Strukturbedingte Wachstumshinder- nisse überwinden, um die Ziele ...
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KAPITEL 3<br />
<strong>Strukturbedingte</strong> <strong>Wachst<strong>um</strong>shinder</strong><strong>nisse</strong><br />
<strong>überwinden</strong>, <strong>um</strong> <strong>die</strong> <strong>Ziele</strong> zu<br />
erreichen<br />
Die zentrale Botschaft des Millenni<strong>um</strong>s-Entwicklungspakts<br />
– und <strong>die</strong>ses Kapitels – ist,<br />
dass viele der ärmsten Länder und Regionen<br />
auf der Welt mit strukturbedingten Hinder<strong>nisse</strong>n<br />
konfrontiert sind, <strong>die</strong> es wesentlich erschwert<br />
haben, dauerhaftes wirtschaftliches<br />
Wachst<strong>um</strong> zu erzielen. Es ist daher kein Zufall,<br />
dass sie <strong>die</strong> ärmsten sind.<br />
Dauerhaftes Wachst<strong>um</strong> erfordert, dass<br />
Länder zuerst in einer Reihe von Bereichen<br />
Mindeststandards erreichen: solides Regierungs-<br />
und Verwaltungshandeln in Wirtschaftsfragen,<br />
grundlegende Gesundheitsversorgung<br />
und Grundschulbildung, Kerninfrastruktur,<br />
Zugang zu Auslandsmärkten. Wenn<br />
ein Land auf Grund von Strukturbedingungen<br />
wie einer grassierenden Krankheit oder eines<br />
abgelegenen Standortes in großer Entfernung<br />
von den Weltmärkten oder besonders<br />
fragiler Böden und geringer Nahrungsmittelproduktion<br />
oder großer Anfälligkeit für Naturkatastrophen<br />
einen oder mehrere <strong>die</strong>ser<br />
Standards nicht erreicht, besteht <strong>die</strong> Gefahr,<br />
dass es in eine Armutsfalle gerät. Dies macht<br />
dauerhaftes wirtschaftliches Wachst<strong>um</strong> unwahrscheinlich.<br />
Weil <strong>die</strong>se Länder hohe Hürden<br />
<strong>überwinden</strong> müssen und begrenzte Ressourcen<br />
haben, können sie <strong>die</strong> Mindeststandards<br />
für Wachst<strong>um</strong> nicht aus eigener Kraft<br />
erreichen, sondern benötigen externe Unterstützung.<br />
Selbst in Ländern, <strong>die</strong> im Großen und<br />
Ganzen erfolgreich sind, können strukturbedingte<br />
Hinder<strong>nisse</strong> zu „Inseln“ verfestigter<br />
Armut beitragen. Die Regionen im abgelegenen<br />
Landesinneren Chinas beispielsweise sind<br />
mit wesentlich größeren Entfernungen zu Häfen,<br />
wesentlich schlechterer Infrastruktur und<br />
wesentlich härteren biophysikalischen Bedingungen<br />
konfrontiert als <strong>die</strong> Küstenregionen<br />
des Landes, <strong>die</strong> das rascheste langanhaltende<br />
wirtschaftliche Wachst<strong>um</strong> in der Geschichte<br />
der Menschheit aufweisen. Um in so stark bevölkerten<br />
Ländern wie China, Brasilien und<br />
In<strong>die</strong>n <strong>die</strong> Armut wirksam bekämpfen zu können,<br />
muss man sich darauf konzentrieren, Ressourcen<br />
im Inland für <strong>die</strong> Verringerung von<br />
Armut und Ungleichheit bereitzustellen. Diese<br />
Aufgabe unterscheidet sich jedoch stark<br />
von der in Ländern mit höchster Priorität, <strong>die</strong><br />
gewöhnlich in einer Armutsfalle stecken. Dort<br />
kann mit den inländischen Ressourcen der Bedarf<br />
der Durchschnittsbürger, geschweige<br />
denn der der Ärmsten, nicht gedeckt werden.<br />
Dieser Ressourcenmangel ist auf unzureichendes<br />
wirtschaftliches Wachst<strong>um</strong> zurückzuführen<br />
(Kasten 3.1).<br />
Um <strong>die</strong> Millenni<strong>um</strong>s-Entwicklungsziele<br />
(MEZ) erreichen zu können, ist wirtschaftliches<br />
Wachst<strong>um</strong> aus zwei Gründen erforderlich:<br />
Erstens ist wirtschaftliches Wachst<strong>um</strong> ein<br />
direktes Mittel zur Verringerung der Einkommensarmut<br />
vieler Haushalte. Diese werden so<br />
KASTEN 3.1<br />
Zur Halbierung der Einkommensarmut ist Wachst<strong>um</strong> erforderlich<br />
Wirtschaftliches Wachst<strong>um</strong> ist wichtig,<br />
<strong>um</strong> alle Millenni<strong>um</strong>s-Entwicklungsziele zu<br />
erreichen. Es wird jedoch am dringendsten<br />
für <strong>die</strong> erste Zielvorgabe benötigt, wonach<br />
zwischen 1990 und 2015 eine Halbierung<br />
des Anteils armer Menschen herbeigeführt<br />
werden soll. In vielen Untersuchungen<br />
wurde eine „Einkommenselastizität<br />
der Armut“ berechnet, d.h. der prozentuelle<br />
Rückgang des Anteils der Armen<br />
pro 1 Prozent Anstieg des Pro-Kopf-<br />
Einkommens. Eine gängige Schätzung in<br />
der <strong>um</strong>fangreichen ökonometrischen<br />
Fachliteratur ist, dass bei konstanter Einkommensverteilung<br />
und einer Elastizität<br />
von 2 <strong>die</strong> Armutsquote pro 1 Prozent Anstieg<br />
des durchschnittlichen Pro-Kopf-<br />
Einkommens <strong>um</strong> 2 Prozent sinkt (Bruno,<br />
Ravallion und Squire 1998; siehe auch<br />
Adams 2002).<br />
Aus <strong>die</strong>ser Elastizitätsschätzung folgt,<br />
dass für <strong>die</strong> Halbierung der Zahl der Armen<br />
ein Anstieg des Pro-Kopf-Einkommens<br />
von 41 Prozent erforderlich ist.<br />
Wenn <strong>die</strong>se 41 Prozent über 25 Jahre<br />
(1990 bis 2015) verteilt werden, wird ein<br />
jährliches Wachst<strong>um</strong> von 1,4 Prozent<br />
benötigt. Wenn ein Land <strong>die</strong> kompletten<br />
41 Prozent zwischen 2003 und 2015 bewerkstelligen<br />
muss, ist eine wesentliche<br />
höhere jährliche Rate (2,9 Prozent) notwendig.<br />
Doch selbst <strong>die</strong> höhere Rate liegt<br />
für ein Land mit niedrigem Einkommen<br />
durchaus im Bereich des Möglichen –<br />
wenn <strong>die</strong> Wachst<strong>um</strong>svoraussetzungen erfüllt<br />
sind und <strong>die</strong> richtigen politischen<br />
Maßnahmen für Wachst<strong>um</strong> ergriffen werden.<br />
Quelle: Bruno, Ravallion und Squire 1996; Adams 2002.<br />
STRUKTURBEDINGTE WACHSTUMSHINDERNISSE ÜBERWINDEN, UM DIE ZIELE ZU ERREICHEN 79
GRAFIK 3.1<br />
Pro-Kopf-Einkommen und Einkommensarmut, 1990er Jahre<br />
Armutsrate, Vorjahresstand (Anteil der Bevölkerung mit weniger als 1 US-Dollar pro Tag, KKP,<br />
logarithmische Skala)<br />
100<br />
50<br />
10<br />
5<br />
1<br />
Niger<br />
Sambia<br />
Uganda<br />
Bangladesch<br />
Tansania<br />
Mauretannien<br />
500 1.000<br />
5.000 10.000<br />
Pro-Kopf-BIP, Vorjahresstand, KKP US-Dollar (logarithmische Skala)<br />
Quelle: World Bank 2002j und Maddison 2001.<br />
Tadschikistan<br />
Nicaragua<br />
Nigeria<br />
Simbabwe<br />
in <strong>die</strong> Lage versetzt, mehr zu sparen und Ressourcen<br />
für Investitionen in <strong>die</strong> menschliche<br />
Entwicklung zu verwenden. Ohne wirtschaftliches<br />
Wachst<strong>um</strong> kann ein Land nicht erwarten,<br />
den Anteil der Menschen zu halbieren,<br />
<strong>die</strong> unterhalb der einkommensbezogenen Armutsgrenze<br />
leben. Dies ist das erste Millenni<strong>um</strong>s-Entwicklungsziel.<br />
Zweitens bedeutet<br />
wirtschaftliches Wachst<strong>um</strong> gewöhnlich höhere<br />
Staatseinnahmen. Weil <strong>die</strong> meisten Investitionen<br />
in <strong>die</strong> menschliche Entwicklung – zu<br />
Gunsten von Gesundheit, Ernährung, Bildung,<br />
grundlegender Infrastruktur – aus dem<br />
öffentlichen Sektor kommen, ist eine Verbesserung<br />
der Staatsfinanzen eine wichtige Voraussetzung,<br />
<strong>um</strong> <strong>die</strong> <strong>Ziele</strong> erreichen zu können.<br />
Natürlich ist wirtschaftliches Wachst<strong>um</strong><br />
eine notwendige, aber ka<strong>um</strong> ausreichende Bedingung<br />
für solche Erhöhungen der öffentlichen<br />
Ausgaben zu Gunsten der menschlichen<br />
Entwicklung. Manche Regierungen unterlassen<br />
<strong>die</strong>se Investitionen oder diskriminieren<br />
dabei Untergruppen der Bevölkerung. Mit einem<br />
solchen Verhalten schwächen sie <strong>die</strong> potenziellen<br />
Vorteile wirtschaftlichen Gesamtwachst<strong>um</strong>s<br />
auf dem Weg z<strong>um</strong> Erreichen der<br />
MEZ. Im Bericht über <strong>die</strong> menschliche Ent-<br />
wicklung wurde in der Vergangenheit der Begriff<br />
„rücksichtsloses Wachst<strong>um</strong>“ verwendet,<br />
<strong>um</strong> wirtschaftliches Wachst<strong>um</strong> zu beschreiben,<br />
das <strong>die</strong> Armen nicht erreicht, weil entweder<br />
der größte Teil der Einkommenszuwächse<br />
an reichere Haushalte geht oder dort bleibt<br />
oder weil das politische System <strong>die</strong> zusätzlichen<br />
Staatseinnahmen nicht in den Bedarf der<br />
Armen an menschlicher Entwicklung investiert.<br />
Und ohne dauerhafte Verbesserungen<br />
von Bildung und Gesundheit kann das wirtschaftliche<br />
Wachst<strong>um</strong> auf Dauer nicht aufrechterhalten<br />
werden (siehe HDR 1996).<br />
In Ländern mit höheren Einkommen lebt<br />
ein geringerer Bevölkerungsanteil unterhalb<br />
der Armutsgrenze. Dies lässt darauf<br />
schließen, dass zur Verringerung der Armutsrate<br />
ein höheres Pro-Kopf-Einkommen erforderlich<br />
ist. Aber <strong>die</strong> negative Beziehung zwischen<br />
der Einkommensarmut und der Einkommenshöhe<br />
ist zwar klar, erklärt jedoch<br />
bei weitem nicht alle Facetten. Länder mit<br />
ähnlicher Einkommenshöhe können sehr unterschiedliche<br />
Armutsraten haben: Obwohl<br />
Bangladesch und Sambia sehr ähnliche Pro-<br />
Kopf-Einkommen aufweisen, gibt es in Bangladesch<br />
sehr viel weniger Armut (Grafik 3.1).<br />
80 BERICHT ÜBER DIE MENSCHLICHE ENTWICKLUNG 2003<br />
Senegal<br />
Vietnam<br />
In<strong>die</strong>n Namibia<br />
Pakistan<br />
Jemen<br />
Philippinen<br />
China<br />
Peru<br />
Indonesien<br />
Sri Lanka<br />
R<strong>um</strong>änien<br />
Venezuela<br />
Brasilien Trinidad<br />
und Tobago<br />
Mexiko<br />
Costa Rica<br />
Bulgarien
GRAFIK 3.2<br />
Menschliche Entwicklung und Einkommen<br />
HDI*<br />
1.00<br />
,900<br />
,800<br />
,700<br />
,600<br />
,500<br />
,400<br />
,300<br />
,200<br />
Tansania<br />
Malawi<br />
Sierra Leone<br />
Nigeria<br />
Mali<br />
Kongo<br />
Niger<br />
Tadschikistan<br />
Vietnam<br />
Angola<br />
Georgien<br />
Indonesien China<br />
In<strong>die</strong>n<br />
Pakistan<br />
Simbabwe<br />
500 5.000<br />
Pro-Kopf-BIP (US-Dollar, KKP von 2001)<br />
50.000<br />
Anmerkung: Diese Grafik verwendet den H<strong>um</strong>an Development Index (Index über menschliche Entwicklung), indem sie <strong>die</strong> Bildungs- und<br />
Lebenserwartungskomponenten des HDI zusammenführt und das pro-Kopf-BIP dabei auslässt.<br />
Quelle: Berechnungen des Büros für den Bericht über <strong>die</strong> menschliche Entwicklung auf der Grundlage von World Bank 2003i.<br />
Das Pro-Kopf-Einkommen ist auch eng<br />
mit der nicht einkommensbezogenen Armut<br />
verknüpft. Manche Länder (beispielsweise<br />
Vietnam) verzeichnen für ihr Einkommensniveau<br />
einen recht guten Stand der menschlichen<br />
Entwicklung, während andere Länder<br />
(beispielsweise Simbabwe) schlechter als<br />
solche mit einem ähnlichen Stand der<br />
wirtschaftlichen Entwicklung abschneiden<br />
(Grafik 3.2).<br />
Die engen Verknüpfungen zwischen wirtschaftlichem<br />
Wachst<strong>um</strong> und der Verringerung<br />
der Armut beruhen also auf politischen<br />
Entscheidungen und strukturellen Faktoren.<br />
Mehrere Länder mit einem jährlichen wirtschaftlichen<br />
Wachst<strong>um</strong> von mehr als 4 Prozent<br />
seit 1990 haben bei einigen nicht einkommensbezogenen<br />
Armutsdimensionen keine<br />
großen Fortschritte erzielt (<strong>die</strong> Dominikanische<br />
Republik, Mosambik). 1 Wirtschaftliches<br />
Wachst<strong>um</strong> kann gewiss Ressourcen zur Verbesserung<br />
einer Vielzahl von Ergeb<strong>nisse</strong>n liefern.<br />
Die politischen Entscheidungsträger<br />
dürfen <strong>die</strong> staatlichen Maßnahmen und <strong>die</strong> Investitionen<br />
der öffentlichen Hand jedoch<br />
nicht nur am Wachst<strong>um</strong> ausrichten, sondern<br />
müssen sich auch auf nicht wirtschaftliche Er-<br />
Ägypten<br />
Kuba<br />
Swasiland<br />
Russ.<br />
Föd.<br />
Japan<br />
Frankreich Ver. Königreich<br />
Korea, Rep. USA<br />
Botsuana<br />
Ver. Arab. Emirate<br />
Equatorial Guinea<br />
geb<strong>nisse</strong> konzentrieren. Aus <strong>die</strong>sem Grund<br />
wird im Millenni<strong>um</strong>s-Entwicklungspakt für<br />
den Einsatz staatlicher Maßnahmen zur Verringerung<br />
der diversen Dimensionen nicht<br />
einkommensbezogener Armut plä<strong>die</strong>rt.<br />
VONMENSCHLICHER ENTWICKLUNG<br />
ZU WIRTSCHAFTLICHEM WACHSTUM –<br />
UND ZURÜCK<br />
Gute Bildung und gute Gesundheit haben einen<br />
intrinsischen Wert für das Wohlergehen<br />
von Menschen. Die beiden Bereiche sind zudem<br />
eng miteinander verknüpft. Bildung hilft<br />
<strong>die</strong> Gesundheit verbessern, und gute Gesundheit<br />
trägt zu besserer Bildung bei. Außerdem<br />
trägt Grundschulbildung zu wirtschaftlichem<br />
Wachst<strong>um</strong> bei und steigert das Einkommen<br />
armer Menschen. Gesundheitliche Verbesserungen<br />
erzeugen auch beträchtliche wirtschaftliche<br />
Renditen. 2<br />
Dies lässt sich anhand des durchschnittlichen<br />
Wachst<strong>um</strong>s des Pro-Kopf-Einkommens<br />
in einer größeren Gruppe von Entwicklungsländern<br />
für den Zeitra<strong>um</strong> zwischen 1965 und<br />
1995 veranschaulichen. Die Länder wurden<br />
nach ihrem Einkommen und der Säuglings-<br />
STRUKTURBEDINGTE WACHSTUMSHINDERNISSE ÜBERWINDEN, UM DIE ZIELE ZU ERREICHEN 81<br />
Südafrika<br />
Luxemburg
GRAFIK 3.3<br />
Von menschlicher Entwicklung zu Wachst<strong>um</strong> – und zurück<br />
Fähigkeiten<br />
Arbeiter und Bauern<br />
Unternehmer<br />
Manager<br />
Produktion, Forschung,<br />
Entwicklung und Technologie<br />
Quelle: UNDP 1996.<br />
Beschäftigung<br />
Verhältnis von Produktion<br />
und Export<br />
Ausländische<br />
Kapitalguthaben<br />
Physisches<br />
Kapital<br />
Gesundheit und<br />
Bildung<br />
Soziales Kapital, NRO und Bürgerorganistionen<br />
Institutionen und Regierungsführung<br />
Wirtschaftwachst<strong>um</strong><br />
Inländische<br />
Guthaben<br />
Ausgaben<br />
für soziale<br />
Prioritäten<br />
Regierungspolitik<br />
und<br />
Staatsausgaben<br />
Haushaltsausgaben<br />
für<br />
Grundbedürf<strong>nisse</strong><br />
Haushaltsaktivitäten und<br />
Privatausgaben einschließlich<br />
sozialer Reproduktion<br />
Verteilung von privaten und öffentlichen Mitteln<br />
Beschäftigung<br />
Soziale<br />
Reproduktion<br />
sterblichkeitsrate im Jahr 1965 gruppiert. (Die<br />
Säuglingssterblichkeitsrate ist ein allgemeiner<br />
Indikator für <strong>die</strong> Gesamtkrankheitsbürde.) In<br />
Ländern, beginnend mit Pro-Kopf-Einkommen<br />
unter 750 US-Dollar (konstante US-<br />
Dollar, <strong>um</strong>gerechnet auf <strong>die</strong> Kaufkraftparität<br />
- KKP von 1990) und einer Säuglingssterblichkeitsrate<br />
von mehr als 150 Todesfällen pro<br />
1.000 Lebendgeburten, wuchs das Einkommen<br />
jährlich <strong>um</strong> durchschnittlich 0,1 Prozent,<br />
während es in jenen mit einer Säuglingssterblichkeitsrate<br />
zwischen 100 und 150 <strong>um</strong> durchschnittlich<br />
1,0 Prozent und in solchen mit einer<br />
Säuglingssterblichkeitsrate unter 100 Todesfällen<br />
<strong>um</strong> durchschnittlich 3,7 Prozent<br />
wuchs. Von den Ländern mit anfänglichen<br />
Einkommen von 750 bis 1.500 US-Dollar<br />
wuchsen jene mit einer Säuglingssterblichkeitsrate<br />
von mehr als 150 jährlich <strong>um</strong> durch-<br />
schnittlich -0,7, jene zwischen 100 und 150 erzielten<br />
ein durchschnittliches jährliches<br />
Wachst<strong>um</strong> von 1,1 Prozent und jene unter 100<br />
ein durchschnittliches jährliches Wachst<strong>um</strong><br />
von 3,4 Prozent. 3 Selbst nach Berücksichtigung<br />
des anfänglichen Einkommens waren<br />
Länder mit besseren Gesundheitsbedingungen<br />
danach systematisch erfolgreicher bei<br />
ihren Bemühungen, höheres Wachst<strong>um</strong> zu erreichen.<br />
Außerdem liefert wirtschaftliches<br />
Wachst<strong>um</strong> mehr Ressourcen für Investitionen<br />
in Bildung und Gesundheit. Es wurde bereits<br />
darauf hingewiesen, dass <strong>die</strong>se Investitionen<br />
zu höherem Wachst<strong>um</strong> beitragen.<br />
Diese wechselseitige Verknüpfung zwischen<br />
menschlicher Entwicklung und wirtschaftlichem<br />
Wachst<strong>um</strong> verweist auf einen positiven<br />
Kreislauf, in dem gute menschliche<br />
Entwicklung das wirtschaftliche Wachst<strong>um</strong><br />
fördert und jenes wieder<strong>um</strong> <strong>die</strong> menschliche<br />
Entwicklung begünstigt (Grafik 3.3). Aber sie<br />
macht auch den Teufelskreis deutlich, in dem<br />
schlechte menschliche Entwicklung zu wirtschaftlichem<br />
Niedergang beiträgt, was wieder<strong>um</strong><br />
zu einer weiteren Verschlechterung bei der<br />
menschlichen Entwicklung führt. Viele Länder,<br />
insbesondere <strong>die</strong>jenigen mit höchster Priorität,<br />
werden <strong>die</strong> Millenni<strong>um</strong>s-Entwicklungsziele<br />
nur erreichen können, wenn sie aus dem<br />
Teufelskreis ausbrechen (oder aus der Armutsfalle,<br />
<strong>um</strong> ein eng verwandtes Konzept zu<br />
verwenden) und in einen positiven Kreislauf<br />
eintreten.<br />
Die Synergien zwischen den unterschiedlichen<br />
Aspekten der menschlichen Entwicklung<br />
sind ebenfalls wichtig: Die Verbesserung von<br />
Gesundheit und Bildung erfordert entsprechende<br />
politische Maßnahmen in den Bereichen<br />
Schule, Familienplanung, Gesundheitsversorgung,<br />
Ernährung, Wasser- und Sanitärversorgung.<br />
Beispielsweise verbessert <strong>die</strong><br />
Bekämpfung von Durchfallerkrankungen und<br />
Masern nicht nur <strong>die</strong> Gesundheit, sondern<br />
verringert auch <strong>die</strong> Unterernährung. Unterernährung<br />
untergräbt in hohem Maße <strong>die</strong><br />
Fähigkeit eines Menschen, zu lernen und zu<br />
wachsen, und hat demzufolge wichtige Implikationen<br />
für Bildung und <strong>die</strong> Entstehung<br />
einer produktiven Erwerbsbevölkerung. Die<br />
Bekämpfung von Durchfallerkrankungen ist<br />
82 BERICHT ÜBER DIE MENSCHLICHE ENTWICKLUNG 2003
jedoch von verbesserter Wasser- und Sanitärversorgung<br />
abhängig – sowie von hygienischen<br />
Verhaltensweisen, <strong>die</strong> durch Bildung begünstigt<br />
werden.<br />
Vielen <strong>die</strong>ser Synergien liegen Aktivität<br />
und Gleichstellung zugrunde. Wenn arme<br />
Menschen durch bürgerliche und politische<br />
Rechte geschützten politischen Einfluss haben,<br />
können sie wirksamer politische Maßnahmen<br />
fordern, <strong>die</strong> soziale und wirtschaftliche<br />
Chancen mit sich bringen. 4 Ein solcher Einfluss<br />
ist besonders für Frauen wichtig, aber<br />
auch für ethnische Gruppen und Angehörige<br />
von Rassen, <strong>die</strong> diskriminiert werden. Die Förderung<br />
der Gleichstellung der Geschlechter<br />
und der Fähigkeiten von Frauen ist eine wichtige<br />
Voraussetzung, <strong>um</strong> <strong>die</strong> wirtschaftliche<br />
Entwicklung voranzubringen und <strong>die</strong> <strong>Ziele</strong> zu<br />
erreichen (siehe Kapitel 4). 5<br />
Um <strong>die</strong> Ergänzungseffekte der grundlegenden<br />
sozialen Dienste möglichst <strong>um</strong>fassend<br />
zu nutzen, sollte <strong>die</strong> allgemeine Grundschulbildung,<br />
insbesondere für Mädchen, ein möglichst<br />
früh verfolgtes und wesentliches Ziel<br />
sein – in Verbindung mit hohen Investitionen<br />
in den Bereichen Gesundheit, Familienplanung<br />
sowie Wasser- und Sanitärversorgung. 6<br />
Die meisten <strong>die</strong>ser Investitionen ergeben sich<br />
nicht automatisch als Nebenwirkung wirtschaftlichen<br />
Wachst<strong>um</strong>s, sondern erfordern<br />
große Anstrengungen des öffentlichen Sektors.<br />
NEUERE MUSTER – UND PROBLEME –<br />
DES WELTWIRTSCHAFTSWACHSTUMS<br />
Von den 128 Ländern auf der Welt mit einer<br />
Bevölkerung von mindestens eine Million<br />
Menschen im Jahr 1990 und ausreichenden<br />
verfügbaren Daten verzeichneten im Zeitra<strong>um</strong><br />
von 1980 bis 1998 76 ein positives Pro-Kopf-<br />
Wachst<strong>um</strong> ihrer Volkswirtschaft. In 52 war es<br />
jedoch negativ (siehe Feature 3.1, Tabelle 1).<br />
Länder mit großer Bevölkerung ten<strong>die</strong>rten zu<br />
Wachst<strong>um</strong>. Wenn wirtschaftliche Trends anhand<br />
der Anzahl von Menschen gemessen<br />
werden, wirken <strong>die</strong> Ergeb<strong>nisse</strong> deshalb wesentlich<br />
besser. Heute leben grob gerechnet<br />
mehr als 4 Milliarden Menschen in Ländern,<br />
<strong>die</strong> im Zeitra<strong>um</strong> von 1980 bis 1998 im Durch-<br />
schnitt ein jährliches reales Pro-Kopf-BIP-<br />
Wachst<strong>um</strong> von mehr als 1,4 Prozent auswiesen.<br />
Dazu zählten auch China und In<strong>die</strong>n, <strong>die</strong><br />
beiden bevölkerungsreichsten Länder. 7 Dieser<br />
Wert von 1,4 Prozent liefert eine grobe Schätzung<br />
für das wirtschaftliche Wachst<strong>um</strong> pro<br />
Kopf, das erforderlich ist, <strong>um</strong> <strong>die</strong> MEZ zur<br />
Einkommensarmut zu erreichen (siehe<br />
Kasten 3.1).<br />
Wirtschaftlicher Fortschritt garantiert jedoch<br />
nicht, dass Entwicklungsländer <strong>die</strong> Millenni<strong>um</strong>s-Entwicklungsziele<br />
erreichen werden.<br />
Wachst<strong>um</strong> könnte einseitig Haushalten<br />
mit höherem Einkommen zugute kommen<br />
oder seine Dividenden in den Staatsfinanzen<br />
könnten nicht zu Gunsten der ärmsten Menschen<br />
investiert werden. Dennoch akk<strong>um</strong>ulieren<br />
viele Entwicklungsländer Ressourcen, <strong>um</strong><br />
Investitionen mit der Absicht vorzunehmen,<br />
<strong>die</strong> <strong>Ziele</strong> zu erreichen.<br />
Ungefähr 1,5 Milliarden Menschen leben<br />
in Entwicklungsländern, <strong>die</strong> im Zeitra<strong>um</strong> von<br />
1980 bis 1998 im Durchschnitt ein jährliches<br />
Pro-Kopf-Wachst<strong>um</strong> von weniger als 0,7 Prozent<br />
aufwiesen. Dazu zählen auch viele der<br />
ärmsten Länder. 8 Wenn <strong>die</strong>se Länder weiterhin<br />
stagnieren, werden sie nicht über <strong>die</strong> Ressourcen<br />
verfügen, <strong>um</strong> <strong>die</strong> <strong>Ziele</strong> zu erreichen.<br />
Um insbesondere in Ländern mit höchster Priorität,<br />
<strong>die</strong> sich durch verbreitete Armut und<br />
geringes oder kein wirtschaftliches Wachst<strong>um</strong><br />
auszeichnen (siehe Kapitel 2), Wege zu finden,<br />
damit <strong>die</strong> <strong>Ziele</strong> erreicht werden können, muss<br />
man verstehen, war<strong>um</strong> solche Länder geringes<br />
oder kein Wachst<strong>um</strong> verzeichnen, während so<br />
viele andere rasch wachsen.<br />
Erfolg – oder Versagen – beim wirtschaftlichen<br />
Wachst<strong>um</strong> hängt eng damit zusammen,<br />
wie eine Volkswirtschaft in <strong>die</strong> globalen Märkte<br />
integriert ist. Manche Erscheinungsformen<br />
der Globalisierung begünstigen wirtschaftliches<br />
Wachst<strong>um</strong>, andere jedoch nicht. Erfolg<br />
oder Versagen ist weniger vom anfänglichen<br />
Einkommensniveau eines Landes als von seiner<br />
Exportstruktur abhängig. Wenn man <strong>die</strong><br />
Transformationsländer und <strong>die</strong> Erdöl exportierenden<br />
Länder bei den Berechnungen nicht<br />
berücksichtigt, betrug im Zeitra<strong>um</strong> von 1980<br />
bis 1998 das durchschnittliche jährliche<br />
Wachst<strong>um</strong> bei Ländern mit mittlerem Ein-<br />
Wenn arme Menschen<br />
durch bürgerliche und<br />
politische Rechte<br />
geschützten politischen<br />
Einfluss haben, können<br />
sie wirksamer politische<br />
Maßnahmen fordern, <strong>die</strong><br />
soziale und<br />
wirtschaftliche Chancen<br />
mit sich bringen<br />
STRUKTURBEDINGTE WACHSTUMSHINDERNISSE ÜBERWINDEN, UM DIE ZIELE ZU ERREICHEN 83
KASTEN 3.2<br />
Bangladesch – ein großes Binnenland mit Zugang zur Küste<br />
Seit der Gründung im Jahr 1971 hat sich Bangladesch<br />
zu einer Demokratie entwickelt und große<br />
Rückgänge der einkommensbezogenen und nicht<br />
einkommensbezogenen Armut erzielt. Zwischen<br />
1989 und 2000 sank <strong>die</strong> Einkommensarmut von 48<br />
auf 34 Prozent.<br />
Grundlegende sozialpolitische Maßnahmen zur<br />
Verbesserung von Gesundheit, Bildung, Leistungen<br />
im Bereich der reproduktiven Gesundheit und Familienplanung<br />
halfen, das Bevölkerungswachst<strong>um</strong><br />
zu senken und <strong>die</strong> Erwerbsbevölkerung zu verringern.<br />
Außerdem wird <strong>die</strong> Bevölkerung zunehmend<br />
alphabetisiert. Die durch <strong>die</strong> Exportoffensive erzielten<br />
positiven Veränderungen verstärkten <strong>die</strong> Notwendigkeit<br />
der Verbesserung des Bildungsstands<br />
der Bevölkerung.<br />
Eine wichtige Ursache für <strong>die</strong>sen Erfolg war<br />
das Wachst<strong>um</strong> der Industriegüterproduktion.<br />
Außerdem unterstützten staatliche Stellen den privaten<br />
Sektor durch Investitionen in Infrastruktur<br />
und Qualifizierung – entscheidende Voraussetzungen<br />
für den Anschub und <strong>die</strong> Aufrechterhaltung<br />
der Exportoffensive. Die Regierung konnte auch<br />
Source: World Bank 2003i; Bangladesh Garment Manufacturers and Exporters Association 2003.<br />
kommen 1,3 Prozent, bei Ländern mit niedrigem<br />
Einkommen jedoch -0,1 Prozent. 9 Andererseits<br />
schnitten viele Länder mit niedrigem<br />
Einkommen einschließlich Chinas und In<strong>die</strong>ns<br />
außerordentlich gut ab.<br />
Die meisten erfolgreichen Länder mit<br />
niedrigem Einkommen konzentrierten sich auf<br />
den Export von Industriegütern (Feature 3.1).<br />
Von den Entwicklungsländern mit ausreichendem<br />
wirtschaftlichem Wachst<strong>um</strong> und verfügbaren<br />
Handelsdaten für den Zeitra<strong>um</strong> von<br />
1980 bis 1998 exportierten 1995 24 in erster<br />
Linie Industriegüter und 61 vorwiegend Rohstoffe<br />
außer Erdöl.10 Nur eines der Länder,<br />
<strong>die</strong> hauptsächlich Industriegüter exportierten,<br />
verzeichnete im Zeitra<strong>um</strong> von 1980 bis 1998<br />
kein wirtschaftliches Wachst<strong>um</strong>, verglichen<br />
mit 32 der Länder, <strong>die</strong> vornehmlich Rohstoffe<br />
exportierten.<br />
Wenn man <strong>die</strong> Verknüpfungen zwischen<br />
wirtschaftlichem Wachst<strong>um</strong> und Wirtschaftsstruktur<br />
berücksichtigt, kann man sich auf <strong>die</strong><br />
Probleme konzentrieren, mit denen <strong>die</strong> ärmsten<br />
Länder konfrontiert sind. War<strong>um</strong> wurde<br />
China zu einem Exportland für Industriegüter,<br />
Mali beispielsweise dagegen nicht? War<br />
<strong>die</strong>s ausschließlich auf <strong>die</strong> Wirtschaftspolitik<br />
<strong>die</strong> Stabilität wahren, <strong>die</strong> für eine Wachst<strong>um</strong>spolitik<br />
zu Gunsten der Armen so wichtig ist. Infolge<br />
<strong>die</strong>ser politischen Initiativen stiegen <strong>die</strong> Exporte<br />
der arbeitsintensiven bangladeschischen Bekleidungsindustrie<br />
zwischen 1991 und 2002 von 867<br />
Millionen auf 4,6 Milliarden US-Dollar (Bangladesh<br />
Garment Manufacturers and Exporters Association<br />
2003).<br />
Aber obwohl Bangladesch in den letzten 30<br />
Jahren beeindruckende Erfolge bei der Befreiung<br />
aus tiefer Armut erzielt und <strong>die</strong> Gesundheit von<br />
Müttern und Kindern verbessert hat, sind seine Erfahrungen<br />
möglicherweise nicht weltweit wiederholbar,<br />
weil es eine große Volkswirtschaft mit einer<br />
Bevölkerung von 133 Millionen Menschen ist.<br />
Außerdem ist Bangladesch trotz seiner Erfolge<br />
noch weit davon entfernt, mehrere der Millenni<strong>um</strong>s-Entwicklungsziele<br />
zu erreichen – einschließlich<br />
derjenigen zu Hunger und sanitärer Versorgung.<br />
Deshalb gilt <strong>die</strong> zentrale Empfehlung des Millenni<strong>um</strong>s-Entwicklungspakts<br />
weiterhin: Um <strong>die</strong> <strong>Ziele</strong> in<br />
allen Sektoren zu erreichen, ist ein mehrgleisiger<br />
Ansatz erforderlich.<br />
zurückzuführen, oder spielten Strukturbedingungen<br />
eine Rolle? Und wenn Strukturbedingungen<br />
eine Rolle spielten, wie können <strong>die</strong> zugrunde<br />
liegenden Strukturen in Mali so verbessert<br />
werden, dass es ein erfolgreiches Exportland<br />
für Industriegüter werden kann?<br />
Bei Produkten jenseits herkömmlicher<br />
Rohstoffe international wettbewerbsfähig zu<br />
werden ist nicht einfach. In Mali sind <strong>die</strong> Renditen<br />
aus Investitionen im verarbeitenden Gewerbe<br />
nicht sehr hoch, und zwar nicht nur aus<br />
wirtschaftspolitischen Gründen. Das Land ist<br />
ein Binnenland und verzeichnet eine hohe Inzidenz<br />
von Malaria, Tuberkulose, HIV/AIDS<br />
und anderen Krankheiten. Fragile Böden und<br />
unbeständige Niederschläge über viele Jahrzehnte<br />
haben niedrige Nahrungsmittelproduktivität<br />
zur Folge gehabt. Wegen geringer<br />
Energieressourcen müssen fossile Energieträger<br />
importiert werden. Über<strong>die</strong>s ist der Inlandsmarkt<br />
auf Grund der kleinen Bevölkerung<br />
winzig. Für Investoren ist das Bildungsund<br />
Qualifikationsniveau in dem Land zu<br />
niedrig, <strong>um</strong> <strong>die</strong> Kosten zu rechtfertigen, <strong>die</strong><br />
durch den fehlenden Zugang z<strong>um</strong> Meer,<br />
schlechte Gesundheitsbedingungen, schlechten<br />
Ernährungsstand, winzige Inlandsmärkte<br />
84 BERICHT ÜBER DIE MENSCHLICHE ENTWICKLUNG 2003
und damit zusammenhängende Beschränkungen<br />
verursacht werden. Kurz<strong>um</strong>, Mali erreicht<br />
nicht <strong>die</strong> Mindeststandards, <strong>um</strong> außerhalb der<br />
herkömmlichen Sektoren viele in- oder ausländische<br />
Investoren anzuziehen.<br />
Damit in Mali – und in vielen anderen<br />
Ländern in einer ähnlichen Situation – <strong>die</strong><br />
Millenni<strong>um</strong>s-Entwicklungsziele erreicht werden<br />
können, bedarf es daher Sonderinvestitionen<br />
in einer Vielzahl von Sektoren. Um <strong>die</strong> für<br />
private, marktorientierte Investitionen notwendigen<br />
Mindeststandards zu erreichen,<br />
sind bessere Gesundheit, Bildung, Wasserund<br />
Sanitärversorgung, Straßen, Häfen und<br />
Energieversorgung notwendig (Kasten 3.2<br />
verdeutlicht <strong>die</strong> Erfolge in Bangladesh). Mali<br />
könnte unter anderem erfolgreiches Exportland<br />
für Textilerzeug<strong>nisse</strong>, Touristenziel und<br />
Verarbeitungsland für tropische Agrarprodukte<br />
werden. Aber solche Aktivitäten entwickeln<br />
sich nur dann erfolgreich, wenn Gesundheits-,<br />
Bildungs- und andere entscheidende<br />
Mindeststandards erreicht werden. Weil<br />
das Land viel zu arm sind, <strong>um</strong> <strong>die</strong>se Investitionen<br />
aus eigener Kraft tätigen zu können, müssen<br />
Partnerländer <strong>die</strong> Anschubfinanzierung<br />
übernehmen.<br />
STRUKTURPROBLEME AUF GRUND<br />
UNGÜNSTIGER GEOGRAFIE, KLEINER<br />
MÄRKTE UND HOHER HANDELSKOSTEN<br />
Um zu verstehen, war<strong>um</strong> manche Länder<br />
höhere Hürden <strong>überwinden</strong> müssen, <strong>um</strong> Mindeststandards<br />
für wirtschaftliches Wachst<strong>um</strong><br />
zu erreichen, muss man zuerst <strong>die</strong> strukturbedingten<br />
Auswirkungen der physischen Geografie<br />
betrachten. Aus Gründen, <strong>die</strong> Adam<br />
Smith bereits vor mehr als 200 Jahren darlegte,<br />
hängt <strong>die</strong> Fähigkeit eines Landes, <strong>die</strong> für<br />
ein international wettbewerbsfähiges verarbeitendes<br />
Gewerbe erforderliche komplexe Arbeitsteilung<br />
dauerhaft zu leisten, von der<br />
„Größe des Marktes“ ab.<br />
DIE AUSWIRKUNGEN DER GEOGRAFIE<br />
AUF MÄRKTE, HANDEL UND WACHSTUM<br />
Es gibt zwei Möglichkeiten für ein Land, den<br />
Markt zu vergrößern. Die erste führt über eine<br />
große Bevölkerung: Länder mit einer kleinen<br />
Bevölkerung weisen im Allgemeinen kleine Inlandsmärkte<br />
auf. (Unter Ländern mit einer<br />
kleinen Bevölkerung werden hier solche mit<br />
weniger als 40 Millionen Menschen im Jahr<br />
1990 verstanden.) Die zweite ist durch kostengünstigen<br />
Handel mit den Weltmärkten unter<br />
Ausnutzung des Umstandes, dass <strong>die</strong> Geografie<br />
einen großen Einfluss auf <strong>die</strong> Handelskosten<br />
hat. Länder in der Nähe großer Märkte<br />
(für Mexiko <strong>die</strong> Vereinigten Staaten, für Polen<br />
<strong>die</strong> Bundesrepublik Deutschland) oder Küstenländer<br />
mit einfachem Zugang zu kostengünstigem<br />
Seetransport sind gegenüber Binnenländern<br />
in großer Entfernung von wichtigen<br />
Märkten oder Seehäfen im Vorteil. (Unter<br />
Binnenländern werden hier Länder verstanden,<br />
deren Bevölkerung zu mehr als 75 Prozent<br />
in einer Entfernung von mehr als 100 Kilometer<br />
von der Küste lebt.)<br />
Im Zeitra<strong>um</strong> von 1980 bis 1998 erreichten<br />
Entwicklungsländer mit einer großen Bevölkerung,<br />
Küstenregionen oder beidem ein wesentlich<br />
höheres wirtschaftliches Wachst<strong>um</strong><br />
als Länder mit einer kleinen Bevölkerung und<br />
Binnenregionen. Große Küstenländer wuchsen<br />
in 3 von 4 Fällen, und zwar pro Kopf <strong>um</strong><br />
durchschnittlich 3,2 Prozent (siehe Feature<br />
3.1, Tabelle 2). Große Binnenländer wuchsen<br />
in 10 von 10 Fällen, und zwar <strong>um</strong> durchschnittlich<br />
2,5 Prozent. Und kleine Küstenländer<br />
wuchsen in 15 von 17 Fällen, und zwar <strong>um</strong><br />
durchschnittlich 1,9 Prozent (siehe Feature<br />
3.1).<br />
Von 53 kleinen Binnenländern wuchsen<br />
jedoch nur 24. Außerdem war das durchschnittliche<br />
Pro-Kopf-Wachst<strong>um</strong> der Gruppe<br />
negativ.<br />
Obwohl es den Eindruck erwecken könnte,<br />
dass <strong>die</strong>se Daten durch Afrika südlich der<br />
Sahara verzerrt werden, weil der Teilkontinent<br />
mehr als 30 kleine Binnenländer <strong>um</strong>fasst, gilt<br />
das gleiche Muster für nicht afrikanische Länder:<br />
Von den 50 nicht afrikanischen Ländern<br />
in der Gruppe verzeichneten 27 von 30, <strong>die</strong><br />
groß, Küstenland oder beides sind, wirtschaftliches<br />
Wachst<strong>um</strong>, während <strong>die</strong>s nur für 11 von<br />
20 kleinen Binnenländern galt.<br />
Bei weiterer Betrachtung derselben Gruppe<br />
von Entwicklungsländern lässt sich feststel-<br />
Aus Gründen, <strong>die</strong> Adam<br />
Smith bereits vor mehr als<br />
200 Jahren darlegte,<br />
hängt <strong>die</strong> Fähigkeit eines<br />
Landes, <strong>die</strong> für ein<br />
international<br />
wettbewerbsfähiges<br />
verarbeitendes Gewerbe<br />
erforderliche komplexe<br />
Arbeitsteilung dauerhaft<br />
zu leisten, von der „Größe<br />
des Marktes“ ab<br />
STRUKTURBEDINGTE WACHSTUMSHINDERNISSE ÜBERWINDEN, UM DIE ZIELE ZU ERREICHEN 85
KASTEN 3.3<br />
Zu den Andenländern zählen Bolivien, Ecuador,<br />
Kol<strong>um</strong>bien, Peru und Venezuela. Von <strong>die</strong>sen<br />
sind Kol<strong>um</strong>bien, Ecuador, Bolivien und<br />
Peru mit ähnlichen strukturbedingten Beschränkungen<br />
und politischen Problemen konfrontiert.<br />
Diese Länder liegen bei den Indikatoren<br />
für <strong>die</strong> menschliche Entwicklung im Mittelfeld,<br />
aber dennoch leidet <strong>die</strong> Region unter verfestigter<br />
Armut und Ungleichheit in hohem<br />
Maße. Bei Kaufkraftparität betrug im Jahr 2001<br />
das Pro-Kopf-BIP in Bolivien 2.424, in Ecuador<br />
3.202, in Peru 4.799 und in Kol<strong>um</strong>bien<br />
6.248 US-Dollar. Obwohl <strong>die</strong> Durchschnittseinkommen<br />
in <strong>die</strong>sen vier Ländern also stark<br />
variieren, lebt immer noch mehr als ein Drittel<br />
der Bevölkerung von weniger als 2 US-Dollar<br />
täglich. Obwohl Venezuela der sechstgrößte<br />
Erdölproduzent auf der Welt ist, ist das Land<br />
mit enormen Schwierigkeiten konfrontiert. Das<br />
Pro-Kopf-BIP-Wachst<strong>um</strong> betrug in den letzten<br />
beiden Jahrzehnten im Durchschnitt -0,7 und -<br />
1,0 Prozent, und mehr als 23,5 Prozent der Bevölkerung<br />
leben von weniger als 1 US-Dollar<br />
täglich.<br />
Mehrere Strukturmerkmale können das<br />
Anhalten von wirtschaftlicher Stagnation und<br />
Armut in <strong>die</strong>sen Andenländern erklären helfen.<br />
• Ein erster seit langem bekannter Faktor ist<br />
das Andauern von Ungleichheit. Jedes Land hat<br />
einen Gini-Koeffizienten von mehr als 0,5. Diese<br />
Ungleichheit ist auf Grund ethnischer Spaltung<br />
besonders ausgeprägt. Ein wichtiges Element<br />
jeder Entwicklungspolitik für <strong>die</strong>se Länder,<br />
<strong>die</strong> Erfolg haben soll, muss <strong>die</strong> öffentliche<br />
Bereitstellung zentraler sozialer Dienste in den<br />
Bereichen Bildung, Gesundheit sowie Wasserund<br />
Sanitärversorgung sein, <strong>um</strong> <strong>die</strong> Möglichkeiten<br />
<strong>die</strong>ser ausgeschlossenen Gruppen zu erweitern.<br />
• Ein zweiter und häufiger übersehener Strukturfaktor,<br />
der zu den Entwicklungsproblemen<br />
<strong>die</strong>ser Länder beiträgt, ist, dass in jedem von ihnen<br />
ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung in<br />
hochgelegenen Binnenregionen lebt. Der Zu-<br />
len, dass etwa <strong>die</strong> Hälfte der Weltbevölkerung<br />
in großen Binnenländern lebt, <strong>die</strong> positives<br />
dauerhaftes Wachst<strong>um</strong> verzeichnet haben.<br />
Dazu zählen China und In<strong>die</strong>n. Dagegen leben<br />
etwa 420 Millionen Menschen in großen<br />
Küstenländern und 341 Millionen davon in<br />
stabil wachsenden Volkswirtschaften. (Die anderen<br />
77 Millionen leben auf den Philippinen.)<br />
Die meisten der 130 Millionen Men-<br />
Herausforderungen in der Andenregion<br />
gang zu den Weltmärkten ist deshalb für ihre<br />
Volkswirtschaften mit sehr hohen Transportkosten<br />
verbunden. Bolivien ist zwar das einzige<br />
Binnenland, aber auch in Ecuador und Peru<br />
lebt <strong>die</strong> Hälfte der Bevölkerung weiter als 100<br />
Kilometer von der Küste entfernt. Ungefähr ein<br />
Viertel der Bevölkerung Kol<strong>um</strong>biens lebt ebenfalls<br />
im Landesinneren.<br />
• Dieser fehlende Marktzugang trägt zu einem<br />
dritten Problem bei: Die Länder sind von<br />
natürlichen Ressourcen abhängig und deshalb<br />
großen Schwankungen der Rohstoffpreise ausgesetzt.<br />
Erdöl macht beispielsweise mehr als 80<br />
Prozent der Exporte Venezuelas aus. Mehr als<br />
<strong>die</strong> Hälfte der Exporte Ecuadors entfallen auf<br />
Erdöl (30 Prozent) und Bananen (21 Prozent),<br />
jedoch weniger als ein Viertel auf Industriegüter<br />
(23 Prozent). Bolivien ist ebenfalls noch<br />
weitgehend von Erdgas und Soja abhängig (45<br />
Prozent der Gesamtexporte), während Industriegüter<br />
nur einen kleinen Teil darstellen (14<br />
Prozent).<br />
• Ein viertes Problem beruht auf El Niño, einer<br />
zyklischen klimatischen Fluktuation der<br />
Temperatur und der Niederschlagsmenge mit<br />
großen Auswirkungen auf <strong>die</strong> Agrarproduktion.<br />
Um <strong>die</strong> Anfälligkeit für externe Schwankungen<br />
zu <strong>überwinden</strong>, brauchen <strong>die</strong>se Länder eine aktive<br />
Infrastrukturpolitik, insbesondere für Häfen<br />
und Straßen, <strong>die</strong> ihnen Zugang zu den Weltmärkten<br />
verschafft. Ebenso notwendig ist eine<br />
aktive Industriepolitik als Beitrag zur Entwicklung<br />
eines breit gefächerten verarbeitenden Gewerbes<br />
für <strong>die</strong> Produktion von Exportgütern.<br />
• Fünftens sind <strong>die</strong>se Länder mit einer strukturbedingten<br />
Beschränkung konfrontiert, in der<br />
sich ihre anhaltenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten<br />
widerspiegeln: Schuldenüberhang. Im<br />
Verlauf der letzten 20 Jahre wurden durch den<br />
Pariser Club für Bolivien, Ecuador und Peru<br />
mindestens fünf Umschuldungsabkommen mit<br />
Gläubigerländern vermittelt. Diese Schuldenprobleme<br />
erschwerten notwendige Investitionen<br />
im Inland, <strong>die</strong> <strong>die</strong> menschlichen Befähigun-<br />
Source: World Bank 1998b, 2002h, 2002i; UNDP, ECLAC und Instituto de Pesquisa Economica Aplicada 2002.<br />
schen in kleinen Küstenländern leben in wachsenden<br />
Volkswirtschaften. Aber fast 420 Millionen<br />
Menschen leben in kleinen Binnenvolkswirtschaften,<br />
<strong>die</strong> nicht wachsen (Kasten<br />
3.3).<br />
Diese Zahlen bedeuten nicht, dass jeder in<br />
wachsenden Volkswirtschaften in den Genuss<br />
von mehr Wohlergehen kommt. <strong>Strukturbedingte</strong><br />
Beschränkungen können innerhalb von<br />
gen hätten verbessern und das wirtschaftliche<br />
Wachst<strong>um</strong> hätten stimulieren können.<br />
Im Falle Venezuelas haben fehlende Exportdiversifikation<br />
und sinkende Produktivität<br />
zur wirtschaftlichen Stagnation beigetragen. In<br />
der jüngsten Zeit sind zu <strong>die</strong>sen Problemen politische<br />
Unruhen, zunehmende Ungleichheit<br />
und schlechte Wirtschaftsplanung hinzugekommen.<br />
Neben <strong>die</strong>sen strukturbedingten Schwierigkeiten<br />
gab es eine Wechselwirkung zwischen<br />
der sozialen, wirtschaftlichen und politischen<br />
Instabilität der Region und der Produktion von<br />
Koka-Blättern und Kokain, im Wesentlichen<br />
für <strong>die</strong> illegalen Märkte in den Vereinigten Staaten<br />
und Europa. Die Drogenindustrie hat zu einer<br />
Ausweitung des organisierten Verbrechens<br />
sowie von Korruption und anderen Übeln der<br />
öffentlichen Verwaltung geführt. Dies wieder<strong>um</strong><br />
resultierte in einer Militarisierung der Gesellschaften<br />
und anhaltenden Bedrohungen des<br />
sozialen Friedens und der Demokratie.<br />
Aktuelle Schätzungen auf der Basis bisheriger<br />
Entwicklungen weisen darauf hin, dass nur<br />
Kol<strong>um</strong>bien annähernd in der Lage scheint, das<br />
Armutsziel <strong>um</strong>zusetzen. Für <strong>die</strong> anderen Länder<br />
wird sogar von einer zunehmenden Armut<br />
ausgegangen, weitgehend infolge der zunehmenden<br />
Ungleichheit, der wirtschaftlichen Stagnation<br />
oder beiden Gründen zusammen<br />
(UNDP, ECLAC und Instituto de Pesquisa<br />
Economica Aplicada 2002).<br />
Trotz der Schwere <strong>die</strong>ser Kombination von<br />
Problemen können politische Maßnahmen ergriffen<br />
werden, <strong>um</strong> sie zu <strong>überwinden</strong>. Straßen<br />
und Häfen können gebaut werden. Die Regierungen<br />
können in ausgeschlossene Gruppen investieren.<br />
Märkte können diversifiziert werden.<br />
Und Abkommen mit Gläubigern können neu<br />
verhandelt werden. Entscheidend ist, dass, wie<br />
im Millenni<strong>um</strong>s-Entwicklungspakt dargelegt,<br />
alle <strong>die</strong>se Probleme im Rahmen eines Pakts zwischen<br />
dem einzelnen Land und seinen Partnern<br />
gleichzeitig angegangen werden.<br />
86 BERICHT ÜBER DIE MENSCHLICHE ENTWICKLUNG 2003
Ländern bestehen, aber auch zwischen ihnen,<br />
und es können andere Erscheinungsformen<br />
von Ungleichheit existieren. In China und In<strong>die</strong>n<br />
gibt es weiterhin große „Inseln“ verfestigter<br />
Armut, auf <strong>die</strong> <strong>die</strong> Politik dort ihre Aufmerksamkeit<br />
richten muss (Kasten 3.4).<br />
KASTEN 3.4<br />
In China und In<strong>die</strong>n zusammengenommen<br />
lebt ein Drittel der Weltbevölkerung. Beide<br />
Länder haben im letzten Jahrzehnt enormes<br />
wirtschaftliches Wachst<strong>um</strong> erzielt. Ihre Erfolge<br />
bei der Steigerung des durchschnittlichen<br />
Wohlergehens implizieren wichtige Verbesserungen<br />
für einen großen Teil der Menschheit.<br />
Aber ihre Erfahrungen machen auch deutlich,<br />
wie wichtig es ist, über nationale Durchschnitte<br />
hinauszuschauen, <strong>um</strong> Unterschiede zwischen<br />
Ländern zu verstehen.<br />
Obwohl beide Länder rasches, anhaltendes<br />
wirtschaftliches Wachst<strong>um</strong> erzielt haben,<br />
waren ihre Fortschrittsraten durchaus unterschiedlich.<br />
Mit einem durchschnittlichen realen<br />
Pro-Kopf-Wachst<strong>um</strong> von 8 Prozent jährlich<br />
im letzten Jahrzehnt verzeichnete China<br />
den raschesten dauerhaften wirtschaftlichen<br />
Fortschritt in der Geschichte der Menschheit.<br />
Bei Kaufkraftparität (KKP) beträgt das Pro-<br />
Kopf-Einkommen dort jetzt 3.976 US-Dollar.<br />
Im gleichen Zeitra<strong>um</strong> wuchs das reale Pro-<br />
Kopf-Einkommen in In<strong>die</strong>n gleichmäßig, aber<br />
langsamer <strong>um</strong> durchschnittlich 4,4 Prozent auf<br />
2.358 US-Dollar im Jahr 2001. Parallel z<strong>um</strong> erfolgreichen<br />
wirtschaftlichen Wachst<strong>um</strong> verzeichneten<br />
beide Länder eine beträchtliche<br />
Verringerung der Armut. Nach Weltbank-<br />
Schätzungen sank der Anteil der Menschen,<br />
<strong>die</strong> von weniger als 1 US-Dollar pro Tag leben,<br />
in China zwischen 1990 und 2000 von 33 auf<br />
16 und in In<strong>die</strong>n zwischen 1993/94 und 2001<br />
von 42 auf 35 Prozent.<br />
Trotz beträchtlicher Unterschiede in Bezug<br />
auf Methodik, Aufbau und Auswahl der<br />
Bezugsgrößen liefern <strong>die</strong>se Berechnungen einen<br />
groben Überblick über <strong>die</strong> Armutsentwicklung<br />
in beiden Ländern.<br />
Marktreformen<br />
Chinas außergewöhnliches Wachst<strong>um</strong> lässt<br />
sich z<strong>um</strong> Teil auf seine marktorientierten Reformen<br />
zurückführen. Diese begannen zudem<br />
bereits 1978 und damit deutlich früher als in<br />
In<strong>die</strong>n, wo ähnliche Reformen erst 1991 eingeleitet<br />
wurden. Diese Reformen ermöglichten es<br />
China, sich in einem phänomenalen Tempo in<br />
<strong>die</strong> Weltwirtschaft zu integrieren. Heute ist es<br />
In <strong>die</strong>sen Zahlen spiegelt sich auch kein<br />
hoher Wachst<strong>um</strong>sstandard wider, weil ein armes<br />
Land auch dann als wachsend eingestuft<br />
wird, wenn es im Zeitra<strong>um</strong> von 1980 bis 1998<br />
nur ein durchschnittliches jährliches Wachst<strong>um</strong><br />
von 0,1 Prozent verzeichnete. Aber <strong>die</strong><br />
China und In<strong>die</strong>n – beeindruckendes Wachst<strong>um</strong>, wichtige Unterschiede<br />
unter den Entwicklungsländern der größte<br />
Empfänger ausländischer Direktinvestitionen.<br />
Zwischen 1978 und 2002 stiegen <strong>die</strong> jährlichen<br />
Investitionen von fast Null auf etwa 52 Milliarden<br />
US-Dollar (fast 5 Prozent des BIP). Die<br />
ausländischen Direktinvestitionen haben auch<br />
in In<strong>die</strong>n beträchtlich zugenommen, wenn<br />
auch auf deutlich niedrigerem Niveau. Zwischen<br />
1991 und 2002 stiegen sie von 129 Millionen<br />
auf 4 Milliarden US-Dollar (weniger als<br />
1 Prozent des BIP).<br />
Robustes Exportwachst<strong>um</strong> hat zur wirtschaftlichen<br />
Leistung beider Länder beigetragen.<br />
Dabei nahm der Export von Industriegütern<br />
eine zunehmend vorherrschende Stellung<br />
ein. Aber auch in <strong>die</strong>sem Bereich war China erfolgreicher.<br />
Seine Exporte erreichten 2001 ein<br />
Vol<strong>um</strong>en von 320 Milliarden US-Dollar, verglichen<br />
mit 35 Milliarden US-Dollar in In<strong>die</strong>n.<br />
Auf <strong>die</strong> Industriegüterexporte entfielen 53<br />
Prozent der chinesischen Gesamtexporte im<br />
Jahr 1981 und 90 Prozent im Jahr 2001; in In<strong>die</strong>n<br />
stieg <strong>die</strong>ser Anteil von 60 auf 77 Prozent.<br />
China war besonders erfolgreich beim Übergang<br />
von arbeitsintensiven zu technologieintensiven<br />
Exportgütern: Telekommunikationsausrüstung<br />
und Computer machen mittlerweile<br />
ein Viertel seiner Exporte aus.<br />
Soziale Investitionen<br />
Für dauerhaftes wirtschaftliches Wachst<strong>um</strong><br />
bedarf es Investitionen im Sozialbereich. In<br />
China belaufen sich <strong>die</strong> öffentlichen Ausgaben<br />
für Bildung auf 2,3 Prozent des BIP und <strong>die</strong><br />
für Gesundheit auf etwa 2,1 Prozent des BIP.<br />
Die Ergeb<strong>nisse</strong> für <strong>die</strong> menschliche Entwicklung<br />
sind klar: 84 Prozent der Bevölkerung<br />
sind alphabetisiert, <strong>die</strong> Säuglingssterblichkeitsrate<br />
beträgt 32 Todesfälle pro 1.000 Lebendgeburten<br />
und <strong>die</strong> Sterblichkeitsrate von Kindern<br />
unter fünf Jahren 40 Todesfälle pro 1.000 Lebendgeburten.<br />
Im Gegensatz dazu lagen <strong>die</strong><br />
Ausgaben in In<strong>die</strong>n traditionell auf einem<br />
niedrigeren Niveau. Die Gesundheitsausgaben<br />
belaufen sich auf 1,3 Prozent des BIP (Zentralregierung<br />
und Regierungen der Bundesstaaten<br />
zusammengenommen). Die Bildungsausgaben<br />
stiegen beträchtlich von 0,8 Prozent des BIP<br />
im Jahr 1950 auf derzeit 3,2 Prozent, obwohl<br />
sie damit noch immer unter der Zielvorgabe<br />
der Regierung von 6 Prozent des BIP liegen.<br />
Trotz <strong>die</strong>ses Anstiegs bleiben <strong>die</strong> Indikatoren<br />
für menschliche Entwicklung für In<strong>die</strong>n wesentlich<br />
niedriger als für China. 65 Prozent der<br />
Bevölkerung sind alphabetisiert, <strong>die</strong> Säuglingssterblichkeitsrate<br />
beträgt 68 Todesfälle pro<br />
1.000 Lebendgeburten und <strong>die</strong> Sterblichkeitsrate<br />
von Kindern unter fünf Jahren 96 Todesfälle<br />
pro 1.000 Lebendgeburten.<br />
Religiöse Vielfalt und andere<br />
Herausforderungen<br />
Es wäre irreführend, bei zwei Ländern mit einer<br />
so großen Bevölkerung und Fläche lediglich<br />
auf <strong>die</strong> nationalen Durchschnittswerte zu<br />
blicken. In Kapitel 2 wurde bereits darauf hingewiesen,<br />
dass in China das höchste wirtschaftliche<br />
Wachst<strong>um</strong> in den Küstenprovinzen verzeichnet<br />
wurde, während <strong>die</strong> geografisch abgelegenen<br />
Nordwestprovinzen ein wesentlich geringeres<br />
Wachst<strong>um</strong> aufwiesen. Auch in In<strong>die</strong>n<br />
gibt es große regionale Unterschiede. Im Zeitra<strong>um</strong><br />
von 1992 bis 1997 schwankte das Pro-<br />
Kopf-Wirtschaftswachst<strong>um</strong> zwischen -0,2 Prozent<br />
in Bihar und 7,8 Prozent in Gujarat. Ähnliche<br />
Divergenzen ergeben sich bei anderen Indikatoren<br />
für menschliche Entwicklung wie jenen<br />
für Bildung und Gesundheit.<br />
Beide Länder sind noch mit Problemen<br />
wie der Ausbreitung von HIV/AIDS und anderer<br />
sexuell übertragener Krankheiten als Nebeneffekt<br />
der Zunahme der Arbeitsmigration<br />
und des internationalen Handels konfrontiert.<br />
Und beide stehen vor der Aufgabe, eine wissensbasierte<br />
Wirtschaft zu fördern, <strong>um</strong> bei steigender<br />
durchschnittlicher Qualifikation ein<br />
ständig hohes wirtschaftliches Wachst<strong>um</strong> aufrechtzuerhalten.<br />
Beide müssen sich auch darauf<br />
konzentrieren, <strong>die</strong> Wachst<strong>um</strong>sdividenden<br />
an Regionen, Gemeinschaften und ethnische<br />
Gruppe zu verteilen, <strong>die</strong> bislang ka<strong>um</strong> an dem<br />
neuen Wohlstand teilhatten. Schwerpunkt integrativer<br />
politischer Maßnahmen sollten Investitionen<br />
in Gesundheit, Bildung und Infrastruktur<br />
zur Förderung zukünftiger Entwicklung<br />
sein.<br />
Quelle: Woo und Bao 2003; World Bank 2003e, 2003f, 2003i und Berechnungen von Shaohua Chen, World Bank, und Angus Deaton, Princeton University; In<strong>die</strong>n 2003; China 2003; Bajpay 2003; UNCTAD 2002b.<br />
STRUKTURBEDINGTE WACHSTUMSHINDERNISSE ÜBERWINDEN, UM DIE ZIELE ZU ERREICHEN 87
Die Erörterung der<br />
Geografie hier macht<br />
deutlich, dass politische<br />
Maßnahmen benötigt<br />
werden, <strong>die</strong> genau auf <strong>die</strong><br />
Probleme jedes Landes<br />
zugeschnitten sind. Mit<br />
guten politischen<br />
Maßnahmen lassen sich<br />
selbst <strong>die</strong> Schwierigkeiten<br />
<strong>überwinden</strong>, <strong>die</strong> durch<br />
kleine Märkte – oder<br />
schlechte Böden oder<br />
Klimaschwankungen –<br />
verursacht werden<br />
Zahlen machen deutlich, welche Art von Ländern<br />
<strong>die</strong> größten Probleme haben werden, <strong>die</strong><br />
<strong>Ziele</strong> zu erreichen, und deshalb <strong>die</strong> meiste Unterstützung<br />
vonseiten der internationalen Gemeinschaft<br />
benötigen. Es sind kleine Binnenvolkswirtschaften.<br />
Sie ver<strong>die</strong>nen daher <strong>die</strong><br />
größte Aufmerksamkeit im Rahmen des Millenni<strong>um</strong>s-Entwicklungspakts.<br />
Dies bedeutet<br />
jedoch nicht, dass einige große Länder mit bedeutenden<br />
Küstenregionen wie Pakistan vernachlässigt<br />
werden sollten. Sie stehen vor beträchtlichen<br />
Problemen in den Bereichen Armut<br />
und menschliche Entwicklung.<br />
Einige zusätzliche Anmerkungen zur Geografie:<br />
• Geografie kann sowohl Segen als auch<br />
Fluch sein. Es ist kein Zufall, dass alle der<br />
Ende des 20. Jahrhunderts erfolgreichen ostasiatischen<br />
Länder Zugang zu Küsten und<br />
wichtigen Schifffahrtsrouten haben. Der Zugang<br />
zu großen Märkten kann helfen, den<br />
Nachteil einer kleinen Bevölkerung auszugleichen.<br />
• Natürliche Ressourcen – eine andere<br />
Erscheinungsform von Geografie – können<br />
einen großen Vorteil darstellen, wenn ihre<br />
finanziellen Dividenden klug eingesetzt<br />
werden. Das beste Beispiel bieten <strong>die</strong><br />
Diamantenfunde in Botsuana, wo <strong>die</strong> in<br />
Bildung und Gesundheit investierten Einnahmen<br />
einem recht kleinen Binnenland<br />
halfen, sein Pro-Kopf-Einkommen innerhalb<br />
von 25 Jahren zu vervierfachen (wenngleich<br />
<strong>die</strong>se Fortschritte in der jüngsten Zeit durch<br />
eine schwere HIV/AIDS Bürde erschwert<br />
wurden).<br />
• Die Marktgröße und <strong>die</strong> Küstenlage eines<br />
Landes sind nicht <strong>die</strong> einzigen geophysikalischen<br />
Merkmale, denen dringend Aufmerksamkeit<br />
gewidmet werden muss. Manche Regionen<br />
sind anfällig für Klimaschocks (wie El<br />
Niño), andere dagegen nicht. Manche Regionen<br />
sind anfällig für Naturkatastrophen (Erdbeben,<br />
Tropenstürme, Vulkanausbrüche,<br />
Überschwemmungen), andere dagegen nicht.<br />
Manche Regionen sind anfällig für <strong>um</strong>weltbedingte<br />
Krankheiten (Malaria), andere dagegen<br />
nicht. Manche Regionen leiden unter extremem<br />
Wassermangel, andere dagegen nicht.<br />
Alle <strong>die</strong>se geophysikalischen Beschränkungen<br />
können eine Volkswirtschaft schwer belasten<br />
– und erfordern <strong>die</strong> Aufmerksamkeit der Politik.<br />
GEOGRAFIE IST JEDOCH KEIN SCHICKSAL<br />
Die Geografie kann Probleme bereiten; sie definiert<br />
jedoch nicht das Schicksal eines Landes.<br />
Die Erörterung der Geografie hier macht<br />
deutlich, dass politische Maßnahmen benötigt<br />
werden, <strong>die</strong> genau auf <strong>die</strong> Probleme jedes<br />
Landes zugeschnitten sind. Mit guten politischen<br />
Maßnahmen lassen sich selbst <strong>die</strong><br />
Schwierigkeiten <strong>überwinden</strong>, <strong>die</strong> durch kleine<br />
Märkte – oder schlechte Böden oder Klimaschwankungen<br />
– verursacht werden. In geografisch<br />
isolierten Ländern können bessere<br />
Straßen und Kommunikationswege viele entfernungsbedingten<br />
Nachteile ausgleichen.<br />
In Ländern mit einer kleinen Bevölkerung<br />
kann <strong>die</strong> Integration mit Nachbarländern <strong>die</strong><br />
erforderliche Marktgröße bewirken. Außerdem<br />
können reiche Länder ihre Märkte für<br />
Exporte aus kleinen Entwicklungsländern öffnen.<br />
Das war das Erfolgsrezept kleiner Länder<br />
oder Binnenländer in Westeuropa: <strong>die</strong> enge<br />
wirtschaftliche Integration der Europäischen<br />
Union.<br />
Wenn eine Volkswirtschaft durch schlechte<br />
Böden benachteiligt ist, müssen ihnen<br />
Nährstoffe zugeführt werden (durch Dünger,<br />
Leg<strong>um</strong>inosen-Bä<strong>um</strong>e, bessere Fruchtfolge<br />
und andere Mittel). Und Tropenkrankheiten<br />
können durch Maßnahmen wie mit Insektiziden<br />
imprägnierte Moskitonetze zur Bekämpfung<br />
von Malaria eingedämmt werden. Das<br />
Problem besteht nicht darin, dass geophysikalisch<br />
bedingte Hinder<strong>nisse</strong> unüberwindbar<br />
sind. Das Problem ist, dass sie zu häufig übersehen<br />
werden – und es Geld kostet, ihnen entgegenzuwirken.<br />
GUTE POLITISCHE MASSNAHMEN,<br />
WIRTSCHAFTLICHES WACHSTUM UND<br />
MENSCHLICHE ENTWICKLUNG<br />
Ein erster Anlauf zu wirtschaftlichem Fortschritt<br />
ist oft <strong>die</strong> Steigerung der Produktivität<br />
von Kleinbauern. Diese kann erzielt werden,<br />
wenn Marktkräfte landwirtschaftliche Fort-<br />
88 BERICHT ÜBER DIE MENSCHLICHE ENTWICKLUNG 2003
schritte ermöglichen oder Regierungen in Forschung<br />
und Entwicklung investieren. Arme<br />
Bauernhaushalte produzieren häufig Nahrungsmittel<br />
für den eigenen Verbrauch, sodass<br />
nur wenig für den Markt übrig bleibt. Die<br />
Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität<br />
– beispielsweise durch verbessertes Saatgut<br />
und Düngemittel wie während der „Grünen<br />
Revolution“ der siebziger Jahre – erhöht<br />
das Haushaltseinkommen und verbessert <strong>die</strong><br />
Ernährungssituation. Sie ermöglicht armen<br />
Haushalten auch, mehr in <strong>die</strong> Gesundheit und<br />
Bildung ihrer Kinder zu investieren. Viele <strong>die</strong>ser<br />
Kinder wandern später in urbane Gebiete<br />
ab, insbesondere weil der Nahrungsmittelbedarf<br />
jetzt von weniger (aber produktiveren)<br />
Bauern gedeckt werden kann.<br />
Im verarbeitenden Gewerbe beruht höhere<br />
Produktivität auf einem stabilen makroökonomischen<br />
Umfeld, wirksamen öffentlichen<br />
Institutionen und zuverlässiger physischer Infrastruktur.<br />
Wachsende Stadtbevölkerungen<br />
begünstigen ebenfalls ein größeres und produktiveres<br />
verarbeitendes Gewerbe. Außerdem<br />
erhält <strong>die</strong> Produktivität im verarbeitenden<br />
Gewerbe oft einen wichtigen Schub<br />
durch Hochtechnologieimporte. In Ostasien<br />
stieg <strong>die</strong> Produktivität im verarbeitenden Gewerbe,<br />
als einheimische Unternehmen Zulieferer<br />
multinationaler Konzerne wurde, indem<br />
sie <strong>die</strong> von <strong>die</strong>sen Konzernen bereitgestellten<br />
Technologien und Produktspezifikationen anwendeten.<br />
Zu den häufig anzutreffenden exportierten<br />
Industriegütern der frühen Phase<br />
zählen Spielzeug, Textilien, Schuhe, Elektronikbauteile,<br />
Automobilzubehör und Ähnliches.<br />
Steigende Einkommen bewirken, dass<br />
Haushalte mehr für Gesundheit und Bildung<br />
ausgeben. Sie investieren in sauberes Wasser,<br />
lassen ihre Kinder <strong>die</strong> Schule besuchen oder<br />
kaufen im Krankheitsfall Arzneimittel. Sie verbessern<br />
auch ihre Ernährung. Die Menschen<br />
können sich sicherere Häuser leisten: Sie kaufen<br />
Fliegengitter für Fenster, <strong>um</strong> Krankheiten<br />
übertragende Mücken draußen zu halten,<br />
oder Herde, <strong>die</strong> mit Propangas und nicht mit<br />
hochgradig <strong>die</strong> Umwelt belastendem Holz beheizt<br />
werden. Investitionen von Haushalten in<br />
Gesundheit und Bildung gehen oft mit öffent-<br />
lichen Investitionen in soziale Dienste einher.<br />
Parallel zu den Einkommen steigen <strong>die</strong> nationalen<br />
Sparquoten (der nach Haushalts- und<br />
Staatsausgaben übrig bleibende Teil des<br />
Volkseinkommens). Bei sehr niedrigen Einkommen<br />
sind Haushalte zu arm, <strong>um</strong> sparen zu<br />
können: Sie müssen alles ausgeben, was sie haben,<br />
<strong>um</strong> einfach nur überleben zu können.<br />
Der größte Teil der Ausgaben entfällt auf<br />
Nahrungsmittel, Unterkunft und Bekleidung<br />
– und im Krankheitsfall auf <strong>die</strong> medizinische<br />
Versorgung. Wenn <strong>die</strong> Einkommen über das<br />
Überlebensminim<strong>um</strong> ansteigen, können<br />
Haushalte es sich leisten, Geld für ihr zukünftiges<br />
Wohlergehen und ihre wirtschaftliche<br />
Absicherung zu sparen. Die nationalen Erspar<strong>nisse</strong><br />
bedeuten einen weiteren Schub für<br />
das wirtschaftliche Wachst<strong>um</strong>, weil sie Investitionen<br />
durch <strong>die</strong> Privatwirtschaft und <strong>die</strong> Regierung<br />
ermöglichen. Solche Investitionen<br />
führen zu einer Zunahme des Sachkapitalstocks<br />
und des Infrastrukturbestands pro Person.<br />
Ein weiterer Schub für das wirtschaftliche<br />
Wachst<strong>um</strong> stellt sich ein, wenn <strong>die</strong> Fertilität<br />
infolge politischer Maßnahmen und steigender<br />
Haushaltseinkommen sinkt. Arme Haushalte<br />
mit vielen Kindern können selten ausreichend<br />
in <strong>die</strong> Gesundheit und <strong>die</strong> Bildung jedes<br />
Kindes investieren. Vielleicht erhält nur<br />
der älteste Sohn <strong>die</strong> Chance, mehr als ein paar<br />
Jahre <strong>die</strong> Schule zu besuchen. Aber wenn <strong>die</strong><br />
Fertilität sinkt, haben arme Familien vielleicht<br />
nur noch zwei statt früher sechs Kinder und<br />
können <strong>die</strong>sen eine gute Bildung ermöglichen.<br />
Auch verringert sich dann möglicherweise <strong>die</strong><br />
Ungleichbehandlung von Söhnen und Töchtern.<br />
Eine Volkswirtschaft, <strong>die</strong> auf <strong>die</strong>ser Stufe<br />
angekommen ist, befindet sich auf einem stabilen,<br />
selbsttragenden Wachst<strong>um</strong>spfad. Nicht<br />
länger gehemmt durch <strong>die</strong> Subsistenzlandwirtschaft<br />
entfaltet sich <strong>die</strong> Dynamik für dauerhaftes<br />
wirtschaftliches Wachst<strong>um</strong>.<br />
Auf einer späteren Stufe zeigt sich ein anderer<br />
wichtiger Trend. Wenn sich der Bildungsstand<br />
verbessert und einheimische Unternehmen<br />
komplexere Güter produzieren<br />
und Dienstleistungen erbringen (oft unterstützt<br />
durch Investitionen, Know-how und<br />
Technologie, <strong>die</strong> von ausländischen Konzer-<br />
Wenn sich der<br />
Bildungsstand verbessert<br />
und einheimische<br />
Unternehmen komplexere<br />
Güter produzieren und<br />
Dienstleistungen<br />
erbringen, fangen<br />
einheimische<br />
Wissenschaftler und<br />
Ingenieure an, neue<br />
Produkte zu entwickeln<br />
STRUKTURBEDINGTE WACHSTUMSHINDERNISSE ÜBERWINDEN, UM DIE ZIELE ZU ERREICHEN 89
nen bereitgestellt werden), fangen einheimische<br />
Wissenschaftler und Ingenieure an, neue<br />
Produkte zu entwickeln. Die privaten Ausgaben<br />
für Forschung und Entwicklung steigen,<br />
ebenso <strong>die</strong> Staatsausgaben. Zusätzlich leisten<br />
Hochschulen vor Ort wichtige Beiträge z<strong>um</strong><br />
wirtschaftlichen Wachst<strong>um</strong>, indem sie Wissenschaftler<br />
und Ingenieure ausbilden und in<br />
zunehmendem Maße Stätte von Forschung<br />
und Entwicklung werden.<br />
SCHWACHE POLITISCHE MASSNAHMEN,<br />
WIRTSCHAFTLICHER NIEDERGANG UND<br />
ARMUT<br />
Was geschieht – oder was fehlt – in Ländern,<br />
<strong>die</strong> es nicht schaffen, <strong>die</strong>se Art wirtschaftlichen<br />
Aufstiegs zu bewerkstelligen? Wie zuvor<br />
beginnen solche Volkswirtschaften arm und<br />
primär agrarisch mit begrenzter Industriegüterproduktion<br />
in urbanen Gebieten. Aber im<br />
Gegensatz zu wachsenden Volkswirtschaften<br />
ist <strong>die</strong> landwirtschaftliche Produktivität – und<br />
damit <strong>die</strong> Wirtschaft im ländlichen Ra<strong>um</strong> –<br />
wegen erschöpfter Böden und Klimakatastrophen<br />
stagnierend oder rückläufig. Parallel<br />
z<strong>um</strong> Bevölkerungswachst<strong>um</strong> haben <strong>die</strong> Entwaldung<br />
und <strong>die</strong> Wasserknappheit zugenommen.<br />
Es wurden weder von öffentlicher noch<br />
von privater Seite neue Technologien eingeführt,<br />
<strong>um</strong> <strong>die</strong> Landwirtschaft voranzubringen.<br />
Bauern können nicht einmal ihre Produkte zu<br />
den Märkten bringen, weil <strong>die</strong> Regierungen es<br />
sich nicht leisten können, Straßen zu bauen<br />
oder instand zu halten.<br />
In <strong>die</strong>sen Ländern müssen Kinder in<br />
Agrarhaushalten bereits ab sehr frühem Alter<br />
arbeiten – beispielsweise oft mehrere Kilometer<br />
am Tag zurücklegen, <strong>um</strong> Wasser und<br />
Brennholz zu holen. Selbst wenn eine schulische<br />
Ausbildung möglich wäre, haben Kinder<br />
keine Zeit oder Energie für den Schulbesuch.<br />
Sie haben auch keinen Zugang zu der Art von<br />
Primärgesundheitsversorgung, <strong>die</strong> notwendig<br />
ist, <strong>um</strong> Malaria, Wurmparasiten und andere<br />
Leiden zu verhindern oder zu behandeln, weil<br />
sich ihre Familien keine Ärzte und Regierungen<br />
keine Arztgehälter oder benötigten Arzneimittel<br />
leisten können. Viele Kinder – vielleicht<br />
15 von jeweils 100 – sterben, bevor sie<br />
das fünfte Lebensjahr erreichen. Eine Folge<br />
ist, dass Eltern viele Kinder haben.<br />
Weiter verschlimmert wird <strong>die</strong> Situation<br />
durch niedrige Produktivität in urbanen Gebieten.<br />
Außerdem ist das verarbeitende Gewerbe<br />
vielleicht von den Weltmärkten abgeschnitten,<br />
weil es sich <strong>um</strong> ein Binnenland handelt<br />
und weitab von Häfen liegt oder weil sein<br />
Hauptexportgut auf der ganzen Welt Handelsschranken<br />
unterliegt. Vielleicht führt <strong>die</strong><br />
Straße von der Hauptstadt z<strong>um</strong> nächsten Hafen<br />
durch ein anderes Land, das den wirtschaftlichen<br />
Interessen seines land<strong>um</strong>schlossenen<br />
Nachbarn feindlich gegenübersteht. Oder<br />
vielleicht ist das Küstenland schlecht geführt,<br />
so dass – selbst wenn ein Binnenland eine gut<br />
funktionierende Fernverkehrsstraße zur<br />
Grenze des Transitlandes baut – das Küstenland<br />
<strong>die</strong> Straße nicht den ganzen Weg bis z<strong>um</strong><br />
Hafen weiterführt, instand hält und polizeilich<br />
kontrolliert.<br />
Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass<br />
eine kleine Bevölkerung <strong>die</strong> Probleme vieler<br />
armer Binnenvolkswirtschaften vergrößert.<br />
Als eine Folge haben internationale Investoren<br />
nur geringes Interesse daran, vor Ort Produktionsstätten<br />
zu errichten, <strong>um</strong> <strong>die</strong> örtlichen<br />
Märkte zu beliefern. Wenn sie irgend etwas<br />
verkaufen, handelt es sich <strong>um</strong> Importgüter<br />
und nicht <strong>um</strong> Waren aus örtlicher Produktion.<br />
Unter solchen Umständen ist es unwahrscheinlich,<br />
dass das örtliche verarbeitende Gewerbe<br />
selbst bei hocheffizienter staatlicher Politik<br />
selbsttragendes Wachst<strong>um</strong> auslösen kann.<br />
Örtliche Produzenten können vielleicht einige<br />
grundlegende Artikel – Seife, verarbeitete Lebensmittel,<br />
Holzmöbel, Ziegelsteine und anderes<br />
Ba<strong>um</strong>aterial, ein paar Chemikalien – an<br />
<strong>die</strong> örtlichen Märkte liefern, aber wenig sonst.<br />
Die Technologie ist einfach, und Unternehmen<br />
sind nicht wettbewerbsfähig genug, <strong>um</strong><br />
auf den Weltmärkten zu verkaufen, insbesondere<br />
angesichts der hohen Kosten für den Warentransport<br />
zu Häfen (und der unerschwinglich<br />
hohen Kosten für den Lufttransport von<br />
Artikeln des Grundbedarfs). Ohne einen<br />
Wachst<strong>um</strong>smotor im verarbeitenden Gewerbe<br />
ist es unwahrscheinlich, dass <strong>die</strong>se Länder<br />
beginnen zu wachsen.<br />
90 BERICHT ÜBER DIE MENSCHLICHE ENTWICKLUNG 2003
Selbst wenn der öffentliche Sektor seine<br />
Ressourcen optimal nutzt, sind solche Länder<br />
mit zahlreichen Engpässen konfrontiert, <strong>die</strong><br />
Wachst<strong>um</strong> verhindern:<br />
• Die Sparquote der Privathaushalte ist<br />
niedrig, wenn nicht sogar negativ.<br />
• Die Regierung wendet ihre Einnahmen<br />
größtenteils oder vollständig für <strong>die</strong> Bezahlung<br />
von Angestellten des öffentlichen Dienstes<br />
(Armee, Polizei, Lehrer, öffentliche Verwaltung)<br />
auf, so dass wenig oder gar nichts für<br />
Investitionen in Gesundheit, Bildung und Infrastruktur<br />
übrig bleibt.<br />
• Die landwirtschaftliche Produktivität<br />
bleibt gering, teils weil es wenig Einsatzmittel<br />
aus einheimischer Produktion wie Düngemittel<br />
gibt. Und wegen gravierender Transportprobleme<br />
ist <strong>die</strong> Einfuhr von Düngemitteln<br />
für <strong>die</strong> meisten Kleinbauern unerschwinglich<br />
teuer.<br />
• Die Fertilität bleibt hoch – eine Folge geringen<br />
Bildungsstands von Frauen und<br />
Mädchen, großer ländlicher Bevölkerung, hoher<br />
Kindersterblichkeitsrate sowie eines fehlenden<br />
Angebots in den Bereichen Familienplanung<br />
und reproduktive Gesundheit.<br />
• Die mütterliche Gesundheit wird beeinträchtigt,<br />
weil Frauen ka<strong>um</strong> Zugang zu Bildung<br />
und Gesundheitsversorgung haben, was<br />
auch negative Auswirkungen auf ihre Kinder<br />
hat. Die meisten Menschen bleiben in ländlichen<br />
Gebieten, weil sie für den Anbau von<br />
Kulturpflanzen für <strong>die</strong> Nahrungsmittelversorgung<br />
der rasch wachsenden Landesbevölkerung<br />
gebraucht werden. Daraus resultieren<br />
hohe Nahrungsmittelpreise für Bewohner urbaner<br />
Gebiete.<br />
• Angesichts steigender Bevölkerung im<br />
ländlichen Ra<strong>um</strong> sinkt <strong>die</strong> Agrarfläche pro<br />
Landarbeiter und damit <strong>die</strong> Produktion pro<br />
Bauer. In Verbindung mit fehlender Gesundheitsversorgung<br />
verschlechtert <strong>die</strong>s <strong>die</strong> öffentliche<br />
Gesundheit, trägt zur Ausbreitung ansteckender<br />
Krankheiten (teils verursacht<br />
durch eine Schwächung des Immunsystems<br />
infolge Unterernährung) bei und verringert<br />
<strong>die</strong> Produktivität der Erwerbsbevölkerung.<br />
Kurz<strong>um</strong>, solche Länder stecken in einer<br />
Armutsfalle. Sie verfügen über unzureichende<br />
Ressourcen zur Überwindung strukturbeding-<br />
ter Hinder<strong>nisse</strong> und können wichtige Mindeststandards<br />
in den Bereichen Gesundheit,<br />
Bildung und Infrastruktur nicht erreichen, <strong>die</strong><br />
eine Voraussetzung für selbsttragendes<br />
Wachst<strong>um</strong> sind. Viele der in Kapitel 2 benannten<br />
Länder mit höchster Priorität fallen<br />
in <strong>die</strong>se Kategorie. Gutes Regierungs- und<br />
Verwaltungshandeln in Wirtschaftsfragen sowie<br />
eine kluge Wirtschaftspolitik sind Voraussetzungen,<br />
<strong>um</strong> der Armutsfalle zu entkommen,<br />
reichen aber nicht aus. In den meisten<br />
Fällen müssen auch enorme strukturbedingte<br />
Beschränkungen überwunden werden, <strong>um</strong> <strong>die</strong><br />
Mindeststandards für dauerhaftes Wachst<strong>um</strong><br />
zu erreichen.<br />
Es sei explizit auf den Unterschied zwischen<br />
strukturbedingten Schwierigkeiten für<br />
das Erreichens der Mindeststandards für dauerhaftes<br />
Wachst<strong>um</strong> und durch das Regierungs-<br />
und Verwaltungshandeln in Wirtschaftsfragen<br />
bedingte Schwierigkeiten für<br />
das Erreichen der Mindeststandards hingewiesen.<br />
Korrupte oder inkompetente Regierungen<br />
richten in vielen Ländern große Schäden<br />
an und verhindern <strong>die</strong> für wirtschaftliche<br />
Entwicklung notwendigen Investitionen. Ursache<br />
für <strong>die</strong>se Last können kleptokratische<br />
Politiker, schwache rechtliche Institutionen,<br />
korrupte Bürokraten oder politische oder bewaffnete<br />
Konflikte sein (siehe Kasten 3.5).<br />
DEN ARMUTSFALLENENTKOMMEN<br />
Was kann also für Länder getan werden, <strong>die</strong> in<br />
Armutsfallen stecken? Der Millenni<strong>um</strong>s-Entwicklungspakt<br />
<strong>die</strong>ses Berichts zielt auf der<br />
Grundlage klugen makroökonomischen Managements<br />
darauf ab, <strong>die</strong> menschliche Entwicklung<br />
durch <strong>die</strong> Verknüpfung von sechs<br />
Bündeln politischer Maßnahmen zu fördern:<br />
• Investitionen in <strong>die</strong> Sozialsektoren.<br />
Wenn zusätzliche Gebermittel verfügbar sind,<br />
können in Ländern mit niedrigem Einkommen<br />
in den Bereichen Gesundheit,<br />
Ernährung, Bildung sowie Wasser- und Sanitärversorgung<br />
große Fortschritte erzielt werden,<br />
weil <strong>die</strong> benötigten Interventionen gut<br />
bekannt und lang bewährt sind und <strong>die</strong><br />
Hauptinvestitionen vom öffentlichen Sektor<br />
mit finanzieller Unterstützung von Gebern<br />
Gutes Regierungs- und<br />
Verwaltungshandeln in<br />
Wirtschaftsfragen sowie<br />
eine kluge<br />
Wirtschaftspolitik sind<br />
Voraussetzungen, <strong>um</strong> der<br />
Armutsfalle zu<br />
entkommen, reichen aber<br />
nicht aus<br />
STRUKTURBEDINGTE WACHSTUMSHINDERNISSE ÜBERWINDEN, UM DIE ZIELE ZU ERREICHEN 91
KASTEN 3.5<br />
Bei jedem ernst gemeinten Versuch, eine erfolgreiche<br />
Kampagne z<strong>um</strong> Erreichen der Millenni<strong>um</strong>s-<br />
Entwicklungsziele zu starten, muss den von Konflikten<br />
betroffenen Gebieten besondere Aufmerksamkeit<br />
gewidmet werden. In etwa 60 Ländern wurde in<br />
den neunziger Jahren ein gewaltsamer Konflikt ausgetragen.<br />
Abgesehen von den durch sie verursachten<br />
unmittelbaren Verlusten an Menschenleben<br />
können solche Konflikte Volkswirtschaften untergraben,<br />
Regierungen destabilisieren, <strong>die</strong> Infrastruktur<br />
schädigen, <strong>die</strong> Versorgung durch Sozial<strong>die</strong>nste<br />
unterbrechen und Massenfluchten auslösen. Mehr<br />
als 14 Millionen Menschen sind auf Grund von aktuellen<br />
Konflikten oder Konflikten in der jüngeren<br />
Vergangenheit von Hunger betroffen. In Konfliktgebieten<br />
können sich HIV/AIDS und andere Infektionskrankheiten<br />
oft ungebremst ausbreiten. In<br />
Afrika südlich der Sahara sind bei einigen Armeen<br />
mehr als <strong>die</strong> Hälfte aller Soldaten HIV-positiv. Weil<br />
in Kriegszonen <strong>die</strong> Gesundheitsversorgung zusammenbricht<br />
und Frauen auf der Flucht Kinder zur<br />
Welt bringen, steigen <strong>die</strong> Mütter- und Säuglingssterblichkeitsraten<br />
dort häufig steil an.<br />
Eine Analyse der 25 am schlimmsten von Konflikten<br />
betroffenen Länder (zwischen 1960 und<br />
1995) ergibt beträchtliche Unterschiede hinsichtlich<br />
der Verluste an Menschenleben und der wirtschaftlichen<br />
Schäden auf Grund von Kriegen. Äthiopien,<br />
Liberia und Uganda wiesen in Konfliktzeiten beispielsweise<br />
wesentlich höhere Säuglingssterblichkeitsraten<br />
auf als in Friedenszeiten. Im Gegensatz<br />
dazu verzeichneten El Salvador, Guatemala und<br />
Mosambik selbst während des Krieges Raten, <strong>die</strong><br />
unter dem regionalen Durchschnitt lagen. Die Ergeb<strong>nisse</strong><br />
lassen darauf schließen, dass selbst<br />
während eines laufenden Konflikts politische Maßnahmen<br />
ergriffen werden können, <strong>um</strong> <strong>die</strong> Verluste<br />
an Menschenleben und <strong>die</strong> wirtschaftlichen Folgen<br />
zu verringern.<br />
Konfliktfolgen für Menschen verringern<br />
Angesichts der Heterogenität und der Komplexität<br />
vom Krieg betroffener Volkswirtschaften lassen sich<br />
nur schwer allgemeingültige politische Rezepte nennen.<br />
Zu den Kriegszielen kann zählen, bestimmte<br />
Regionen von lebenswichtigen Diensten abzuschneiden<br />
(Sudan). Ein Konflikt kann auch Regierungen<br />
empfindlich schwächen und sie der Fähigkeit<br />
berauben, überhaupt noch Leistungen für irgendeine<br />
Gruppe zu erbringen (wie in Afghanistan,<br />
Sierra Leone und Somalia). Wenn <strong>die</strong> Regierung<br />
ohne andere tragende Strukturen vollständig zusammenbricht,<br />
so kann <strong>die</strong>s besonders gravierende Folgen<br />
für <strong>die</strong> Menschen und <strong>die</strong> Wirtschaft haben<br />
(Uganda). Ländern, <strong>die</strong> in der Lage waren, <strong>die</strong> Folgen<br />
für <strong>die</strong> Menschen und <strong>die</strong> Wirtschaft zu verringern<br />
und in einigen Fällen sogar Fortschritte in<br />
Richtung auf <strong>die</strong> Einhaltung von Entwicklungszielen<br />
zu machen, gelang <strong>die</strong>s nur, wenn alle Haushalte<br />
– auf beiden Seiten der Kampflinie – Zugang zu<br />
Nahrungsmitteln, Basisgesundheitsversorgung und<br />
Grundschulbildung hatten (Guatemala, Mosambik<br />
und Sri Lanka).<br />
Die ausreichende Finanzierung lebenswichtiger<br />
Dienste durch <strong>die</strong> öffentliche Hand kann häufig<br />
selbst dann aufrechterhalten werden, wenn <strong>die</strong> Militärausgaben<br />
kriegsbedingt steigen. Mosambik, Nicaragua<br />
und der Sudan steigerten <strong>die</strong> Sozialausga-<br />
Quelle: Stewart 2003; Fitzgerald 2001.<br />
Die MEZ und Konfliktländer<br />
ben pro Kopf während ihrer Konfliktzeiten deutlich.<br />
Aber selbst wenn Kürzungen der Sozialausgaben<br />
notwendig sind, sollten <strong>die</strong>se nicht automatisch<br />
<strong>die</strong> Etats für <strong>die</strong> grundlegenden Sozial<strong>die</strong>nste betreffen.<br />
Selbst in Friedenszeiten entfällt auf <strong>die</strong>se<br />
Dienste nur ein Bruchteil der Gesamtsozialausgaben.<br />
Kürzungen der Sozialausgaben werden oft<br />
durch eine Verringerung der H<strong>um</strong>anressourcen verschärft.<br />
Dies ist beispielsweise der Fall, wenn Lehrer<br />
und Ärzte Konfliktgebiete verlassen. Und <strong>die</strong> Kürzungen<br />
sind mit unvorhersehbaren Zusammenbrüchen<br />
der Mechanismen zur Erbringung von Leistungen<br />
verbunden. Deshalb werden flexible Ansätze<br />
für <strong>die</strong> Bereitstellung von Diensten benötigt, bei<br />
denen man sich auf verschiedene Akteure wie NRO<br />
und quasistaatliche Strukturen stützen sollte. Als in<br />
Mosambik Gebäude des Gesundheits- und Bildungswesens<br />
zu Kriegszielen wurden, experimentierte<br />
man dort mit mobilen Gesundheitsposten und<br />
mobilen Unterrichtsrä<strong>um</strong>en. In El Salvador stellten<br />
beide Konfliktparteien bei drei unterschiedlichen<br />
Gelegenheiten erfolgreich <strong>die</strong> Kämpfe ein, damit<br />
Kinder geimpft werden konnten.<br />
Menschen in Konfliktgebieten sind besonders<br />
anfällig für schwere Unterernährung, weil während<br />
Konflikten <strong>die</strong> Nahrungsmittelproduktion zurückgeht<br />
und normale Hilfsmaßnahmen unterbrochen<br />
werden müssen. Steigende Nahrungsmittelpreise<br />
sind eine enorme Bedrohung für <strong>die</strong> Ernährungssicherheit.<br />
Viele Industrieländer subventionierten<br />
und rationierten zu Zeiten, in denen sie in Kriege<br />
verwickelt waren, Nahrungsmittel, <strong>um</strong> drastische<br />
Preissteigerungen zu verhindern. Nicaragua vertraute<br />
ebenfalls auf <strong>die</strong>se Mechanismen, <strong>um</strong> <strong>die</strong><br />
Ernährungssituation von Menschen in Kriegsgebieten<br />
zu verbessern.<br />
In urbanen Gebieten sind solche Maßnahmen<br />
relativ leicht durchzuführen. Gemeinschaften in<br />
ländlichen Gebieten nutzt aber vielleicht eher Unterstützung<br />
für den Agrarsektor in Form von Lieferungen,<br />
Krediten und entlohnter Arbeit. Die Nahrungsmittelausgabe<br />
in Schulen und Gesundheitseinrichtungen<br />
kann den Zugang zu Hilfe ebenfalls verbessern,<br />
ohne <strong>die</strong> Menschen zu zwingen, sich in Lager<br />
zu begeben. Sie fördert zudem den Schulbesuch<br />
und verringert <strong>die</strong> Anreize für Kinder, Soldaten<br />
oder Diebe zu werden.<br />
Die wirtschaftlichen Folggeschäden<br />
von Konflikten begrenzen<br />
Die wirtschaftlichen Konfliktfolgen beeinträchtigen<br />
das menschliche Wohlergehen ebenfalls auf vielfältige<br />
Weise. Sie reichen von steigenden Nahrungsmittelkosten<br />
bis zu sinkenden Beschäftigungschancen.<br />
Länder, <strong>die</strong> zwischen 1960 und 1995 am härtesten<br />
von Konflikten betroffen waren, mußten im<br />
Vergleich zu Friedenszeiten alle enorme Rückschläge<br />
beim Wirtschaftswachst<strong>um</strong> hinnehmen sowie<br />
eine sinkende Exportgüterprouktion, sinkende<br />
Nachfrage und ein verringertes Staatseinkommen<br />
(als Anteil am Bruttoinlandsprodukt). Fast alle Länder<br />
mußten durch <strong>die</strong> enorme Steigerung der Militärausgaben<br />
und gleichzeitig sinkender Staatseinnahmen<br />
steigende Haushaltsdefizite und eine wachsende<br />
Schuldenspirale in Kauf nehmen. Dennoch<br />
konnten einige Länder <strong>die</strong>sen Trend abwenden<br />
oder sogar trotz Kriegen eine beeindruckende Wirt-<br />
schaftsleistung vorzeigen. Sri Lanka beispielsweise<br />
konnte trotz der Konflikte im Land ein Wirtschaftswachst<strong>um</strong><br />
von 2 Prozent erzielen.<br />
Länder, <strong>die</strong> in laufende Konflikte verwickelt<br />
sind, sollten sich auf (mindestens) vier zentrale Politikbereiche<br />
konzentrieren:<br />
• Wegen des Zusammentreffens sinkender<br />
Steuereinnahmen mit drastisch steigenden Militärausgaben<br />
ist es in Ländern, <strong>die</strong> in einen Krieg verwickelt<br />
sind, schwierig, <strong>die</strong> Staatseinnahmen aufrechtzuerhalten.<br />
Die für <strong>die</strong> Einnahmenerhebung<br />
verwendeten institutionellen Strukturen müssen<br />
während des Krieges aufrechterhalten werden.<br />
Außerhalb sollten <strong>die</strong> Steuersätze aus der Zeit vor<br />
dem Krieg beibehalten werden, selbst wenn daneben<br />
zusätzliche Abgaben beispielsweise auf Luxuswaren<br />
und kriegsrelevante Güter erhoben werden.<br />
Regierungen könnten auch obligatorische Sparbriefe<br />
ausgeben und Nahrungsmittelhilfe verkaufen, <strong>um</strong><br />
neue Einnahmequellen zu erschließen. Nigeria, Sri<br />
Lanka und dem Sudan gelang es in der Tat, in Konfliktzeiten<br />
das Einnahmeniveau (als prozentualer<br />
Anteil am BIP) aufrechtzuerhalten.<br />
• Weil eine drastisch steigende Inflation Unsicherheit<br />
erzeugt und im privaten Sektor zu Spekulation<br />
führt, muss eine galoppierende Inflation verhindert<br />
werden. Sie würde <strong>die</strong> Kontrolle der öffentlichen<br />
Haushalte und der Staatsfinanzen extrem erschweren.<br />
Die Preisfreigabe während Konflikten als<br />
Reaktion auf eine geringe Angebotselastizität ist<br />
eine Hauptursache für eine drastisch steigende Inflation.<br />
In Mosambik beispielsweise führte eine solche<br />
Freigabe zu einem enormen Anstieg der Preise<br />
für rationierte Waren wie Mais, Speiseöl und<br />
Zucker.<br />
• Weil rückläufige Devisenguthaben zu einem<br />
Produktionsrückgang beitragen, ist es wichtig, <strong>die</strong><br />
Devisenguthaben zu sichern. Einige Länder in<br />
Afrika südlich der Sahara erlitten verheerende Hungersnöte<br />
auf Grund einer Kombination von Konflikt,<br />
Produktionsrückgang und Dürre. Um <strong>die</strong> Produktion<br />
aufrechtzuerhalten, sollten sowohl nationale<br />
als auch internationale politische Maßnahmen<br />
darauf abzielen, produktive Importe zu finanzieren.<br />
Hierzu müssen Exportmärkte offen gehalten und<br />
unterstützt werden sowie solche Importe durch Finanzhilfe/Kredite<br />
erleichtert werden. Nationale politische<br />
Maßnahmen sollten auch sicherstellen, dass<br />
verfügbare Devisenguthaben verwendet werden,<br />
<strong>um</strong> lebenswichtige Güter wie Arzneimittel und Einsatzmittel<br />
für <strong>die</strong> Landwirtschaft zu kaufen. Importkontrollen<br />
wie Quoten und Zölle können genutzt<br />
werden, <strong>um</strong> zu gewährleisten, dass <strong>die</strong>s geschieht.<br />
• Es muss ein wettbewerbsfähiger realer Wechselkurs<br />
beibehalten werden. Konfliktbetroffene<br />
Länder stehen vor enormen Schwierigkeiten, unter<br />
Bedingungen unsicherer Exporteinnahmen und<br />
Entwicklungshilfezusagen <strong>die</strong> Zahlungsbilanz im<br />
Gleichgewicht zu halten. Mit politischen Maßnahmen<br />
muss ein wettbewerbsfähiger realer Wechselkurs<br />
beibehalten werden, <strong>um</strong> Exporte nicht zu erschweren.<br />
Angesichts der unvermeidlichen makroökonomischen<br />
Ungleichgewichte, <strong>die</strong> ein Krieg mit<br />
sich bringt, sollten Länder auch danach trachten,<br />
<strong>die</strong> nominalen Wechselkurse zu kontrollieren. In<br />
Angola beispielsweise stieg <strong>die</strong> Inflation zwischen<br />
1991 und 1992 von 160 auf 246 Prozent. Davon waren<br />
arme Angolaner am stärksten betroffen.<br />
92 BERICHT ÜBER DIE MENSCHLICHE ENTWICKLUNG 2003
getätigt werden können. Große Fortschritte in<br />
den Bereichen Gesundheit und Bildung sind<br />
notwendig, bevor <strong>die</strong> Pro-Kopf-Einkommen<br />
beträchtlich gesteigert werden können.<br />
• Investitionen zur Steigerung der landwirtschaftlichen<br />
Produktivität. Die landwirtschaftliche<br />
Produktivität kann durch <strong>die</strong> Einführung<br />
besserer Technologie (verbessertes<br />
Saatgut, Bodenbearbeitung und Fruchtfolgewechsel,<br />
Bodennährstoffmanagement, Schädlingsbekämpfung)<br />
und <strong>die</strong> Verbesserung der<br />
ländlichen Infrastruktur (Bewässerungsprojekte,<br />
Lagerungs- und Transporteinrichtungen,<br />
Straßenverbindungen von den Dörfern<br />
zu größeren Märkten) gesteigert werden. Zusätzlich<br />
kann sichere Bodennutzung <strong>die</strong> Rechte<br />
der Bauern schützen und sie ermutigen, in<br />
Bodenverbesserungen zu investieren, <strong>die</strong> langfristig<br />
<strong>die</strong> Produktivität steigern.<br />
• Investitionen in <strong>die</strong> Infrastruktur. Ein<br />
angemessenes Niveau an Straßen, Energieversorgung,<br />
Häfen und Kommunikation zu erreichen,<br />
<strong>um</strong> <strong>die</strong> wirtschaftliche Diversifikation in<br />
nicht traditionelle Bereiche zu unterstützen,<br />
wird an einigen Standorten wie Küstenhafenstädten<br />
sehr einfach sein. Aber an anderen Orten<br />
wie Binnen- oder Gebirgsländern, <strong>die</strong> unter<br />
hohen Transportkosten leiden, wird es<br />
sehr viel schwerer sein.<br />
• Maßnahmen zur industriellen Entwicklung<br />
zur Unterstützung privater Aktivitäten.<br />
Die erfolgreiche Entwicklung nicht traditioneller<br />
Aktivitäten erfordert häufig besondere<br />
industriepolitische Maßnahmen wie selektive,<br />
zeitlich begrenzte und klug ausgelegte<br />
Steuerbefreiungen, Freihandelszonen, Sonderwirtschaftszonen,Technologieparks,Investitionssteuergutschriften,<br />
Förderung von Wissenschaft<br />
und Technologie, zielgerichtete Forschungs-<br />
und Entwicklungsfinanzierung sowie<br />
<strong>die</strong> staatliche Bereitstellung von Infrastruktur<br />
und Flächen.<br />
• Die <strong>um</strong>fassende Betonung auf Gleichstellung<br />
in der Gesamtgesellschaft. Politische<br />
Institutionen müssen armen Menschen –<br />
insbesondere Frauen – ermöglichen, an Entscheidungen<br />
teilzuhaben, <strong>die</strong> ihr Leben betreffen,<br />
und sie vor willkürlichen und unverantwortlichen<br />
Handlungen von Regierungen<br />
und Verwaltungen sowie anderen Kräften<br />
schützen. Strategien z<strong>um</strong> Erreichen der Millenni<strong>um</strong>s-Entwicklungsziele<br />
müssen daher<br />
Rechte von Frauen auf Bildung, Leistungen im<br />
Bereich der reproduktiven Gesundheit,<br />
Grundbesitz, Erwerbsbeteiligung und sichere<br />
Nutzung von Grund und Boden gewährleisten.<br />
Strategien müssen auch auf <strong>die</strong> Beseitigung<br />
aller anderen Formen von Diskriminierung<br />
einschließlich der Diskriminierung auf<br />
Grund von Rasse, Ethnizität oder geografischer<br />
Herkunft ausgerichtet sein.<br />
• Die Betonung auf ökologische Nachhaltigkeit<br />
und Stadtmanagement. Viele der<br />
ärmsten Orte auf der Welt liegen in Regionen<br />
mit enormen Klimaschwankungen und hoher<br />
Anfälligkeit, <strong>die</strong> ein solides ökologisches Management<br />
erfordern. Dazu zählen tropische<br />
und subtropische Regionen, <strong>die</strong> für durch das<br />
El-Niño-Phänomen verursachte Fluktuationen<br />
der Niederschlagsmenge und der Temperatur<br />
anfällig sind – Regionen, <strong>die</strong> auch mit<br />
den negativen Auswirkungen langfristiger Klimaänderungen<br />
konfrontiert sind. Eine andere<br />
ökologische Herausforderung ist <strong>die</strong> Steuerung<br />
und Bewältigung der raschen Urbanisierung<br />
durch sorgfältige Stadtplanung und hohe<br />
Investitionen der öffentlichen Hand.<br />
Diese politischen Maßnahmen können einen<br />
Aufstieg aus der Armut auslösen. Länder<br />
können beginnen, arbeitsintensive Waren<br />
(Textilien, Elektronikbauteile) für Auslandsmärkte<br />
zu liefern. Tourismus und EDV-<br />
Dienstleistungen (wie Dateneingabe und der<br />
Betrieb von Backoffice-Rechenzentren) können<br />
zu einem vergleichbaren Boom bei<br />
Dienstleistungsexporten führen. Dieses<br />
Wachst<strong>um</strong> bei nicht traditionellen Exporten<br />
kann <strong>die</strong> weiter oben beschriebenen k<strong>um</strong>ulativen<br />
Wachst<strong>um</strong>sprozesse antreiben. Dazu<br />
zählen auch steigende Sparquoten, steigende<br />
Staatseinnahmen, zunehmende Urbanisierung,<br />
sinkende Fertilität und steigende landwirtschaftliche<br />
Produktivität (teils auf Grund<br />
von mehr Einsatzmitteln aus dem verarbeitenden<br />
Gewerbe).<br />
Um langfristiges Wachst<strong>um</strong> zu erreichen,<br />
müssen alle <strong>die</strong>se politischen Maßnahmen unabhängig<br />
vom Stand der wirtschaftlichen Entwicklung<br />
eines Landes gleichzeitig ergriffen<br />
werden. Die ärmsten Länder können sich <strong>die</strong>-<br />
STRUKTURBEDINGTE WACHSTUMSHINDERNISSE ÜBERWINDEN, UM DIE ZIELE ZU ERREICHEN 93
Stagnierende oder im<br />
Niedergang befindliche<br />
arme Länder können bis<br />
jenseits der<br />
grundlegenden<br />
Mindeststandards<br />
geschoben werden und<br />
selbsttragendes<br />
Wachst<strong>um</strong> erreichen,<br />
wenn sie genug Mittel<br />
erhalten, <strong>um</strong> in<br />
Gesundheit, Bildung und<br />
Basisinfrastruktur<br />
investieren zu können<br />
se Investitionen jedoch nicht aus eigenen Mitteln<br />
leisten. Für sie betont der Millenni<strong>um</strong>s-<br />
Entwicklungspakt, dass Geber helfen sollten,<br />
<strong>die</strong> Kosten zu tragen. Dabei wird vorausgesetzt,<br />
dass <strong>die</strong> Länder mit niedrigem Einkommen<br />
ihren Teil der Abmachung einhalten, indem<br />
sie gutes Regierungs- und Verwaltungshandeln<br />
in Wirtschaftsfragen fördern, <strong>die</strong><br />
Menschenrechte schützen sowie eine transparente<br />
und effiziente Politik verfolgen (siehe<br />
Kasten 3.6).<br />
Dahinter steckt <strong>die</strong> Vorstellung, dass stagnierende<br />
oder im Niedergang befindliche<br />
arme Länder bis jenseits der grundlegenden<br />
Mindeststandards geschoben werden und<br />
selbsttragendes Wachst<strong>um</strong> erreichen können,<br />
wenn sie genug Mittel erhalten, <strong>um</strong> in Gesundheit,<br />
Bildung und Basisinfrastruktur investieren<br />
zu können. Mittel aus dem Ausland<br />
werden benötigt, <strong>um</strong> den gesamten Wachst<strong>um</strong>sprozess<br />
zu finanzieren – nicht nur <strong>die</strong> Anschubfinanzierung.<br />
In den meisten Fällen<br />
kann selbsttragendes Wachst<strong>um</strong> innerhalb einer<br />
Generation erreicht werden.<br />
WACHSTUMSPOLITIK ZU<br />
GUNSTEN ARMER MENSCHEN<br />
In <strong>die</strong>sem Kapitel wurde herausgestellt, dass<br />
<strong>um</strong>fassende, multisektorale Strategien einschließlich<br />
politischer Maßnahmen zur Förderung<br />
von Industriegüterexporten erforderlich<br />
sind, <strong>um</strong> wirtschaftliches Wachst<strong>um</strong> zu erreichen.<br />
Angesichts der unterschiedlichen strukturbedingten<br />
Schranken, mit denen Länder<br />
konfrontiert sind, ist klar, dass jedes Land ein<br />
Bündel politischer Maßnahmen ergreifen<br />
muss, <strong>die</strong> vor dem Hintergrund seiner spezifischen<br />
Bedingungen Sinn machen (siehe den<br />
Sonderbeitrag von Nobelpreisträger Joseph<br />
Stiglitz). Dieser Abschnitt versucht Antworten<br />
auf zwei damit zusammenhängende Fragen zu<br />
geben. Ziel ist, sicherzustellen, dass das<br />
Wachst<strong>um</strong> armen Menschen zugute kommt.<br />
Erstens: Welche politischen Maßnahmen können<br />
<strong>die</strong> Zunahme arbeitsintensiver (im Gegensatz<br />
zu kapitalintensiven) Industriegüterexporte<br />
fördern? Solche Produkte können unmittelbar<br />
<strong>die</strong> Beschäftigungschancen armer<br />
Menschen verbessern und ihre Reallöhne stei-<br />
gern. Zweitens: Welche politischen Maßnahmen<br />
können höhere Einkommen auch für<br />
arme Menschen gewährleisten, <strong>die</strong> nicht unmittelbar<br />
im verarbeitenden Gewerbe beschäftigt<br />
sind? Solche politischen Maßnahmen<br />
werden in Ländern mit niedrigem und mittlerem<br />
Einkommen mit „Inseln“ verfestigter Armut<br />
benötigt.<br />
POLITISCHE MASSNAHMEN ZUR<br />
FÖRDERUNG ARBEITSINTENSIVER<br />
INDUSTRIEGÜTERPRODUKTION<br />
In den letzten 20 Jahren wurde in der entwicklungsbezogenen<br />
Theorie und Praxis zu oft<br />
marktorientiertes wirtschaftliches Wachst<strong>um</strong><br />
mit wirtschaftsliberalem Verhalten verwechselt.<br />
Selbst wenn wirtschaftliches Wachst<strong>um</strong><br />
auf Privateigent<strong>um</strong> und Marktkräften basiert,<br />
muss der Staat mit geeigneten politischen<br />
Maßnahmen effiziente und wettbewerbsfähige<br />
einheimische Industriezweige fördern. Die<br />
Entstehung eines Exportsektors für Industriegüter<br />
zu unterstützen kann beispielsweise<br />
schon den halben Sieg auf dem Weg z<strong>um</strong> Erreichen<br />
anhaltenden Wachst<strong>um</strong>s bedeuten.<br />
Dies gilt insbesondere, wenn ein Land in der<br />
Vergangenheit bereits Rohstoffe exportiert<br />
hat.<br />
Ähnlich wichtig können politische Maßnahmen<br />
zur Förderung arbeitsintensiver statt<br />
kapitalintensiver Aktivitäten sein, weil sie Arbeitsplätze<br />
schaffen sowie langfristig <strong>die</strong> Produktivität<br />
und <strong>die</strong> Reallöhne steigern. Politische<br />
Maßnahmen haben lange eine wichtige<br />
Rolle bei der Förderung der industriellen Entwicklung<br />
gespielt, beispielsweise in den Volkswirtschaften<br />
der ostasiatischen „Tigerstaaten“<br />
seit den sechziger Jahren. Dies hing jedoch<br />
von einer Reihe von Umständen ab – insbesondere<br />
von disziplinierter institutioneller Kapazität<br />
in Regierungen und Verwaltungen.<br />
Maßnahmen zur industriellen Entwicklung<br />
zu Gunsten der Armen sollten sich an einigen<br />
allgemeinen Richtlinien orientieren. Erstens<br />
sind, wie in <strong>die</strong>sem Kapitel gezeigt wurde,<br />
Industriegüterexporte eine wichtige Voraussetzung<br />
für langfristiges Wachst<strong>um</strong>. Zu<br />
<strong>die</strong>sem Zweck bedarf es makroökonomischer<br />
und handelspolitischer Maßnahmen zur Di-<br />
94 BERICHT ÜBER DIE MENSCHLICHE ENTWICKLUNG 2003
KASTEN 3.6<br />
Uganda hat im letzten Jahrzehnt sehr gute<br />
wirtschaftliche Fortschritte erzielt. Aber trotz<br />
eines realen Wachst<strong>um</strong>s von durchschnittlich<br />
3,7 Prozent im Zeitra<strong>um</strong> von 1992 bis 1997<br />
weist das Land immer noch ein Pro-Kopf-Einkommen<br />
von lediglich 330 US-Dollar auf.<br />
Uganda ist ein kleines Binnenland, in dem<br />
80 Prozent der Erwerbsbevölkerung in der<br />
Landwirtschaft beschäftigt sind. 1997 wurden<br />
44 Prozent der Bevölkerung als arm eingestuft,<br />
<strong>die</strong> Säuglingssterblichkeitsrate betrug 83 Todesfälle<br />
pro 1.000 Lebendgeburten (im Jahr<br />
2000), <strong>die</strong> Müttersterblichkeitsrate 505 Todesfälle<br />
pro 100.000 Mütter und <strong>die</strong> Sterblichkeitsrate<br />
von Kindern unter fünf Jahren 161<br />
Todesfälle pro 1.000 Lebendgeburten.<br />
1997 leistete Uganda mit der Aufstellung<br />
des Aktionsplans zur Beseitigung der Armut<br />
(Poverty Eradication Action Plan) Pionierarbeit<br />
im Bereich armutsorientierter Entwicklungsstrategien.<br />
Dieser Aktionsplan wurde<br />
2000 in Abstimmung mit der Weltbank und<br />
dem Internationalen Währungsfonds in einer<br />
überarbeiteten Fassung als Strategiedok<strong>um</strong>ent<br />
zur Armutsbekämpfung (Poverty Reduction<br />
Strategy Paper – PRSP) vorgelegt. In dem<br />
Dok<strong>um</strong>ent setzte Uganda vier <strong>Ziele</strong>:<br />
• bis 2017 <strong>die</strong> absolute Armut auf 10 Prozent<br />
der Bevölkerung verringern,<br />
• den Bildungsstand der Ugander erhöhen,<br />
• <strong>die</strong> Volksgesundheit verbessern,<br />
• armen Menschen Gehör verschaffen.<br />
Um <strong>die</strong>se <strong>Ziele</strong> zu erreichen, formulierte<br />
Quelle: Uganda 2002; IMF 2002a; World Bank 2000b.<br />
Was notwendig ist, damit der Millenni<strong>um</strong>s-Entwicklungspakt in Uganda funktioniert<br />
versifizierung der wirtschaftlichen Strukturen.<br />
Eine überbewertete Währung, <strong>die</strong> Exporteuren<br />
schadet, kann <strong>die</strong> Möglichkeiten für Beschäftigungswachst<strong>um</strong><br />
gravierend einschränken.<br />
Der Übergang zur Exportorientierung ist<br />
komplex (und wird an anderer Stelle <strong>um</strong>fassend<br />
erörtert). Aber insbesondere für kleine<br />
Volkswirtschaften setzen makroökonomische<br />
politische Maßnahmen eine Exportorientierung<br />
voraus. In China und der Republik<br />
Korea ging staatlicher Schutz der Inlandsmärkte<br />
mit Exportanreizen einher. Korea gewährte<br />
Exporteuren steuerliche Anreize und<br />
zollfreie Importe von Einsatzmitteln, was <strong>die</strong><br />
Rendite des in erwünschten Sektoren investierten<br />
Kapitals erhöhte.<br />
Zweitens werden in kapitalknappen<br />
Volkswirtschaften Finanzierungsanreize be-<br />
<strong>die</strong> Regierung Handlungskonzepte auf der<br />
Grundlage von vier Säulen, <strong>die</strong> sich in vielfacher<br />
Hinsicht mit den handlungsbezogenen<br />
Dimensionen im Millenni<strong>um</strong>s-Entwicklungspakt<br />
decken. Dazu zählen: <strong>die</strong> Schaffung eines<br />
Rahmens für wirtschaftliche Entwicklung und<br />
den Umbau der Wirtschaft durch makroökonomische<br />
Stabilität, Konzentration auf strategische<br />
Exporte und Förderung des privaten<br />
Sektors. Hierfür wird Uganda wesentlich mehr<br />
ausländische Direktinvestitionen ins Land holen<br />
und seine Wirtschaft diversifizieren müssen.<br />
Weil es ein Binnenstaat ist und daraus<br />
hohe Transportkosten resultieren, sind <strong>die</strong>s<br />
schwierige Aufgaben.<br />
Die vierte Säule betrifft <strong>die</strong> Förderung<br />
guten Regierungs- und Verwaltungshandelns<br />
in Wirtschaftsfragen und wirtschaftliche Sicherheit,<br />
einen Plan zur Modernisierung der<br />
Landwirtschaft, <strong>um</strong> unmittelbar <strong>die</strong> Fähigkeit<br />
armer Menschen zur Steigerung ihres<br />
Einkommens zu verbessern, und Maßnahmen<br />
zur Verbesserung von Gesundheit, Bildung<br />
sowie Trinkwasser- und Sanitärversorgung,<br />
<strong>um</strong> unmittelbar <strong>die</strong> Lebensqualität armer<br />
Menschen zu erhöhen. Die entscheidende Frage<br />
ist jedoch, ob Uganda in der Lage sein wird,<br />
<strong>die</strong> Investitionen vorzunehmen, <strong>um</strong> <strong>die</strong>se<br />
Strategien <strong>um</strong>zusetzen und <strong>die</strong>se <strong>Ziele</strong> zu<br />
erreichen.<br />
Die Haushaltsplanung wird mit dem Strategiedok<strong>um</strong>ent<br />
zur Armutsbekämpfung in<br />
Übereinstimmung gebracht, und <strong>die</strong> Sozialaus-<br />
nötigt, <strong>um</strong> <strong>die</strong> Entstehung von Industriezweigen<br />
zu fördern. Eine Reihe politischer Maßnahmen<br />
wurde eingesetzt: gelenkte und subventionierte<br />
Kredite, Unterstützung ausgewählter<br />
Untersektoren, Exportsubventionen,<br />
Institutionen für den Technologieerwerb und<br />
eine Fülle anderer sektorspezifischer Interventionen.<br />
Mehrere südostasiatische Länder haben<br />
Exportkredite und steuerliche Anreize<br />
verwendet, <strong>um</strong> <strong>die</strong> Renditen von Exportinvestitionen<br />
zu erhöhen. Als relative Nachzügler<br />
spielten jedoch im Allgemeinen ausländische<br />
Direktinvestitionen bei ihnen – und bei China<br />
– eine größere Rolle bei der Förderung der<br />
Exportorientierung als bei den ostasiatischen<br />
Tigerstaaten.<br />
Drittens bedarf es zur Unterstützung solcher<br />
Maßnahmen einer kompetenten, profes-<br />
gaben werden <strong>um</strong> Mittel erhöht, <strong>die</strong> durch<br />
Schuldenerleichterungen frei werden. Nach einer<br />
Schätzung des ugandischen Economic Policy<br />
Research Center aus dem Jahr 2002 würde<br />
<strong>die</strong> Umsetzung der Pläne in dem Dok<strong>um</strong>ent im<br />
Jahr 2003 eine Haushaltslücke von 417 Millionen<br />
US-Dollar oder 6,4 Prozent des BIP verursachen.<br />
Diese Annahme basiert zudem auf einem<br />
recht niedrigen Schätzwert der Kosten für<br />
<strong>die</strong> Gesundheitsversorgung. Die Lücke wäre<br />
noch größer, wenn darüber hinaus <strong>die</strong> Kosten<br />
für das Erreichen der Millenni<strong>um</strong>s-Entwicklungsziele<br />
wie Bereitstellung von Wasser- und<br />
Sanitärversorgung, Minderung des Hungers<br />
und Bereitstellung von Infrastruktur berücksichtigt<br />
würden.<br />
Diese Prognosen sind für <strong>die</strong> internationale<br />
Gemeinschaft von großem Wert, weil sie<br />
einen Hinweis auf <strong>die</strong> notwendigen Zusatzausgaben<br />
auf der nationalen Ebene liefern.<br />
Die Ausgaben für HIV/AIDS müssen <strong>um</strong> 83<br />
Prozent, <strong>die</strong> Bildungsausgaben <strong>um</strong> 109 Prozent<br />
und <strong>die</strong> Gesundheitsausgaben <strong>um</strong> 212<br />
Prozent gesteigert werden. Trotz größer Entschlossenheit<br />
und bester Planung auf der Länderebene<br />
werden <strong>die</strong> Millenni<strong>um</strong>s-Entwicklungsziele<br />
deshalb unerreichbar bleiben, wenn<br />
sie nicht durch wesentlich größere Mitteltransfers<br />
vonseiten der internationalen Gemeinschaft<br />
unterstützt werden. Diese Transfers<br />
bilden einen wichtigen Aspekt der Rolle<br />
reicher Länder im Millenni<strong>um</strong>s-Entwicklungspakt.<br />
STRUKTURBEDINGTE WACHSTUMSHINDERNISSE ÜBERWINDEN, UM DIE ZIELE ZU ERREICHEN 95
In mehreren neueren ökonometrischen Untersuchungen<br />
wurde versucht, eine systematische<br />
Beziehung zwischen Globalisierung und Wachst<strong>um</strong><br />
nachzuweisen – und zwischen Wachst<strong>um</strong><br />
und Armutsminderung. Die Botschaft <strong>die</strong>ser Untersuchungen<br />
ist klar: Die Öffnung der Volkswirtschaft<br />
und <strong>die</strong> Liberalisierung ziehen Wachst<strong>um</strong><br />
nach sich, und mit dem Wachst<strong>um</strong> geht <strong>die</strong><br />
Verringerung der Armut einher. Diese Forschungsarbeiten<br />
sollen <strong>die</strong> Angriffe gegen <strong>die</strong><br />
Globalisierung z<strong>um</strong> Schweigen bringen und –<br />
wenngleich der Begriff vermieden wird – der seit<br />
langem in Misskredit geratenen Trickle-down-<br />
Wirtschaftstheorie neues Leben einhauchen, <strong>die</strong><br />
<strong>die</strong> Auffassung vertrat, dass „eine steigende Flut<br />
alle Boote anhebt“.<br />
Die Trickle-down-Wirtschaftstheorie geriet<br />
aus einem offensichtlichen Grund in Misskredit:<br />
Sie war nicht wahr. Manchmal hilft Wachst<strong>um</strong> armen<br />
Menschen, manchmal aber auch nicht. Einigen<br />
Messgrößen zufolge nahm in Lateinamerika<br />
<strong>die</strong> Armut in den neunziger Jahren zu. Dies galt<br />
sogar für viele Länder, <strong>die</strong> Wachst<strong>um</strong> verzeichneten.<br />
Es war nicht nur so, dass reiche Menschen<br />
unverhältnismäßig vom Wachst<strong>um</strong> profitierten –<br />
ihre Gewinne könnten z<strong>um</strong> Teil sogar auf Kosten<br />
armer Menschen gegangen sein.<br />
Bei <strong>die</strong>sen neueren Untersuchungen gibt es<br />
eine Reihe technischer Probleme. Das aufschlussreichste<br />
Problem besteht jedoch darin, dass darin<br />
<strong>die</strong> falschen Fragen gestellt wurden: Globalisierung<br />
und Wachst<strong>um</strong> sind endogen, das Ergebnis<br />
bestimmter politischer Maßnahmen. Es geht<br />
nicht dar<strong>um</strong>, ob Wachst<strong>um</strong> gut oder schlecht ist,<br />
sondern ob bestimmte politische Maßnahmen –<br />
einschließlich solcher, <strong>die</strong> vielleicht zu engerer<br />
globaler Integration führen – zu Wachst<strong>um</strong><br />
führen und ob <strong>die</strong>se politischen Maßnahmen zu<br />
der Art von Wachst<strong>um</strong> führen, das das Wohlergehen<br />
armer Menschen verbessert. Ein Blick auf<br />
<strong>die</strong> erfolgreichsten Länder – beim Wachst<strong>um</strong> und<br />
bei der Armutsbekämpfung – zeigt, wie irreführend<br />
<strong>die</strong>se Untersuchungen sind.<br />
China und andere ostasiatische Länder haben<br />
sich nicht an den Washingtoner Konsens gehalten.<br />
Sie haben Zollschranken nur langsam abgebaut,<br />
und China hat seinen Kapitalverkehr immer<br />
noch nicht vollständig liberalisiert. Obwohl<br />
<strong>die</strong> ostasiatischen Länder „globalisiert“ haben,<br />
ergriffen sie gegen den Rat der internationalen<br />
ökonomischen Institutionen industrie- und handelspolitische<br />
Maßnahmen, <strong>um</strong> Exporte und den<br />
globalen Technologietransfer zu fördern. Am<br />
wichtigsten war vielleicht jedoch, dass im Gegensatz<br />
z<strong>um</strong> Washingtoner Konsens politische Maßnahmen<br />
zur Förderung der Gerechtigkeit ein expliziter<br />
Bestandteil ihrer Entwicklungsstrategien<br />
war. Das gleiche gilt möglicherweise für das<br />
SONDERBEITRAG<br />
Armut, Globalisierung und Wachst<strong>um</strong>: Ausblicke auf einige der statistischen Verknüpfungen<br />
erfolgreichste Land in Lateinamerika, Chile, das<br />
in der Zeit seines hohen Wachst<strong>um</strong>s Anfang der<br />
1990er Jahre in der Tat eine Steuer auf kurzfristige<br />
Kapitalzuflüsse erhob.<br />
Die Politik steht nicht vor der Entscheidung,<br />
„Globalisierung ja oder nein“ oder „Wachst<strong>um</strong> ja<br />
oder nein“. In manchen Fällen geht es nicht einmal<br />
<strong>um</strong> „Liberalisierung ja oder nein“. Stattdessen<br />
muss sie beschließen, den Kapitalverkehr kurzfristig<br />
zu liberalisieren, und sich anschließend fragen,<br />
wie sie das am besten bewerkstelligt. Mit welchem<br />
Tempo soll der Handel liberalisiert werden,<br />
und welche politischen Maßnahmen sollten damit<br />
einhergehen? Gibt es Wachst<strong>um</strong>sstrategien zu<br />
Gunsten der Armen, <strong>die</strong> über <strong>die</strong> Förderung des<br />
Wachst<strong>um</strong>s hinaus mehr leisten, damit <strong>die</strong> Armut<br />
verringert werden kann? Und gibt es Wachst<strong>um</strong>sstrategien,<br />
<strong>die</strong> nicht nur das Wachst<strong>um</strong> fördern,<br />
sondern auch zu mehr Armut führen – Strategien,<br />
<strong>die</strong> gemieden werden sollten?<br />
Beispielsweise unterstützen keine Theorie<br />
und keine Belege <strong>die</strong> These, dass <strong>die</strong> Öffnung der<br />
Märkte für kurzfristige, spekulative Kapitalzuflüsse<br />
das wirtschaftliche Wachst<strong>um</strong> steigert. Es<br />
gibt jedoch zahlreiche Belege und Arg<strong>um</strong>ente<br />
dafür, dass sie <strong>die</strong> wirtschaftliche Instabilität vergrößern<br />
und dass wirtschaftliche Instabilität zu<br />
Unsicherheit und Armut beiträgt. Deshalb könnten<br />
solche Formen der Kapitalmarktliberalisierung<br />
auf manche Weise zu mehr "Globalisierung"<br />
führen. Sie führen jedoch nicht zu mehr<br />
Wachst<strong>um</strong>. Und selbst wenn das Wachst<strong>um</strong> geringfügig<br />
zunehmen würde, könnte <strong>die</strong>se Form<br />
insbesondere in Ländern ohne angemessene Netze<br />
der sozialen Sicherheit <strong>die</strong> Armut vergrößern.<br />
In ähnlicher Weise soll <strong>die</strong> Handelsliberalisierung<br />
Ressourcen aus geschützten Sektoren mit<br />
niedriger Produktivität in Exportsektoren mit hoher<br />
Produktivität verlagern. Aber was geschieht,<br />
wenn Exportmärkte in Bereichen mit komparativem<br />
Vorteil (wie für Agrarerzeug<strong>nisse</strong>) in der Praxis<br />
geschlossen sind oder <strong>die</strong> zur Schaffung der<br />
neuen Arbeitsplätze im Exportsektor benötigten<br />
Kredite nicht (oder nur zu exorbitanten Zinssätzen)<br />
verfügbar sind? Dann verlieren Arbeitnehmer<br />
ihre geschützten Arbeitsplätze in Sektoren<br />
mit niedriger Produktivität und werden arbeitslos.<br />
Das Wachst<strong>um</strong> wird nicht gesteigert, und <strong>die</strong><br />
Armut nimmt zu.<br />
Selbst häufig gepriesene Maßnahmen wie <strong>die</strong><br />
Tarifizierung haben sich als zweischneidiges<br />
Schwert erwiesen, weil sie <strong>die</strong> Entwicklungsländer<br />
zusätzlichen Risiken ausgesetzt haben, für deren<br />
Bewältigung sie schlecht gerüstet sind. Zudem<br />
ist erneut nicht klar, ob <strong>die</strong> Tarifizierung zu<br />
rascherem Wachst<strong>um</strong> führt. Viel mehr Belege<br />
gibt es jedoch dafür, dass <strong>die</strong> höhere Variabilität<br />
<strong>die</strong> Armut vergrößert.<br />
Es gibt politische Maßnahmen, <strong>die</strong> auf lange<br />
Sicht vielleicht das Wachst<strong>um</strong> steigern und <strong>die</strong><br />
Armut verringern. Dazu zählt <strong>die</strong> Verbesserung<br />
der Bildungschancen für benachteiligte Gruppen,<br />
was Ländern ermöglicht, einen riesigen Bestand<br />
an zu wenig genutzten Befähigungen anzuzapfen.<br />
Aber <strong>die</strong> Erträge aus Investitionen in <strong>die</strong> Vorschulbildung<br />
heute werden sich erst in zwei Jahrzehnten<br />
oder noch später einstellen. Dies ist nicht<br />
<strong>die</strong> Art von Ergeb<strong>nisse</strong>n, <strong>die</strong> gewöhnlich in ökonometrischen<br />
Untersuchungen erscheinen.<br />
In <strong>die</strong>sen ökonometrischen Globalisierungsstu<strong>die</strong>n<br />
verbirgt sich unter der Oberfläche ein anderer<br />
Subtext: Weil <strong>die</strong> Globalisierung so positive<br />
Auswirkungen auf das Wachst<strong>um</strong> und <strong>die</strong> Armutsbekämpfung<br />
hatte, müssen ihre Kritiker irren.<br />
Aber <strong>die</strong>se Querschnittuntersuchungen können<br />
nicht <strong>die</strong> grundlegendste Kritik an der Globalisierung<br />
widerlegen, wie sie praktiziert wurde:<br />
dass sie unfair ist und ihre Vorteile unverhältnismäßig<br />
oft reichen Menschen zugute gekommen<br />
sind. Nach der letzten Verhandlungsrunde z<strong>um</strong><br />
Welthandel, der Uruguay-Runde, wies eine Untersuchung<br />
der Weltbank nach, dass Afrika südlich<br />
der Sahara schlechter da stand als zuvor. Die<br />
asymmetrische Liberalisierung hatte globale Auswirkungen<br />
auf <strong>die</strong> Austauschrelationen. Den<br />
Globalisierungsstu<strong>die</strong>n zufolge musste Afrika<br />
dafür büßen, dass es nicht an der Globalisierung<br />
teilnahm. Das mag teilweise stimmen. Es ist jedoch<br />
auch wahr, dass <strong>die</strong> Art und Weise, wie <strong>die</strong><br />
Globalisierung gesteuert wurde, Afrika benachteiligt<br />
hat.<br />
Von daher waren <strong>die</strong>se ökonometrischen<br />
Untersuchungen zu Globalisierung, Wachst<strong>um</strong><br />
und Armut ein irreführendes Ablenkungsmanöver.<br />
Sie lenkten <strong>die</strong> Debatte von den richtigen<br />
Fragen ab, über <strong>die</strong> diskutiert werden sollte:<br />
nach der Angemessenheit bestimmter politischer<br />
Maßnahmen für bestimmte Länder, nach den<br />
Möglichkeiten, <strong>die</strong> Globalisierung zu gestalten<br />
(und auch nach den Spielregeln) und nach internationalen<br />
ökonomischen Institutionen zur besseren<br />
Wachst<strong>um</strong>sförderung und Armutsbekämpfung<br />
in den Entwicklungsländern. Der Antiglobalisierungsbewegung<br />
wurde oft Gedankenlosigkeit<br />
vorgeworfen, wenn sie einfach fragte, ob <strong>die</strong> Globalisierung<br />
gut oder schlecht sei. Aber trotz all<br />
der scheinbaren Komplexität ihrer Statistiken<br />
sind <strong>die</strong> ökonometrischen Stu<strong>die</strong>n genauso schuldig.<br />
Joseph E. Stiglitz<br />
Nobelpreisträger für Wirtschaft, 2002<br />
96 BERICHT ÜBER DIE MENSCHLICHE ENTWICKLUNG 2003
sionellen, ausreichend unabhängigen staatlichen<br />
Bürokratie. Unsachgemäße Einmischung<br />
der Politik hat staatlichen Institutionen geschadet<br />
und in einigen Fällen zu Staatsversagen<br />
geführt. Die Reaktion sollte nicht sein,<br />
den Staat abzuschaffen. Die Wiederbelebung<br />
staatlicher Institutionen kann unabhängig davon,<br />
wie schwierig <strong>die</strong>s sein mag, eine entscheidende<br />
Voraussetzung zur Beseitigung<br />
von Wachst<strong>um</strong>sschranken sein, <strong>die</strong> durch das<br />
Regierungs- und Verwaltungshandeln in Wirtschaftsfragen<br />
bedingt sind (siehe Feature 3.1).<br />
Die Beschäftigungspolitik für den öffentlichen<br />
Sektor ist in <strong>die</strong>sem Zusammenhang von<br />
Interesse. Der Staat kann kein „employer of<br />
last resort“ sein. In Ostasien bewirken recht<br />
hohe Gehälter im öffentlichen Dienst, insbesondere<br />
für Leitungsfunktionen, dass er für<br />
qualifizierte Kräfte attraktiv ist und bleibt.<br />
Diese technokratischen Gruppen sind relativ<br />
frei von politischen Zwängen, was zu klaren<br />
Entscheidungsprozessen beiträgt und Marktvertrauen<br />
schafft. Dies in richtige Bahnen zu<br />
lenken, war genauso wichtig wie jede politische<br />
Intervention, weil <strong>die</strong> „richtigen“ politischen<br />
Maßnahmen bei fehlender institutioneller<br />
Kohärenz widersinnige Effekte haben können.<br />
Viertens muss der öffentliche Sektor den<br />
privaten Sektor unterstützen und stärken, statt<br />
mit ihm zu konkurrieren. Öffentliche Organe<br />
können private Kapazität in mehrfacher Weise<br />
unterstützen. Japan, <strong>die</strong> Republik Korea, Malaysia<br />
und Thailand richteten formelle Beiräte<br />
ein, <strong>um</strong> <strong>die</strong> Informations- und Transaktionskosten<br />
privater Akteure zu verringern. Für <strong>die</strong><br />
Technologiepolitik wird eine neue Form von<br />
Beirat genutzt. In Costa Rica und Irland verbinden<br />
Technologie-Foresight-Programme<br />
und -Prozesse Ministerien, den privaten Sektor,<br />
internationale Organisationen und Nichtregierungsorganisationen,<br />
<strong>um</strong> <strong>die</strong> Informations-<br />
und Transaktionskosten zu senken – und<br />
<strong>um</strong> Einvernehmen über <strong>die</strong> Verbesserung der<br />
nationalen technologischen Kapazität zu erzielen.<br />
Diese Organe können insbesondere für<br />
<strong>die</strong> Entwicklung kleiner und mittlerer exportorientierter<br />
Unternehmen von Bedeutung<br />
sein. Außerdem sollten Anstrengungen hin zu<br />
größerer sozialer Verantwortung und Trans-<br />
parenz von Unternehmen unternommen werden.<br />
Internationalen privaten Unternehmen<br />
kommt auch eine wichtige Rolle bei der Förderung<br />
der Kapitalbildung und der Entwicklung<br />
des privaten Sektors vor Ort zu. Dies hat<br />
erwünschte Auswirkungen auf <strong>die</strong> Entstehung<br />
zusätzlicher Arbeitsplätze in den lokalen Arbeitsmärkten.<br />
Schlussendlich kann Wachst<strong>um</strong><br />
zu Gunsten der Armen durch ambitioniertere<br />
Partnerschaften zwischen dem privaten und<br />
dem öffentlichen Sektor, insbesondere beim<br />
Bau von Basisinfrastruktur und der Bereitstellung<br />
von Diensten in Entwicklungsregionen<br />
(beispielsweise Stromversorgung) erreicht<br />
werden.<br />
POLITISCHE MASSNAHMEN AUSSERHALB<br />
DER INDUSTRIEGÜTERPRODUKTION<br />
Die vorgenannten Maßnahmen zur industriellen<br />
Entwicklung können helfen, den Wachst<strong>um</strong>smotor<br />
einer Volkswirtschaft zu entwickeln.<br />
Aber viele arme Menschen, wenn<br />
nicht gar <strong>die</strong> meisten, arbeiten außerhalb der<br />
Industriegüterproduktion – insbesondere in<br />
den frühen Entwicklungssta<strong>die</strong>n. Genauso,<br />
wie Maßnahmen zur industriellen Entwicklung<br />
ergriffen werden, bedarf es daher politischer<br />
Maßnahmen, <strong>um</strong> ihren Bedarf zu<br />
decken.<br />
Erstens braucht <strong>die</strong> Regierung ein wirksames<br />
Steuersystem, <strong>um</strong> genug Einnahmen zu<br />
erzielen, <strong>die</strong> sie in den Grundbedarf armer<br />
Menschen investieren kann. In den ärmsten<br />
Ländern erfordert <strong>die</strong>s nicht nur höhere<br />
Staatseinnahmen, <strong>die</strong> klug investiert werden,<br />
sondern auch mehr Finanzhilfe der Geber.<br />
Ein wirksames Steuersystem ist nicht gleichbedeutend<br />
mit höheren Steuern. Ein sinnvollerer<br />
Weg ist, relativ niedrige Sätze für <strong>die</strong> direkte<br />
Einkommensteuer einzuführen, dabei aber<br />
gleichzeitig auf <strong>die</strong> Steuerehrlichkeit zu pochen<br />
und Missbrauch sowie politisch motivierte<br />
Ausnahmeregelungen abzuschaffen. Ein<br />
großes Einnahmenproblem in vielen Ländern<br />
ist, dass reiche Menschen einfach keine direkten<br />
Steuern zahlen.<br />
Zweitens sollten Ländern mit vielen Bauern<br />
in <strong>die</strong> Steigerung der landwirtschaftlichen<br />
Produktivität und <strong>die</strong> Diversifizierung von<br />
Ein großes<br />
Einnahmenproblem in<br />
vielen Ländern ist, dass<br />
reiche Menschen einfach<br />
keine direkten Steuern<br />
zahlen<br />
STRUKTURBEDINGTE WACHSTUMSHINDERNISSE ÜBERWINDEN, UM DIE ZIELE ZU ERREICHEN 97
Feldfrüchten für Exportmärkte investieren.<br />
(In Kapitel 4 wird <strong>die</strong> landwirtschaftliche Produktivität<br />
detaillierter analysiert.) Solche<br />
Bemühungen könnten <strong>die</strong> Entwicklung standortspezifischer<br />
Saat- und Bodennährstoffstrategien<br />
<strong>um</strong>fassen, <strong>um</strong> unter den örtlichen<br />
Gegebenheiten hohe Erträge zu erzielen. Regierungen<br />
können Exporteuren auch finanzielle<br />
Anreize und Vertriebsunterstützung bieten,<br />
<strong>um</strong> <strong>die</strong> z<strong>um</strong> Verkauf bestimmten Feldfrüchte<br />
zu diversifizieren. Sie könnten Bauern<br />
in Gebieten mit fragilen Märkten auch Mindestpreise<br />
garantieren. Thailand tat <strong>die</strong>s<br />
während des Übergangs von traditionellen<br />
Feldfrüchten zu ausgefalleneren Arten für den<br />
Export wie Spargel, der im Land nicht kons<strong>um</strong>iert<br />
wird.<br />
Drittens müssen politische Maßnahmen<br />
den Zugang armer Menschen zu wirtschaftlichen<br />
Aktiva sicherstellen. Ohne Aktiva können<br />
arme Menschen nicht an Märkten teilnehmen.<br />
Sie benötigen Grund und Boden, Finanzen<br />
und Qualifikationen – und öffentliches<br />
Handeln, <strong>um</strong> sie zu erwerben. Investitionen in<br />
<strong>die</strong> menschliche Entwicklung zur Erweiterung<br />
der sozialen Aufstiegschancen für alle ist eines<br />
der sechs Bündel politischer Maßnahmen, <strong>die</strong><br />
in Kapitel 4 erörtert werden. Wir konzentrieren<br />
uns hier auf Grund und Boden und Finanzen.<br />
Zugang zu Grund und Boden. Mehr als<br />
500 Millionen Menschen oder etwa 100 Millionen<br />
Haushalte in Entwicklungsländern fehlen<br />
Eigent<strong>um</strong>s- oder Besitzrechte an dem<br />
Grund und Boden, den sie bestellen. Die meisten<br />
sind Pachtbauern, Landarbeiter oder<br />
frühere Kolchosenarbeiter. In <strong>die</strong>se Gruppe<br />
fallen auch Agrarhaushalte mit unsicheren<br />
Nutzungsrechten wie Sl<strong>um</strong>bewohner oder Inhaber<br />
von Gewohnheits- oder überlieferten<br />
Rechten, <strong>die</strong> keine formellen Rechte an dem<br />
von ihnen besetzten Land haben.<br />
Fehlende formelle gesetzlich verbriefte<br />
Rechte an Grund und Boden schränken <strong>die</strong><br />
Fähigkeit <strong>die</strong>ser Menschen ein, Einkommen<br />
zu erzeugen und ihren Lebensunterhalt zu<br />
ver<strong>die</strong>nen, was das wirtschaftliche Wachst<strong>um</strong><br />
untergräbt. Weil Grund und Boden ihre<br />
Haupterwerbsquelle ist und Sicherheit und<br />
gesellschaftlichen Status verleiht, würde <strong>die</strong><br />
Legalisierung ihrer Besitzrechte durch eine<br />
Agrarreform mehreren Zwecken <strong>die</strong>nen:<br />
• Die Schaffung übertragbarer Rechte an<br />
Grund und Boden mit bestimmbarem Marktwert<br />
macht Grund und Boden zu einem generationsübergreifenden<br />
Aktivposten.<br />
• Kleinere Betriebe sind pro Hektar oft produktiver<br />
als große, insbesondere wenn sie in<br />
Familienbesitz sind und von Familien bewirtschaftet<br />
werden. 11<br />
• Grundbesitzer haben einen Anreiz und<br />
<strong>die</strong> Fähigkeit, langfristige Kapitalinvestitionen<br />
zu tätigen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> landwirtschaftliche Produktivität<br />
unmittelbar steigern.<br />
• Der Zugang zu Grund und Boden verbessert<br />
<strong>die</strong> Ernährung von Haushalten – und erhöht<br />
bei manchen Agrarhaushalten das außerlandwirtschaftliche<br />
Einkommen.<br />
• Gesetzlich fest verbriefte Besitzrechte für<br />
Frauen, <strong>die</strong> oft <strong>die</strong> Nahrungsmittelerzeuger in<br />
einem Haushalt sind, führen zu gerechterer<br />
Einkommens- und Wohlfahrtsverteilung.<br />
• Sichere Rechte stärken das Umweltmanagement<br />
und erhöhen <strong>die</strong> Beteiligung der Gemeinschaft.<br />
Obwohl – wie viele Erfahrungen in den<br />
siebziger und achtziger Jahren gezeigt haben –<br />
Bodenreformen politisch <strong>um</strong>stritten und<br />
schwierig durchzuführen waren, sind sie auf<br />
Grund ihrer engen Verknüpfung mit der Gerechtigkeitsfrage<br />
in vielen Ländern wie Brasilien<br />
und China auf <strong>die</strong> politische Tagesordnung<br />
zurückgekehrt.<br />
Damit <strong>die</strong> meisten Menschen in den<br />
Genuss der Vorteile gesicherten Grundbesitzes<br />
kommen können, müssen solche Rechte<br />
auf einer breiten Basis gewährt werden,<br />
und zwar insbesondere weiblichen Mitgliedern<br />
von Agrarhaushalten. Außerdem sollten<br />
private Grundbesitzer, deren Boden <strong>um</strong>verteilt<br />
wird, angemessen entschädigt werden.<br />
Ebenso sollten Reformen im Bereich<br />
der gewohnheitsmäßigen Bodennutzungssysteme<br />
vorgenommen werden, damit Grundbesitzer<br />
mit überlieferten Rechten <strong>die</strong>se<br />
nicht verlieren. Die potenziellen Nutznießer<br />
sollten in <strong>die</strong> Planungen solcher Reformen<br />
einbezogen werden. Letzter Punkt: Die<br />
begleitenden Bestimmungen sollten <strong>die</strong> sichere<br />
Nutzung gewährleisten und <strong>die</strong> richtigen<br />
98 BERICHT ÜBER DIE MENSCHLICHE ENTWICKLUNG 2003
Anreize beinhalten, damit <strong>die</strong> Übertragung<br />
von Grundbesitz oder Nutzungsrechten<br />
tatsächlich und nicht nur auf dem Papier<br />
erfolgt.<br />
Zugang zu Krediten. Mikrofinanzinstitutionen<br />
– sowohl Mikrokredit- als auch Mikrosparinstitutionen<br />
– bieten armen Menschen<br />
einen Weg, sich Kapital zu beschaffen und<br />
Kapital zu akk<strong>um</strong>ulieren. Sie ermutigen Kreditnehmer,<br />
in produktive Aktivitäten zu<br />
investieren, und Sparer, Kapital zu akk<strong>um</strong>ulieren<br />
und Zinsen zu ver<strong>die</strong>nen. Kreditnehmer<br />
können <strong>die</strong> Mittel auch verwenden,<br />
<strong>um</strong> Einkommensflüsse zu glätten und wirtschaftliche<br />
Entscheidungen über längere<br />
Zeiträ<strong>um</strong>e zu planen. Die Zahl der armen<br />
Menschen mit Zugang zu Mikrokreditprogrammen<br />
stieg von 7,6 Millionen im Jahr<br />
1997 auf 26,8 Millionen im Jahr 2001.<br />
21,0 Millionen davon waren Frauen, <strong>die</strong> auf<br />
<strong>die</strong>se Weise über Mittel verfügten, wirtschaftliche<br />
Entscheidungen treffen konnten und<br />
<strong>die</strong> Kontrolle über ihr Leben gewonnen haben.<br />
12 Manchen Schätzungen zufolge könnten<br />
jedes Jahr 5 Prozent der Teilnehmer an<br />
Mikrofinanzprogrammen ihre Familien aus<br />
der Armut befreien. 13<br />
Aus einem makroökonomischen Blickwinkel<br />
sind Mikrofinanzinstitutionen nützlich,<br />
<strong>um</strong> Kreditmittel für arme Menschen zu kanalisieren<br />
und entstehen zu lassen. Sie bleiben ein<br />
wichtiges politisches Instr<strong>um</strong>ent für <strong>die</strong> Verringerung<br />
der Armut im großen Maßstab. Ihr<br />
Erfolg hängt jedoch vom Programm, der teilnehmenden<br />
Gemeinschaft und der Unterstüt-<br />
zung durch Geber, der Gebietskörperschaft<br />
und der verwaltenden Behörde ab. Ihre Ausweitung<br />
hängt von makroökonomischer Stabilität,<br />
der Gesundheit, Absicherung und Wirksamkeit<br />
des Finanzsektors und (langfristig)<br />
von der Fähigkeit der Regierung ab, arme<br />
Menschen durch den Finanzsektor landesweit<br />
zu erreichen.<br />
* * *<br />
Dieses Kapitel beleuchtet <strong>die</strong> strukturbedingten<br />
Probleme, <strong>die</strong> das wirtschaftliche Wachst<strong>um</strong><br />
in den Ländern mit höchster und hoher<br />
Priorität für <strong>die</strong> Millenni<strong>um</strong>s-Entwicklungsziele<br />
erschweren. Es bietet zudem praktische<br />
Ratschläge zur Überwindung <strong>die</strong>ser Probleme.<br />
Diese Länder müssen weit über Marktreformen<br />
hinausschauen, <strong>um</strong> <strong>die</strong> grundlegenden<br />
Herausforderungen auf Grund von weitverbreiteten<br />
Krankheiten, geografischer Isolation,<br />
schlechter Infrastruktur, geringem H<strong>um</strong>ankapital<br />
und begrenzten Märkten bewältigen<br />
zu können. Es bedarf dort <strong>um</strong>fangreicher<br />
Investitionen der öffentlichen Hand, <strong>um</strong> <strong>die</strong><br />
grundlegenden Mindeststandards für Gesundheit,<br />
Bildung und andere Ergeb<strong>nisse</strong> zu<br />
erreichen. Weil <strong>die</strong>se Länder zu arm sind, <strong>um</strong><br />
<strong>die</strong>se Investitionen finanzieren zu können,<br />
müssen <strong>die</strong> reichen Länder ihre Zusagen im<br />
Zusammenhang mit den Millenni<strong>um</strong>s-Entwicklungszielen<br />
einhalten und helfen, zentrale<br />
Investitionen der öffentlichen Hand zu finanzieren,<br />
<strong>die</strong> langfristige Erfolge bei der wirtschaftlichen<br />
und menschlichen Entwicklung<br />
herbeiführen werden.<br />
Dieses Kapitel beleuchtet<br />
<strong>die</strong> strukturbedingten<br />
Probleme, <strong>die</strong> das<br />
wirtschaftliche Wachst<strong>um</strong><br />
in den Ländern mit<br />
höchster und hoher<br />
Priorität für <strong>die</strong><br />
Millenni<strong>um</strong>s-<br />
Entwicklungsziele<br />
erschweren<br />
STRUKTURBEDINGTE WACHSTUMSHINDERNISSE ÜBERWINDEN, UM DIE ZIELE ZU ERREICHEN 99
Feature 3.1 Entwicklungsprobleme – aus dem Blickwinkel der Geografie<br />
Auf der ersten Karte sind <strong>die</strong> Länder auf der Welt in fünf<br />
Kategorien unterteilt. Die erste bilden <strong>die</strong> dunkelblau dargestellten<br />
Länder, <strong>die</strong> ein hohes Maß an wirtschaftlicher Innovation<br />
zeigen, gemessen anhand der Zahl der Patente pro<br />
eine Million Einwohner. Dabei handelt es sich im Allgemeinen<br />
<strong>um</strong> <strong>die</strong> Länder mit hohem Einkommen. Die zweite<br />
Gruppe bilden <strong>die</strong> mittelblau dargestellten Industriegüter<br />
exportierenden Entwicklungsländer. Dies sind <strong>die</strong> sich entwickelnden<br />
Volkswirtschaften, deren Exporte im Jahr 1995<br />
zu mindestens 50 Prozent auf das verarbeitende Gewerbe<br />
entfielen. Die dritte Gruppe bilden <strong>die</strong> blaugrau dargestellten<br />
Erdöl exportierenden Volkswirtschaften. Die vierte<br />
Gruppe bilden <strong>die</strong> grau dargestellten Transformationsländer<br />
und <strong>die</strong> fünfte Gruppe <strong>die</strong> auf der Karte schwarz dargestellten<br />
Entwicklungsländer, <strong>die</strong> andere Rohstoffe als Erdöl<br />
exportieren.<br />
Die zweite Karte veranschaulicht <strong>die</strong> Muster des wirtschaftlichen<br />
Wachst<strong>um</strong>s im Zeitra<strong>um</strong> von 1980 bis 1998. Dabei<br />
wird als Maß das konstante Pro-Kopf-BSP, <strong>um</strong>gerechnet auf<br />
Kaufkraftparitäten verwendet. Man beachte <strong>die</strong> bemerkenswerte<br />
Ähnlichkeit mit der ersten Karte. Die dunkelblau dargestellten<br />
Länder mit entweder einem hohen Maß an Innovation<br />
oder Industriegüterexporten wiesen im Allgemeinen<br />
Wachst<strong>um</strong> auf, während <strong>die</strong> andere Gruppe von Ländern<br />
(Erdöl exportierende Länder, Transformationsländer und<br />
Rohstoffe exportierende Länder) im Allgemeinen wirtschaftlichen<br />
Niedergang verzeichneten. Zu den wachsenden<br />
Volkswirtschaften zählen <strong>die</strong> Großregionen Nordamerika,<br />
Westeuropa, Ozeanien, Ostasien und Südasien. Die rückläufigen<br />
Länder finden sich vor allem in Afrika südlich der Sahara,<br />
der früheren Sowjetunion, im erdölreichen Nahen<br />
Osten und in Teilen von Lateinamerika, vor allem in den Anden<br />
und in Mittelamerika. Afrika südlich der Sahara ist <strong>die</strong><br />
Weltregion mit dem schlechtesten Ergebnis: Zwei Drittel<br />
der Länder und drei Viertel der Bevölkerung erlebten dort<br />
im Zeitra<strong>um</strong> von 1980 bis 1998 wirtschaftlichen Niedergang<br />
statt wirtschaftlichen Wachst<strong>um</strong>s.<br />
Tabelle 1 schlüsselt <strong>die</strong> Muster des wirtschaftlichen Wachst<strong>um</strong>s<br />
nach der wirtschaftlichen Struktur des Landes auf.<br />
Wenn wir <strong>die</strong> Länder in <strong>die</strong>selben fünf Kategorien wie in<br />
Karte 1 einteilen, erkennen wir, dass sich <strong>die</strong> Hauptprobleme<br />
beim wirtschaftlichen Wachst<strong>um</strong> in drei Arten von<br />
Volkswirtschaften stellen: den sowjetischen (und postsowjetischen)<br />
Volkswirtschaften, <strong>die</strong> in den neunziger Jahren in<br />
den Übergang zur Marktwirtschaft eintraten, den Erdöl exportierenden<br />
Volkswirtschaften, <strong>die</strong> auf Grund ihres einzigen<br />
oder dominierenden Exportguts einen riesigen Kaufkraftverlust<br />
hinnehmen mussten, und den Rohstoffe exportierenden<br />
Entwicklungsländern. Die meisten der Rohstoffe<br />
exportierenden Länder liegen in Afrika südlich der Sahara,<br />
Lateinamerika und Zentralasien. Die Volkswirtschaften mit<br />
einem hohen Maß an Innovation und <strong>die</strong> Industriegüter exportierenden<br />
Länder unter den Entwicklungsländern haben<br />
im Großen und Ganzen wirtschaftliches Wachst<strong>um</strong> verzeichnet.<br />
KARTE 1<br />
Klassifikation der Länder nach ihrer wirtschaftlichen Struktur, 1995<br />
Technologische Innovationen, hoher Stand an Patenten<br />
Industriegüter exportierender Länder<br />
Erdöl exportierende Länder<br />
Transformationsländer<br />
Rohstoffe (außer Erdöl) exportierende Länder<br />
KARTE 2<br />
Klassifikation der Ländern nach durchschnittlicher jährlicher Pro-Kop-BIP<br />
Wachst<strong>um</strong>srate, 1990<br />
KKP Dollars, 1980–98<br />
Pro-Kopf-BIP-Wachst<strong>um</strong>srate<br />
größer als 2,5 Prozent<br />
kleiner als -2,5 Prozent<br />
zwischen 0 und 2,5 Prozent keine Daten<br />
zwischen -2,5 und 0 Prozent<br />
Quelle: Maddison 2001; Gallup, Sachs und Mellinger 1999; World Bank 2003i.<br />
TABELLE 1<br />
Wirtschaftswachst<strong>um</strong>sraten nach Ländergruppen, 1980-98<br />
Zahl der Länder mit Durchschnittliches Pro-Kopf-<br />
Gruppe wachsendendem Pro-Kopf-BIP BIP-Wachst<strong>um</strong> (in Prozent)<br />
Reiche Volkswirtschaften 18 von 18 1,7<br />
Transformationsländer 4 von 12 –1,7<br />
Erdöl exportierende Länder 2 von 13 –1,5<br />
Industriegüter exportierende Länder 23 von 24 2,7<br />
Rohstoffe exportierende Länder 29 von 61 –0,1<br />
Anmerkung: Das Pro-Kopf-BIP wird in der Kaufkraftparität gemessen.<br />
Quelle: Maddison 2001; World Bank 2002j.<br />
100 BERICHT ÜBER DIE MENSCHLICHE ENTWICKLUNG 2003
TABELLE 2<br />
Wirtschaftswachst<strong>um</strong>sraten nach Bevölkerungsgröße und geografischer<br />
Lage, 1980-98<br />
Kleine Länder Große Länder<br />
Durchschnittliches Bevölkerung Bevölkerung<br />
jährliches in Ländern Durchschnittliches in Ländern<br />
Zahl der Pro-Kopf-BIP mit positivem Zahl jährliches mit positivem<br />
Länder mit Wachst<strong>um</strong> Wachst<strong>um</strong> Länder mit Pro-Kopf-BIP Wachst<strong>um</strong><br />
Geografische wachsendem 2001, 2001 wachsendem Wachst<strong>um</strong> 2001<br />
Lage Pro-Kopf-BIP (in Prozent) (Millionen) Pro-Kopf-BIP (in Prozent) (Millionen)<br />
Binnenländer 24 von 53 –0.2 379 von 799 10 von 10 2.5 3,087 von 3,087<br />
Küstenländer 15 von 17 1.9 118 von 130 3 von 4 3.2 341 von 418<br />
Anmerkung: Das Pro-Kopf-BIP wird in der Kaufkraftparität gemessen.<br />
Quelle: Maddison 2001; Gallup, Sachs und Mellinger 1999; World Bank 2003i.<br />
Tabelle 2 veranschaulicht Muster wirtschaftlichen Wachst<strong>um</strong>s<br />
aus einem anderen Blickwinkel, dem der Geografie.<br />
Diese Tabelle zeigt <strong>die</strong> Wachst<strong>um</strong>squoten für alle Entwicklungsländer,<br />
Transformationsländer und nicht Erdöl exportierenden<br />
Länder mit verfügbaren Daten. Die Länder sind<br />
darin nach der Größe ihrer Bevölkerung und der Konzentration<br />
der Bevölkerung nahe Seehandelsrouten unterteilt.<br />
„Kleine Länder“ sind solche mit einer Bevölkerung von weniger<br />
als 40 Millionen Menschen im Jahr 1990, „Binnenländer“<br />
solche, in denen mehr als 75 Prozent der Bevölkerung<br />
in einer Entfernung von mehr als 100 Kilometer von der<br />
Küste lebt. Die Daten machen deutlich, wie <strong>die</strong> Gruppen<br />
der Länder, <strong>die</strong> entweder groß oder Küstenländer sind, im<br />
Zeitra<strong>um</strong> von 1980 bis 1998 im Durchschnitt ein systematisches<br />
wirtschaftliches Pro-Kopf-Wachst<strong>um</strong> erzielten. Die<br />
Länder, <strong>die</strong> klein und Binnenländer sind, waren im selben<br />
Zeitra<strong>um</strong> in wirtschaftlicher Hinsicht wesentlich weniger<br />
erfolgreich.<br />
Weil 33 der 53 Länder, <strong>die</strong> als klein und als Binnenland<br />
eingestuft wurden, in Afrika liegen, sind <strong>die</strong> Ergeb<strong>nisse</strong><br />
für <strong>die</strong>sen Kontinent von besonderer Relevanz.<br />
Quelle: McArthur und Sachs 2002; World Bank 2002j, 2003i; IMF 2002b;<br />
Maddison 2001.<br />
STRUKTURBEDINGTE WACHSTUMSHINDERNISSE ÜBERWINDEN, UM DIE ZIELE ZU ERREICHEN 101