hier ist in vielen fällen der inf. zu ergänzen, und für das heutige<br />
sprachgefühl [m<strong>ein</strong>e Hervorhebung: J.M] ist in allen fällen die<br />
annahme <strong>ein</strong>er ellipse und supplierung <strong>ein</strong>es solchen inf. möglich. die<br />
historische entwicklung macht jedoch wahrsch<strong>ein</strong>lich, dasz in <strong>ein</strong>igen<br />
dieser gebrauchsweisen, wo sollen ohne inf. als vollverb ersch<strong>ein</strong>t, <strong>ein</strong>e<br />
ursprüngliche bedeutung vorliegt.<br />
Der Autor dieses Eintrags trifft, wenn auch nicht ganz explizit, <strong>ein</strong>en<br />
entscheidenden Punkt. Er deutet an, daß das ”Sprachgefühl” über<br />
Generationen hinweg k<strong>ein</strong>eswegs das gleiche bleibt. Er geht sogar noch<br />
weiter und stellt fest, daß Sprecher des ”heutigen Sprachgefühls” <strong>ein</strong>e<br />
Konstruktion womöglich anders beurteilen, als Sprecher aus<br />
vorangegangenen Generationen.<br />
51 Siehe DWB Bd. 16, S. 1468.<br />
85
sollen tritt in zahlreichen historischen Belegen, die das DWB anführt, mit an<br />
Sicherheit grenzender Wahrsch<strong>ein</strong>lichkeit tatsächlich als transitives Vollverb<br />
auf, wie zum Beispiel in (1):<br />
(1) Duo debitores erant cuidam foeneratori: unus debebat denarios<br />
quingentos, alius quinquaginta.<br />
Zuêne sculdîgon uuârun sihuuelîhemo inlîhere: <strong>ein</strong> solta finfhunt<br />
pfenningo, ander solta finfzug. (Tatian 138,9)<br />
Dieser Vorläufer des gwd sollen ließe sich aber nach ”heutigem<br />
Sprachgefühl” ohneweiters auch als Ellipse interpretieren (zum Beispiel<br />
durch <strong>ein</strong>e Ergänzung mit geben oder bezahlen), was aber ziemlich sicher<br />
nicht der Auffassung <strong>ein</strong>es Sprechers des Ahd entspräche, wie die<br />
lat<strong>ein</strong>ische Vorlage nahelegt. Am ehesten wäre solan hier mit schulden zu<br />
übersetzen. Der Sprachwandel ist im Beispiel von sollen soweit<br />
vorangeschritten, daß die Sprecher der verschiedenen Epochen die gleiche<br />
Konstruktion völlig verschieden analysieren und interpretieren. In diesem<br />
Aspekt hat sich die nhd Grammatik in <strong>ein</strong>em derartigen Maße von jener des<br />
Ahd. wegentwickelt, sodaß der transitive Gebrauch von solan im Ahd. aus<br />
heutigem Blickwinkel nicht ohne weiteres nachzuvollziehen ist. Vielmehr<br />
verleitet die noch offenkundige Ähnlichkeit in der Lexik der beiden<br />
Sprachstufen den nhd Sprecher dazu, dem Verb die gleichen syntaktischen<br />
Eigenschaften wie dessen nhd Abkömmling zu unterstellen und somit s<strong>ein</strong><br />
eigentliches syntaktisches Verhalten zu verkennen. Sozusagen verstellt uns<br />
unsere erworbene Grammatik des Gwd den Blick auf jene des Ahd. In<br />
Termini, die wohl der Autor des DWB-Artikel verwenden würde: das heutige<br />
Sprachgefühl entspricht nicht durchwegs jenem vergangener Epochen.<br />
Einem ähnlichen Leitgedanken folgt Lightfoot (1979: 35) wenn er fordert, daß<br />
ältere Grammatiken unabhängig erforscht und nicht nur aus gegenwärtigen<br />
Grammatiken abgeleitet werden sollen, um für Thesen der synchronen<br />
Syntaxtheorie Evidenz zu liefern.<br />
Aus dieser Feststellung ergeben sich erhebliche methodologische<br />
Einschränkungen. Da sich unsere kognitiven Grammatiken von jenen<br />
früherer Sprachstufen unterscheiden, fehlt uns die Möglichkeit, mit<br />
86
muttersprachlicher Kompetenz Sätze aus älteren Stufen der deutschen<br />
Sprache nach ihrer Akzeptabilität hin zu bewerten. Somit sind wir <strong>ein</strong>er<br />
Methode beraubt, die eigentlich konstitutiv für die synchrone Syntax ist. Die<br />
<strong>ein</strong>zigen verwertbaren empirischen Daten, die uns verbleiben, sind<br />
überlieferte Handschriften, deren sprachliche Korrektheit wir <strong>ein</strong>fach<br />
voraussetzen müssen. Eine diachrone Analyse der Syntax wird weiter<br />
dadurch erschwert, daß die früheren Daten stets in regional beschränkten<br />
Dialekten verfaßt wurden, denen jeweils unterschiedliche Grammatiken<br />
zugrunde lagen. Dialektübergreifende Behandlungen der Syntax von frühen<br />
deutschen Sprachzeugnissen haben also mit größter Vorsicht zu erfolgen.<br />
So gesehen muß diachrone Syntax zum großen Teil sehr spekulativ bleiben.<br />
Zusammenfassung.<br />
Abschnitt 3.1 nahm sich vor, zu skizzieren, worin die Grenzen und die<br />
Möglichkeiten von diachronen Untersuchungen bestehen. Lehmann (1995)<br />
und Lightfoot (1979) steuerten mit ihren Konzepten des GR-Kanals und der<br />
Re-Analyse wertvolle Instrumente für unsere Zwecke bei, was aber die<br />
prinzipiellen Schwierigkeiten, mit denen sich diachrone Betrachtungen der<br />
Syntax konfrontiert sehen, bei weitem nicht neutralisiert. So warnt Lightfoot<br />
selbst davor, formale Regeln wie Transformationsregeln für den<br />
Syntaxwandel zu postulieren, und er geht vielmehr davon aus, daß<br />
Syntaxwandel nicht formal zu erfassen ist. Auf der anderen Seite droht uns<br />
unsere heutige Grammatik, unser heutiges Sprachgefühl, den Blick auf die<br />
Gestalt der Syntax früherer Sprachstufen zu verstellen. Ohne<br />
muttersprachliche Kompetenz der früheren Grammatiken verfügen wir nicht<br />
über die Möglichkeit, Sätze aus vergangenen Sprachstadien hinsichtlich ihrer<br />
Akzeptabilität zu bewerten. Das wohl wichtigste Werkzeug der synchronen<br />
Syntaxtheorie ist uns an dieser Stelle also versagt.<br />
3.2 Der Beginn der Entwicklung.<br />
Die Vorgänger der heutigen MV lassen sich allesamt schon in frühesten<br />
Dokumenten der deutschen Sprache finden, wenn auch meistens in <strong>ein</strong>er<br />
anderen Form. Bis auf muozan sind all diese Verben auch noch als Vollverb<br />
87
ohne Infinitiv belegt. 52 Da der Vollverbgebrauch von mögen, können und<br />
wollen im Gwd noch üblich beziehungsweise nachzuvollziehen ist, werfen wir<br />
<strong>ein</strong>en kurzer Blick auf thurfan und sculan.<br />
Als ursprüngliche Bedeutung von thurfan setzt das DWB den Ausdruck<br />
<strong>ein</strong>er Notwendigkeit an. Syntax und Semantik entsprechen weitgehend dem<br />
verwandten gwd bedürfen. Auf dem Weg zu s<strong>ein</strong>em gwd Abkömmling hat<br />
thurfan <strong>ein</strong>e Reihe von gravierenden Veränderungen syntaktischer und<br />
semantischer Natur erfahren. sculan diente hingegen zum Ausdruck <strong>ein</strong>er<br />
Verpflichtung zur Leistung (materieller) Schuld, und ließ sich, wie schon<br />
Beispiel (1) zeigte, auch als transitives Vollverb gebrauchen.<br />
Daß auch ahd muozan auf <strong>ein</strong> infinitivloses Verb zurückgeht ist, legt s<strong>ein</strong>e<br />
in hohem Maße spezifizierte Semantik nahe, die das DWB auf folgende<br />
Weise paraphrasiert (Bd. 12 S. 2749):<br />
den präterito präsentialen Formen des verbums liegen verschollene<br />
präsentische zu grunde, <strong>ein</strong> goth. alts. ags. matan, ahd. mazan, was,<br />
wenn man zumal gemet, angewiesene grenze, schranke, erwägt, wol<br />
nur den begriff <strong>ein</strong>er raumzutheilung in sich schlieszen konnte, etwa, ich<br />
bekomme <strong>ein</strong>e stätte, <strong>ein</strong>en fleck môt, ahd. muoz, daher ich habe solche<br />
erlangt, habe statt, finde raum, von welcher bedeutung sich das eben<br />
angeführte ahd. ni môz, careo als noch halb präterital gedacht (etwa ich<br />
habe nichts zugewiesen erhalten) gut erklärt.<br />
Demgemäß ist es als sehr wahrsch<strong>ein</strong>lich anzusehen, daß wenigstens das<br />
ursprüngliche Lexem, von dem sich das Präteritopräsens abgespaltet hat, als<br />
infinitivloses Vollverb gebräuchlich war.<br />
Weitere Evidenz für die Annahme, daß allen diesen Verben <strong>ein</strong><br />
(in)transitiver Vollverbgebrauch zugrunde liegt, liefern auch die jüngeren<br />
epistemisch verwendbaren Verben brauchen, drohen, versprechen und<br />
sch<strong>ein</strong>en. Da in diesen Fällen der GR-Prozeß meist erst später <strong>ein</strong>gesetzt<br />
hat, verfügen wir über dementsprechend mehr Belege und sind darüber<br />
hinaus besser in der Lage, die Anfänge dieses Prozesses zu rekonstruieren.<br />
So sind in allen vier Fällen heute noch die ursprünglichen Vollverbformen<br />
52 Siehe Diewald (1999: 335) und DWB unter den Einträgen der hier behandelten Verben.<br />
88
geläufig, die ausnahmslos nachweislich <strong>ein</strong> größeres Alter aufzuweisen<br />
haben als die Formen mit Infinitiv.<br />
Das alles spricht für die Annahme <strong>ein</strong>es GR-Kanals für die deutschen MV<br />
im Lehmannschen Sinne, der bei Vollverben ohne Infinitivanschluß mit<br />
geeigneter Semantik beginnt und zumindest bis zur Herausbildung <strong>ein</strong>er<br />
epistemischen Lesart führt. Diewald (1999:34) expliziert Lehmanns Ansatz<br />
für die deutschen MV und unterteilt den GR-Prozeß in drei große Stufen:<br />
Vollverb > Vektorverb > Auxiliar<br />
Ohne schwerwiegende Ungenauigkeiten zu begehen, lassen sich die<br />
Begriffe Vektorverb und Auxiliar in DMV beziehungsweise EMV übersetzen.<br />
Doch Vorsicht, diese GR-Theorie bedeutet nun k<strong>ein</strong>eswegs, daß sobald <strong>ein</strong><br />
Lexem <strong>ein</strong>e neue Stufe erreicht hat, s<strong>ein</strong>e Formen aus der vorangegangenen<br />
Stufe allesamt ausgelöscht sind. Vielmehr überleben auch die alten Formen<br />
diesen ”Generationswechsel” zumindest <strong>ein</strong>e bestimmte Zeit, sodaß jedes<br />
Lexem über interkategoriale Formen verfügt, wie Diewald (1999: 49) zeigt. Im<br />
Falle des MV können besteht diese Interkategorialität in der gleichzeitigen<br />
Existenz von transitiven Vollverbgebrauch, DMV und EMV. Genausowenig<br />
bedeutet diese GR-Theorie, daß sich die (Vorgänger der) sechs klassischen<br />
MV-Lexeme immer synchron zu <strong>ein</strong>ander entwickelt haben. Selbst diese<br />
haben zu verschiedenen Zeitpunkten in den hier besprochenen GR-Kanal<br />
getreten. Basierend auf den frühesten Dokumenten der deutschen Sprache<br />
entwirft Diewald (1999: 296) folgendes Bild der (Prä-)MV: nur drei der sechs<br />
Verben, deren Abkömmlinge zum Kern des heutigen MV-Systems zählen,<br />
weisen <strong>ein</strong> nennenswertes Maß an GR auf: sculan, mugan und wellen. Die<br />
verbleibenden drei tauchen vor allem als Vollverben auf und sind anfangs nur<br />
marginal grammatikalisiert, von den jüngeren MV ganz zu schweigen. Diese<br />
Auffassung wird vielfach geteilt, unter anderem von Krause (1997) und<br />
Schrodt (2004).<br />
Angesichts der Tatsache, daß im Ahd die meisten der hier im Mittelpunkt<br />
der Forschung stehenden Verben höchstens die zweite Stufe in der GR<br />
erreicht haben, ist es mehr als nur fragwürdig sie nach obiger Definition<br />
schon als MV zu bezeichnen. Das heißt, nach der hier vertretenen Ansicht<br />
89
kann von MV erst nach der Entstehung der epistemischen Formen überhaupt<br />
die Rede s<strong>ein</strong>.<br />
Inwieweit sich im Ahd tatsächlich noch k<strong>ein</strong>e epistemische Interpretation<br />
herausgebildet hat, ist in der Forschung umstritten. Abraham (2003b),<br />
Diewald (1999: 385), Fritz (1997: 94f.) und Leiss (2003a,b) nehmen mit<br />
mugan die Existenz <strong>ein</strong>es ahd EMV an, Krause (1997: 95) will neben mugan<br />
auch noch sculan <strong>ein</strong>e epistemische Variante zugestehen. Axel (2001: 44ff.)<br />
ist der gegenteiligen Auffassung, daß von EMV im Ahd noch nicht die Rede<br />
s<strong>ein</strong> kann. Sie zeigt, daß <strong>ein</strong> großer Teil der in Frage kommenden Belege in<br />
Kontexten vorkommt, mit denen zumindest die gwd EMV unverträglich sind:<br />
so steht das MV entweder im Präteritum, in nicht-assertiven oder nichtfaktiven<br />
Kontexten. Das betrifft auch Leiss (2003a), die als Beleg für <strong>ein</strong>en<br />
epistemischen Gebrauch von mugan <strong>ein</strong>en inkompatiblen Fragesatz wählt.<br />
Für alle mugan-Belege besteht jedoch k<strong>ein</strong>erlei semantische Notwendigkeit,<br />
diese als EMV anzusehen. Anders als im Falle der anderen MV, lassen sich<br />
Verben, die in ihrem deontischen Gebrauch <strong>ein</strong>e Möglichkeit ausdrücken, in<br />
vielen Fällen kaum von ihren epistemischen Geschwistern unterscheiden. 53<br />
Ein <strong>ein</strong>ziger Anhaltspunkt, der dagegen spricht, die beiden Vorkommen völlig<br />
gleichzusetzen, existiert jedoch: die deontischen Formen erfahren viel<br />
weniger distributive Restriktionen und können im Gegensatz zu den<br />
epistemischen Varianten zum Beispiel in Fragesätzen <strong>ein</strong>gebettet werden,<br />
wie ich in den Abschnitten 2.1.4 und 2.1.5 anhand des Beispiels von können<br />
gezeigt habe. Nun hat ahd mugan <strong>ein</strong>e vergleichbare Semantik wie gwd<br />
können und tritt mitunter ver<strong>ein</strong>zelt auch noch in archaischen Wendungen in<br />
<strong>ein</strong>em solchen Gebrauch auf. 54 Nichts ist naheliegender, die relevanten<br />
Vorkommen von mugan als dessen deontischen Gebrauch anzusehen.<br />
K<strong>ein</strong>e (semantische) Notwendigkeit besteht gesonderte Formen<br />
anzunehmen. 55 Viel mehr spricht der Umstand, daß die meisten aller in<br />
53<br />
Axel (2001) hat zwar <strong>ein</strong>e Reihe von Diagnostika zur Unterscheidung der beiden Modalitäten<br />
entwickelt, die aber nicht in jedem Fall zur Anwendung kommen können. Die <strong>ein</strong>zige<br />
Restriktion, die sie trifft, liegt darin, daß sie EMV auf assertive, präsentische Kontexte<br />
beschränkt. Dadurch bleiben MV-Vorkommen von können oder ahd mugan in eben solchen<br />
Kontexten meistens ambig zwischen den beiden Modalitäten.<br />
54<br />
Siehe Beispiel (21) in Abschnitt 2.1.4.<br />
55<br />
Auch Leiss´ (2003) Einwand, EMV und DMV unterschieden sich hinsichtlich der aspektuellen<br />
Beschaffenheit ihrer Inifinitivkomplemente, greift hier nicht. Wie sich in Kapitel 2 zeigte, läßt die<br />
deontische Variante von (Möglichkeits-)können Infinitive der selben Aktionsart zu, wie die<br />
epistemische Variante.<br />
90
Frage kommenden mugan-Belege in mit Epistemizität unverträglichen<br />
Kontexten auftreten, dafür, daß in diesen Fällen die semantisch ähnliche<br />
deontische Form vorliegt. Bisher liegt k<strong>ein</strong> wirklich zwingender Grund vor,<br />
mugan <strong>ein</strong>e epistemische Variante zuzuschreiben.<br />
Bleiben <strong>ein</strong>zig Krauses (1997: 95) Beleg für sculan noch ungeklärt.<br />
(2) Waz quit fon mir ther liutstam? thaz gizellet mir nu fram;<br />
werquedent sie theih sculi sin odo ouh racha wese min?<br />
(Otfrid 3.12.7/8)<br />
(3) Nintheizit mir iz muat min, ni ther fon gote sculi sin,<br />
es alleswio ni thenkit ther sulih werk wirkit.<br />
(Otfrid 3.20.149/150)<br />
(4) Ein man ist uns giheizan joh scal ouh Krist heizan,<br />
uns duit sin kunft noh wanne thaz al zi wizanne, (Otfrid<br />
2.14.75/76)<br />
Axel (2001: 47) bestreitet aber, daß diese Belege von sculan epistemisch<br />
beziehungsweise quotativ zu lesen sind. Wie unter anderen Fritz (1997: 64)<br />
schon zeigte, diente sculan im Ahd oft zur Markierung des Futurs – und als<br />
Futurmarker lassen sich diese Beispiele alle durchgängig auffassen. Nach<br />
Auffassung von Fritz (1997: 11) kann sollen in quotativem Gebrauch erst ab<br />
dem 12. Jahrhundert belegt werden. Diewald (1999: 421) zeigt weiter, daß<br />
sich diese Variante erst mit dem 16. Jahrhundert zu <strong>ein</strong>er eigenständigen<br />
Form ausgrammatikalisiert hat.<br />
Kurz zusammengefaßt: Alle (quasi-)MV entstanden ausnahmslos aus<br />
infinitivlosen Vollverben. Die epistemische Varianten entwickelten sich<br />
offensichtlich erst mit fortgeschrittenem Stadium der GR, da für wenig<br />
grammatikalisierte Lexeme k<strong>ein</strong>e derartigen Lesarten gefunden werden<br />
konnten. Umstritten bleibt, ob die bereits im Ahd stärker grammatikalisierten<br />
sculan und mugan schon über epistemische Formen verfügen. In den<br />
Ausführungen zeigte sich jedoch, daß k<strong>ein</strong> zwingender Anlaß besteht,<br />
derartige Formen anzunehmen. Darüber hinaus bezweifeln selbst die<br />
genannten Befürworter der Ansicht, im Ahd existierten schon ver<strong>ein</strong>zelt<br />
91
epistemische MV-Formen, nicht, daß sich das System der EMV erst viel<br />
später herausgebildet hat, sodaß von polyfunktionalen MV nach obiger<br />
Definition im Ahd noch gar nicht die Rede s<strong>ein</strong> kann. Auch das DWB kann<br />
k<strong>ein</strong>e Belege von EMV vor dem Mhd aufweisen.<br />
Es sch<strong>ein</strong>t somit für die deutschen MV tatsächlich <strong>ein</strong>en GR-Kanal zu<br />
geben, der bei semantisch geeigneten Vollverben beginnt und zumindest bis<br />
zur Entwicklung <strong>ein</strong>er epistemischen Variante führt.<br />
3.3 Voraussetzungen für die Herausbildung EMV.<br />
Da MV offenkundig nicht von Anfang an mit <strong>ein</strong>er epistemischen Lesart<br />
versehen waren, untersuchen Abschnitt 3.3 & 3.4 die Umstände ihrer<br />
Herausbildung. Drei Faktoren werden immer wieder mit EMV in<br />
Zusammenhang gebracht: Kohärenz, Aspekt und Anhebung. Im Anschluß<br />
folgt <strong>ein</strong>e kurze Analyse, die bewertet, wie wichtig sie in der diachronen<br />
Entstehung waren. Als empirische Grundlage dafür dient vor allem Wolframs<br />
Parzival.<br />
3.3.1 Starke und obligatorische Kohärenz.<br />
Die meisten Ansätze zur Infinitivsyntax in der Tradition von Bech (1955/57)<br />
sehen in der obligatorischen Kohärenz <strong>ein</strong>e wesentliches Merkmal der MV,<br />
so unter anderen Grewendorf (1987: 128), Kiss (1995), Öhlschläger (1989)<br />
und Reis (2001). Reis (2001: 310) macht ihr modifiziertes Konzept der<br />
starken Kohärenz sogar für die mögliche epistemische Interpretation der MV<br />
verantwortlich. Starke Kohärenz (das heißt: obligatorische Kohärenz auf der<br />
Basis des 1. Status) gewährleistet die nach Ansicht Reis´ (2001: 308) für Epistemizität<br />
notwendige Transparenz des regierenden Verbs gegenüber dem<br />
Infinitivkomplement. Wurmbrand (2001: 292ff.) hingegen stellt fest, daß<br />
epistemische Verben mit Infinitiv k<strong>ein</strong>e Extraposition desselben dulden; mit<br />
anderen Worten: diese Verben sind obligatorisch kohärent.<br />
Läßt sich für diesen Verdacht des engen Zusammenhangs zwischen<br />
Kohärenz und Epistemizität auch diachrone Evidenz finden? Eine<br />
Untersuchung der Syntax der MV in Wolframs Parzival, der aufgrund s<strong>ein</strong>es<br />
Umfangs hierfür besonders geeignet ersch<strong>ein</strong>t, gibt mehr Aufschluß darüber.<br />
Kohärenz offenbart sich (wie Abschnitt 1.2.2 bereits zeigte) topologisch, in<br />
92
der Reihung der Satzglieder. Kohärente Konstruktionen sind nur dort von<br />
inkohärenten zu unterscheiden, wo das übergeordnete statusregierende<br />
Verb (oder gegebenenfalls dessen Partikel) die letzte Position im Satz<br />
<strong>ein</strong>nimmt. Da MV nicht zu den Partikelverben zählen und im Parzival nicht in<br />
periphrastischen Tempora vorkommen, verbleiben all<strong>ein</strong>e jene Sätze für<br />
unsere Zwecke, in denen das Verb in der finiten Form an letzter Stelle steht.<br />
Doch damit der Erschwernisse noch nicht genug. Denn erstens unterliegt das<br />
Mhd nicht zwangsläufig den gleichen Wortstellungsbeschränkungen wie das<br />
Nhd, und zweitens bedient sich Wolframs Parzival der gebundenen Rede.<br />
Folglich ist der darin befindliche Sprachgebrauch nicht mit dem natürlichen<br />
gleichzusetzen, sondern bedient sich im Gegensatz zu diesem in <strong>ein</strong>em viel<br />
großzügigeren Maß markierter Wortstellung, im äußersten Fall womöglich<br />
sogar ungrammatischer Konstruktionen. Vorsicht ist also geboten.<br />
Die Untersuchung beschränkt sich auf Vorkommen von MV in<br />
Distributionen, in denen epistemische Formen am ehesten zu erwarten sind,<br />
also auf Formen im Indikativ Präsens, die im Zuge der Ausarbeitung in ihrer<br />
Vollständigkeit systematisch erfaßt und beurteilt wurden. 56 Die Analyse<br />
konzentriert sich auf zwei in ihrer Entwicklungsgeschichte und Semantik<br />
äußerst unterschiedliche Verben mugen und müezen. Ersteren gestehen<br />
Abraham (2003b), Diewald (1999: 385), Fritz (1997: 94f.) und Leiss (2003a)<br />
bereits seit ahd Zeit <strong>ein</strong>e epistemische Lesart zu. Letzteres läßt im<br />
Gegensatz zu jenem <strong>ein</strong>e klare semantische Unterscheidung von<br />
epistemischer und deontischer Variante zu.<br />
Was das topologische Verhalten der (Prä-)MV im Parzival betrifft, ist<br />
folgendes festzustellen. In der Tat treten mugen und müezen in derart großer<br />
Zahl in fremdartigen Konstruktionstypen auf, die dem heutigen Sprachgebrauch<br />
völlig fremd sind, daß nicht mehr davon ausgegangen werden kann,<br />
daß in diesen Fällen stets markierte Wortstellung vorliegt, die auf Gründe des<br />
Reimes und des Versmaßes zurückzuführen ist.<br />
So finden sich zuhauf Verberst (V1)- und Verbzweit (V2)-Sätze mit<br />
Extraposition von nominalen Komplementen und auch Adjunkten, die in den<br />
meisten Fällen jeweils vom Infinitiv regiert werden:<br />
56 Siehe Appendix.<br />
93
(5) Ist zwîvel herzen nâchgebûr ,<br />
daz muoz der sêle werden sûr ,<br />
(Parz. 1,1-2)<br />
(6) solde ich nû drum ersterben ,<br />
sô muoz ich leisten sicherheit<br />
die sîn hant an mir erstreit .<br />
(Parz. 424,24-26)<br />
(7) jâ mac mit êren nû mîn lîp<br />
ergetzen diz werde wîp ,<br />
(Parz. 279,29-30)<br />
In (6) und (7) liegen mit sicherheit beziehungsweise diz werde wîp jeweils<br />
NP-Komplemente in Extraposition vor, in (5) wurde <strong>ein</strong> prädikatives Adjektiv<br />
extraponiert. Auch wenn diese Konstruktionen je nach syntaktischen Status<br />
des extraponierten Elements k<strong>ein</strong>eswegs <strong>ein</strong>heitlich zu behandeln sind,<br />
teilen sie die Eigenschaft, daß sie im Nhd nicht zulässig sind. 57 Diese<br />
Wortstellungen erweisen sich jedoch im Parzival als sehr frequent. So<br />
weisen 70 von den 162 Vorkommen von mugen in V1/V2 die im Nhd<br />
unerlaubte Extraposition auf, während die restlichen 92 Auftreten in diesem<br />
Aspekt dem nhd. Gebrauch entsprechen. müezen hingegen taucht 129 mal<br />
in V1/2 auf, davon nur 38 mal mit Extraposition und immerhin 91 mal ohne. 58<br />
Nun stellt sich die Frage, wie mit der vom nhd Sprachgebrauch<br />
abweichenden MV-Konstruktion umgegangen werden soll. Ist die<br />
Extraposition von Elementen aus dem Verbalfeld des Infinitivs <strong>ein</strong> Zeichen<br />
für Inkohärenz in V1 und V2-Sätzen? Wohl kaum. Denn in den in Frage<br />
kommenden Beispielen ist meist nur <strong>ein</strong> Element aus dem Verbalfeld des<br />
Infinitivs nachgestellt, so daß die Elemente dieses Verbalfeldes den<br />
regierenden Infinitiv umgeben, wie in (6) oder (7). Darüber hinaus existieren<br />
k<strong>ein</strong>e gewichtigen Gründe, die dafür sprechen, das Vorhandens<strong>ein</strong> <strong>ein</strong>er<br />
nominalen Extraposition mit Inkohärenz gleichzusetzen beziehungsweise<br />
57<br />
Abgesehen davon müssen nicht alle dieser Fälle im Parzival, wo <strong>ein</strong> MV mit extraponiertem<br />
Komplement oder Adjunkt auftritt, für das Mhd grammatisch s<strong>ein</strong>. Es bestünde ja noch immer<br />
die Möglichkeit, daß <strong>ein</strong>ige dieser Beispiele tatsächlich reim- und versmaßbedingte grammatikalische<br />
Verstöße darstellen.<br />
58<br />
Siehe Appendix für Auflistung sämtlicher Belege.<br />
94
deren Abwesenheit mit Kohärenz zu identifizieren. Offenkundig stehen die im<br />
Parzival frequenten Extrapositionen kl<strong>ein</strong>erer Konstituenten in k<strong>ein</strong>em<br />
Zusammenhang mit der Frage, inwieweit <strong>ein</strong>e Konstruktion als kohärent oder<br />
inkohärent zu erachten ist. Eine genauere Untersuchung des syntaktischen<br />
Status der Möglichkeit zu derartigen Extrapositionen steht noch aus.<br />
Als weitaus unproblematischer erweist sich diesbezüglich die<br />
Charakterisierung von MV in Verbletztstellung (VL). 59 Analog zum Nhd<br />
lassen sich im Mhd anhand von Bechs (1955/57) Kriterien zwei grundlegend<br />
verschiedene Wortstellungstypen finden. In dem <strong>ein</strong>en Fall steht das<br />
gesamte Verbalfeld des untergeordneten Infinitivs links des regierenden MV<br />
– der klassische Fall von Kohärenz:<br />
(8) ob ich ir dar nâch dienen muoz<br />
und ob ich des wirdec bin ,<br />
sô rætet nir mîn bester sin<br />
daz ichs mit rehten triuwen phlege .<br />
(Parz. 8,12-15)<br />
(9) dâ nie getrat vilânes vuoz ,<br />
ob ichz iu rehte sagen muoz ,<br />
noch lîhte nimmer dâ geschiht .<br />
(Parz. 74,13-15)<br />
(10) Segramors enbin ich niht ,<br />
den man durch vehten binden muoz :<br />
(Parz. 421,20-21)<br />
(11) swâ werc verwürkent sînen gruoz ,<br />
daz gotheit sich schamen muoz ,<br />
wem lât den menneschlîchiu zuht ?<br />
(Parz. 467,1-3)<br />
59<br />
Ferner verdient der Umstand Beachtung, daß die VL-Belege viel seltener jene Form der<br />
Extrapositionen aufweist, die uns in der Untersuchung der V1/V2-Sätze Kopfzerbrechen<br />
bereitete. Nur in sechs Fällen von 38 tritt mugen mit dieser Extraposition auf. Im Falle von<br />
müezen sind es gar nur 4 von 33.<br />
95
(12) bî manheit sælde helfen mac .<br />
(Parz. 548,12)<br />
Von den 33 müezen-Belegen in VL, weisen insgesamt 15 <strong>ein</strong>e derartige<br />
Form auf, von den 38 mugen-Belegen in VL sind 20 <strong>ein</strong>deutig in der für<br />
Kohärenz typischen Wortfolge. 60 Wie mit jenen Belegen zu verfahren ist, die<br />
nach obigem Schema nicht diese Wortfolge aufweisen, bleibt vorerst unklar.<br />
Jene Belege unterscheiden sich von den kohärenten dadurch, daß in ihnen<br />
das MV dem untergeordnetem Infinitiv vorangeht (14) und das MV somit<br />
nicht am Ende des Verbalkomplexes aufsch<strong>ein</strong>t, wie für kohärente<br />
Konstruktionen charakteristisch (13).<br />
(13) ARG2 V´´(INF) V´(MV).<br />
(14) ....V´(MV)....V´´(INF).<br />
Auch wenn sich die noch nicht klassifizierten Belege in der Abfolge von MV<br />
und Infinitivkomplement gleichen, ergeben sie <strong>ein</strong> recht heterogenes Bild,<br />
was die Stellung der zum Infinitiv gehörenden Komplemente und Adjunkte<br />
angeht: so finden sich Beispiele mit der bloßen Extraposition des Infinitivs bei<br />
gleichzeitiger Intraposition der von ihm abhängenden Elemente:<br />
(15) daz senftet mir mîn gemüete ,<br />
ob ich ir sicherheit muoz geben ,<br />
daz ich ir vrides hie sol leben . "<br />
(Parz. 394,14-16)<br />
(16) Parzivâl sprach : " ir sult noch sehen<br />
liute , den ir prîses müezet jehen ,<br />
bî Artûs dem houbetman ,<br />
manegen ritter manlîch getân .<br />
(Parz. 763,21-24)<br />
96
(17) dô sprach er: "vrouwe, swâ daz rîs<br />
stêt, daz sô hôhen prîs<br />
mir ze sælden mac bejagen,<br />
(Parz 600,25-27)<br />
Des weiteren existieren zahlreiche Belege, in denen der Infinitiv samt allen<br />
zugehörigen Konstituenten extraponiert ersch<strong>ein</strong>t:<br />
(18) sît iuwer minne mir gebôt<br />
daz ich muoz ziuwerm gebote stên ,<br />
ich mege rîten oder gên . "<br />
(Parz. 530,18-20)<br />
(19) der habe mit ritterlîcher kraft<br />
minne und prîs behalden ,<br />
daz er muoz beider walden :<br />
(Parz. 746,16-18)<br />
(20) alhie . muget ir versuochen ,<br />
welt ir mîns lebens ruochen ,<br />
ob mich der künec welle sehen ,<br />
dem ich muoz mîner vreuden jehen ? "<br />
(Parz. 716,27-30)<br />
(21) bezal aber ich immer ritters prîs ,<br />
sô daz ich wol mac minne gern ,<br />
ir sult mich Lîâzen wern ,<br />
iuwer tohter , der schoenen maget .<br />
(Parz. 178,30-179,03)<br />
Darüber hinaus liegen ver<strong>ein</strong>zelt auch noch Fälle vor, in denen die vom<br />
Infinitiv abhängenden Konstituenten zum Teil mit diesem extraponiert und<br />
zum anderen Teil intraponiert sind. 61<br />
60<br />
Die restlichen Belege siehe Appendix.<br />
61<br />
Einige der hier nicht angeführten Belege sind dieser Dreiteilung nicht <strong>ein</strong>deutig zuzuordnen.<br />
Das betrifft vor allem die Vorkommen der 0- und 1-wertigen Verben ohne weitere Adjunkte, die<br />
aufgrund der fehlenden Komplemente und Adjunkte nicht über das Merkmal verfügen, anhand<br />
dessen die obige Klassifikation vonstatten ging.<br />
97
(22) " waz ob diu minne disen man<br />
twinget als si mich dô twanc ,<br />
und sîn getriulîch gedanc<br />
der minne muoz ir siges jehen ? "<br />
(Parz. 301,22-23)<br />
(23) der besneit in an dem lîbe ,<br />
daz er deh<strong>ein</strong>em wîbe<br />
mac ze schimphe niht gevromen .<br />
(Parz. 657,23-25)<br />
Die hier zu Tage tretende Vielfalt der Konstituentenfolgen wirft <strong>ein</strong>ige<br />
Fragen auf: Wie ist diese zu interpretieren? Unterliegen den verschiedenen<br />
Wortfolgen verschiedene syntaktische Status oder repräsentieren sie<br />
allesamt den selben Konstruktionstypus? Befinden sich unter den Belegen<br />
mit für Kohärenz untypischer Wortfolge solche, deren Konstituentenfolge r<strong>ein</strong><br />
durch Reim und Metrum bedingt sind und gar nicht dem natürlichen<br />
Sprachgebrauch entsprechen? Die genaue Beantwortung dieser Fragen muß<br />
künftigen Studien überlassen werden, die sich umfassender mit der mhd<br />
Wortstellung beschäftigen. Aussagen über die mhd Infinitivsyntax müssen<br />
hier folglich zum großen Teil recht spekulativ bleiben. Im Hinblick darauf<br />
erschiene <strong>ein</strong>e Behauptung als recht waghalsig, alle Belege, die nicht die für<br />
Kohärenz typische Wortfolge aufweisen, als inkohärent zu bezeichnen.<br />
Eine grundlegender Unterschied zum Nhd läßt sich aber trotzdem feststellen:<br />
Ein großer Teil der herangezogenen (Prä)MV-Belege weist <strong>ein</strong>e für<br />
den heutigen Sprachgebrauch absolut unverträgliche Wortstellung auf: das<br />
betrifft 18 (von 33) Vorkommen von müezen und 14 (von 38) von mugen.<br />
Diese Abweichungen bestehen in der Extraposition des Infinitivs mit und<br />
ohne Komplement, deren Unverträglichkeit fürs Nhd Wurmbrand (2001:<br />
292ff.) zeigte. Diese vom nhd Gebrauch unterschiedlichen Belege kommen<br />
in derart großer Zahl vor, daß Reim und Metrum wohl kaum in jedem Fall für<br />
ihren abweichenden Charakter verantwortlich sind. Folglich existieren im<br />
Mhd mit an Sicherheit grenzender Wahrsch<strong>ein</strong>lichkeit Konstruktionen, die<br />
98
aufgrund ihrer Wortstellung NICHT als kohärent bezeichnet werden<br />
können. 62<br />
Hinsichtlich der Topologie der MV ergeben die gesammelten Daten aus<br />
Wolframs Parzival folgendes Bild: sowohl in V1/V2 und VL sch<strong>ein</strong>en im Mhd<br />
die MV und die von ihnen abhängenden Elemente lockereren<br />
Stellungsbeschränkungen zu unterliegen als im Nhd. In V1/V2 äußert sich<br />
dies durch die Möglichkeit der Extraposition von Komplementen und<br />
Adjunkten (vor allem) des Infinitivs, in VL in erster Linie in der Möglichkeit,<br />
den Infinitiv selbst zu extraponieren. Ein extraponierter Infinitiv in VL stellt im<br />
Nhd den Paradefall für Inkohärenz da. Die Wahrsch<strong>ein</strong>lichkeit ist sehr groß,<br />
daß die MV im Mhd in anderen Konstruktionen vorkamen als in kohärenten.<br />
Da sich aber nicht eruieren läßt, zu welchem Ausmaß die vom nhd Gebrauch<br />
abweichenden Wortstellungen nicht durch Reim und Metrum bedingt sind,<br />
bleiben die hier getroffenen Aussagen über die Topologie der MV zum<br />
großen Teil recht spekulativ. Einen interessanten Verweis hiezu bringt Reis<br />
(2001: 309), demzufolge sich die Opposition [+/- kohärent] sich erst nach<br />
62 Folgt man Bechs (1955/57) Unterscheidung von Kohärenz und Inkohärenz im Detail, so<br />
fände man Einwand gegen diese Behauptung. Bech (1955/57: 62ff.) geht nämlich davon aus,<br />
daß in kohärenten Konstruktionen das Kohärenzfeld auch über <strong>ein</strong> sogenanntes Oberfeld<br />
verfügen kann, das entweder nur aus finiten Verben und Verben des 1. Status bestehen kann.<br />
Das Oberfeld befindet sich am linken Rand des Kohärenzfeldes und b<strong>ein</strong>haltet im Regelfall<br />
dessen maximal übergeordnetes Verb und selten auch noch <strong>ein</strong> davon regiertes Verb des 1.<br />
Status, die übrigen Verben ergeben das Unterfeld. Bech (1955/57) und in der Folge auch<br />
Grewendorf (1987: 130) unterscheiden Oberfeld und Unterfeld darüber hinaus durch die<br />
Reihenfolge der Verben: während für das Unterfeld die Folge ”Rektum vor Regens” gilt,<br />
zeichnet sich das Oberfeld durch die Folge ”Regens vor Rektum” aus:<br />
(1) daß er (wird1 können2) (liegen3 bleiben4). (=Günther<br />
Grewendorf 2-16)<br />
(2) (V´ V´´) (V´´´´ V´´´)<br />
In (1) ergeben das finite Verb wird und s<strong>ein</strong> Rektum können, <strong>ein</strong> Verb des 1. Status,<br />
zusammen das Oberfeld mit der entsprechenden Wortfolge, siehe (2). liegen und bleiben bilden<br />
hingegen das Unterfeld.<br />
Die Annahme <strong>ein</strong>es solchen Oberfeldes für Kohärenz hat aber schwerwiegende konzeptuelle<br />
Konsequenzen. Auf diese Weise würde nämlich in kohärenten Konstruktionen die Extraposition<br />
des Infinitivs erlauben, sodaß diese von inkohärenten Komplexen kaum noch zu unterscheiden<br />
wären. Aufgrund ihres 1. Status könnten MV in jedem Fall in <strong>ein</strong>em Oberfeld stehen, gefolgt von<br />
<strong>ein</strong>em Unterfeld oder in anderen Worten: von <strong>ein</strong>em extraponiertem Infinitiv. Beziehungsweise<br />
könnten alle obligatorisch kohärenten Verben des 2. Status in finiter Form ihren Infinitiv<br />
extraponieren.<br />
Da im Nhd die obligatorisch kohärenten Verben des 1. und 2. Status aber nie mit Extraposition<br />
auftreten, wie Wurmbrand (2001: 292ff.) zeigte, und ich Beispiel (1) als hochgradig markiert bis<br />
ungrammatisch erachte, halte ich <strong>ein</strong>e derartige Theorie des Oberfeldes für fragwürdig. Weder<br />
Bech (1955/57: 62f.) noch Grewendorf (1987: 130) leugnen den markierten Charakter der<br />
Oberfeldkonstruktionen, der sich in intonatorischen Besonderheiten äußert, sodaß es nicht als<br />
99
1500 ausbildete. Das stützt unsere Annahme, daß im Mhd MV in nicht-kohärenten<br />
Formen vorkommen. Inwieweit der Parzival schon MV-Belege mit<br />
epistemischer Interpretation aufweist wird Aufgabe von Abschnitt 3.4 s<strong>ein</strong>.<br />
Auf <strong>ein</strong>ige diachrone Beobachtungen im Zusammenhang mit Kohärenz und<br />
Epistemizität sei dennoch verwiesen. Einige Fälle von epistemischen<br />
Konstruktionen sch<strong>ein</strong>en das Naheverhältnis zwischen (obligatorischer oder<br />
starker) Kohärenz zu widerlegen. So belegen das DWB (Bd.30, 1354) und<br />
Fritz (2000: 274&276) wollen in s<strong>ein</strong>er quotativ-epistemischen Variante in<br />
transitivem Gebrauch mit daß-Satz. Im Falle von wollen kann die Entwicklung<br />
s<strong>ein</strong>es quotativ-epistemischen Gebrauchs somit nicht durch Kohärenz<br />
bedingt s<strong>ein</strong>, da es in diesen Belegen ohne den für kohärente Konstruktionen<br />
ja notwendigen Infinitiv auftritt. Ein weiterer Punkt, in dem sich wollen von<br />
den übrigen MV gravierend unterscheidet. Offensichtlich hat sich s<strong>ein</strong><br />
quotativ-epistemisches Verhalten unabhängig von der Variante mit Infinitiv<br />
entwickelt. Auch sch<strong>ein</strong>en hat s<strong>ein</strong>e epistemische Form vor und somit<br />
unabhängig vom Anschluß des Infinitivs entwickelt, worauf Diewald (2001:<br />
94ff.) schon hingewiesen hat. Darüber hinaus belegt das DWB (Bd. 2, 1345)<br />
auch noch drohen ohne Infinitivanschluß in <strong>ein</strong>er Bedeutung, die s<strong>ein</strong>em<br />
epistemischen Gebrauch entspricht: 63<br />
(24) Es droht <strong>ein</strong> Krieg.<br />
Manche Verben sind also nicht auf den kohärenten Anschluß <strong>ein</strong>es Infinitivs<br />
angewiesen, um epistemisch interpretiert zu werden. Bedeutet dieser Umstand<br />
nun, daß Kohärenz in der Entwicklung von Epistemizität in k<strong>ein</strong>em Fall<br />
<strong>ein</strong>e Rolle spielt? N<strong>ein</strong>, dies ist vielmehr Indiz dafür, daß Kohärenz nicht den<br />
<strong>ein</strong>zigen Weg darstellt, <strong>ein</strong>e epistemische Interpretation zu akquirieren.<br />
Verben wie sch<strong>ein</strong>en oder drohen sind offensichtlich mehr semantische<br />
Komponenten inhärent, die für die Ausbildung <strong>ein</strong>er epistemischen Lesart<br />
wahrsch<strong>ein</strong>lich ersch<strong>ein</strong>t, daß alle als nicht kohärent klassifizierten Belege diesem<br />
Konstruktionstypus zuzuordnen sind.<br />
63 Auch das oft zu den epistemischen Elementen gezählte Anhebungsverb pflegen erwarb s<strong>ein</strong>e<br />
neue Bedeutung offensichtlich unabhängig von der Anbindung des Infinitivs, wie folgender<br />
Beleg nahelegt:<br />
(1) swer ie solher noete phlac<br />
der mac erkennen phîle .<br />
(Parz. 569,8-9)<br />
100
erforderlich sind. 64 Sobald diese Verben aber in epistemischer Interpretation<br />
mit Infinitiv auftreten, sind sie ausnahmslos obligatorisch kohärent, wie<br />
bereits in den Abschnitten 1.4 und 2.2 gezeigt wurde.<br />
Im Unterschied dazu spielt obligatorische Kohärenz für die Herausbildung<br />
der Epistemizität der MV <strong>ein</strong>e bedeutende Rolle; Reis (2001: 309) hat schon<br />
darauf verwiesen, daß die epistemischen Formen justament dann auftauchten,<br />
als die Opposition [+/- kohärent] distinktiven Charakter erlangte.<br />
Im Gegensatz zu Reis wird hier die Auffassung vertreten, daß nicht ihr<br />
Konzept der starken Kohärenz für die Entwicklung von Epistemizität<br />
ausschlaggebend ist, sondern obligatorische Kohärenz all<strong>ein</strong>e hinreichend<br />
dafür ist. Denn mit (nicht) brauchenEMV liegt zumindest <strong>ein</strong> EMV vor, das in<br />
vielen Fällen nur obligatorisch und nicht stark kohärent konstruiert. Darüber<br />
hinaus existieren <strong>ein</strong>e Menge von Verben (sch<strong>ein</strong>en, drohen und<br />
versprechen), die den EMV unbestritten sehr nahe stehen, aber lediglich<br />
obligatorisch kohärent sind. 65<br />
Somit sch<strong>ein</strong>en für die betrachteten epistemischen Verben mehrere GR-<br />
Pfade zu existeren, die auf dem Weg zur Herausbildung der Epistemizität<br />
nach und nach in <strong>ein</strong>ander münden.<br />
3.3.2 Anhebung.<br />
Welche Rolle spielt Anhebung in der Entwicklung der EMV? Ist Anhebung<br />
für die Herausbildung der EMV verantwortlich oder nur Voraussetzung?<br />
Erstere These ist in Anbetracht der Situation im Gwd schwer<br />
aufrechtzuerhalten, wo <strong>ein</strong>deutige Belege für Fälle von DMV in<br />
Anhebungskonstruktionen vorliegen, wie wir bereits in Abschnitt 1.2.3<br />
gesehen haben. Auch die MV-Belege aus dem Parzival liefern weitere<br />
Evidenz gegen die Annahme, daß sich im Falle der MV aus deontischen<br />
Kontrollverben durch <strong>ein</strong>e Re-Analyse epistemische Anhebungsverben<br />
gebildet haben (Auswahl):<br />
64<br />
Auf die semantische Besonderheit von sch<strong>ein</strong>en ohne Infinitiv wies schon Diewald (2001:<br />
94f.) hin.<br />
65<br />
Siehe auch Abschnitt 2.2.1.<br />
101
(25) die wünschen im heiles , wan ez muoz sîn<br />
daz er nû lîdet hôhen pîn ,<br />
etswenne ouch vreude und êre .<br />
(Parz. 224,7-9)<br />
(26) ez muoz nû an <strong>ein</strong> scheiden gên .<br />
(Parz. 331,2)<br />
(27) wirt iu kurzwîle gemêret ,<br />
daz muoz an iuwerm gebote sîn .<br />
(Parz. 405,8-9)<br />
(28) iedoch wil ich iu râten daz ,<br />
heizt entwâpen disen gevangen :<br />
in mac hie stêns erlangen . "<br />
(Parz. 218,28-30)<br />
(29) ez mac mit rede niht ergên ,<br />
daz hôher prîs geneiget sî ,<br />
der Gâwâne ist ledeclîche bî . "<br />
(Parz. 323,10-12)<br />
(30) mac ez mit iuwern hulden sîn ,<br />
ich briche iu nû gesellekeit .<br />
(Parz. 402,10-11)<br />
(31) werdet ir ervunden an rehter ê ,<br />
iu mac zer helle werden wê ,<br />
(Parz. 468,5-6)<br />
(32) dâ enmac niht mêr geslâfen sîn .<br />
(Parz. 802,21)<br />
Die Modalität von mugen läßt sich aufgrund s<strong>ein</strong>er alethischen Semantik in<br />
den meisten Fällen nur schwer <strong>ein</strong>deutig feststellen. Meistens ist sowohl<br />
epistemische Interpretation als auch deontische möglich, weswegen man<br />
argumentieren könnte, in den obigen Belegen läge durchweg der<br />
102
epistemische Gebrauch von mugen vor. Dieser Schluß erweist sich angesichts<br />
der Distribution beziehungsweise des Redehintergrundes in zumindest<br />
drei Fällen als trügerisch: in (30) liegt <strong>ein</strong> mit Epistemizität unverträglicher<br />
Konditionalsatz vor, (29) und (32) involvieren k<strong>ein</strong>erlei für EMV konstitutive<br />
Vermutung.<br />
Einfacher liegt der Sachverhalt für die Bestimmung der Modalität der<br />
müezen-Belege. Da sich die Bedeutung von deontischem und epistemischen<br />
Gebrauch deutlich unterscheiden und die Bedeutung der epistemischen<br />
Form in den Beispielen k<strong>ein</strong>en Sinn ergibt, müssen wir davon ausgehen, daß<br />
auch hier deontische Verben in Anhebungskonstruktion vorliegen.<br />
Axels (2001) Annahme, daß Anhebung nicht als Auslöser der Epistemizität<br />
der MV bestenfalls als Voraussetzung anzusehen ist, sch<strong>ein</strong>t sich angesichts<br />
der Daten aus dem Parzival zu bewahrheiten. Anhaltspunkt dafür, daß im<br />
Parzival alle (Prä-)MV ausschließlich als Anhebungsverb auftreten, ließ sich<br />
aber k<strong>ein</strong>er finden. Vielmehr erwiesen sich nur drei von 164 müezen-Belegen<br />
<strong>ein</strong>deutig als Anhebungsverben.<br />
3.3.3 Funktionale Restrukturierung (FR).<br />
Trotz <strong>ein</strong>iger Einwände haben wir für die synchrone Syntax Wurmbrands<br />
(2001) Ansatz anderen Theorien des verbalen Clusterings gegenüber den<br />
Vorzug gegeben. 66 Hier überprüfen wir die Gültigkeit ihres Modells für das<br />
Mhd.<br />
Wurmbrand ordnet die gwd MV geschlossen den FR-Prädikaten zu, deren<br />
Charakteristika vor allem im Extrapositionsverbot, in Anhebung, IPP-Effekt,<br />
Verbot des Matrix Passivs und im Verbot von relative-clause-pied-piping bestehen.<br />
Von diesen Diagnostika lassen sich nur die ersten beiden anhand<br />
des Parzivals überprüfen. In 3.3.2 zeigte sich schon, daß die untersuchten<br />
Formen von müezen und mugen im Mhd <strong>ein</strong>deutig als Anhebungsverben<br />
auftreten konnten, wenn auch bis hinauf ins Gwd umstritten ist, inwieweit sie<br />
noch in anderen Infinitivkonstruktionen vorkommen. 67 Das<br />
Extrapositionsverbot hingegen kann für die beiden mhd (Prä-)MV, wie in<br />
3.1.1 gezeigt, definitiv k<strong>ein</strong>e Gültigkeit behaupten. Folglich lassen sich<br />
müezen und mugen auch nicht mehr als FR-Prädikate auffassen, da ja <strong>ein</strong>es<br />
66 Siehe Abschnitte 1.2.3 & 1.2.5.<br />
103
der konstitutiven Diagnostika verletzt wird. An diesem Punkt stellt sich aber<br />
die Frage, welcher Form von Restrukturierung die vorliegenden<br />
Infinitivkonstruktionen zugerechnet werden sollen wenn nicht FR. Eine<br />
genaue Entscheidung darüber, wie und ob <strong>ein</strong>e genaue Zuordnung anhand<br />
des Konzepts von Wurmbrand vorgenommen werden kann, muß hier<br />
offengelassen werden. Ein gewisser Sonderstatus dürfte den mhd. (Prä-MV)<br />
aber zukommen, da im gesamten Parzival weder müezen noch mugen als<br />
Infinitiv belegt sind.<br />
3.3.4 Aspekt des Komplements.<br />
In den letzen Jahren gewannen Ansätze an Bedeutung, die der Kategorie<br />
Aspekt <strong>ein</strong>en wesentlichen Anteil an der Herausbildung der EMV beimessen,<br />
wie unter anderem Abraham (2002, 2003a, 2003b), Krause (1997) und vor<br />
allem Leiss (2003a,b).<br />
Die grundlegende Annahme besteht darin, daß EMV <strong>ein</strong> imperfektives<br />
Infinitivkomplement erfordern, während DMV <strong>ein</strong> perfektives bevorzugen.<br />
Leiss (2003a) geht nun davon aus, daß die ursprünglich r<strong>ein</strong> deontischen<br />
(Prä-)MV in ihrer unmarkierten Form lediglich mit perfektiven<br />
Infinitivkomplementen kombiniert werden konnten, beziehungweise im<br />
negierten Falle nur mit imperfektiven Infinitiven. 68 Nun tritt aber das (Prä)-MV<br />
magan im Ahd auch mit ganz klar imperfektiven Komplementen auf. Leiss<br />
will festgestellt haben, daß magan in diesen Fällen <strong>ein</strong>e abweichende<br />
Bedeutung zukommt. In ihrer Argumentation kommt diese semantische<br />
Abweichung dadurch zustande, daß das (Prä-)MV in diesen Fällen <strong>ein</strong> Verb<br />
in markiertem Aspekt wählt. Denn der Auslöser der Epistemisierung der<br />
(Prä-)MV ist in jedem Fall die Wahl des jeweils markierten Aspekts. So erhält<br />
<strong>ein</strong> MV mit Negation und perfektivem Infinitiv genau wie <strong>ein</strong> MV ohne<br />
Negation und imperfektiven Infinitiv immer epistemische Interpretation.<br />
Diese Annahme ist aber mit Schwierigkeiten konfrontiert: Nicht nur, daß die<br />
Annahme von EMV im Ahd – wie wir bereits in 3.2 gesehen haben – trügerisch<br />
ersch<strong>ein</strong>t und die Belege, die Leiss (2003a) anführt, ausschließlich mit<br />
67<br />
Siehe Abschnitt 1.2.3.<br />
68<br />
Leiss (2003a) führt weitere Fälle an, in denen DMV mit imperfektiven Infinitiven auftreten. In<br />
diesen Fällen fungiert aber jeweils <strong>ein</strong> Definitheitskontext, wie zum Beispiel <strong>ein</strong><br />
Demonstrativpronomen als perfektivierender Faktor.<br />
104
Epistemizität unverträgliche Fragesätze sind, auch die im Nhd mögliche<br />
Kombination von EMV mit dem perfektiven Aspekt (siehe 2.3) stellt den<br />
Ansatz vor Probleme. An dieser Stelle bedarf es nämlich <strong>ein</strong>er Klärung,<br />
inwieweit FutEMV schon mit der Herausbildung der EMV existierten oder erst<br />
durch <strong>ein</strong>e jüngere Entwicklung entstanden. Im ersteren Falle kann Leiss<br />
(2003a,b) nicht mehr aufrecht erhalten werden.<br />
Auch für den mhd Parzival sch<strong>ein</strong>t die von Leiss getroffene<br />
Generalisierung, deontische Modalität wählt den unmarkierten Aspekt und<br />
epistemische Modalität den markierten Aspekt, nicht (mehr?) zuzutreffen.<br />
Einerseits finden sich zahlreiche Belege für <strong>ein</strong>deutig deontische (Prä-)MV<br />
mit imperfektivem Infintivkomplement ohne jegliche Negation:<br />
(33) " n<strong>ein</strong> , ich muoz bî riuwen sîn :<br />
ich sene mich nâch der künegîn .<br />
(Parz. 90,17-18)<br />
(34) ich muoz doch sus mit kumber leben<br />
âne alle mîne schulde ,<br />
sît ich darbe sîner hulde .<br />
(Parz. 150,6-8)<br />
(35) der sigehafte sprach : " mîn wîp<br />
mac nû belîben vor dir vrî .<br />
(Parz. 212,30-213,1)<br />
(36) ich mac geselleclîche leben ,<br />
lieber neve , nû g<strong>ein</strong> dir .<br />
(Parz. 701,15-17)<br />
(37) vünf stiche mac turnieren hân ,<br />
die sint mit mîner hant getân :<br />
(Parz. 812,09-109)<br />
Andererseits liegen klar deontische Konstruktionen mit perfektiven Komplementen<br />
und Negation vor. Daß es sich in diesen Fällen um perfektive<br />
105
Infinitive handelt, zeigt sich an deren Präfigierung durch das Aspektpräfix<br />
ge-.<br />
(38) si enmohten mir niht mêr getuon<br />
schaden , denne mir was geschehen<br />
an îsenharte , ich muoz es jehen . "<br />
(Parz. 28,24-26)<br />
(39) ich enmac es niht abe gezwicken . "<br />
(Parz. 124,4)<br />
(40) ich enmac es sô niht geleiden<br />
als ez mir leide kündet ,<br />
sich nû maneger sündet<br />
an mir , der niht weiz mîner klage ,<br />
und ich dâ bî sîn spotten trage .<br />
(Parz. 329,20-24)<br />
Worauf ist dieses Verhalten nun zurückzuführen? Bedeutet diese neue<br />
Toleranz gegenüber der Aspektsopposition, daß diese im Begriff ist, ihre<br />
Relevanz <strong>ein</strong>zubüßen? Leiss (2003a,b) ist nämlich der Auffassung, daß jede<br />
Sprache in der Lage ist, Epistemizität zu kodieren, sei dies nun vermittels<br />
(E)MV, vermittels Adverbien oder auch vermittels komplementärer<br />
Aspektsetzung. Ihrer M<strong>ein</strong>ung nach drückte das Ahd epistemische Modalität<br />
vor allem durch Setzung des markierten Aspekts aus. Durch den Abbau des<br />
Aspektsystem im Mhd bedingt übernahmen andere Sprachmittel diese<br />
Aufgabe: die heutigen MV.<br />
Da Aspekt im Parzival offenkundig nicht mehr im Stand ist, Epistemizität zu<br />
kodieren, müßten sich der Auffassung Leiss´ zufolge die Funktion der<br />
Epistemisierung zumindest ansatzweise auf die EMV übertragen haben.<br />
Sollten im Parzival tatsächlich schon EMV vorliegen, so wären folgende<br />
Belege brennende Anwärter für EMV ohne Negation, aber mit <strong>ein</strong>deutig<br />
perfektivem Infinitiv – <strong>ein</strong> Indiz dafür, daß die FutEMV sich gleichzeitig mit<br />
den anderen EMV auch herausbildete:<br />
106
(41) iedoch wil ich iu râten daz ,<br />
heizt entwâpen disen gevangen :<br />
in mac hie stêns erlangen . "<br />
(Parz. 218,28-30)<br />
(42) unkundem gaste<br />
mac hie wol grôzer schade geschehen .<br />
(Parz. 250,6-7)<br />
(43) dort sitzt <strong>ein</strong> wehselære ,<br />
des market muoz hie werden guot .<br />
(Parz. 353,26-27)<br />
Leiss (2003) Ansatz hätte große Schwierigkeiten, <strong>ein</strong> derartiges<br />
Vorkommen zu erklären. Womöglich hat die Aspektopposition im Ahd auch<br />
geringere Bedeutung für die Epistemisierung als in den slawischen<br />
Sprachen. Im Gegensatz zu slawischen Sprachen erfolgt die Setzung des<br />
Aspektpräfixes im Ahd nämlich optional und nicht obligatorisch. 69 Trotz all<br />
dem steht es außer Frage, daß die Kategorie Aspekt <strong>ein</strong>e Rolle in der<br />
Herausbildung der epistemischen Lesart bei den MV gespielt hat, die sich<br />
noch heute in der Präferenz der verschiedenen Modalitäten zu bestimmten<br />
Aktionsarten, wie bereits in 1.3.2 und 2.1.5 gezeigt.<br />
Zusammenfassung:<br />
Anhand des Parzivals haben für folgendes Bild der mhd (Prä-)MV<br />
entworfen: Erstens existieren zuhauf (Prä-)MV in nichtkohärenten<br />
Konstruktionen. Offensichtlich spielte die Opposition [+/-kohärent] in dieser<br />
frühen Phase auch k<strong>ein</strong>e Rolle (3.3.1). Da das für Wurmbrands (2001) FR<br />
essentielle Extrapositionsverbot folglich k<strong>ein</strong>e Gültigkeit behaupten kann,<br />
lassen sich die mhd (Prä-)MV auch nicht dieser Art von Restrukturierung (R)<br />
zuordnen. Es ist fraglich, ob sich überhaupt <strong>ein</strong>er von Wurmbrands Graden<br />
an R dafür eignet (3.3.3). Zweitens finden sich <strong>ein</strong>deutige Belege von<br />
deontischen Formen in Anhebungskonstruktionen, was aber k<strong>ein</strong>eswegs<br />
bedeutet, daß alle damaligen (Prä-)MV ausschließlich als Anhebungsverben<br />
107
konstruierten (3.3.2). Drittens gilt für das Mhd die Aspektsensitivität nicht<br />
(mehr?) in der Strenge, wie sie Leiss (2003a) für das Ahd postuliert (3.3.4.).<br />
Im Großen und Ganzen liefern die hier gewonnenen Erkenntisse Evidenz<br />
für die von Lehmann (1995) und auch Diewald (1999) entworfenen Theorien<br />
der GR-Kanäle für MV. Zur Zeit der Redaktion des Parzivals weisen die<br />
(Prä-)MV noch k<strong>ein</strong> kohärentes Verhalten auf, lassen sich auch (noch?) nicht<br />
den FR-Prädikaten zuordnen. Andererseits zeigte sich, daß wir mit der<br />
Annahme <strong>ein</strong>es <strong>ein</strong>zigen unverzweigten GR-Kanals nicht auskommen. Im<br />
Gegensatz zum Großteil der MV, für den der Anschluß <strong>ein</strong>es kohärenten<br />
Infinitivs Bedingung war, <strong>ein</strong>e epistemische Interpretation auszubilden,<br />
bildeten Verben wie sch<strong>ein</strong>en oder drohen unabhängig vom Infinitiv<br />
epistemischen Varianten aus.<br />
Offensichtlich führen mehrere GR-Kanäle zur Epistemizität, die mit<br />
wachsendem Ausmaß an GR nach und nach in <strong>ein</strong>ander münden.<br />
3.4 Herausbildung der EMV<br />
In Abschnitt 3.3 haben wir schon zahlreiche Vorkommen von (Prä-)MV im<br />
Parzival hinsichtlich verschiedener syntaktischer und semantischer Aspekte<br />
untersucht, aber noch nicht geklärt, inwieweit sich unter ihnen bereits<br />
epistemische Formen befinden. In den folgenden Abschnitten verfolgen wir<br />
die genaueren Umstände der Entstehung der EMV.<br />
3.4.1 Vorkommen von EMV im Parzival?<br />
Mit mugen und müezen haben wir in ihrer Bedeutung und Entwicklung recht<br />
unterschiedliche Lexeme herangezogen. Während im Falle von mugen<br />
deontische und etwaige epistemische Vorkommen semantisch nicht<br />
aus<strong>ein</strong>anderzuhalten sind, lassen sich die verschiedenen Modalitäten von<br />
müezen hinsichtlich ihrer Bedeutung relativ leicht unterscheiden.<br />
19 von 206 mugen-Belegen kommen für <strong>ein</strong>e epistemische Interpretation<br />
hinsichtlich des Kontexts der Erzählung in Frage, hier <strong>ein</strong>e Auswahl: 70<br />
69 Siehe Schrodt (2004).<br />
108
(44) etslîcher mac <strong>ein</strong> Anschevîn<br />
mit sîner sprâche iedoch wol sîn .<br />
(Parz. 62,5-6)<br />
(45) iedoch wil ich iu râten daz ,<br />
heizt entwâpen disen gevangen :<br />
in mac hie stêns erlangen . "<br />
(Parz. 218,28-30)<br />
(46) diu künegîn hât den schoensten man<br />
der schildes ambet ie gewan :<br />
er mac wol sîn von hôher art .<br />
(Parz. 219,11-13)<br />
(47) unkundem gaste<br />
mac hie wol grôzer schade geschehen .<br />
(Parz. 250,6-7)<br />
(48) Ob von Troies meister Kristjân<br />
disem mære hât unreht getân ,<br />
daz mac wol zürnen Kîôt .<br />
(Parz. 827,1-3)<br />
Ich behaupte nun zu k<strong>ein</strong>em dieser fünf Beispielsätze, daß er tatsächlich<br />
<strong>ein</strong> EMV enthalten muß, in vielen Fällen legt dies der Kontext der Erzählung<br />
aber nahe. So sind in (45) und vor allem in (47) deontische Lesarten in<br />
Anbetracht der geringen Frequenz der für EMV in Frage kommenden Belege<br />
viel wahrsch<strong>ein</strong>licher.<br />
Erhöhte Aufmerksamkeit verdient der Umstand, daß von den 19<br />
mutmaßlichen EMV Vorkommen von mugen ganze elf in Kombination mit<br />
dem Adverb wol und <strong>ein</strong>es mit dem Adverb mit vür wâr auftreten, die beide<br />
im Mhd auch als epistemische Satzadverbien gebräuchlich waren. Das heißt,<br />
in Fällen wie (44), (46) und (48), in denen zweifellos jeweils epistemische<br />
Bedeutung vorliegt, könnte diese viel mehr vom Adverb ausgehen als vom<br />
Verb. An dieser Stelle erschiene es mir interessant, <strong>ein</strong>e umfassendere<br />
70 Weitere Beispiele siehe Appendix.<br />
109
Studie durchzuführen, die sich mit der Rolle der epistemischen<br />
Satzadverbien für die Entstehung der EMV aus<strong>ein</strong>andersetzt.<br />
Die Deutung der Belege bleibt aber recht schwierig, da wol und vür wâr im<br />
Mhd auch in ihrer ursprünglichen, weniger grammatikalisierten Variante<br />
auftreten, das heißt im Sinne von ”gut” beziehungsweise ”wirklich”. Somit<br />
verbleiben nur 7 von 206 mugen-Belege, die ihrem Kontext im Werk nach zu<br />
urteilen, epistemisch zu interpretieren sind. Doch in allen Fällen ist die<br />
epistemische Interpretation nicht so zwingend, wie in den Belegen mit wol<br />
und darüber hinaus auch <strong>ein</strong>e deontische Deutung ohne Schwierigkeiten<br />
möglich.<br />
Von den 164 müezen-Belegen eignen sich nur noch acht aufgrund ihrer<br />
Semantik für <strong>ein</strong>e epistemische Interpretation, hier <strong>ein</strong>e Auswahl: 71<br />
(49) von tumpheit muoz verderben<br />
maneges tôren hôher vunt .<br />
(Parz. 292,24-25)<br />
(50) dort sitzt <strong>ein</strong> wehselære ,<br />
des market muoz hie werden guot .<br />
(Parz. 353,26-27)<br />
(51) daz muget ir âne vrâgen lân ,<br />
wande er muoz grôze koste hân .<br />
(Parz. 629,29-30)<br />
(52) " ouwê , liebiu niftel mîn ,<br />
daz dîn jugent sô hôher minne schîn<br />
tuot , daz muoz dir werden sûr .<br />
(Parz. 712,5-7)<br />
(53) hât dich vriundîn ûz gesant ,<br />
diu muoz sîn vil gehiure ,<br />
ob dû durch âventiure<br />
alsus verre bist gestrichen .<br />
(Parz. 767,20-23)<br />
71 Restliche Belege siehe Appendix.<br />
110
Für <strong>ein</strong>e epistemische Deutung in allen diesen Beispielen spricht, daß die<br />
Quelle, von der der Zwang ausgeht, k<strong>ein</strong>e belebte ist, sondern eher <strong>ein</strong>e<br />
abstrakte. Dennoch deutet das Verhalten <strong>ein</strong>iger dieser Belege ganz klar auf<br />
das Vorliegen nicht-epistemischer Lesart hin. So involvieren weder (49) noch<br />
(52) das für EMV konstitutive Element der Vermutung, <strong>ein</strong>e solche wäre in<br />
diesen Beispielen sogar mit dem Kontext der Erzählung nur schwer in<br />
Einklang. Viel eher liegt hier offensichtlich <strong>ein</strong> Gebrauch von müssen in<br />
Analogie zu (54) vor:<br />
(54) Wenn ihm nicht gleich jemand die Wunde verbindet, muß er<br />
verbluten.<br />
In (51) wiederum ersch<strong>ein</strong>t müezen in <strong>ein</strong>em Kausalsatz <strong>ein</strong>gebettet – <strong>ein</strong><br />
Kontext, der Öhlschläger (1989: 208) und Reis (2001: 297) zu Folge<br />
Epistemizität nur schwerlich duldet.<br />
(50) und (53) stellen die <strong>ein</strong>zigen Belege aus dem Korpus dar, die näher als<br />
Vorkommen von EMV in Frage kommen. Der Kontext spricht sogar sehr<br />
dafür, daß in diesen beiden Fällen tatsächlich <strong>ein</strong>e Vermutung involviert ist.<br />
In (50) kommentiert Obîe die Ankunft Gâwâns, den sie s<strong>ein</strong>em Äußeren zu<br />
urteilen nach, für <strong>ein</strong>en Händler hält, woraus sie weiter schließt (expliziert<br />
durch das Verb müezen), daß alsbald <strong>ein</strong> Markt s<strong>ein</strong>e Zelte aufschlagen<br />
wird. In (53) folgert Artûs aus dem Umstand, daß sich Feirefîz auf derart<br />
weite Reisen begibt, daß dieser im Dienst <strong>ein</strong>er sehr trefflichen Dame stehen<br />
muß – da er sonst k<strong>ein</strong>en Grund hätte, <strong>ein</strong> derartiges Wagnis auf sich zu<br />
nehmen. Angesichts des großen Umfangs der Belege ersch<strong>ein</strong>t es äußerst<br />
zweifelhaft, anhand der beiden epistemischen Belege schon von <strong>ein</strong>er<br />
systematisch herausgebildeten epistemischen Lesart von müezen zu<br />
sprechen. Darüber hinaus bleibt die Frage noch zu klären, welchen Einfluß<br />
die ursprüngliche Semantik von müezen, im Sinne von ”die Möglichkeit<br />
haben” und ”dürfen” für die Entwicklung der epistemischen Form <strong>ein</strong>e Rolle<br />
spielt. Geläufig war sie im Parzival auf alle Fälle noch:<br />
111
(55) er sprach : " ob ich erbeizen muoz<br />
mit iuwern hulden , vrouwe ,<br />
ob ich iuch des willens schouwe<br />
daz ir mich gerne bî iu hât ,<br />
grôz riuwe mich bî vreuden lât ,<br />
sô enwart nie ritter mêr sô vrô .<br />
(Parz. 509,2-7)<br />
Ergebnis unserer Untersuchung ist also, daß weder im Falle von müezen<br />
und noch im Falle von mugen von <strong>ein</strong>er systematisch herausgebildeten<br />
epistemischen Lesart die Rede s<strong>ein</strong> kann. Das bestätigt auch zum großen<br />
Teil die These von Fritz (1997), daß die EMV mit Ausnahme von magan um<br />
1500 in kurzer Zeit in Ersch<strong>ein</strong>ung traten. magan läßt sich s<strong>ein</strong>er M<strong>ein</strong>ung<br />
nach ja schon seit ahd Zeit epistemisch interpretieren. Diewald (1999), die<br />
grundsätzlich Fritz´ M<strong>ein</strong>ung vertritt, betont aber, daß die systematische<br />
Herausbildung der Epistemizität erst um 1500 anzusiedeln ist. Wir haben die<br />
Existenz von epistemischen mugen im Parzival in Frage gestellt. Tatsächlich<br />
dürfte dieses s<strong>ein</strong>e epistemische Variante erst gem<strong>ein</strong>sam mit den anderen<br />
MV-Lexemen erworben haben.<br />
3.4.2 Reanalyse und EMV.<br />
Im Parzival sch<strong>ein</strong>en noch k<strong>ein</strong>e systematisch grammatikalisierten<br />
epistemischen Vorkommen von MV auf. Das steht im Wesentlichen im<br />
Einklang mit Fritz (1997) und Diewald (1999: 365), die das weitläufige<br />
Ersch<strong>ein</strong>en von EMV für die frühe Neuzeit, zwischen 1500 und 1700<br />
ansiedeln.<br />
Das schlagartige Auftreten der EMV im 16. JH könnte Indiz dafür s<strong>ein</strong>, daß<br />
hier <strong>ein</strong>e Form von Reanalyse im Sinne Lightfoots (1979) stattgefunden hat.<br />
Lightfoot nimmt an, daß <strong>ein</strong>e Reihe von präteritopräsentischen Lexemen<br />
aufgrund von wuchernder Komplexität zu <strong>ein</strong>er eigenen Kategorie ”Modal” reanalysiert<br />
wurden. Lightfoot (1979:106) zufolge hatte diese katastrophale Re-<br />
Analyse aber k<strong>ein</strong>e Auswirkung auf die Polyfunktionalität der Lexeme:<br />
sowohl davor als danach, war diesen Verben jeweils <strong>ein</strong>e deontische als<br />
auch <strong>ein</strong>e epistemische Variante zu eigen.<br />
112
Die Sachlage im Deutschen ist nun aber <strong>ein</strong>e andere: <strong>ein</strong>erseits<br />
unterscheiden sich die deutschen MV bis ins Gwd hinauf nicht so drastisch<br />
von den Vollverben wie ihre englischen Gegenstücke (Abraham 2002). Und<br />
andererseits besteht ja der Hauptgrund unserer Annahme <strong>ein</strong>er Reanalyse<br />
darin, die Entstehung der Epistemizität der MV zu erklären. Insofern erfordert<br />
das Deutsche in diesem Punkt gesonderte Behandlung.<br />
Die Formulierung der Reanalyse müßte in etwa wie folgt lauten:<br />
Semantisch geeignete Verballexeme (Prä-MV) werden in bestimmten<br />
Kontexten als EMV reanalysiert, sodaß diese nach der Re-Analyse über zwei<br />
Formen verfügen. Eine wesentliche Voraussetzung für diese Re-Analyse<br />
besteht in der Herausbildung der Opposition [+/-kohärent] um 1500, auf<br />
deren Bedeutung im Zusammenhang mit der Entstehung der EMV schon<br />
Reis (2001: 309) hingewiesen hat. Eine weitere stellt höchstwahrsch<strong>ein</strong>lich<br />
die mit Beginn des Fnhd fast völlig verschwundene Aspektopposition dar, wie<br />
Leiss (2003a) vorgeschlagen hat. Im Gegensatz zum Englischen wurden<br />
aber sämtliche (Prä-)MV-Lexeme nicht zu <strong>ein</strong>er neuen Kategorie ”Modalverb”<br />
zusammengefaßt, zu heterogen erwiesen sich die hier behandelten Verben,<br />
um zu <strong>ein</strong>er homogenen Klasse zusammengefaßt zu werden.<br />
Möglicherweise erfolgte aber zu diesem Zeitpunkt <strong>ein</strong>e kategoriale<br />
Reanalyse dieser Verben zu FR-Prädikaten. Dafür spräche auch Diewalds<br />
(2001: 100) Feststellung, daß eben zu dieser Zeit epistemisches sch<strong>ein</strong>en<br />
erstmals mit (kohärentem) Infinitivanschluß auftritt und somit <strong>ein</strong> Wesensmerkmal<br />
von FR aufweist.<br />
Doch der Versuch, die Herausbildung von EMV durch Reanalyse zu<br />
erklären, bleibt nicht ohne Hindernisse. Erstens kann diese Reanalyse aus<br />
mehreren Gründen nicht alle klassischen MV-Lexeme (können, müssen,<br />
dürfen, sollen, wollen, mögen) umfassen. So hat nach neuestem<br />
Forschungsstand (Fritz 2000: 274f.) wollen s<strong>ein</strong>e quotativ-epistemische<br />
Lesart bereits im Ahd vollständig ausgebildet, die nicht nur mit dem r<strong>ein</strong>en<br />
Infinitiv realisiert wurde, sondern auch transitiv mit daß-Satz. 72 Ähnlich belegt<br />
72<br />
An dieser Stelle ist nun wirklich die Frage zu stellen, inwieweit der quotative Gebrauch von<br />
wollen noch als epistemisch gesehen werden kann. Nicht nur, daß er das <strong>ein</strong>zige Vorkommen<br />
von epistemischen Kontrollverb wäre, beziehungsweise <strong>ein</strong>e Reihe von Effekten zeigt, die die<br />
übrigen EMV nicht aufweisen (siehe Abschnitt 2.1), er müßte dann auch schon um <strong>ein</strong>ige<br />
Jahrhunderte vor der Entstehung der restlichen EMV entstanden s<strong>ein</strong>. Darüberhinaus spricht<br />
auch der Umstand, daß sich wollen mit daß-Satz quotativ interpretieren ließ, dafür,<br />
113
Fritz (1997: 11) sollen in s<strong>ein</strong>em quotativ epistemischen Gebrauch schon im<br />
Mhd des 13 Jahrhunderts. Diewald (1999: 421) hält dem entgegen, daß von<br />
<strong>ein</strong>er systematischen Grammatikalisierung erst ab 1600 die Rede s<strong>ein</strong> kann.<br />
Zweitens besteht die Frage, inwieweit die vorgeschlagene Reanalyse auch<br />
das Maß an Komplexität der Grammatik reduzieren würde. 73 In Lightfoots<br />
Paradebeispiel für das Englische ist dies offensichtlich: Elemente der<br />
Kategorie V beginnen sich zunehmend von den übrigen Elementen dieser<br />
Gruppe zu unterscheiden, bis die Kategorie V <strong>ein</strong> unerträgliches Maß an<br />
Komplexität angehäuft hat, sodaß <strong>ein</strong>e therapeutische Reanalyse nötig wird.<br />
Diese besteht darin, die unregelmäßigen Elemente zu <strong>ein</strong>er neuen Kategorie<br />
”Modal” mit eigener Distribution zusammenzufassen. Das Deutsche<br />
hingegen unterlag k<strong>ein</strong>er so starken kategorialen Umformung, was unter<br />
anderem darauf zurückzuführen ist, daß es im Gegensatz zum Englischen<br />
neben den MV-Vorläufern auch noch andere Präteritopräsentien in ihrer<br />
abweichenden Morphologie behielt. Möglicherweise bestünde die Reanalyse<br />
im Deutschen aber in der Herausbildung der FR-Prädikate.<br />
Drittens stellt sich dann die Frage, wie mit den jüngeren (quasi-)MV<br />
(brauchen, sch<strong>ein</strong>en, drohen, versprechen) verfahren werden soll. Denn<br />
wenn <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>zelnes Verb in der Lage ist, <strong>ein</strong>e epistemische Form zu<br />
erwerben, bestünde ja die Möglichkeit, daß sich auch die jeweiligen<br />
epistemischen Varianten der klassischen MV individuell herauskristallisierten<br />
– womit die Annahme <strong>ein</strong>er derartigen Reanalyse hinfällig würde.<br />
Viertens bleibt noch die Schwierigkeit zu erklären, wie sich denn Reanalyse<br />
mit den neusten Erkenntnissen aus der L1-Erwerbsforschung ver<strong>ein</strong>baren<br />
läßt. Doitchinov (2001: 112&128) kommt zu folgendem Ergebnis: Während<br />
sich Kinder die Mittel zum Ausdruck deontischer Modalität schon innerhalb<br />
der ersten drei Jahren aneignen, sind sie in der Regel erst ab dem achtem<br />
Lebensjahr in der Lage, epistemische Modalität und EMV zu verwenden.<br />
Geht man davon aus, daß die Reanalyse zwischen zwei Generationen<br />
daß sich dieser Gebrauch von wollen syntaktisch ganz klar von den herkömmlichen<br />
epistemischen Formen unterscheidet. Folglich ist wollen wenn überhaupt auf <strong>ein</strong>e andere Art<br />
polyfunktional als die verbleibenden MV.<br />
Für <strong>ein</strong>en weiteren Beibehalt von wollen als MV spricht die Erkenntnis Fritz (2000), daß es in<br />
s<strong>ein</strong>er Zeit als Futurmarker analog zum gwd werden <strong>ein</strong>e tatsächlich epistemische Variante<br />
ausgebildet hatte.<br />
114
erfolgt, so bleibt zu klären, unter welchen Umständen es genau möglich ist,<br />
daß die jüngere Generation im Zuge dieser Reanalyse Mittel erwirbt, die <strong>ein</strong><br />
derart großes Maß an Komplexität involvieren, daß sie erst sehr spät gelernt<br />
werden können. Womöglich liegt der Grund darin nicht in der Theorie der<br />
Grammatik sondern vielmehr in außersprachlichen Faktoren.<br />
So gesehen ersch<strong>ein</strong>t der Versuch sehr fraglich, die Entstehung der EMV<br />
durch <strong>ein</strong>e Reanalyse erklären zu wollen. Zumal noch gar nicht geklärt ist, ob<br />
der Grad der Komplexität vor und nach der Herausbildung <strong>ein</strong>e solche<br />
überhaupt rechtfertigt.<br />
Wenn die Entstehung der EMV tatsächlich maßgeblich durch <strong>ein</strong>e Re-<br />
Analyse motiviert wurde, dann nur im Zusammenhang der Herausbildung<br />
<strong>ein</strong>er neuen Kategorie um 1500: den FR-Prädikaten, die zu Epistemizität<br />
fähig sind. 74 Diese Prädikate sind zwar nicht allesamt epistemische Verben,<br />
aber alle epistemischen Verben sind ihnen zuzurechnen.<br />
Zusammenfassung:<br />
In Wolfams Parzival lassen sich für die Indikativ Präsensformen von<br />
müezen und mugen jeweils nur <strong>ein</strong> bis zwei Belege finden, die wohl<br />
tatsächlich epistemisch zu interpretieren sind, sodaß von <strong>ein</strong>er<br />
systematischen EMV-Ausbildung nicht die Rede s<strong>ein</strong> kann. Die<br />
Herausbildung erfolgte offensichtlich erst um ca. 1500.<br />
Möglicherweise erfolgte die systematische Herausbildung der EMV durch<br />
<strong>ein</strong>e Reanalyse, die die Vorgänger der MV (nebst anderen Verben wie<br />
sch<strong>ein</strong>en) zu <strong>ein</strong>er neuen Kategorie, den FR-Prädikaten formte. Diese<br />
Annahme wirft aber <strong>ein</strong>e Reihe von Problemen auf und bedarf erst <strong>ein</strong>es<br />
Nachweises.<br />
3.5 Zusammenfassung.<br />
Kapitel 3 hatte sich <strong>ein</strong>gangs zum Ziel gesetzt, die Umstände der<br />
Entstehung der EMV genauer zu beleuchten. Der in den Kapiteln 1 und 2<br />
schon mehrfach sich offenbarende Zusammenhang zwischen Epistemizität<br />
73<br />
Sollten wir zu dem Schluß kommen, daß durch die vorgeschlagene Reanalyse nicht<br />
Komplexität ab- sondern aufbaut, würde sich unsere Annahme als kontraintuitiv erweisen. Denn<br />
<strong>ein</strong>e Re-Analyse erfolgt auschließlich zur Komplexitätsreduktion.<br />
74<br />
Siehe dazu Reis´ (2001: 308) Ausführungen über Epistemizität bei ECM.<br />
115
und obligatorischer Kohärenz (FR) erweist sich auch in der diachronen<br />
Betrachtung als zentral. Offensichtlich setzt die Entstehung von EMV im<br />
engeren Sinne, das Vorhandens<strong>ein</strong> der Opposition [+/- kohärent] voraus.<br />
Diese gewann ihren distinktiven Charakter aber erst um 1500, sodaß EMV<br />
erst mit diesem Zeitpunkt in höherer Frequenz auftreten. Die Untersuchung<br />
legte nahe, den quotativen Gebrauch wollen nicht den EMV zuzurechnen,<br />
sondern als eigene Form von Polyfunktionalität zu betrachten, da dieser<br />
schon im Ahd geläufig war und sich nicht nur auf wollen + INFINITIV<br />
beschränkte, sondern auch mit wollen + daß-Satz möglich war.<br />
Das ziemlich abrupte Ersch<strong>ein</strong>en der EMV lädt zu dem Schluß <strong>ein</strong>, daß das<br />
Entstehen von syntaktisch und semantisch abgrenzbaren epistemischen<br />
Formen durch Reanalyse motiviert ist. Zahlreiche Hindernisse gilt es aber<br />
hier zu überwinden, um <strong>ein</strong>en Ansatz zu entwickeln, der sich als<br />
aufrechterhaltbar und adäquat erweist.<br />
Während sich noch die Frage stellt, inwieweit in den Entstehungsprozeß<br />
der EMV Reanalyse involviert war, läßt sich mit an Sicherheit grenzender<br />
Wahrsch<strong>ein</strong>lichkeit sagen, daß sich die MV entlang <strong>ein</strong>es GR-Kanals vom<br />
Vollverb zumindest bis zum epistemischen Verb entwickelt haben, wie<br />
Diewald (1999 ) und Lehmann (1995) vorgeschlagen haben. Diewald (1999:<br />
5&49ff.) zufolge ist diese Entwicklung entlang <strong>ein</strong>es GR-Kanals nicht so zu<br />
verstehen, daß während der Phase I das Verb ausschließlich als Vollverb<br />
gebraucht wird, während der Phase II nur als DMV und in Phase III nur noch<br />
als EMV, sondern vielmehr, daß zu <strong>ein</strong>em Zeitpunkt mehrere<br />
Entwicklungsstufen <strong>ein</strong>es Verbes in <strong>ein</strong>er Sprache präsent s<strong>ein</strong> können.<br />
Dementsprechend bezeichnet sie diese Verben als interkategorial.<br />
Die Vorkommen von mugen und müezen im Parzival passen genau in das<br />
Bild, das Lehmann (1995) und Diewald (1999) entwerfen: Sie weisen schon<br />
<strong>ein</strong> geringes Maß an Grammatikalisierung auf, sind aber durch die fehlende<br />
Opposition [+/- kohärent] gehindert, sich von den anderen Verben weiter<br />
wegzuentwickeln.<br />
Darüber hinaus sch<strong>ein</strong>t es mehr als <strong>ein</strong>en GR-Pfad zu geben, der zur<br />
epistemischen Klasse führt. Jedes Verb erwirbt die Epistemizität offensichtlich<br />
auf <strong>ein</strong>e andere Weise, was womöglich auf die individuelle Semantik<br />
zurückzuführen ist. Verben wie sch<strong>ein</strong>en, drohen und versprechen benötig-<br />
116
ten hiezu k<strong>ein</strong>en Infinitiv (zieht man mhd und ahd Belege hinzu gilt selbiges<br />
offensichtlich auch für quotatives wollen), die anderen betrachteten Verben<br />
aber schon. Kurz gesagt, für diese Verben besteht <strong>ein</strong> verzweigtes Netz von<br />
GR-Kanälen, die von verschiedenen Vollverben ausgehend nach und nach in<br />
<strong>ein</strong>ander münden und zumindest bis zur Erlangung der Epistemizität führen.<br />
Möglicherweise stellte das entscheidende Moment für <strong>ein</strong>e Reihe dieser<br />
Verben <strong>ein</strong>e Reanalyse dar.<br />
Abschließend noch <strong>ein</strong> Verweis auf <strong>ein</strong>e Reihe von Ansätzen zur<br />
Herausbildung der Epistemizität, die im Verlauf dieser Arbeit immer wieder<br />
Erwähnung fanden: Abraham (2003a,b) und Leiss (2003a) schreiben der<br />
Kategorie Aspekt die tragende Rolle im Entstehungsprozeß der EMV zu.<br />
Genauer gesagt, erwürben die Prä-MV die Epistemizität deswegen, weil das<br />
Aspektsystem im Niedergang ist und somit <strong>ein</strong> Mittel verloren geht,<br />
Epistemizität sprachlich-distributionell zu kodieren. Dieser Ansatz sch<strong>ein</strong>t mir<br />
in s<strong>ein</strong>er Richtung vielsprechend zu s<strong>ein</strong>, auch wenn er <strong>ein</strong>iger<br />
Modifikationen bedarf, wie schon in Abschnitt 3.3.4 gezeigt.<br />
Fritz (1997: 11) geht hingegen davon aus, daß Verben, die <strong>ein</strong>e abstrakte<br />
Möglichkeit zum Ausdruck bringen können und somit semantisch schwer von<br />
EMV zu unterscheiden sind, das Einfallstor für Epistemizität darstellen, wie<br />
ahd. magan. Als entscheidenden Mechanismus des Sprachwandels und<br />
somit auch der Herausbildung der EMV sieht er die konversationelle<br />
Implikatur an, die auch in Diewalds (1999) Analyse die tragende Rolle spielt.<br />
117
4. Vorteile <strong>ein</strong>es diachronen Ansatzes.<br />
Zu Beginn dieser Arbeit stand die Frage, worin das Wesen der gwd MV<br />
überhaupt besteht. Im Anschluß daran folgte der Versuch, die sechs<br />
klassischerweise als ”Modalverb” bezeichneten Lexeme hinsichtlich ihrer<br />
Gem<strong>ein</strong>samkeiten in der Gegenwartssprache von den übrigen Verben<br />
abzugrenzen.<br />
Dieser Versuch mißlang, denn <strong>ein</strong> synchroner Sprachzustand enthält immer<br />
Elemente verschiedenen Alters. So liegt uns das Verb können in der<br />
heutigen Zeit mindestens in drei verschieden alten Formen vor: in der alten<br />
Vollverb-Variante (Sie kann Schach), in der jüngeren DMV-Variante (Die<br />
Lampe kann umfallen) und in der noch jüngeren EMV-Variante (Er kann noch<br />
gar nicht da s<strong>ein</strong>). Und diese drei Formen lassen sich natürlich nicht gleich<br />
behandeln. In <strong>ein</strong>em strengen synchronen Standpunkt müßten eigentlich drei<br />
verschiedene Lexikon<strong>ein</strong>träge angenommen werden, um dem jeweils<br />
verschiedenen syntaktischen Status dieser Formen gerecht zu werden. Die<br />
Verschiedenheit im Gebrauch von können vermag aber k<strong>ein</strong> r<strong>ein</strong> synchroner<br />
Ansatz adäquat zu erfassen. Vielmehr ist <strong>ein</strong> solcher gezwungen, für dieses<br />
Lexem bestimmte Ausnahmeregelungen zu treffen, was die Theorie aber<br />
vieles an Effizienz und Ökonomie <strong>ein</strong>büßen läßt.<br />
Nun verhalten sich aber nicht alle MV wie können, vielmehr verhält sich<br />
jedes ganz unterschiedlich. So hat sollen hingegen s<strong>ein</strong>e älteste Form, den<br />
transitiven Gebrauch schon verloren. Ein synchroner Ansatz müßte somit für<br />
nahezu jedes (quasi-)MV mehrere Lexikon<strong>ein</strong>träge mit Ausnahmeregelungen<br />
postulieren, ohne die zu Tage tretenden Unregelmäßigkeiten erklären zu<br />
können, worunter natürlich die Erklärungskraft leidet.<br />
Da <strong>ein</strong> synchroner Zustand <strong>ein</strong>er Sprache gewissermaßen immer <strong>ein</strong> Abbild<br />
s<strong>ein</strong>er diachronen Entwicklung darstellt, immer auch noch Elemente aus<br />
früheren Sprachstufen enthält, empfiehlt es sich, selbst synchronen<br />
Phänomen mit dem Blick <strong>ein</strong>es Sprachhistorikers zu begegnen. Denn<br />
vermittels <strong>ein</strong>es diachronen Ansatzes lassen sich selbst die<br />
Unregelmäßigkeiten der MV zum großen Teil erklären. Über das Konzept der<br />
118
GR-Kanäle von Lehmann (1995) läßt sich die Formenvielfalt und<br />
Interkategorialität der MV besser verstehen (bis auf die Ausnahme der sich<br />
verselbstständigenden Formen möchte und dürfte, die aber anhand anderer<br />
diachrone Entwicklungen erklärt werden können, wie Diewald (1999) und<br />
Fritz (1997) zeigen). Während synchrone Theorien mit den verschiedenen<br />
Formen von können nur schwerlich wissen umzugehen, können diachrone<br />
Theorien diese in Zusammenhänge stellen, durch welche ihnen mehr<br />
Erklärungskraft zukommt. Auf diese Weise ist <strong>ein</strong>e Theorie nicht mehr auf<br />
unmotivierte umständliche Postulate von Ausnahmen angewiesen, und man<br />
kann somit <strong>ein</strong>facher Generalisierungen treffen. Auf diese Weise läßt sich <strong>ein</strong><br />
weitaus höheres Maß an explanativer Adäquatheit erreichen als mit dem<br />
losen Bündel an Merkmalen aus Abschnitt 1.1.<br />
119
5. Abschließende Betrachtungen.<br />
Der Begriff ”Modalverb” hat sich im Laufe der Untersuchung als ungenau<br />
erwiesen, sodaß s<strong>ein</strong>e wissenschaftliche Tauglichkeit in Frage gestellt<br />
werden muß.<br />
Den Ausgangspunkt der Arbeit stellte <strong>ein</strong>e Sammlung von Kriterien dar, die<br />
gem<strong>ein</strong>hin als Eigenschaften und Besonderheiten der MV betrachtet wird.<br />
Wir schlossen uns Öhlschlägers (1989) Kritik diesbezüglich an und weiteten<br />
diese sogar noch aus: <strong>ein</strong>e bloße An<strong>ein</strong>anderreihung von Eigenschaften<br />
besitzt k<strong>ein</strong>e große Erklärungskraft. Insofern bestand unsere Aufgabe darin,<br />
möglichst großen Zusammenhang zwischen den verschiedenen<br />
Eigenschaften herzustellen. Zwei von ihnen erwiesen sich als zentral:<br />
Polyfunktionalität und FR beziehungsweise obligatorische Kohärenz.<br />
Im Zuge der Analyse stellte sich aber heraus, daß <strong>ein</strong>e intensionale<br />
Definition <strong>ein</strong>er hinreichend homogenen MV-Klasse, die nur die traditionellen<br />
sechs Lexeme können, müssen, dürfen, sollen, wollen und mögen umfaßt,<br />
nicht möglich ist. Eine r<strong>ein</strong> extensionale Definition läßt sich aber<br />
wissenschaftlich nicht rechtfertigen. Somit waren wir genötigt, auch andere<br />
Lexeme mit<strong>ein</strong>zubeziehen, die sich ähnlich verhalten: vor allem (nicht)<br />
brauchen aber auch werden, drohen, versprechen und sch<strong>ein</strong>en.<br />
Ähnlich wie Reis (2001) waren wir folglich bestrebt, die MV als die <strong>ein</strong>zigen<br />
polyfunktionalen Lexeme zu definieren und zumindest obligatorische<br />
Kohärenz beziehungsweise FR als Bedingung für ihre Epistemizität<br />
anzusehen. Damit waren aber noch nicht alle Fragen geklärt. Wieso verfügen<br />
manche MV-Lexeme über <strong>ein</strong>en transitiven Gebrauch andere aber nicht?<br />
Warum konstruiert wollen als <strong>ein</strong>ziges MV in s<strong>ein</strong>er epistemischen Variante<br />
als Kontrollverb? Wieso haben möchte und dürfte ihre Konjunktivbedeutung<br />
weitgehend verloren? Wieso lassen sich sch<strong>ein</strong>en und drohen auch ohne<br />
Infinitiv epistemisch interpretieren? All diese Fragen lassen sich in der<br />
synchronen Sprachwissenschaft gar nicht oder nur mühsam beantworten.<br />
Mehr Durchblick verschafft hier <strong>ein</strong> diachroner Ansatz. Anhand Lehmanns<br />
(1995) Konzept des GR-Kanals läßt sich <strong>ein</strong>iges der Formenvielfalt der MV<br />
120
erklären: <strong>ein</strong> lexikalisches Element entwickelt sich im Laufe der Zeit langsam<br />
zu <strong>ein</strong>em funktionalem, wobei sich aber nicht all s<strong>ein</strong>e Vorkommen gleich<br />
schnell entwickeln: manche bleiben auf unterschiedlichen Stufen zurück und<br />
fossilisieren, andere verschwinden gar vollständig. Auf diese Weise entstand<br />
die Interkategorialität der MV (Diewald 1999), die sich in der Existenz von<br />
älteren DMV und jüngeren EMV offenbart und in manchen Fällen sogar noch<br />
im Vorkommen ihrer transitiven Urform.<br />
Da manche Verben aber im Stande sind, ohne Infinitiv Epistemizität<br />
auszudrücken, während dies für die meisten anderen aber nicht zutrifft,<br />
kommen wir mit der Annahme <strong>ein</strong>es <strong>ein</strong>zigen GR-Kanal für (Quasi-)MV nicht<br />
aus. Offensichtlich existiert für diese Verben vielmehr <strong>ein</strong> verzweigtes<br />
Netzwerk an GR-Kanälen, die von verschiedenen Vollverben mit geeigneter<br />
Semantik ausgehen und auf dem Weg zur Epistemizität nach und nach in<br />
<strong>ein</strong>ander münden. Ausschlaggebend dafür, ob sich nun <strong>ein</strong> Verb zu <strong>ein</strong>em<br />
(quasi-)EMV entwickeln kann, dürfte folglich vor allem s<strong>ein</strong>e Semantik s<strong>ein</strong>.<br />
Daß die GR von epistemischen Verben aber k<strong>ein</strong> r<strong>ein</strong> semantischer Prozeß<br />
ist, zeigt der Umstand, daß sie allesamt Wurmbrands (2001) FR<br />
zuzurechnen sind – mit der Ausnahme von dem Kontrollverb wollen, das aus<br />
vielerlei Gründen sich von den (übrigen?) epistemischen Verben deutlich<br />
unterscheidet. Tatsächlich sch<strong>ein</strong>t wollen gar k<strong>ein</strong>e epistemische<br />
Interpretation zu besitzen, was uns hier aber weiter nicht stören soll.<br />
Der <strong>ein</strong>zige Punkt, der für <strong>ein</strong>e gleichberechtigte epistemische Lesart von<br />
wollen spricht, ist in der Reflextheorie zu suchen. Diese besagt, daß die EMV<br />
jeweils die Bedeutung ihrer deontischen Entsprechungen in verblaßter Form<br />
widerspiegeln. Das trifft aber wahrsch<strong>ein</strong>lich auf alle<br />
Grammatikalisierungsprozesse zu, und nicht nur auf die Herausbildung der<br />
EMV. Somit ist die Reflextheorie als nichts anderes anzusehen als <strong>ein</strong>e<br />
Instantierung von Lightfoots (1979) Restriktion, daß Sprachwandel die<br />
Kommunikation zwischen zwei Generationen nicht b<strong>ein</strong>trächtigen darf.<br />
Im Gegensatz zu Fritz (1997), Krause (1997), Diewald (1999), Abraham<br />
(2003b) und Leiss (2003a,b) kam diese Studie zu dem Schluß, daß vor dem<br />
Fnhd k<strong>ein</strong> <strong>ein</strong>ziges MV systematisch zur Kodierung von Epistemizität<br />
Verwendung fand. Der große Schub erfolgte Reis (2001) zufolge erst um<br />
1500 und steht womöglich im Zusammenhang mit <strong>ein</strong>er Re-Analyse, die <strong>ein</strong>e<br />
121
neue Kategorie, die FR-Prädikate, zum Ergebnis hatte. Eine solche<br />
Hypothese bedarf aber erst vielfältiger empirischer Verifikation.<br />
Angesichts der diachronen Betrachtung der MV erweist sich<br />
Polyfunktionalität jedoch als fragwürdiges Kriterium zur Definition <strong>ein</strong>er MV-<br />
Klasse. Denn Polyfunktionalität ist offensichtlich nichts anderes als <strong>ein</strong><br />
Zwischenstadium <strong>ein</strong>er Entwicklung. Die MV des amerikanischen Englisch<br />
weisen zum Beispiel in den meisten Fällen gar k<strong>ein</strong>e deontischen Formen<br />
mehr auf. Möglicherweise schlagen auch die deutschen MV diesen Weg <strong>ein</strong>.<br />
Mit dem Verlust ihrer nicht-epistemischen Formen verlören diese dann aber<br />
auch ihre Polyfunktionalität, sodaß sie der Intension des von Reis (2001)<br />
vorgeschlagenen MV-Begriff nicht mehr entsprächen.<br />
Eine wissenschaftlich brauchbare Definition <strong>ein</strong>er exakten MV-Klasse<br />
sch<strong>ein</strong>t mit an Sicherheit grenzender Wahrsch<strong>ein</strong>lichkeit gar nicht möglich zu<br />
s<strong>ein</strong>, weswegen jeglicher Versuch, <strong>ein</strong>e solche ohne rhetorische Akrobatik zu<br />
formulieren, letztendlich zum Scheitern verurteilt ist – so muß auch die<br />
vorliegende Arbeit daran scheitern.<br />
Doch diese Fragen der Definition und der Klassifikation stehen nur im<br />
Hintergrund. Wesentlich sind vielmehr die Zusammenhänge zwischen den<br />
verschiedenen Eigenschaften der beobachteten Verben sowie zwischen<br />
diesen selbst, hier die wichtigsten:<br />
• Alle epistemischen Verben sind obligatorisch kohärente<br />
Anhebungsverben, mit anderen Worten FR-Prädikate.<br />
• Zwischen der epistemischen und nicht-epistemischen<br />
Lesart bestehen Präferenzen hinsichtlich syntaktischer<br />
Distribution, Subjektwahl und Aspekt des <strong>ein</strong>gebetteten<br />
Infinitivs.<br />
• Epistemizität läßt sich hinsichtlich ihrer temporalen<br />
Spezifikation in futurische Epistemizität (FutE) und<br />
präsentische Epistemizität (PräE) unterscheiden. Während<br />
die meisten epistemischen Verben mit beiden Arten<br />
verträglich sind, dulden drohen und versprechen aufgrund<br />
ihrer Semantik nur FutE-Komplemente.<br />
122
In Anbetracht dessen erweist es sich als zielführender, von <strong>ein</strong>er MV-<br />
Klasse im Deutschen überhaupt Abstand zu nehmen und anstelle davon den<br />
Blick auf <strong>ein</strong> offenes Feld von epistemischen Verben zu richten. Auf diese<br />
Weise läßt sich mit sehr simplen Mitteln <strong>ein</strong>e ganze Reihe von<br />
grammatikalisierten Verben in s<strong>ein</strong>em Wesen adäquat erfassen. Eine Klasse<br />
von MV, die sich durch <strong>ein</strong> binäres Merkmal [+/- Modalverb] von anderen<br />
Lexemen abgrenzt, entspricht <strong>ein</strong>fach nicht der Empirie.<br />
123
6. Appendix.<br />
Im Anschluß folgen die Daten zu den Hypothesen in Abschnitt 3.3 und 3.4. In<br />
Klammer jeweils die Vorkommen der <strong>ein</strong>zelnen Klassifizierten Verben.<br />
6.1 mugen (206)<br />
6.1.1 FÜR EINE EPISTEMISCHE INTERPRETATION IN FRAGE KOMMEND<br />
(19) :<br />
a) mugen in V1 und V2 (14)<br />
aa) mit Extraposition von Komplementen oder Adjunkten (8)<br />
ez mac wol sîn <strong>ein</strong>s werden man ,<br />
der niht mit armüete kan .<br />
(Parz. 62,23-24)<br />
diu künegîn hât den schoensten man<br />
der schildes ambet ie gewan :<br />
er mac wol sîn von hôher art .<br />
(Parz. 219,11-13)<br />
herre , sît ir anders kluoc ,<br />
sô mac es dunken iuch genuoc .<br />
(Parz. 406,1-2)<br />
iu mac durch rüemen wesen liep<br />
der schilt dürkel als <strong>ein</strong> sip,<br />
den iu sô manec phîl zebrach.<br />
(Parz. 599,3-5)<br />
mîn gotinne Jûnô<br />
dises prîses mac wol wesen vrô .<br />
(Parz. 748,17-18)<br />
Ob von Troies meister Kristjân<br />
disem mære hât unreht getân ,<br />
daz mac wol zürnen Kîôt .<br />
(Parz. 827,1-3)<br />
ir muget wol sîn von ritters art .<br />
(Parz. 123,11)<br />
ir muget wol anders sîn <strong>ein</strong> helt :<br />
dirre kamph ist iu doch niht erwelt .<br />
(Parz. 693,19-20)<br />
124
ab) ohne Extraposition (6).<br />
etslîcher mac <strong>ein</strong> Anschevîn<br />
mit sîner sprâche iedoch wol sîn .<br />
(Parz. 62,5-6)<br />
b) mugen in VL (5):<br />
er sprach : mîn vrouwe mac wænen , daz dû tobes ,<br />
sît dû mich alsô verlobes .<br />
(Parz. 86,5-6)<br />
iedoch wil ich iu râten daz ,<br />
heizt entwâpen disen gevangen :<br />
in mac hie stêns erlangen . "<br />
(Parz. 218,28-30)<br />
unkundem gaste<br />
mac hie wol grôzer schade geschehen .<br />
(Parz. 250,6-7)<br />
Condwîrâmûrs , sich mac vür wâr<br />
disiu varwe dir gelîchen .<br />
(Parz. 282, 28-29)<br />
ir traget geschickede unde schîn ,<br />
ir muget wol volkes herre sîn .<br />
(Parz. 170,21-22)<br />
ba) mit Extraposition von Komplementen oder Adjunkten (1)<br />
baa) in für Inkohärenz typischer Verbabfolge(0)<br />
bab) in für Kohärenz typischer Verbabfolge (1)<br />
diu vier wazzer ûz dem pardîs ,<br />
sô nâhe hin zuo ir süezer smac<br />
dennoch niht sîn verrochen mac ,<br />
ob deh<strong>ein</strong> wurz dinne quæme ,<br />
diu unser trûren næme .<br />
(Parz. 481, 22-26)<br />
bb) ohne Extraposition (4)<br />
bba) in für kohärenz untypischer Verbabfolge (1)<br />
sô denke , daz uns beiden<br />
diu minne mac wol lônen .<br />
(Parz. 715,26-27)<br />
bab) in für kohärenz typischer Verbabfolge (3)<br />
mîn manheit ist doch sô quec ,<br />
daz iuwer bruoder êrec ,<br />
mîn swâger , fil li roi Lac ,<br />
iuch wol dar umbe hazzen mac .<br />
(Parz. 134, 5-8)<br />
125
sîn swester was diu muoter mîn ,<br />
iuwers wirtes . sîner tohter schîn<br />
sich ouch vor jâmer krenken mac .<br />
wir haben manegen sûren tac<br />
mit nazzen ougen verklaget ,<br />
ich und Lîâze diu maget .<br />
(Parz. 189,27-190,2)<br />
von hiute über den ahten tac<br />
mit grôzer schoie er komen mac .<br />
(Parz. 610,19-20)<br />
6.1.2 FÜR EINE EPISTEMISCHE INTERPRETATION NICHT IN FRAGE<br />
KOMMEND (187):<br />
a) mugen in V1 und V2 (148)<br />
aa) mit Extraposition von Komplementen oder Adjunkten (63)<br />
der mac dennoch wesen geil ,<br />
(Parz. 1,7)<br />
doch mac mit stæte niht gesîn<br />
dirre trüebe lîhte schîn :<br />
(Parz. 1,23-24)<br />
vor den wirt nimmer niht gespart<br />
des ie bejagen mac mîn hant .<br />
(Parz. 8,6-7)<br />
iu enmac nie man von mir gesagen<br />
deh<strong>ein</strong>iu klagelîchiu leit .<br />
(Parz. 11,4-5)<br />
von dem mac ich wol sprechen mêr ,<br />
(Parz. 32,8)<br />
ist er verladen mit strîtes last ,<br />
sô enmac ich nimmer werden wert .<br />
(Parz. 42,20-21)<br />
hiest manec ritter durch diu wîp,<br />
des niht erkennen mac mîn lîp.<br />
(Parz. 67,5-6)<br />
ez mac mir geschaden niht .<br />
(Parz. 77,12)<br />
Môrolt , der mînen neven stal ,<br />
von dem sol er ledec sîn ,<br />
mac mîn her Brandelidelîn<br />
ledec sîn von dîner hant .<br />
(Parz. 86,14-17)<br />
ob ich guotes wîbes minne ger ,<br />
mac ich mit schilde und ouch mit sper<br />
verdienen niht ir minne solt ,<br />
al dar nâch sî si mir holt .<br />
(Parz. 115,15-18)<br />
126
sô mac belîben dir daz golt .<br />
(Parz. 143,10)<br />
mac mir des harnas werden niht ,<br />
ich enruoche wer küneges gâbe giht .<br />
(Parz. 149,29-30)<br />
im ist minne und gruoz bereit ,<br />
mac er geniezen werdekeit .<br />
(Parz. 169,1-2)<br />
nû wirt mîn herre jâmers vrî :<br />
sich mac nû jungen wol sîn leben ,<br />
er sol im ze wîbe geben<br />
sîne tohter , unser vrouwen .<br />
(Parz. 175,10-13)<br />
der sigehafte sprach : " mîn wîp<br />
mac nû belîben vor dir vrî .<br />
(Parz. 212,30-213,1)<br />
mac ich iu gedienen vil ,<br />
daz gildet iuwer minne wert . "<br />
(Parz. 223,24-25)<br />
Swer ruochet hoeren war nû kumt<br />
den âventiur hât ûz gevrumt ,<br />
der mac grôziu wunder<br />
merken al besunder .<br />
(Parz. 224,1-4)<br />
ich macz wol sprechen âne guft ,<br />
er was noch wîzer dan der tuft .<br />
(Parz. 240,29-30)<br />
der mac gerîten noch gegên<br />
noch geligen noch gestên .<br />
(Parz. 251,17-18)<br />
diu riet ir vrouwen : " lât genesen<br />
disen man , der den iuwern sluoc :<br />
er mac ergetzen iuch genuoc . "<br />
(Parz. 253,12-14)<br />
g<strong>ein</strong> der gunêrten herzogîn<br />
mac ich suone gephlegen niht ,<br />
swaz halt anders mir geschiht . "<br />
(Parz. 267,6-8)<br />
sprach : " liute , lant noch varnde guot ,<br />
der deh<strong>ein</strong>ez mac gehelfen dir ,<br />
(Parz. 267,10-11)<br />
jâ mac mit êren nû mîn lîp<br />
ergetzen diz werde wîp ,<br />
(Parz. 279,29-30)<br />
starc , küene , wol gevar ,<br />
getriuwe unde rîche ,<br />
hât er diu volleclîche ,<br />
er mac borgen deste baz .<br />
(Parz. 324,6-9)<br />
127
sol ich durch mîner zuht gebot<br />
hoeren nû der werlde spot ,<br />
sô mac sîn râten niht sîn ganz :<br />
mir riet der werde Gurnemanz<br />
(Parz. 330,1-4)<br />
ich mac vor vlüste baz genesen<br />
dort in der stat dan hie bî in .<br />
(Parz. 351,18-19)<br />
waz mac ich nû sprechen mêr ?<br />
(Parz. 379,3)<br />
nû kêret allen iuwern vlîz ,<br />
ob er ledec müge sîn ,<br />
mac er sô vil geniezen mîn "<br />
(Parz. 388,20-22)<br />
man mac doch dicke schouwen<br />
vroun Lûneten rîten zuo<br />
etslîchem râte gar ze vruo .<br />
(Parz. 436,8-10)<br />
oder mac schilt unde swert<br />
sîner helfe sîn sô wert<br />
(Parz. 451,17-18)<br />
wie mac der tiuvel solhen spot<br />
gevüegen an sô wîser diet ,<br />
(Parz. 454,4-5)<br />
( oder mac ez dâ von wesen ganz ,<br />
daz diu riuwe ir scharphen kranz<br />
mir setzet ûf werdekeit ,<br />
die schiltes ammet mir erstreit<br />
g<strong>ein</strong> werlîchen handen ? ) ,<br />
(Parz. 461,17-21)<br />
werdet ir ervunden an rehter ê ,<br />
iu mac zer helle werden wê ,<br />
(Parz. 468,5-6)<br />
swelhes tages ez den st<strong>ein</strong> gesiht ,<br />
die wochen mac ez sterben niht ,<br />
diu aller schierst dar nâch gestêt .<br />
(Parz. 469,15-17)<br />
mac ritterschaft des lîbes prîs<br />
und doch der sêle pardîs<br />
bejagen mir schilte und ouch mit sper ,<br />
sô was ie ritterschaft mîn ger .<br />
(Parz. 472,1-4)<br />
sô twinct si ir vriunt sô sêre ,<br />
man mac es ir jehen zunêre .<br />
(Parz. 478,11-12)<br />
dô dâhte er : wer mac sîn diz wîp ,<br />
diu alsus werlîchen lîp<br />
hât , daz si schiltes phliget ?<br />
(Parz 504,15-17)<br />
128
dar engêt niht kinde reise ,<br />
ez mac wol heizen vreise . "<br />
(Parz. 507,19-20)<br />
iuwer unversichert hant<br />
mac grîfen wol an smæher phant . "<br />
(Parz. 515,25-26)<br />
wederz mac daz wæger sîn ,<br />
ze vuoz oder ûf dem pherdelîn ?<br />
(Parz. 536,19-20)<br />
sît man iu tjost verzinsen sol ,<br />
er mac iu zins geleisten wol .<br />
(Parz. 545,11-12)<br />
swer ie solher noete phlac ,<br />
der mac erkennen phîle .<br />
(Parz. 569,8-9)<br />
sîn sun ist des unverzaget ,<br />
in sol des niht verdriezen ,<br />
mac er niht geniezen<br />
sîner swester wol gevar ,<br />
ze phande er gît sich selben dar .<br />
(Parz. 609,16-20)<br />
ich enmac niemêr verliesen<br />
vreuden , denne ich hân verlorn<br />
an Zidegaste dem ûz erkorn .<br />
(Parz. 612,28-309<br />
mac diu harphe wesen mîn ,<br />
ledec ist duc de Gôwerzîn . "<br />
(Parz. 623,23-24)<br />
waz mac ich sprechen mêre ,<br />
(Parz. 624,20)<br />
swer solhe helfe ertwinge<br />
mit sîner ellenthaften hant ,<br />
den mac man hân vür prîs erkant<br />
(Parz. 676,20-22) .<br />
ich mac wol dîner güete jehen<br />
stæte âne wenken sus :<br />
(Parz. 715,14-15)<br />
ir art mac ich benennen niht .<br />
(Parz. 735,30)<br />
ich mac nû wol duzen dich :<br />
(Parz 814,19)<br />
sô mac ich iu belîben bî .<br />
(Parz. 825,20)<br />
ir sît getriuwe unde wîs<br />
und ouch wol sô gewaldec mîn ,<br />
ir muget mir geben hôhen pîn .<br />
(Parz. 136,12-14)<br />
129
( ir muget mir dannoch vüegen nôt )<br />
(Parz. 136,17)<br />
ir mugetz wol vüeren alle wege :<br />
(Parz. 239,30)<br />
ir muget mit vreuden herre sîn<br />
über manegen liehten schîn ,<br />
vrouwen von manegen landen .<br />
(Parz. 558,25-27)<br />
" ir muget si beide schouwen<br />
ledec , ê daz uns kom diu naht . "<br />
(Parz. 624,8-9)<br />
ir mugets im jehen ze heile ,<br />
daz im diu sælde ie geschach .<br />
(Parz. 624,26-27)<br />
ir muget wol an dem brieve sehen<br />
mêr , denne ichs iu künne jehen .<br />
(Parz. 645,19-20)<br />
wil er wenken als <strong>ein</strong> eichorn ,<br />
ir muget in schiere hân verlorn .<br />
(Parz. 651,13-14)<br />
ir muget uns vreude machen hel ,<br />
daz wir vreude vüeren in manegiu lant ,<br />
dâ nâch uns sorge wart erkant .<br />
(Parz. 660,8-10)<br />
ir muget mir schaden hân getân ,<br />
den ich doch ungedienet hân ,<br />
sît ir mich gesuochet hât .<br />
(Parz. 673,29-674,1)<br />
von dem selben werden manne<br />
muget ir wol ê hân vernomen :<br />
an den rehten stam diz mære ist komen .<br />
(Parz. 678,28-20)<br />
ir enmuget sis niht bescheiden baz ,<br />
ez was Feirefîz Anschevîn .<br />
(Parz. 77,6-7)<br />
ab) ohne Extraposition (86)<br />
mîn bruoder der mac sich mêre<br />
der stæten helfe an mich versehen ,<br />
(Parz. 6,30-7,1)<br />
vrouwe , ich enmac dich niht verheln ,<br />
wære dîn orden in mîner ê ,<br />
sô wære mir immer nâch dir wê :<br />
(Parz. 55,24)<br />
wer solde ouch vinsterlingen spiln ?<br />
es mac die müeden doch beviln .<br />
(Parz. 82,19-20)<br />
130
ich mac iuch wol ergetzen sîn :<br />
(Parz. 99,10)<br />
ich enmac es niht abe gezwicken .<br />
(Parz. 124,4)<br />
ob ich in mac errîten ,<br />
ich wil gerne mit im strîten .<br />
(Parz. 139,7-8)<br />
swenne ich daz mac gerechen ,<br />
daz wil ich gerne zechen .<br />
(Parz. 141,27-28)<br />
got hüete dîn ! ich wil von dir varn<br />
der mac uns beide wol bewarn .<br />
(Parz. 159,3-4)<br />
mac ich iu jâmer denne entsagen ,<br />
des lâze ich iuch sô vil niht tragen .<br />
(Parz. 179,5-6)<br />
er enmacz vor jâmer niht enthaben ,<br />
ez welle springen oder draben .<br />
(Parz. 180,1-2)<br />
Condwîrâmûrs mac wol jehen<br />
daz ich der unsælege bin<br />
und dîn gelücke hât gewin :<br />
(Parz. 213,8-10)<br />
" mac niemen dâ vür niht gegeben ,<br />
sô leiste ichz , wande ich wil noch leben . "<br />
(Parz. 268,5-6)<br />
doch sint diu lant wol sô wît ,<br />
ich mac dâ prîs und arbeit holn<br />
und beidiu vreude und angest doln .<br />
(Parz. 302,28-30)<br />
ir sît manlîcher êren schiech ,<br />
und an der werdekeit sô siech ,<br />
neh<strong>ein</strong> arzet mac iuch des ernern .<br />
(Parz. 316,13-15)<br />
ez mac mit rede niht ergên ,<br />
daz hôher prîs geneiget sî ,<br />
der Gâwâne ist ledeclîche bî .<br />
(Parz. 323,10-12)<br />
ist her Gâwân lobes snel ,<br />
der mac sich anders niht entsagen ,<br />
er enmüeze kamph dâ g<strong>ein</strong> mir tragen .<br />
(Parz. 324,22-24)<br />
ich enmac es sô niht geleiden<br />
als ez mir leide kündet ,<br />
sich nû maneger sündet<br />
an mir , der niht weiz mîner klage ,<br />
und ich dâ bî sîn spotten trage .<br />
(Parz. 329,20-24)<br />
131
vor den mac Lippaôt wol genesen ,<br />
wande er si mit triuwe hât erzogen ,<br />
(Parz. 348,10-11)<br />
" waz gezoges mac ditze sîn ? "<br />
(Parz. 352,14)<br />
sîn dienest mac hie lônes gern :<br />
(Parz. 352,20)<br />
diu sprach : er mac sichs wol erholn :<br />
ich gibe im noch g<strong>ein</strong> ellen trôst ,<br />
daz er dîns spottes wirt erlôst .<br />
(Parz. 358,8-10)<br />
" dâ mac niht arges ûz geschehen . "<br />
(Parz. 364,24)<br />
dô sprach er : herre , iuwer komen<br />
daz mac mit sælden uns gevromen .<br />
(Parz. 366,7-8)<br />
man mac mich dâ in strîte sehen :<br />
der muoz mînhalp von iu geschehen .<br />
(Parz. 370,29-30)<br />
des mac ich niht <strong>ein</strong> ende hân .<br />
(Parz. 397,11)<br />
mac ez mit iuwern hulden sîn ,<br />
ich briche iu nû gesellekeit .<br />
(Parz. 402,10-11)<br />
ich mac des von vrouwen jehen<br />
als mir diu ougen kunnen spehen :<br />
(Parz. 404,7-8)<br />
ich enwolde iuch denne triegen ,<br />
sô enmac ich in niht beschoenen ,<br />
er enwelle sich selben hoenen<br />
an sînem werden gaste .<br />
(Parz. 410,16-19)<br />
ir habet gedrenge oder wît ,<br />
man mac sich iuwer lîhte erwern .<br />
(Parz. 417,14-15)<br />
jâ enmac den grâl niemen bejagen ,<br />
wan der ze himele ist sô bekant<br />
daz er zem grâle sî benant .<br />
(Parz. 468,12-14)<br />
iuwer warnen mac ze schaden komen .<br />
(Parz. 483,30)<br />
ich mac uns selben niht gespîsen ,<br />
es enwelle uns got bewîsen .<br />
(Parz. 485,5-6)<br />
er mac gerîten noch gegên ,<br />
der künec , noch geligen noch gestên :<br />
(Parz. 491,1-2)<br />
132
wil si die lenge ringen ,<br />
si mac mich nider bringen ,<br />
ich erwerbes haz oder gruoz .<br />
(Parz. 504,21-23)<br />
liget Lôgrois sô nâhen ,<br />
mac ich in dâ vor ergâhen ,<br />
sô muoz er antwurten mir :<br />
(Parz. 507,13-15)<br />
wer mac minne ungedienet hân ?<br />
(Parz. 511,12)<br />
er mac sich harte wol bejagen ,<br />
gelernt er bühsen veile tragen .<br />
(Parz. 517,1-2)<br />
mac ich der niht erwerben ,<br />
sô muoz <strong>ein</strong> sûrez sterben<br />
sich schiere an mir erzeigen .<br />
(Parz. 523,23-25)<br />
doch mac mîn her Gâwân<br />
der minne des niht entwenken ,<br />
(Parz. 534,2-3)<br />
iuch enmac anders niht ernern .<br />
(Parz. 535,18)<br />
si sprach : iu mac der prîs geschehen ,<br />
ich state iu sehens noch an mich .<br />
(Parz. 536,6-7)<br />
wes mac sîn ors dâ bîten ,<br />
ez enstrûche ouch über daz runzît ?<br />
(Parz. 536,24-25)<br />
des enmac er niht erwenden ,<br />
sol mirz gelücke senden .<br />
(Parz. 543,19-20)<br />
mit vreuden liep âne leit<br />
mac iuwer prîs hie erwerben ,<br />
sult ir niht ersterben .<br />
(Parz. 560,10-12)<br />
swaz von erzenîe mac geschehen ,<br />
des tuot si mich gewaldec wol .<br />
(Parz. 579,26-27)<br />
saget mir, wer mac diu vrouwe sîn?<br />
(Parz. 593,29)<br />
sprach si , wil er , mit sîner hant<br />
mac geben und behalden ,<br />
der hie sitzet : lâts in walden .<br />
(Parz. 623,26-28)<br />
kunnen si zwei nû minne steln ,<br />
daz mac ich unsanfte heln .<br />
(Parz. 643,1-2)<br />
133
dâ enmac niht anders an ergên ,<br />
wan daz ich den kanph leisten wil .<br />
(Parz. 684,22-23)<br />
ich mac wol w<strong>ein</strong>en<br />
und immer klage ersch<strong>ein</strong>en ,<br />
wan sweder iuwer dâ beliget ,<br />
nâch dem mîn vrouwe jâmers phliget .<br />
(Parz. 697,1-4)<br />
mir ist mîn reht hie wider gegeben :<br />
ich mac geselleclîche leben ,<br />
lieber neve , nû g<strong>ein</strong> dir .<br />
(Parz. 701,15-17)<br />
herre , macz mit hulden sîn ,<br />
der künec hât diz vingerlîn<br />
dâ her gesant und disen brief :<br />
(Parz. 714,11-13)<br />
dâ enmac niht anders an ergên ,<br />
wan daz si <strong>ein</strong> ander minnen<br />
mit herzenlîchen sinnen .<br />
(Parz. 726,28-30)<br />
dennoch mac ichs iu mêr wol sagen ,<br />
wil ich sîner rîcheit niht gedagen .<br />
(Parz. 735,13-14)<br />
nû enmac ich disen heiden<br />
von dem getouften niht gescheiden ,<br />
(Parz. 738,11-12)<br />
er enwelle an minne denken ,<br />
sô enmac er niht entwenken ,<br />
dirre strît müeze im erwerben<br />
von sheidens hant <strong>ein</strong> sterben .<br />
(Parz. 740,15-18)<br />
man mac wol jehen , sus striten sie ,<br />
der si beide nennen wil ze zw<strong>ein</strong> .<br />
(Parz 740,26-27)<br />
al dîn werlîcher list<br />
mac dich vor tôde niht bewarn ,<br />
ich enwelle dich anders gerne sparn .<br />
(Parz. 747,6-8)<br />
sprach der heiden . ist mîn vater tôt ?<br />
ich mac wol vreuden vlüste jehen<br />
und vreuden vunt mit wârheit spehen .<br />
(Parz. 752,2-4)<br />
swâ vriundîn rede wirt vernomen ,<br />
diu vriunde mac ze staten komen .<br />
(Parz. 766,17-18)<br />
got ist vater unde sun ,<br />
sîn geist mac grôze helfe tuon .<br />
(Parz. 797,29-30)<br />
134
dâ enmac niht mêr geslâfen sîn .<br />
(Parz. 802,21)<br />
der mac iu dâ wol helfe tuon .<br />
(Parz. 811,30)<br />
vünf stiche mac turnieren hân ,<br />
die sint mit mîner hant getân :<br />
(Parz. 812,09-109)<br />
nû enmac irz herze niht versteln .<br />
(Parz. 814,10)<br />
diz vliegende bîspel<br />
ist tumben liuten gar ze snel<br />
si enmugens niht erdenken ,<br />
(Parz. 1,15-17)<br />
mîne kocken sint sô snel ,<br />
si enmugen uns niht genâhen .<br />
(Parz. 55,6-7)<br />
hie muget ir grôz wunder losen ,<br />
daz im der kocke widervuor .<br />
(Parz. 58,14-15)<br />
welt ir in gerne liegen ,<br />
ir muget ir vil betriegen :<br />
(Parz. 172,13-14)<br />
ir muget Lîâzen niht genemen .<br />
(Parz. 176,1)<br />
wir mugen an der lîten<br />
wol zorse zuo zin rîten ,<br />
(Parz. 205,5-6)<br />
hüetet iuch : dâ gênt unkunde wege .<br />
ir muget an der lîten<br />
vil wol misserîten ,<br />
(Parz. 226,6-8)<br />
si enmugen niht langer hie gestên :<br />
(Parz. 331,1)<br />
si jâhen : wir mugen sô strîten ,<br />
ê daz wir uns von zinnen wern<br />
Meljanzes beiden hern .<br />
(Parz. 355,30-356,2)<br />
ir muget wol laster hie bejagen ,<br />
muoz ich iu die wârheit sagen .<br />
(Parz. 510,13-14)<br />
werdet ir niht geletzet ,<br />
ir muget daz ors gerne hân .<br />
(Parz 561,10-11)<br />
Gâwân sus mit kummer ranc:<br />
ir muget wol hoeren, waz in twanc.<br />
(Parz. 595,1-2)<br />
135
) mugen in VL (33):<br />
an disen zîten ungemach<br />
muget ir gerne vliehen.<br />
(Parz. 599,6-7)<br />
iuwer tat: welt ir michs wern,<br />
sô muget ir mîner minne gern.<br />
(Parz. 600,23-249<br />
" ir enmuget niht ander brücken hân . "<br />
(Parz. 610,27)<br />
daz muget ir âne vrâgen lân ,<br />
wande er muoz grôze koste hân .<br />
(Parz. 629,29-30)<br />
sîn getriuwe manlîch sinne<br />
mugen hie niht mêr erwerben .<br />
(Parz. 698,10-11)<br />
alhie . muget ir versuochen ,<br />
welt ir mîns lebens ruochen ,<br />
ob mich der künec welle sehen ,<br />
dem ich muoz mîner vreuden jehen ?<br />
(Parz. 716,27-30)<br />
Jofreit sprach : erst sô kurtois ,<br />
ir muget in alle gerne sehen ,<br />
wan ir sult wunder an im spehen :<br />
(Parz. 761,20-22)<br />
sô diu vrâge wirt g<strong>ein</strong> im getân ,<br />
sô mugen sis niht langer hân .<br />
(Parz. 819,1-2)<br />
ba) mit Extraposition von Komplementen oder Adjunkten (5)<br />
bba) in für Inkohärenz typischer Verbabfolge (3)<br />
hiest ouch Gâwân, des sun,<br />
sô kranc daz er niht mac getuon<br />
ritterschaft enk<strong>ein</strong>e.<br />
(Parz. 66,15-17)<br />
liget Artûs dâ , sô muoz ich klagen<br />
daz ich in niht mit êren mîn<br />
mac gesehen noch die künegîn .<br />
(Parz. 304,10-12)<br />
dâ von er mac ersterben niht .<br />
(Parz. 501,30)<br />
bba) in für Kohärenz typischer Verbabfolge (2)<br />
swaz er aldâ gevâhen mac<br />
bî sô smerzlîchem sêre ,<br />
er bedarf dâ heime mêre .<br />
(Parz. 491,10-12)<br />
136
ê er scheide von mînem lande ,<br />
des er jehen mac vür schande .<br />
(Parz. 529,5-6)<br />
bb) ohne Extraposition (33)<br />
bba) in für Inkohärenz typischer Verbabfolge (10)<br />
swaz uns der nû mac getuon ,<br />
daz muoz ie dirre gelten .<br />
(Parz. 31,24-25)<br />
bezal aber ich immer ritters prîs ,<br />
sô daz ich wol mac minne gern ,<br />
ir sult mich Lîâzen wern ,<br />
iuwer tohter , der schoenen maget .<br />
(Parz. 178,30-179,03)<br />
swaz mac an den gebærden sîn .<br />
(Parz. 201,29)<br />
ich hilfe iu swâs niht rât mac sîn .<br />
(Parz. 281,7)<br />
swaz mir dâ von nû mac geschehen<br />
( ir hât michz merre teil gesehen ) ,<br />
des sol doch guot rât werden .<br />
(Parz. 340,11-13)<br />
er sprach : ist gotes kraft sô fier ,<br />
daz is beidiu ors und tier<br />
und die liute mac wîsen ,<br />
(Parz. 452,1-3)<br />
ich m<strong>ein</strong>e , swaz diu erde mac gebern .<br />
(Parz. 470,15)<br />
dô sprach er: "vrouwe, swâ daz rîs<br />
stêt, daz sô hôhen prîs<br />
mir ze sælden mac bejagen,<br />
(Parz 600,25-27)<br />
der besneit in an dem lîbe ,<br />
daz er deh<strong>ein</strong>em wîbe<br />
mac ze schimphe niht gevromen .<br />
(Parz. 657,23-25)<br />
ir strît was sô gerâten ,<br />
daz ich die rede mac niht verdagen ,<br />
(Parz. 739,30-740,01)<br />
bbb) in für Kohärenz typischer Verbabfolge (18)<br />
dâ von der helt wol rîten mac<br />
her ûf ze mir oder sol ich dar ?<br />
(Parz. 22,6-7)<br />
mich erkennet iedoch der wîse<br />
an sô bewandem prîse ,<br />
der ninder mac entêret sîn ,<br />
wan daz er mich vor Prûrîn<br />
mit sîner tjoste valte .<br />
(Parz. 134,9-13)<br />
137
man und wîp diu sint al <strong>ein</strong><br />
als diu sunne diu hiute sch<strong>ein</strong> ,<br />
und ouch der name der heizet tac .<br />
der enwederz sich gescheiden mac :<br />
si blüent ûz <strong>ein</strong>em kerne gar .<br />
(Parz. 173,1-5)<br />
mit mîner hant ir sît gewert<br />
alz ez mîn lîp volbringen mac . "<br />
(Parz. 195,30-196,01)<br />
ir habet mir mangel vor gezilt<br />
und mîner ougen ecke alsô verspilt ,<br />
daz ich iu niht getrûwen mac .<br />
(Parz. 292,11)<br />
al âventiure ist <strong>ein</strong> wint ,<br />
wan die man dâ bezaln mac ,<br />
hôher minne wert bejac .<br />
(Parz. 318,20-22)<br />
swaz hazzes er geleisten mac ,<br />
mîn haz im biutet hazzes slac .<br />
(Parz. 320,29-30)<br />
zuo dirre ungeschihte<br />
sol iuwer künfteclîcher tac<br />
uns troesten , wande er troesten mac .<br />
(Parz. 366,12-14)<br />
ez ist hiute der karvrîtac ,<br />
des al diu werlt sich vreun mac<br />
und â bî mit angest siufzec sîn .<br />
(Parz. 448,7-9)<br />
sô helfe er , ob er helfen mac .<br />
(Parz, 451,22)<br />
ez ist hiute der karvrîtac ,<br />
daz man vür wâr dâ warten mac ,<br />
<strong>ein</strong> tûbe von himele swinget ,<br />
ûf den st<strong>ein</strong> diu bringet<br />
<strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>e wîze oblât ,<br />
(Parz. 470,1-5)<br />
swaz ich dâ von gesprechen mac ,<br />
wert man sol sich niht minne wern ,<br />
wan den muoz minne helfen nern .<br />
(Parz. 534,6-8)<br />
bî manheit sælde helfen mac .<br />
(Parz. 548,12)<br />
und hât Gâwân erworben<br />
solhen prîs vor ûz besunder ,<br />
daz ob der tavelrunder<br />
im prîses niemen gelîchen mac .<br />
(Parz. 608,26-29)<br />
vrouwe , ob ich sô sprechen mac ,<br />
(Parz. 612,10)<br />
138
c) mugen in Ellipsen (6):<br />
unz sich erhebe hôch der tac ,<br />
daz daz volc ze hove wesen mac ,<br />
(Parz. 646,27-28)<br />
swaz er den vreuden mac genemen ,<br />
des kan von herzen in gezemen .<br />
(Parz. 658,7-8)<br />
smorgens , ob ich so sprechen mac .<br />
(Parz 774,29)<br />
ich solz versuochen, ob ich mac .<br />
(Parz. 9,27)<br />
lât mich belîben swâ ich mac . "<br />
(Parz. 193,18)<br />
g<strong>ein</strong> mir ziehen : ich wil in wern ,<br />
vor unrehten strîten nern ,<br />
swâ ich , herre , vor iuwern hulden mac .<br />
(Parz. 364,9-11)<br />
er sol ouch slâfen , ob er mac .<br />
(Parz. 552,29)<br />
mac ich , sô vüege ich im und dir ,<br />
daz iuwer wille dran gestêt<br />
und iuwer beider vreude ergêt . "<br />
(Parz. 716,22-24)<br />
nû solde ich zürnen : ich enmac .<br />
(Parz. 801,9)<br />
139
6.2 müezen (164)<br />
6.2.1 FÜR EINE EPISTEMISCHE INTERPRETATION IN FRAGE KOMMEND<br />
(8) :<br />
a) müezen in V1 und V2 (8)<br />
aa) mit Extraposition von Komplementen oder Adjunkten (7)<br />
mich müent ir jæmerlîchen wort ,<br />
diu enrüerent mir deh<strong>ein</strong> herzen ort :<br />
jâ muoz enmitten drinne sîn<br />
der vrouwen ungedienter pîn .<br />
(Parz. 158,27-30)<br />
von tumpheit muoz verderben<br />
maneges tôren hôher vunt .<br />
(Parz. 292,24-25)<br />
swem ir ze solhen werken gâch ,<br />
dâ missewende hoeret nâch ,<br />
phliht werder lîp an den gewin ,<br />
daz muoz in lêren kranker sin .<br />
(Parz. 338,25-28)<br />
dort sitzt <strong>ein</strong> wehselære ,<br />
des market muoz hie werden guot .<br />
(Parz. 353,26-27)<br />
ouwê , liebiu niftel mîn ,<br />
daz dîn jugent sô hôher minne schîn<br />
tuot , daz muoz dir werden sûr .<br />
(Parz. 712,5-7)<br />
wan swem sîn dienst verswindet ,<br />
daz er niht lônes vindet ,<br />
dem muoz g<strong>ein</strong> sorgen wesen gâch ,<br />
dâ enreiche wîbe helfe nâch .<br />
(Parz. 731,27-30)<br />
hât dich vriundîn ûz gesant ,<br />
diu muoz sîn vil gehiure ,<br />
ob dû durch âventiure<br />
alsus verre bist gestrichen .<br />
(Parz. 767,20-23)<br />
ab) ohne Extraposition (1)<br />
daz muget ir âne vrâgen lân ,<br />
wande er muoz grôze koste hân .<br />
(Parz. 629,29-30)<br />
140
) müezen in VL (0)<br />
ba) mit Extraposition von Komplementen oder Adjunkten (0)<br />
baa) in für Inkohärenz typischer Verbabfolge(0)<br />
bab) in für Kohärenz typischer Verbabfolge (0)<br />
ba) mit Extraposition von Komplementen oder Adjunkten (0)<br />
baa) in für Inkohärenz typischer Verbabfolge(0)<br />
bab) in für Kohärenz typischer Verbabfolge (0)<br />
6.1.2 FÜR EINE EPISTEMISCHE INTERPRETATION NICHT IN FRAGE<br />
KOMMEND (156 Vorkommen):<br />
a) müezen in V1 und V2 (121)<br />
aa) mit Extraposition von Komplementen oder Adjunkten (31)<br />
Ist zwîvel herzen nâchgebûr ,<br />
daz muoz der sêle werden sûr ,<br />
(Parz. 1,1-2)<br />
vür die sîne muoz ich an mich legen<br />
und vür den schuz und vür den stich<br />
muoz ich alsus wâpen mich . "<br />
(Parz. 124,8-10)<br />
iuwer zoum muoz sîn <strong>ein</strong> bestîn seil ,<br />
iuwer phert bejaget wol hungers teil ,<br />
iuwer satel wol gezieret<br />
der wirt enschumphieret . "<br />
(Parz. 137,1-4)<br />
ich muoz doch sus mit kumber leben<br />
âne alle mîne schulde ,<br />
sît ich darbe sîner hulde .<br />
(Parz. 150,6-8)<br />
nû muoz ich alze vruo begraben<br />
<strong>ein</strong> slôz ob dem prîse .<br />
(Parz. 160,16-17)<br />
ich muoz doch laster erben<br />
ûf alle mîne nâchkomen .<br />
(Parz. 213,18-19)<br />
lieber neve , geloube mir ,<br />
sô muoz gar dienen dîner hant<br />
swaz dîn lîp dâ wunders vant .<br />
(Parz. 254,20-22)<br />
141
wæret ir bî dem grâle ,<br />
sô muoz ich sprechen âne spot ,<br />
in heidenschaft Tribalibot ,<br />
(Parz. 326,20)<br />
dar umme muoz ze rehte stên<br />
iuwer prîs vor iuwer selbes zuht ,<br />
sît mîn magetuonlîchiu vluht<br />
iuwer genâde suochet .<br />
(Parz. 369,24-27)<br />
herre , muoz ich iuch biten des ,<br />
sô ruochet mînen herren sehen .<br />
(Parz. 393,8-9).<br />
mit dürkelen triuwen<br />
hânt si alle ir sælekeit verlorn :<br />
des muoz ir sêle lîden zorn .<br />
(Parz. 404,14-16)<br />
mich muoz der künec slahen tôt<br />
oder ich behalde dir dîn leben .<br />
(Parz. 411,22-23)<br />
mich muoz her Gâwân slahen tôt<br />
oder ich gelêre in râche nôt . "<br />
(Parz. 421,11-12)<br />
solde ich nû drum ersterben ,<br />
sô muoz ich leisten sicherheit<br />
die sîn hant an mir erstreit .<br />
(Parz. 424,24-26)<br />
er hât hie erliten grôze nôt<br />
und er muoz nû kêren in den tôt .<br />
(Parz. 426,1-2)<br />
nû muoz dîn vreude sîn verzaget<br />
und al dîn hôher muot erlemt .<br />
(Parz. 441,26-27)<br />
sît muoz sîn phlegen getouftiu vruht<br />
mit alsô kiuschlîcher zuht :<br />
(Parz. 454,27-28)<br />
dâ muoz der ritter und der kneht<br />
bewart sîn vor lôsheit .<br />
(Parz. 473,2-3)<br />
swer schiltes ammet üeben wil ,<br />
der muoz durchstrîchen lande vil .<br />
(Parz. 499,9-10)<br />
liget Lôgrois sô nâhen ,<br />
mac ich in dâ vor ergâhen ,<br />
sô muoz er antwurten mir :<br />
(Parz.507,13-15)<br />
mîn lîp muoz ersterben sô ,<br />
daz mir nimmer wîp gevellet baz .<br />
(Parz. 509,8-9)<br />
142
er muoz dar um emphâhen strît ,<br />
durch die vrouwen <strong>ein</strong>e<br />
und durch iuch harte kl<strong>ein</strong>e .<br />
(Parz. 529,12-14)<br />
wâ sol ich nû troesten holn ,<br />
muoz ich âne helfe doln<br />
nâch minne alsolhe riuwe ?<br />
(Parz. 547,25-27)<br />
si sprach : herre , ich muoz iu klagen<br />
von dem , der mir hât erslagen<br />
den werden Zidegasten .<br />
(Parz. 615,27-29)<br />
wan dar um muoz ersterben<br />
mîn armer lîp , den ich hie trage ,<br />
nâch im mit herzenlîcher klage . "<br />
(Parz. 698,12-14)<br />
sô muoz mich immer twingen<br />
ir kiuschlîcher ummevanc ,<br />
von der ich schiet , des ist ze lanc .<br />
(Parz. 732,20)<br />
er jach : wir müezen rîten<br />
in manec lant , daz ritters tât<br />
uns wol ze gegenstrîte hât :<br />
ûf gerihtiu sper wir müezen sehen .<br />
(Parz. 280,28-281,1)<br />
wir müezen iuch bî kreften lân<br />
mit rehter wârheit sunder wân .<br />
(Parz. 291,13-14)<br />
sô müezet ir von den blîden<br />
kêren g<strong>ein</strong> der riuwe .<br />
(Parz. 530,12-13)<br />
ellenthaftez sprengen<br />
müezet ir zorse tuon alsus<br />
über Li Gweiz Preljus .<br />
(Parz. 602,4-6)<br />
welt ir iu selben rehtes gern ,<br />
sô müezet ir gelten mich vor gote .<br />
(Parz. 787,12-13)<br />
ab) ohne Extraposition (90)<br />
daz ez im nâch vreuden niht ergienc ,<br />
des muoz ich immer jâmer tragen .<br />
(Parz. 26,28-29)<br />
si enmohten mir niht mêr getuon<br />
schaden , denne mir was geschehen<br />
an îsenharte , ich muoz es jehen .<br />
(Parz. 28,24-26)<br />
swaz uns der nû mac getuon ,<br />
daz muoz ie dirre gelten .<br />
(Parz. 31,24-25)<br />
143
des muoz ich im vür ellen jehen :<br />
(Parz. 41,5)<br />
ich muoz iu von ir spîse sagen :<br />
(Parz. 32,29)<br />
ich muoz des <strong>ein</strong>em tiuvel jehen ,<br />
des vuore ich nimmer wirde vrô :<br />
(Parz. 50,12-13)<br />
nû muoz ich iu von scheiden sagen :<br />
(Parz. 50,10)<br />
sol mir dîn minne verren ,<br />
sô muoz mir minne werren .<br />
(Parz. 76,29-30)<br />
n<strong>ein</strong> , ich muoz bî riuwen sîn :<br />
ich sene mich nâch der künegîn .<br />
(Parz. 90,17-18)<br />
<strong>ein</strong>z undz ander muoz ich klagen :<br />
(Parz. 91,9)<br />
ich muoz nû lebelîche<br />
gebâren : ich bin rîche .<br />
(Parz. 99,17-18)<br />
<strong>ein</strong> prîs den wir Beier tragen ,<br />
muoz ich von Wâleisen sagen :<br />
(Parz. 121,7-8)<br />
vür die sîne muoz ich an mich legen<br />
und vür den schuz und vür den stich<br />
muoz ich alsus wâpen mich .<br />
(Parz. 124,8-10)<br />
si dâhte : " ich enwil im niht versagen ,<br />
ez muoz aber vil boese sîn . "<br />
(Parz. 126,22-23)<br />
ez muoz noch dicke bâgen<br />
und solhe schanze wâgen .<br />
(Parz. 150,19-20)<br />
des muoz ich unsælec man<br />
ir lîp , ir lant dir ledec lân .<br />
(Parz. 213,27-28)<br />
ez muoz unwizzende geschehen ,<br />
swer immer sol die burc gesehen .<br />
(Parz. 250,29-30)<br />
der rôte ritter twanc mich sus ,<br />
daz ich dir sicherheit muoz geben :<br />
dâ mite erkoufte ich dô mîn leben .<br />
(Parz. 276,4-6)<br />
ich sol und muoz durch triuwe klagen .<br />
ouwê wer hât dich geslagen ?<br />
(Parz. 276,13-14)<br />
144
dez muoz her Walther singen :<br />
(Parz. 297,24)<br />
doch muoz ich iuwer spotten tragen :<br />
ir bietet mirz lîhte her nâch baz .<br />
(Parz. 302,24-25)<br />
liget Artûs dâ , sô muoz ich klagen<br />
daz ich in niht mit êren mîn<br />
mac gesehen noch die künegîn .<br />
(Parz. 304,10-12)<br />
ez muoz nû an <strong>ein</strong> scheiden gên .<br />
(Parz. 331,2)<br />
der turkoite mich dâ stach<br />
hinderz ors : ich muoz mich schamen .<br />
(Parz. 334,14-15)<br />
vil sper muoz man dâ brechen ,<br />
beidiu hurten unde stechen .<br />
(Parz. 349,5-6)<br />
sol lûter herze sich niht schemen ,<br />
daz muoz der tôt dâ von ê nemen .<br />
(Parz. 358,19-20)<br />
nû muoz ichz durch daz mîden ,<br />
herre , unz <strong>ein</strong> mîn kamph ergêt ,<br />
dâ mîn triuwe sô hôhe phandes stêt ,<br />
(Parz. 366,26-28)<br />
durch aller werden liute gruoz<br />
ich si mit kamphe loesen muoz<br />
( sus bin ich ûf der strâzen )<br />
oder ich muoz den lîp dâ lâzen .<br />
(Parz. 366,29-367,2)<br />
der muoz mînhalp von iu geschehen .<br />
(Parz. 370,30)<br />
dô sprach si : herre , nû lât mich varn<br />
ich muoz ouch mich dar an bewarn :<br />
(Parz. 371,23-24)<br />
sît er mir dienest hât geboten ,<br />
sô muoz ich schemelîche roten ,<br />
ob ich im niht ze gebene hân .<br />
(Parz. 373,23-25)<br />
welt irz iu prüeven vür <strong>ein</strong> heil ,<br />
deiswâr sô muoz si sich bewegen<br />
daz si iuwer unz an mich sol phlegen :<br />
(Parz. 402,24-26)<br />
wirt iu kurzwîle gemêret ,<br />
daz muoz an iuwerm gebote sîn .<br />
(Parz. 405,8-9)<br />
145
sol man iuch bî zühten sehen ,<br />
sô muoz des iuwer zuht verjehen<br />
daz sippe reicht abe iu an mich .<br />
(Parz. 415,23-25)<br />
und sol mir got den lîp bewarn ,<br />
sô muoz ich dienestlîchez varn<br />
(Parz. 431,7-8)<br />
ir tummer man , daz muoz ich klagen .<br />
(Parz. 468,11)<br />
des muoz ich von dem grâle jehen :<br />
(Parz. 468,15)<br />
sîn varwe im nimmer ouch zegêt :<br />
man muoz im solher varwe jehen ,<br />
dâ mite ez hât den st<strong>ein</strong> gesehen ,<br />
(Parz. 469,18-20)<br />
doch muoz er sünde engelten ,<br />
daz er niht vrâcte swirtes schaden .<br />
(Parz. 473,18-19)<br />
der selben sünde muoz ich jehen :<br />
(Parz. 475,8)<br />
dise zît diech hie benennet hân ,<br />
sô muoz der künec ruowe lân :<br />
sô tuot im grôzer vrost sô wê ,<br />
sîn vleisch wirt kelter dan der snê .<br />
(Parz. 490,9-12)<br />
er muoz nû strîte nâhen .<br />
(Parz. 504,6)<br />
ir muget wol laster hie bejagen ,<br />
muoz ich iu die wârheit sagen . "<br />
(Parz. 510,13-14)<br />
muoz ich iu daz künden ,<br />
der treget si hin mit sünden .<br />
(Parz. 511,13-14)<br />
mac ich der niht erwerben ,<br />
sô muoz <strong>ein</strong> sûrez sterben<br />
sich schiere an mir erzeigen .<br />
(Parz. 523,23-25)<br />
sol ich der wâren minne jehen ,<br />
diu muoz durch triuwe mir geschehen .<br />
(Parz. 532,17-18)<br />
wert man sol sich niht minne wern ,<br />
wan den muoz minne helfen nern .<br />
(Parz. 534.7-8)<br />
swen got den sic dan læzet tragen :<br />
der muoz vil prîses ê bejagen .<br />
(Parz. 537,23-24)<br />
146
daz bin ich : ez muoz mich hinnen tragen ,<br />
soldet halt ir niemêr ors bejagen .<br />
(Parz. 545,17-18)<br />
" sô muoz ich doch ir kummer klagen "<br />
(Parz. 556,17)<br />
herre , sô muoz mich riuwen<br />
daz iuch svrâgens niht bevilt .<br />
(Parz. 557,2)<br />
den estrîch muoz ich iu loben :<br />
(Parz. 566,20)<br />
Orgelûse diu herzoginne<br />
muoz genâde an mir begên ,<br />
ob ich bî vreuden sol bestên . "<br />
(Parz. 587,20-22)<br />
iuwer helfe alsô gegeben ,<br />
daz ich gediene , muoz ich leben . "<br />
(Parz. 590,29-30)<br />
diu künegîn sprach : " muoz ich sô spehen ,<br />
daz ir mir , herre , habet verjehen ,<br />
daz ich iuwer meisterinne sî ,<br />
(Parz. 591,1-3)<br />
ich muoz iu herzenlîche klagen :<br />
(Parz. 606,14)<br />
swer mich dâ bî hât gesehen ,<br />
der muoz mir ritterschefte jehen .<br />
(Parz. 612,11-12)<br />
" vrouwe , g<strong>ein</strong> dem herren mîn<br />
muoz ich balde kêren :<br />
(Parz. 651,16-17)<br />
vrouwe . ich entars iu niht gesagen ,<br />
ich muoz ez durch mînen eit verdagen .<br />
(Parz. 653,5-6)<br />
muoz ich iu sîniu tougen sagen ,<br />
des sol ich iuwern urloup tragen<br />
(Parz. 657,3-4) :<br />
" vrouwe , muoz ich mîn leben hân ,<br />
sô wirt noch vreude an iu vernomen . "<br />
(Parz. 661,4-59)<br />
ez ist et nû alsô gedigen ,<br />
ir herren muoz ich iu nennen ,<br />
daz ir den müget erkennen .<br />
(Parz. 667,16-18)<br />
war hebet ir iuch durch minne ergeben ?<br />
diu muoz doch sîner genâden leben .<br />
(Parz. 693,25-26)<br />
" ez muoz doch sîn " sprach Gâwân .<br />
(Parz. 696,5)<br />
147
mîne vrouwen und mich muoz ich wol klagen .<br />
(Parz. 697,6)<br />
er sprach : " sol nû hie strît ergên ,<br />
dâ muoz gelîchiu schanze stên . "<br />
(Parz. 747,17-18)<br />
giht man vreude iht urbor ,<br />
den zins muoz wâriu minne geben .<br />
(Parz. 766,12-13)<br />
Feirefîz der vêch gevar<br />
muoz mir willekomen sîn<br />
(Parz. 781,6-7)<br />
dîn riuwe muoz verderben .<br />
(Parz. 782,22)<br />
swer sînes lônes iht wil tragen ,<br />
der muoz den selben widersagen :<br />
(Parz. 798,19-20)<br />
und swaz ich ie durch wîp gestreit<br />
und ob mîn hant iht hât vergeben ,<br />
muoz ich sus pîneclîche leben ?<br />
(Parz. 810,24-26)<br />
" mîn sun ist gordent ûf den grâl :<br />
dar muoz er dienstlîch herze tragen ,<br />
læt in got rehten sin bejagen . "<br />
(Parz. 820,14-16)<br />
ist daz durch <strong>ein</strong> wîp geschehen ,<br />
diu muoz mir süezer worte jehen .<br />
(Parz. 827,29-30)<br />
liute , die bî ir dâ sint ,<br />
müezen bûwen unde riuten .<br />
(Parz. 117,16-17)<br />
hebet iuch enwec : wan kumt mîn man ,<br />
ir müezet zürnen lîden ,<br />
daz ir gerner möhtet mîden .<br />
(Parz. 132,12-14)<br />
" sît ir durch râtes schulde<br />
her komen , iuwer hulde<br />
müezet ir mir durch râten lân ,<br />
und welt ir râtes volge hân . "<br />
(Parz. 163,3-6)<br />
ir müezet dicke wâpen tragen :<br />
(Parz. 172,1)<br />
swenne ir bejaget ir ungunst ,<br />
sô müezet ir gunêret sîn<br />
und immer dulden schemeden pîn .<br />
(Parz. 172,26-28)<br />
wir müezen strengen zadel tragen . "<br />
(Parz. 190,8)<br />
148
) müezen in VL (33):<br />
mîn lant undz volc ze Brandigân<br />
müezens immer jâmer hân .<br />
(Parz. 220,7-8)<br />
sô ir ûf hin komet an den graben<br />
( ich wæne dâ müezet ir stille haben ) ,<br />
bitet iu die brücken nider lâzen<br />
und offen iu die stâzen . "<br />
(Parz. 225,27-30)<br />
( sol ich des iemen triegen ,<br />
sô müezet ir mit mir liegen ) ,<br />
(Parz. 238,11-12)<br />
swie unhôhe iuch daz wiget ,<br />
ir müezet im drumbe wandel geben<br />
oder ich verliuse mîn leben .<br />
(Parz. 287,24-26)<br />
ê daz ir minne meget gegeben<br />
ir müezet vünf jâr ê leben :<br />
(Parz. 370,15-16)<br />
des müezen ouch si mit zühten phlegen :<br />
sîn hüetet aldâ der gotes segen .<br />
(Parz. 494,11-12)<br />
si sprach : welt ir mir dienest geben ,<br />
sô müezet ir werlîche leben<br />
und meget doch laster wol bejagen .<br />
(Parz. 511,17-19)<br />
welt aber ir und diu vrouwe mîn<br />
mir smæhe rede bieten ,<br />
ir müezet iuch <strong>ein</strong>e nieten<br />
daz ir wol meget vür zürnen hân .<br />
(Parz. 521,2-5)<br />
nû müezet ir <strong>ein</strong> garzûn wesen .<br />
(Parz. 523,9)<br />
" ir enkomt niht zuo mir dâ her în :<br />
ir müezet phant dort ûze sîn . "<br />
(Parz. 536,1-2)<br />
wir müezen iuch bî vreuden lân,<br />
(Parz. 598,24)<br />
ba) mit Extraposition von Komplementen oder Adjunkten (4)<br />
baa) in für Inkohärenz typischer Verbabfolge(2)<br />
daz beide küenge wellent komen<br />
vür Bêârosche , dâ man muoz<br />
gedienen mit arbeit wîbe gruoz .<br />
(Parz. 349,2-4)<br />
durch nôt ichs muoz verswîgen vil .<br />
(Parz. 772,28)<br />
149
ab) in für Kohärenz typischer Verbabfolge (2)<br />
Schoisiânen tôt mich smerzen<br />
muoz enmitten in dem herzen :<br />
(Parz. 477,9-10)<br />
er sprach : ob ich erbeizen muoz<br />
mit iuwern hulden , vrouwe ,<br />
ob ich iuch des willens schouwe<br />
daz ir mich gerne bî iu hât ,<br />
grôz riuwe mich bî vreuden lât ,<br />
sô enwart nie ritter mêr sô vrô .<br />
(Parz. 509,2-7)<br />
bb) mit Extraposition von Komplementen oder Adjunkten (29)<br />
baa) in für Inkohärenz typischer Verbabfolge (16)<br />
die wünschen im heiles , wan ez muoz sîn<br />
daz er nû lîdet hôhen pîn ,<br />
etswenne ouch vreude und êre .<br />
(Parz. 224,7-9)<br />
swer den bogen gespannen siht ,<br />
der senewen er der slehte giht ,<br />
man welle si zer biuge erdenen<br />
sô si den schuz muoz menen .<br />
(Parz. 241,17-20)<br />
" waz ob diu minne disen man<br />
twinget als si mich dô twanc ,<br />
und sîn getriulîch gedanc<br />
der minne muoz ir siges jehen ? "<br />
(Parz. 301,22-23)<br />
mîn zuht mit wârheit missevuor ,<br />
daz ich sus muoz von vrouwen sagen :<br />
(Parz. 313,26-27)<br />
daz senftet mir mîn gemüete ,<br />
ob ich ir sicherheit muoz geben ,<br />
daz ich ir vrides hie sol leben .<br />
(Parz. 394,14-16)<br />
ez erleit nie maget sô hôhen pîn :<br />
durch klage si muoz al <strong>ein</strong>e sîn .<br />
(Parz. 435,29-30)<br />
swer sich dienstes g<strong>ein</strong> grâle hât bewegen ,<br />
g<strong>ein</strong> wîben minne er muoz verphlegen :<br />
(Parz. 495,7-8)<br />
daz ich mit wârheit des muoz jehen<br />
daz ich iuwer gevangen bin .<br />
(Parz. 510,18-19)<br />
sît iuwer minne mir gebôt<br />
daz ich muoz ziuwerm gebote stên ,<br />
ich mege rîten oder gên .<br />
(Parz. 530,18-20)<br />
150
alhie . muget ir versuochen ,<br />
welt ir mîns lebens ruochen ,<br />
ob mich der künec welle sehen ,<br />
dem ich muoz mîner vreuden jehen ?<br />
(Parz. 716,27-30)<br />
der habe mit ritterlîcher kraft<br />
minne und prîs behalden ,<br />
daz er muoz beider walden :<br />
(Parz. 746,16-18)<br />
swenne ich daz mære an mich nû nim ,<br />
daz si sich müezen scheiden ,<br />
dâ wehset schade in beiden .<br />
(Parz. 223,8-9)<br />
er jach : wir müezen rîten<br />
in manec lant , daz ritters tât<br />
uns wol ze gegenstrîte hât :<br />
ûf gerihtiu sper wir müezen sehen .<br />
(Parz. 280,28-281,1)<br />
ander wer wir müezen kiesen .<br />
(Parz. 358,6)<br />
und daz diu sippe ist sünden wagen ,<br />
sô daz wir sünde müezen tragen .<br />
(Parz. 465,5-6)<br />
Parzivâl sprach : ir sult noch sehen<br />
liute , den ir prîses müezet jehen ,<br />
bî Artûs dem houbetman ,<br />
manegen ritter manlîch getân .<br />
(Parz. 763,21-24)<br />
bbb) in für Kohärenz typischer Verbabfolge (13)<br />
ob ich ir dar nâch dienen muoz<br />
und ob ich des wirdec bin ,<br />
sô rætet nir mîn bester sin<br />
daz ichs mit rehten triuwen phlege .<br />
(Parz. 8,12-15)<br />
dâ nie getrat vilânes vuoz ,<br />
ob ichz iu rehte sagen muoz ,<br />
noch lîhte nimmer dâ geschiht .<br />
(Parz. 74,13-15)<br />
iuwer reht ist g<strong>ein</strong> mir laz ,<br />
niwan iuwer gem<strong>ein</strong>er gruoz ,<br />
ob ich den von iu haben muoz .<br />
(Parz. 95, 24-25)<br />
juncherre , got vergelde iu gruoz ,<br />
den ich gerne dienen muoz<br />
mit dem lîbe und mit dem guote .<br />
(Parz. 149,7-9)<br />
daz emphienc ich ûf dem palas ,<br />
dar inne ich ritter werden muoz .<br />
(Parz. 154,6-7)<br />
151
herre , <strong>ein</strong> wirtîn reden muoz .<br />
<strong>ein</strong> kus erwarp mir iuwern gruoz ,<br />
ouch butet ir dienest dâ her în<br />
( sus sagete <strong>ein</strong> juncvrouwe mîn ) :<br />
(Parz. 189,7-10)<br />
durch aller werden liute gruoz<br />
ich si mit kamphe loesen muoz<br />
( sus bin ich ûf der strâzen )<br />
oder ich muoz den lîp dâ lâzen .<br />
(Parz. 366,29-367,2)<br />
Segramors enbin ich niht ,<br />
den man durch vehten binden muoz :<br />
(Parz. 421,20-21)<br />
ez diu âventiure bræhte<br />
mit worten an der mære gruoz ,<br />
daz man dâ von doch sprechen muoz .<br />
(Parz. 453,8-9)<br />
ruocht erbeizen , ob ichs biten muoz<br />
(Parz. 456,22)<br />
swâ werc verwürkent sînen gruoz ,<br />
daz gotheit sich schamen muoz ,<br />
wem lât den menneschlîchiu zuht ?<br />
(Parz. 467,1-3)<br />
dîns oeheims strît man prîsen<br />
muoz : des spers îsen<br />
vuorte er in sînem lîbe dan .<br />
(Parz. 479,25-27)<br />
durch daz des starken lewen vuoz<br />
in iuwerm schilte iu volgen muoz.<br />
(Parz. 598,19)<br />
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