Suchthilfe und Ökonomie – im Spannungsfeld zwischen ... - FdR
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<strong>Suchthilfe</strong> <strong>und</strong> <strong>Ökonomie</strong> <strong>–</strong> <strong>im</strong> <strong>Spannungsfeld</strong> <strong>zwischen</strong> Evidenzbasierung, Qualitätssicherung<br />
<strong>und</strong> Wirtschaftlichkeit<br />
F. Tretter, Bezirkskrankenhaus Haar<br />
1. Einführung <strong>–</strong> das Bermuda-Dreieck <strong>zwischen</strong> Evidenzbasierung, Qualitätsmanagement <strong>und</strong><br />
Wirtschaftlichkeit<br />
In den letzten Jahren ist eine Zunahme der Einflüsse in das Therapiesystem über die Kostenträger<br />
erkennbar. Dazu einige Beispiele :<br />
- Die Rentenversicherung als Träger der Entwöhnungstherapie hat in der Periode von 1996 - 1998 die<br />
Verweildauern radikal gekürzt. Bei konstanten Behandlungsplätzen erfolgte damit eine höhere<br />
Auslastung der Kapazitäten für die Versicherten. Damit war eine Reduktion der Fallkosten möglich.<br />
Darüber hinaus wurden zunehmend die Peer-Review-Verfahren zur Evaluation der Entlassberichte<br />
<strong>und</strong> der darin abgebildeten Therapiemassnahmen eingeführt, ein Verfahren, das nun etabliert ist. Auf<br />
diese Weise können b<strong>und</strong>esweite Betriebsvergleiche erfolgen, die den Einrichtungen nach der<br />
Auswertung erlauben, ihre Einrichtung <strong>im</strong> Gesamtsystem einzuordnen. Bei Defiziten besteht so eine<br />
klare Korrekturmöglichkeit.<br />
- In Beratungsstellen muss zunehmend ein transparenter Dokumentationsstandard der erbrachten<br />
Leistungen aufgebaut werden.<br />
- Die MATCH-Studie hat gezeigt, dass bei Alkoholismus eine differentielle Indikation der Therapie<br />
keinen differenziellen Effekt mit sich bringt (Project MATCH Research Group 1998). Dies führt ebenso<br />
wie es bereits die grosse Psychotherapie-Evaluations-Studie von Grawe et al. (1994) gezeigt hat, zu<br />
einer Infragestellung teurer Ausbildungsgänge für Therapeuten bzw. für die Träger der Einrichtungen,<br />
die die Qualifikation bezahlen. Andererseits spielt die Qualifikation der Therapeuten als ein Merkmal<br />
der Strukturqualität bei Anträgen auf Finanzierung einer Einrichtung eine wichtige Rolle.<br />
Im Zentrum der allgemeinen ges<strong>und</strong>heitspolitischen Diskussion steht die Zunahme der Ausgaben der<br />
Krankenkassen (<strong>und</strong> der Rentenkassen). Die Bewertung der Dynamik der Ausgaben muss auf die<br />
Einnahmen (z.B. dargestellt über die Anzahl der Beitragszahler) <strong>und</strong> auf das gesamtwirtschaftliche<br />
Niveau (z.B. gemessen über das Bruttosozialprodukt, BSP) bezogen werden, <strong>und</strong> zwar insbesondere<br />
auf das Wachstum des BSP bezogen (Leidl 1998a, s. Abb.1). Bei dieser Betrachtung zeigt sich nach<br />
einem extremen Anstieg der Kassenausgaben seit etwa 1995 eine parallele Entwicklung der beiden<br />
Indikatoren auf jeweils hohem Niveau. Auch ist zu bedenken, dass etwa 30 % der Ausgaben auf den<br />
neuen medizinischen Leistungen (insbes. <strong>im</strong> Bereich der Diagnostik <strong>und</strong> neuer Medikamente)<br />
beruhen, aber 56 % auf der Inflationsrate. Der viel zitierte demographische Faktor beträgt hingegen<br />
nur etwa 10 % (vgl. Schwartz u. Busse 1998). Etwa 80 % der Ausgaben erfolgen zur Behandlung der<br />
über 60-jährigen. Die Analyse der Ausgabenstruktur zeigt, dass Herz-Kreislauferkrankungen,<br />
Darmerkrankungen <strong>und</strong> Erkrankungen des Bewegungsapparates 45 % der Ausgaben ausmachen.<br />
Ein relativ geringer Anteil von etwa 5 % betrifft ZNS-Erkrankungen (vgl. Schwartz u. Busse 1998).<br />
1
Auch die Ausgabenstruktur der Rentenversicherer zeigt nur etwa 1 <strong>–</strong> 2% Ausgaben <strong>im</strong> Bereich der<br />
Rehabilitation von Suchtkranken (pers. Mitt. Hr. Seiter 2003).<br />
Indikator (norm. auf 1970)<br />
BSP/Eiw<br />
Ausgaben/<br />
MG<br />
7<br />
6<br />
5<br />
4<br />
3<br />
2<br />
1<br />
0<br />
1970 1980 1990 1995 1999<br />
Abb. 1: Entwicklung des Bruttosozialprodukts pro Kopf (BSP/ Einw.) als Indikator für wirtschaftlichen<br />
Wohlstand bezogen auf 1970 <strong>und</strong> Entwicklung der Ausgaben pro Mitglied (MG) der gesetzlichen<br />
Krankenversicherung in diesem Zeitraum (nach Oberender et al. 2002)<br />
Als Ursachen für den Ausgabenanstieg sehen Ges<strong>und</strong>heitsökonomen neben der demographischen<br />
<strong>und</strong> medizin-technologischen Entwicklung folgende Kostentreiber: „Moral-Hazard-Effekt“ (je besser<br />
versichert, desto riskanteres Verhalten), die „Free Rider-Mentalität“ (Ausnutzen der Leistungen ohne<br />
Eigenbeteiligung bei der Kostenträgerschaft), die „Rationalitätenfalle“ (möglichst viele teure<br />
Ges<strong>und</strong>heitsleistungen beanspruchen), das „Verantwortungsvakuum“ der Ärzte mit Ausschöpfen aller<br />
abrechenbarer Leistungen pro Patient, das „steigende Anspruchsniveau“ der Bürger gegenüber<br />
Ges<strong>und</strong>heitsleistungen usw. Zur Beobachtung, dass bei zunehmender Ärztezahl zunehmend mehr<br />
Ges<strong>und</strong>heitsleistungen nachgefragt werden („angebotsinduzierten Nachfrage“) wird von Breyer et al.<br />
(2003, S.324) die „Zieleinkommens-Hypothese“ formuliert, die besagt, dass bei einem Anstieg der<br />
Ärztedichte der Anreiz für die Ärzte besteht, „die Informationen, die sie an die Patienten geben,<br />
systematisch zu ändern, um ihre eigene Auslastung sicherzustellen“. Bei solchen Darstellungen der<br />
kostentreibenden Faktoren mangelt es allerdings generell an repräsentativen quantitativen Belegen<br />
(Breyer et al. 2003, Oberender et al. 2002).<br />
2
Zur Kostendämpfung bei mehr Ges<strong>und</strong>heitsleistungen „verordnen“ einige Fre<strong>und</strong>e der freien<br />
Marktwirtschaft die Idee des autoregulativen Marktes auch dem Ges<strong>und</strong>heitswesen (vgl. Oberender et<br />
al. 2002). Ob das nicht zu Verwerfungen in der Ges<strong>und</strong>heitsversorgung in der Bevölkerung führt<br />
bleibt offen.<br />
2. Makroökonomische Hintergründe - Woher kommt der Druck?<br />
Die ges<strong>und</strong>heitsökonomische Debatte muss man „kontextualisieren“, d. h. zunächst auf die Ebene der<br />
volkswirtschaftlich-makroökonomischen Debatte beziehen. Dabei zeigt sich, dass bekanntlich weltweit<br />
die meisten gegenwärtigen Regierungen das Problem haben, ihre Volkswirtschaften steuern zu<br />
können: Der Absatz stagniert, die Arbeitslosenraten sind hoch, das Wirtschaftswachstum stagniert<br />
usw. Die Haushalte sparen zwar, aber die Unternehmen wollen nicht investieren. Die Folge ist, dass<br />
die Politik bzw. der Staat versuchen muss, den Sektor der Unternehmen zu vitalisieren. Dies ist dem<br />
Staat direkt nur durch Subventionen oder Steuererleichterungen möglich. Damit gefährdet er aber<br />
seinen eigenen Budgethaushalt, läuft in die Gefahr der übermäßigen Verschuldung. Daher versucht<br />
der Staat u. a. die so genannten Lohnnebenkosten, die für Unternehmen bestehen zu mindern, mit<br />
der Erwartung, dass die Unternehmen dann aktiver werden, mehr Personen einstellen, wodurch die<br />
kollektive Kaufkraft steigen würde <strong>und</strong> die Wirtschaft wieder in Schwung käme. Die Lohnnebenkosten<br />
betreffen nun die Beiträge für Krankenkassen <strong>und</strong> auch die Rentenzahlungen <strong>–</strong> das Wachstum der<br />
Beiträge muss auf null gesetzt werden oder sogar die Beiträge herabgesetzt werden. Damit keine<br />
Leistungsminderung <strong>im</strong> Ges<strong>und</strong>heitssektor <strong>und</strong> <strong>im</strong> Rentensektor aufkommt, muss nun die<br />
Eigenbeteiligung eingeführt werden. Für die Balance des Staatshaushalts müssen auch die<br />
Transferzahlungen in den Bereich der Arbeitslosen, der Rentner, der Armen usw. gemindert werden.<br />
Wir sind also mitten drinnen in einer Ära der „Reformen“ , die aber nur auf Excel-Tabellen-<br />
Kalkulationen basieren, mit dem Ziel herauszufinden, wo am schadlosesten gespart werden kann.<br />
Die scheinbar chaotischen aktuellen wirtschaftspolitischen Vorschläge zur Aktivierung der Konjunktur<br />
sind leicht verstehbar, wenn man sich das „Kreislaufmodell“ der Volkswirtschaft vor Augen führt, das<br />
die Wirtschaftsektoren „Haushalte“, „Unternehmen“, „Staat“, „Banken“ <strong>und</strong> “Ausland“ über Geld- <strong>und</strong><br />
Güterströme verbindet. Ohne dieses traditionsreiche Systemmodell hier genauer erläutern zu können<br />
(s. Mankiw 2000), soll nur der vorherige Text anhand des Schaubilds zusammengefasst werden (s.<br />
Abb. 2).<br />
3
Transferzahlungen Staatsausgaben/Subventionen<br />
HAUS-<br />
HALTE<br />
Steuern<br />
STAAT<br />
Steuern<br />
Ersparnisse Gewinne<br />
Kredite<br />
Konsum(€)<br />
Löhne, Gehälter<br />
UNTER-<br />
NEHMEN<br />
Importausgaben<br />
Exporterlöse<br />
BANKEN AUSLAND<br />
Investitionen<br />
Abb. 2. Schema des Wirtschaftskreislaufes des Geldes (modif. nach Mankiw 2000, S. 19 u.<br />
52)<br />
In Fortsetzung dieses „Makromodells“ muss noch die Mikroperspektive für wirtschaftliche Prozesse<br />
skizziert werden (Varian 2001). Es geht um das zentrale Modell des bereits erwähnten „freien<br />
Marktes“. Dieses Konzept baut auf dem Gr<strong>und</strong>theorem auf, dass jeder Akteur am Markt ein<br />
„Nutzenmax<strong>im</strong>ierer“ ist, d.h., dass er in wirtschaftlichen Entscheidungssituationen min<strong>im</strong>ale Kosten<br />
haben will <strong>und</strong> max<strong>im</strong>alen Ertrag bzw. Erlös (vgl. Becker 1993). Konkreter bedeutet dies, dass der<br />
Anbieter eines Gutes am Markt bei hohen Preisen, die er für dieses Gut erhalten kann, eine große<br />
Menge davon herstellt bzw. am Markt anbietet. Die Nachfrage nach teuren Gütern ist aber <strong>im</strong><br />
Regelfall nur gering, sodass der Anbieter mit den Preisen heruntergehen muss, um nicht auf seinen<br />
Ware sitzen zu bleiben. Nun wird die Nachfragemenge wieder zunehmen, so dass der Anbieter wieder<br />
versucht ist, den Preis zu erhöhen <strong>und</strong> mehr davon anzubieten. Als letztes Konstruktionselement des<br />
Konzeptes des freien Marktes kommt nun die Konkurrenz sowohl be<strong>im</strong> Anbieter wie auch be<strong>im</strong><br />
Nachfrager hinzu, so dass dann theoretisch bald ein Gleichgewicht der Mengen <strong>und</strong> des Preises<br />
zustande kommt. Bemerkenswert an dieser Stelle ist, dass Suchtkranke beinahe um jeden Preis die<br />
von ihnen benötigte Menge des Suchtmittels abnehmen. Das wird technisch als „niedrige<br />
Preiselastizität“ bezeichnet: Wenn der Preis um zehn Prozent steigt, dann wird fast die gleiche Menge<br />
konsumiert wie be<strong>im</strong> niedrigeren Preis (vgl. Braun et al. 2001).<br />
4
Preis<br />
P 2<br />
P 1<br />
Nachfrage<br />
x 2<br />
x 1<br />
Angebot<br />
Preisgleichgewicht<br />
Menge<br />
Abb. 3: Angebotsfunktion <strong>und</strong> Nachfragefunktion (modif. nach Mankiw 2000, S. 9).<br />
Ein teures Gut mit dem Preis P2 wird in geringer Menge (x2) nachgefragt, während viel (x1)<br />
davon angeboten wird (Angebotsüberhang). Bei niedrigem Preis P1 wird wenig angeboten<br />
(x2), aber viel (x1), nachgefragt (Nachfrageüberhang).<br />
Wird bei Nachfrage nach der Menge x1 der Preis auf P2 erhöht, so wird bei preisinelastischem<br />
Nachfrageverhalten, wie es bei Suchtkranken der Fall ist, weiterhin die Menge x1 (gestrichelt<br />
gezeichnete vertikale Linie, statt der zu erwartenden geringeren Menge x2 nachgefragt.<br />
3. Gr<strong>und</strong>fragen zur Ges<strong>und</strong>heitsökonomik <strong>–</strong> begrenzte wissenschaftliche Rationalität<br />
Die in der Antike begründete Wirtschaftswissenschaft <strong>und</strong> zwar als aristotelische<br />
Haushaltswissenschaft (Oikonomia) ist vor allem durch Adam Smith von der „moral science“ zur<br />
empirisch begründeten Sozialwissenschaft <strong>und</strong> zu einer Leitwissenschaft für soziales Handeln<br />
gewandelt worden. Die heutige „Ökonomik“ ist die Wissenschaft vom wirtschaftlichen Handeln <strong>und</strong><br />
untersucht die „kosten-effektive Befriedigung von Bedürfnissen bei knappen Ressourcen“. Die<br />
aktuellen Wirtschaftlichkeitsanalysen des Ges<strong>und</strong>heitssystems <strong>und</strong> seiner Teilkomponenten erfolgt<br />
durch die „Ges<strong>und</strong>heitsökonomik“. Als Spezialisierung der Ökonomik stützt sie sich auf deren<br />
Begriffe, Methoden, Theorien <strong>und</strong> Konzepte. Da dieses Fach ein Teilgebiet der<br />
Wirtschaftswissenschaften ist, lohnt es sich, ein wenig zu den Problemen dieses Faches zu sagen.<br />
Zunächst soll eine „Metaebene“ der Betrachtung, also eine Vogelperspektive eingenommen werden.<br />
Die ist über die Philosophie möglich (Koslowski 1991, Tretter 2003). Dabei fragt sich, welches<br />
Menschenbild sich in der Ökonomik breit gemacht hat, welche Rolle die Ethik spielt <strong>und</strong> wie der Status<br />
der Wissenschaftlichkeit einzustufen ist. Für das Weitere sollen die Beispiele vor allem aus dem<br />
medizinischen Bereich genommen werden, da sich hier die konkreten Kontroversen <strong>zwischen</strong><br />
<strong>Ökonomie</strong> <strong>und</strong> Therapie abwickeln.<br />
5
Menschenbild<br />
Das erwähnte Menschenbild des „Nutzenmax<strong>im</strong>ierers“, des „rationalen Egoisten“, ist nicht anrührend,<br />
solange es nicht um einen selbst geht: Auch Therapeuten sind in ihrer Professionalität<br />
Nutzenmax<strong>im</strong>ierer <strong>und</strong> versuchen nach Ansicht der Ökonomen, das monetäre Max<strong>im</strong>um vom<br />
Kostenträger zu bekommen <strong>und</strong> dabei das Min<strong>im</strong>um zu leisten. Wir als Akteure der <strong>Suchthilfe</strong> wissen<br />
aber, dass der Brutto-St<strong>und</strong>enlohn etwa die Hälfte eines Klempners ausmacht, den Ökonomen ist dies<br />
aber egal: da es keinen freien Markt <strong>im</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesen gibt, ist der Preis für die Arbeit eben so<br />
<strong>und</strong> nicht anders. Nicht nur der Therapeut ist Nutzenmax<strong>im</strong>ierer, sondern auch der Patient: er will die<br />
max<strong>im</strong>ale Leistung bei min<strong>im</strong>aler Bezahlung. Da er nicht selbst zahlen muss, sondern seine<br />
Versicherung, tritt das Moral-Hazard-Phänomen auf. Das bedeutet, dass der gut Versicherte sich<br />
riskant verhält <strong>und</strong> <strong>im</strong> Schadensfall von der Versicherung die max<strong>im</strong>alen Leistungen fordert. Dass<br />
dieses Bild bei weitem nicht der Realität entspricht kann man Ökonomen nicht vermitteln. Da sich ihr<br />
„Homo oeconomicus“ in anderen Bereichen wirtschaftlichen Handelns bewährt hat gehen sie davon<br />
aus, das auch <strong>im</strong> Ges<strong>und</strong>heitssektor keine Ausnahmesituation besteht. Dass der Kranke ein<br />
„Schadensmin<strong>im</strong>ierer“ ist wurde bisher in der Ges<strong>und</strong>heitsökonomik kaum thematisiert, wenngleich<br />
sich dadurch andere Verhaltenscharakteristika ergeben.<br />
Ethik<br />
Für Ökonomen ist Ethik kein relevantes Thema. Das trifft auch für Ges<strong>und</strong>heitsökonomen zu. So<br />
schreiben Breyer et al. (2003):<br />
„Moralische Rigoristen, seien Sie durch den christlichen Glauben, durch den Eid des<br />
Hippokrates oder durch die humanistische Weltanschauung inspiriert, erscheint es als<br />
frevelhaft, das Leben <strong>und</strong> die Unversehrtheit von Menschen gegen profane Dinge wie Geld<br />
oder durch den dadurch symbolisierten Konsum von Gütern abzuwiegen. Im extremsten Fall<br />
werden ökonomische Ansätze zu einer derartigen Bewertung mit Euthanasieprogrammen der<br />
Nationalsozialisten in einen logischen Zusammenhang gebracht“.<br />
Tatsächlich wird es in der Praxis zunehmend zu einem Dilemma, die Kranken aus der Therapie zu<br />
nehmen, wenn die entsprechend umfangreiche Kostenübernahmeerklärung nicht erhalten werden<br />
kann. Besonders drastisch geht es bereits seit einigen Jahren in den Krankenhäusern bei der<br />
Akutbehandlung Suchtkranker zu: nur wenige Tage <strong>im</strong> Krankenhaus genehmigt die Krankenkasse,<br />
wenngleich die suchtmedizinischen Standards der suffizienten Entzugsbehandlung bei Alkohol von ca.<br />
3 Wochen <strong>und</strong> bei Drogenabhängigkeit bei ca. 4 Wochen ausgeht. Die Gesellschaft bzw. die<br />
Bevölkerung kümmert sich um diesen schleichenden Prozess nicht. Suchtkranke haben noch <strong>im</strong>mer<br />
keine Lobby, Therapeuten auch nicht. Gekoppelt mit der Fehlvorstellung der Bevölkerung, dass Sucht<br />
ein Lebensstil ist, schwindet die Solidarität, da die Finanzierungssysteme der Ges<strong>und</strong>heitssicherung<br />
auf dem Prüfstand sind. Bei weiterer wirtschaftlicher Verschlechterung ist mit Schl<strong>im</strong>meren zu<br />
rechnen. Das Rechtssystem als alltagspraktische Instanz des Ethischen wäre noch der letzte<br />
Rettungsanker. Allerdings muss man das Geld haben, Sozialgerichtsprozesse, die sich über Jahre<br />
ziehen können, durchzustehen, um die medizinisch indizierte Behandlung finanziert zu bekommen.<br />
6
Es bleibt also bestehen, dass der Arzt oder Therapeut helfen soll <strong>und</strong> zwar u.U. bis zum Einsatz des<br />
eigenen Lebens (vgl. Dörner 2001). Dies lässt sich aus der ethischen Haltung <strong>im</strong> Sinne des Eides von<br />
Hippokrates ableiten. Darüber hinaus darf dem Patienten keinen Schaden zugefügt werden (Nihil<br />
nocere). Letzteres ist vor allem durch das Qualitätsmanagement (Fehlermanagement)<br />
institutionalisiert.<br />
Wissenschaftstheorie<br />
Die enorme Glaubwürdigkeit, den die Ges<strong>und</strong>heitsökonomik als Wirtschaftswissenschaft des<br />
Ges<strong>und</strong>heitswesens auf die Ges<strong>und</strong>heitspolitik <strong>und</strong> auf die Versicherungsunternehmen hat, muss kurz<br />
kritisch beleuchtet werden, denn die Wirtschaftwissenschaften gehen mit gewissen Vereinfachungen<br />
über ihren Gegenstand zu Werke, die <strong>im</strong> Bereich des Ges<strong>und</strong>heitswesens besonders bedenklich<br />
erscheinen:<br />
- Das Konzept des „Nutzenmax<strong>im</strong>ierers“ trifft be<strong>im</strong> Kranken nicht zu, denn er ist in weiten Bereichen<br />
ein „Schadensmin<strong>im</strong>ierer“. Dass dies nicht als Umkehrung der Nutzenmax<strong>im</strong>ierer zu sehen ist, wird<br />
bereits aus den emotionalen Anteilen der Verhaltenssteuerung des Kranken erkennbar <strong>–</strong> Hilfe suchen,<br />
koste was es wolle! Da auch die empirische Wirtschaftsforschung gezeigt hart, dass die<br />
Schadensbewertung anders verläuft als die Nutzenbewertung, ist hier eine Relativierung nötig<br />
(Kirchler 1999).<br />
- Das Marktprinzip ist nicht allseitig anwendbar. So haben Versicherungen eine zentrale Rolle <strong>im</strong><br />
Ges<strong>und</strong>heitssystem. Der Angebots-Nachfrage-Mechanismus ist <strong>zwischen</strong> Versicherung <strong>und</strong><br />
Versicherungsnehmer wegen der Gegenwartspräferenz des Nachfragers (lieber jetzt wenig zahlen,<br />
wer weiß ob ich jemals krank werde) nur begrenzt wirksam. Im Extremfall werden Versicherungen<br />
dann reduzierte <strong>und</strong> damit „billige“ Leistungen anbieten. Dies würde der Versicherungsnehmer<br />
annehmen <strong>und</strong> wäre dann <strong>im</strong> Schadensfall u. U. unterversichert. Auch gegenüber den Ärzten würden<br />
die Versicherungen nur Billigleistungen einkaufen, die Ärzte müssten vom technisch Machbaren<br />
Abstand nehmen. Die Durchsetzung des Marktprinzips <strong>im</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens würde die<br />
ökonomische Reduktion von Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Leben auf Marktpreise bedeuten <strong>und</strong> dem Wesen von<br />
Leben als individuelles Phänomen zuwiderlaufen.<br />
- Im Bereich der Theoriebildung besteht eine Überbetonung der Mathematik. Gerade die Mathematik<br />
macht die Wirtschaftswissenschaften besonders schwer zugänglich <strong>und</strong> erhebt sie zugleich zu einer<br />
Respekt verlangenden Naturwissenschaft des Sozialen, also zu einer Art „Sozialphysik“.<br />
- Es bestehen auch Mängel <strong>im</strong> Bereich der empirischen Daten. Das liegt teils daran, dass sich die<br />
Makroökonomik ähnlich wie die Astrophysik schwer tut, „exper<strong>im</strong>entell“ zu arbeiten. Es wird aber mit<br />
Zahlen hantiert, deren Indikatorqualität in Hinblick auf den abzubildenden Prozess oder Zustand mehr<br />
als fraglich ist, ohne darauf einzugehen (z.B. Kosten-Nutzen-Analysen mit äußerst fragwürdiger<br />
Monetarisierung des Ges<strong>und</strong>heitsnutzens des Menschen). Auch der Bezug zu einer <strong>–</strong> zwar nur<br />
rud<strong>im</strong>entär vorhandenen - empirischen Versorgungsforschung fehlt häufig.<br />
- Die empirische Wirtschaftsforschung kann zwar von historisch einmaligen Zuständen einer<br />
Volkswirtschaft lernen, aber dabei nur vorsichtig generalisieren, da hierbei das Induktionsproblem<br />
besteht.<br />
7
- Das Verhältnis der Ges<strong>und</strong>heitsökonomen zu ihrem Forschungsgegenstand scheint von Rationalität,<br />
Distanz <strong>und</strong> Neutralität geprägt zu sein. Dies entspricht aus wissenschaftstheoretischer Sicht dem<br />
Leitbild des Positivismus <strong>und</strong> naiven Empirismus. Die aktuellere wissenschafts- <strong>und</strong><br />
erkenntnistheoretische Strömung des Konstruktivismus hat die Ökonomik noch kaum erfasst. Dieses<br />
Prinzip aber, das davon ausgeht, dass auch Wissenschaft nur Konstrukte über die Realität verfasst,<br />
lässt den provisorischen Charakter der Ges<strong>und</strong>heitsökonomik erkennen.<br />
- Der reduktionistische Erklärungsanasatz von Ökonomen versucht atomares Verhalten am Markt<br />
heranzuziehen, um das Verhalten des Gesamtsystems zu erklären. Dieser Sprung von der<br />
Mikroebene zur Makroebene ist in der Physik, aber auch in der Biologie oder Soziologie ein Problem,<br />
weil auf der Makroebene andersartige Phänomene auftreten (Emergenz), die aus den Merkmalen der<br />
Mikroeben nicht ohne weiteres erklärt werden können. Umgekehrt: Wenn es beispielsweise hohe<br />
Ges<strong>und</strong>heitsausgaben gibt, dann muss es nicht durch ein best<strong>im</strong>mtes Marktverhalten der Elemente<br />
des Systems, also z.B. der Ärzte, verursacht sein.<br />
- Das noch geringe Niveau der wirtschaftswissenschaftlichen Theorie lässt sich an der geringen<br />
zeitliche Reichweite von Prognosen der Wirtschaftswissenschaften erkennen. Eine zutreffende<br />
Erklärung von Phänomenen muss eine valide Prognose erlauben.<br />
4. Konstrukte <strong>und</strong> Methoden der Ges<strong>und</strong>heitsökonomik<br />
Betrachtet man unter diesen gr<strong>und</strong>legenden Kritikpunkten die Ges<strong>und</strong>heitsökonomik als<br />
wissenschaftlichen Ansatz der Ges<strong>und</strong>heitssystemanalyse, dann ist zu betonen, dass bei<br />
ges<strong>und</strong>heitsökonomischen Studien gr<strong>und</strong>legend geklärt werden muss, aus welcher Perspektive die<br />
Untersuchung unternommen wird: aus der Sicht der Kostenträger, des Staates, der Hilfeeinrichtung<br />
oder des Patienten (vgl. Rychlik 1998, Lauterbach u. Schrappe, (2001). Weiters muss beachtet<br />
werden, dass das wichtigste Konstrukt, nämlich die Kosten, nach verschiedenen Aspekten<br />
differenziert werden muss:<br />
- Direkte Kosten sind alle Ressourcenverbräuche, die unmittelbar durch die Behandlung einer<br />
Krankheit verursacht werden bzw. dieser direkt zurechenbar sind (z. B. Diagnostik, Therapie,<br />
Begleitmedikation, Anschlussmedikation, Folgen der Non-Compliance, Neben- <strong>und</strong><br />
Wechselwirkungen, Therapiedauer, ärztliche Betreuung, Arztbesuche, stationäre Behandlungen,<br />
Operationen usw.). Auf diese Weise haben z. B. Veltrup u. Wetterling (1997) für die<br />
Alkoholikerbehandlung in Deutschland bei 100.000 Entzügen/Jahr ca. 300 Millionen Euro pro Jahr<br />
Therapiekosten ermittelt (ca. 3000 Euro pro Entzug) <strong>und</strong> für die Entwöhnungstherapie bei ca. 30.000<br />
Personen 300 Millionen Euro pro Jahr bei 10.000 Euro pro Behandlung errechnet (Summe: 600 Mio<br />
Euro / Jahr).<br />
- Indirekte Kosten sind <strong>im</strong> wesentlichen Produktionsausfälle wegen Krankheitstagen oder wegen<br />
vorzeitigen Tod. Es werden aber auch oft andere Ressourcenverbräuche, die mittelbar durch die<br />
Behandlung bzw. Erkrankung verursacht werden eingerechnet: z. B. Krankenhaustagegeld, Lohn-,<br />
Gehaltsfortzahlungen, Pflege, Invalidität, Wohnungsumbau, Transportkosten, Berentung, Sterbegeld.<br />
8
Die Ermittlung dieser Kosten ist besonders problematisch. Der so genannte „Humankapitalansatz“ zur<br />
monetären Bewertung menschlichen Lebens ist beispielsweise über die Bewertung der Erträge<br />
definiert, die der Mensch krankheitshalber nicht mehr erwirtschaftet. Die Formel lautet:<br />
Produktionsverlust = Arbeitsunfähigkeitstage x Bruttoeinkommen aus unselbständiger Arbeit / Zahl<br />
abhängiger Erwerbstätiger x 365<br />
- Intangible Kosten sind Wirkungen, die sich entweder nicht quantifizieren lassen oder für welche<br />
keine Bewertung über den Markt möglich ist, wie Schmerz, geistige Leistungsfähigkeit oder Angst,<br />
Depression, Unruhe, Apathie oder Isolation, Konflikte. Sie werden über die für die betroffene Person<br />
noch zu erwartenden qualtiätsadjustierten Lebensjahre (QALY) ermittelt.<br />
Da ökonomische Analysen Aufwands-Ertrags-Verhältnisse (Input-Output-Relationen) untersuchen<br />
sind die Effektvariablen oder der „Nutzen“ ebenfalls differenziert zu betrachten. Bei der<br />
Ges<strong>und</strong>heitsökonomie ist dies <strong>im</strong> einfachsten Fall die Lebenserwartung bzw. die qualitätsadjustierten<br />
Lebensjahre (QALY). Für die QALYs wird die Lebensqualität in eine Skala <strong>zwischen</strong> 1 = opt<strong>im</strong>ale<br />
Lebensqualität, 0 ist geringste denkbare Lebensqualität = Tod eingeordnet. Die quantitative Ermittlung<br />
erfolgt durch Multiplikation der qualitativen D<strong>im</strong>ension mit der noch zu verbleibenden Lebenszeit. Auch<br />
typische Parameter wie Rückfallraten oder Rückfalllatenz nach 6 Monaten nach Ende der Maßnahme,<br />
Rehospitalisation, Letalität usw. werden eruiert. Darüber hinaus können durch Skalen der<br />
Gesamtzustand bzw. der Besserungsverlauf der Kranken erhoben werden.<br />
Unter Nutzung der dargelegten Kosten-Kategorien <strong>und</strong> der Effektvariablen stehen für die<br />
ökonomische Analyse einer Krankheit <strong>und</strong> der Wirtschaftlichkeit einer therapeutischen Maßnahme<br />
oder einer Hilfeeinrichtung verschiedene Studien zur Verfügung:<br />
- Krankheitskosten-Analysen als Gr<strong>und</strong>form der Analysen mit der Ermittlung der direkten <strong>und</strong><br />
indirekten Kosten der Erkrankung.<br />
- Kosten-Kosten-Analysen. Dabei werden zwei (<strong>im</strong> Idealfall gleichwertige) Therapiemethoden nur auf<br />
Kostenebene miteinander verglichen.<br />
- Kosten-Effektivitäts-Analysen. Bei diesem Studientyp wird die Outcome-Variable wie z.B. die<br />
Abstinenzraten von Suchtkranken mit den monetären Aufwendungen in Beziehung gesetzt. Im<br />
Rahmen solcher Untersuchungen werden auch qualitätsbereinigte Indikatoren wie die<br />
qualitätsadjustierten Lebensjahre (QALY) verwendet. Das Kosteneffektivitätsverhältnis sind die Kosten<br />
pro erfolgreich behandelten Patienten oder pro verbesserten Messwert (z.B. 10 mm Hg<br />
Blutdrucksenkung bei Hypertoniebehandlung).<br />
Weitere Studientypen wie vor allem die Kosten-Nutzen-Analyse setzen voraus, dass die Effektvariable<br />
in Geldeinheiten umgerechnet wird. Dies bereitet erhebliche Probleme, weswegen diese Studien nicht<br />
sehr verbreitet sind.<br />
Die einfachen Ausgabenermittlung als Methode der Kostenermittlung wird ergänzt durch die<br />
eigentliche ökonomische Analyse, die zeitversetzte Ereignisse bezüglich ihrer ökonomischen Valenz<br />
9
miteinander vergleicht (intertemporale Opt<strong>im</strong>ierung): Beispielweise wird eine gegenwärtige<br />
kostenintensive Therapieperiode mit einer zweiten Periode nach der Therapie verglichen. Darüber<br />
hinaus vergleicht man auch diese Kosten mit Kosten, die <strong>im</strong> Falle einer Unterlassung der Therapie<br />
entstehen („Opportunitätskosten“): Gr<strong>und</strong>legend wird der „Gegenwartswert“ eines Geldbetrages höher<br />
als der gleiche Betrag in der Zukunft eingeschätzt. Daher gibt es auch be<strong>im</strong> Sparen die Verzinsung als<br />
„Anreiz“ bzw. „Belohnung“ für den gegenwärtigen Konsumverzicht: Wenn man ein Sparziel für die<br />
Zukunft definiert (= Kn), dann muss demgemäß der Gegenwartsbetrag (Ko) ermittelt werden. Diesen<br />
Rechenvorgang nennt man „Diskontierung“. Ein Beispiel: Wenn 10.000 DM in n = 10 Jahren (Kn)<br />
erspart werden sollen, erfordert dies bei jährlicher Verzinsung (p) von 5 % eine gegenwärtige Einlage<br />
von 6.139,13 DM (Ko). Die Formel lautet:<br />
Kn = Ko * (1 + p) n bzw. Ko = Kn / (1+ p) n<br />
Die Analyse von Therapieeffektivität muss also zunächst von einem „abnehmenden Effektzuwachs“<br />
bei Steigerung des therapeutischen Inputs <strong>und</strong> damit der „Produktionskosten“ ausgehen.<br />
Eine wichtige ökonomische Frage der Ressourcenopt<strong>im</strong>ierung ist heute, wie weit die Kostenreduktion<br />
bei Therapien durch Minderung der Therapiedauer gehen kann, ohne dass die Therapieeffekte<br />
„deutlich“ sinken. Dem kann sofort entgegengehalten werden, dass das <strong>Suchthilfe</strong>system bei<br />
konstanten Kosten bereits auf organisatorsicher Ebene effektiver gemacht werden kann, da vor allem<br />
aufgr<strong>und</strong> der Hintereinanderschaltung von Behandlungsfunktionen <strong>–</strong> Beratung, Entzug, Entwöhnung -<br />
eine beträchtliche Anzahl von red<strong>und</strong>anten Paralleluntersuchungen oder Wartezeiten des Patienten<br />
erfolgen. Hier hat allerdings die <strong>Suchthilfe</strong> einige Hausaufgaben der effizienteren Vernetzung vor sich.<br />
Dies ist vor allem <strong>im</strong> Sinne des „Versorgungstrichters“ nach Wienberg, demgemäß jährlich nur ein<br />
geringer Prozentsatz die suffiziente Therapiestufe erreicht, relevant (vgl. Driessen u. Wienberg 2002).<br />
Fazit<br />
Die neuen Anforderungen an Hilfesysteme <strong>im</strong> Ges<strong>und</strong>heitssystem sind neben den fachlichen<br />
Anforderungen einer evidenzbasierten Therapie zusätzlich <strong>und</strong> zwar in zunehmenden Masse in das<br />
<strong>Spannungsfeld</strong> <strong>zwischen</strong> Qualitätssicherung <strong>und</strong> Wirtschaftlichkeit eingeb<strong>und</strong>en. Dieser Druck wird<br />
durch die Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong> Rentensystemreform verschärft. Der aktuelle Konjunkturstillstand steht<br />
als Antriebsmoment dieser politischen Prozesse <strong>im</strong> Hintergr<strong>und</strong>. Den Akteuren <strong>im</strong> Ges<strong>und</strong>heitssystem<br />
<strong>und</strong> damit auch in der <strong>Suchthilfe</strong> bleibt daher nichts anderes übrig, sich den<br />
ges<strong>und</strong>heitsökonomischen Anforderungen zu stellen. Dabei fällt auf, dass die Ges<strong>und</strong>heitsökonomik<br />
als wissenschaftliche Disziplin mehr Eindruck auf die Ges<strong>und</strong>heitspolitik ausübt als rational vertretbar<br />
ist. Das zeigt vor allem eine entsprechende wissenschaftsphilosophische Betrachtung. Diese Defizite<br />
sind in Zukunft stärker zu betonen <strong>und</strong> zu beachten.<br />
Unabhängig davon muss die <strong>Suchthilfe</strong> danach trachten, eigene Ökonomisierungspotentiale, vor<br />
allem in Hinsicht ineffizienter Organisationsprozesse zu untersuchen <strong>und</strong> zu verbessern. Das bedeutet<br />
in erster Linie wegen der suchtspezifischen Multistadien-Therapie, dass der Datenmangel bezüglich<br />
der Behandlungsverläufe behoben wird <strong>und</strong> eine Intensivierung der Versorgungsforschung erfolgen<br />
10
muss. Nur eine f<strong>und</strong>ierte Versorgungssystemanalyse ist gegenüber einer rein<br />
ges<strong>und</strong>heitsökonomischen Betrachtung einzelner Komponenten des Hilfesystems bestandsfähig.<br />
11
Literatur:<br />
Braun, N., Nydegger,-Lory, B.R., Zahner, C. (2001): Illegale Märkte für Heroin <strong>und</strong> Kokain. Haupt,<br />
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Breyer, F., Kifmann, A., Zweifel, P. (2003): Ges<strong>und</strong>heitsökonomie. Springer, Berlin<br />
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Wienberg, G., Driessen, M. (Hrsg.): Auf dem Weg zur vergessenen Mehrheit. Innovative Konzepte für<br />
die Versorgung von Menschen mit Alkoholproblemen. Psychiatrie-Verlag, Bonn<br />
Adresse:<br />
PD Dr.rer.pol.Dr.med.Dr.phil. Felix Tretter, Leitd. Arzt, Suchtabteilung, Bezirkskrankenhaus 85529<br />
Haar (tretter@krankenahus-haar.de)<br />
12
<strong>Suchthilfe</strong> <strong>und</strong> <strong>Ökonomie</strong> <strong>–</strong> Bemerkungen zu ethischen Aspekten der Qualitätsdiskussion.<br />
Gerhard Eckstein<br />
1. Ökonomische Krise <strong>und</strong> die Ökonomisierung des Ges<strong>und</strong>heitswesen<br />
In einem Papier der Bayerischen Akademie für Suchtfragen in Forschung <strong>und</strong> Praxis (BAS e.V., 2002)<br />
werden die derzeitigen Tendenzen <strong>und</strong> Entwicklungen in Zusammenhang mit der ökonomischen<br />
Krise, soweit dies jetzt schon erkennbar ist, auch auf die <strong>Suchthilfe</strong> bezogen.<br />
Dabei wird festgestellt, dass die Funktion <strong>und</strong> die Struktur des Ges<strong>und</strong>heitswesen derzeit einer<br />
Überprüfung unterzogen wird. Die wirtschaftlichen Probleme führen zu ges<strong>und</strong>heitsrechtlichen<br />
Maßnahmen <strong>und</strong> zu verdeckten (aber auch offenen) Rationierungen.<br />
Es lassen sich verschiedene Ziele erkennen:<br />
- Deregulierung des Systems in Richtung anglo-amerikanische Marktwirtschaft<br />
- Reduktion staatlicher Intervention.<br />
Dabei ist ein nötiges Zusammenspiel <strong>zwischen</strong> Leistungserbringern, Leistungserstattern, Patienten,<br />
Bevölkerung, Finanzierungssystemen, Politik <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitsgesetzgebung nicht erkennbar.<br />
Es herrscht das Prinzip Aktionismus <strong>und</strong> „einfache Rezepte“, anstatt dass systemisches Denken <strong>und</strong><br />
Handeln praktiziert wird. Für die Leistungserbringer stehen die Forderungen nach Qualitätssicherung<br />
<strong>im</strong> Vordergr<strong>und</strong>. Sollte in der Folgezeit auch die Finanzierungsstruktur der <strong>Suchthilfe</strong> überprüft werden<br />
<strong>–</strong> <strong>und</strong> dies ist eher wahrscheinlich -, wird man feststellen, dass dort die Systeme der Finanzierung<br />
erheblich komplizierter <strong>und</strong> latent unwirtschaftlich sind.<br />
Eine entscheidende Frage wird dabei eine <strong>im</strong>mer größere Rolle spielen:<br />
„Wie werden die Ziele solidarisch eingezahlter Mittel <strong>im</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesen“ (Lauterbach) definiert <strong>und</strong><br />
erreicht?<br />
Hier werden verschiedene Ziele formuliert, die miteinander verb<strong>und</strong>en sein können, die sich aber auch<br />
zum Teil gegenseitig ausschließen:<br />
- „Max<strong>im</strong>ierung der durchschnittlichen Lebenserwartung der Bevölkerung (max. LE)<br />
- Max<strong>im</strong>ierung der durchschnittlichen Lebensqualität der Bevölkerung (max LQ)<br />
- Max<strong>im</strong>ierung der Lebenserwartung der sozialen Schichten mit der kürzesten<br />
Lebenserwartung (max.min.LE)<br />
14
- Angleichung der Lebenserwartung unterschiedlicher sozialer Schichten (flat LE)<br />
- Beseitigung von Zuständen mit besonders schlechter Lebensqualität (max.min.LQ)<br />
- Beseitigung von Krankheiten mit dem Risiko eines Todes in frühen Lebensphasen<br />
(max.min.LE)<br />
- Ungesteuerte effektive Bedienung der Nachfrage nach medizinischen Leistungen<br />
max.CS).“<br />
(Lauterbach, 2001).<br />
Hier schließen sich in der aktuellen politischen Diskussion („keine Hüftgelenke mehr für Alte“., Für<br />
über 75-jährge nur noch Schmerztherapie, keine lebensrettenden Maßnahmen mehr“, „Sucht ist eine<br />
Lebensstil“….) schon jetzt die Fragen an, ob die solidarisch eingezahlten Mittel ausschließlich oder<br />
überwiegend jenen Patienten zukommen, die hinsichtlich Lebensqualität <strong>und</strong> Lebensjahren am<br />
meisten davon profitieren, dabei werden St<strong>im</strong>men lauter, die einen Abschied von der solidarisch<br />
finanzierten Absicherung des Ges<strong>und</strong>heitsrisikos fordern <strong>und</strong> die Finanzierung des Risikos<br />
überwiegend auf der Basis privater Vorsorge fordern.<br />
Übertragt man diese Zielsetzungen weiterhin auf die Suchtkrankenhilfe, so sind schnell Prioritäten in<br />
den verschiedenen Feldern der Suchtkrankenhilfe erkennbar (Ambulante, offene Hilfen: flat.LE,<br />
max.min.LQ, max.min.LE) es wird aber auch deutlich, dass hier eine Randgruppe „bedient“ wird <strong>und</strong><br />
die Suchtkrankenhilfe wird in der Diskussion Schwierigkeiten haben, <strong>im</strong> Gesamtzusammenhang der<br />
ökonomischen <strong>und</strong> ges<strong>und</strong>heitspolitischen Debatte diese Ziele <strong>und</strong> die Finanzierung der Erreichung<br />
dieser Ziele in den Vordergr<strong>und</strong> zu rücken.<br />
Die Analyse der Bedarfe <strong>und</strong> der Schwerpunkte in der Suchtkrankenhilfe müssen in Zukunft sich auch<br />
messen lassen, inwieweit es Bereiche von<br />
gibt.<br />
- Unterversorgung (eine Leistung, deren Netto-Nutzen <strong>und</strong> Kosten-Effektivität nachgewiesen<br />
wird, wird nicht durchgeführt<br />
- Überversorgung (eine Leistung, deren Netto-Nutzen nicht nachgewiesen ist oder die nicht<br />
kosteneffektiv ist, wird durchgeführt)<br />
- Fehlversorgung (eine Leistung mit negativem Netto-Nutzen wird durchgeführt)<br />
Die erwähnte Rationierung hat unterschiedliche Qualitäten, von der grenzenlosen Verteilung der<br />
Ressourcen bis hin zu „verdeckten“ Rationierungen (die billigere Methode wird angewandt, ohne den<br />
Patienten zu informieren). Da die Mittel nicht unermesslich zur Verfügung stehen, ist es nicht zu<br />
verhindern, dass es zu Rationierungen kommt, es geht nun darum, den Grad, Umfang <strong>und</strong> die Ziele<br />
der Rationierung <strong>im</strong> Hinblick auf ihre Ethik zu überprüfen.<br />
Dabei wird es <strong>im</strong>mer zu einem Konflikt kommen <strong>zwischen</strong> den Erwartungen/Forderungen des<br />
Einzelnen einerseits <strong>und</strong> den verfügbaren gesellschaftlichen Ressourcen <strong>und</strong> Bewertungen<br />
andererseits.<br />
15
2. Kann therapeutisches Handeln ein Gegenstand von Ethik, Qualitätsmanagement <strong>und</strong><br />
Ges<strong>und</strong>heitsökonomie sein?<br />
Mit dieser Frage setzt sich Christiane Woopen in „Ges<strong>und</strong>heitsökonomie, Qualitätsmanagement <strong>und</strong><br />
Evidenz-based Medicine“ (Lauterbach/Schrappe, 2001) auseinander.<br />
Sie verbindet dabei diese Disziplinen entgegen häufig stattfindenden Gegenüberstellungen, wobei die<br />
Disziplinen, je nach Standort, Wertung <strong>und</strong> Perspektive sich nicht selten ausschließen oder aber sich<br />
gegenseitig durch ihre „Philosophen“ <strong>und</strong> Repräsentanten abwerten. Es gilt also, so Woopen, das<br />
Therapeutische Handelns an der Schnittstelle <strong>zwischen</strong><br />
- der Differenz <strong>zwischen</strong> „qualitativ gut <strong>und</strong> qualitativ schlecht“ (Qualitätsmanagement),<br />
- der Differenz von effizient <strong>und</strong> ineffizient (Ges<strong>und</strong>heitsökonomie) <strong>und</strong><br />
- der Differenz von verantwortbar <strong>und</strong> nicht verantwortbar (Ethik)<br />
anzusiedeln <strong>und</strong> zu versuchen, dass „Therapeutisches Handeln“ ein Verknüpfung der drei Disziplinen<br />
zu verstehen <strong>und</strong> zu praktizieren.<br />
Dies führt zwangsläufig zu Konflikten. Die beste Qualität, mit der höchstmöglichen Effizienz verb<strong>und</strong>en<br />
mit dem höchsten Grad an Verantwortung <strong>–</strong> ein Konflikt, der <strong>im</strong> Regelfall nur gelöst werden kann<br />
durch Reduzierung des Anspruchs in einer oder mehrerer der erwähnten Disziplinen.<br />
Die Literatur der Ges<strong>und</strong>heitsökonomie (Lauterbach, Woopen, 2001) greift in dem Zusammenhang<br />
auf verschiedene ethische Theorien zurück:<br />
- Utilitarismus<br />
- Deontologie (abgeleitet von Kant)<br />
- Tugendethik<br />
Die Prioritäten der Beurteilung medizinischen <strong>und</strong> therapeutischen Handelns in diesen<br />
unterschiedlichen Theorien liegen in den<br />
- jeweils unterschiedlichen Aspekten des Handelns/des Prozesses<br />
- <strong>und</strong> in den Haltungen der Akteure.<br />
16
Diese Aspekte des Prozesses einerseits <strong>und</strong> die handelnden Personen andererseits spiegeln sich in<br />
der Formel wieder:<br />
Eine Person handelt in einer best<strong>im</strong>mten Absicht.<br />
Diese Handlung hat ein best<strong>im</strong>mtes Ziel, das mit best<strong>im</strong>mten Folgen verb<strong>und</strong>en ist.<br />
Die Handlung selbst wird durch gesellschaftliche Umstände beeinflusst.<br />
Abhängig von den jeweilig geltenden Theorien liegen die Schwerpunkte <strong>und</strong> Prioritäten auf<br />
unterschiedlichen Aspekten, so kommt es zu unterschiedlich strukturierten Prozessen <strong>und</strong><br />
Ergebnissen.<br />
In dieser Formel finden sich die wesentlichen Elemente des QM wieder: Strukturqualität,<br />
Ergebnisqualität <strong>und</strong> Prozessqualität.<br />
Unabhängig von den gewählten Prioritäten <strong>im</strong> Handeln (bezogen auf die unterschiedlichen Theorien)<br />
spielen alle Faktoren eine mehr oder weniger große Rolle.<br />
Im Zuge der sich ausbreitenden Berichterstattung über Ergebnisse heißt dies, dass diese Ergebnisse<br />
„logischerweise“ auch <strong>im</strong> Hinblick auf ethisches Wissen <strong>und</strong> Handelns überprüft werden müssen bzw.<br />
noch vorher, dass diese Ergebnisse auch erreicht <strong>und</strong> mitgeprägt werden durch ethische Aspekte<br />
(Ausbildung <strong>und</strong> Haltung der Akteure, Ziele/Absichten, Bedeutung der Aufklärung <strong>und</strong> der Patienten-<br />
Mit-Entscheidung, Berücksichtigung/Wertung der Folgen, Berücksichtigung/Wertung der<br />
gesellschaftlichen Umstände).<br />
In der „reinen“ (meist statistischen) Berichterstattung finden sich wenig bis keine Hinweise auf diese<br />
Hintergründe. Zu finden wären diese in Konzepten <strong>und</strong> Leitbildern von Handelnden <strong>und</strong> Einrichtungen.<br />
Für die Phase der Verunsicherung, die durch permanenten Veränderungsprozesse,<br />
Umstrukturierungen, neue Gesetze <strong>und</strong> Kooperationen entstehen, können Leitbilder Sicherheit<br />
vermitteln.<br />
In der Praxis ist die Debatte über Leitlinien, über die Bedeutung <strong>und</strong> Notwendigkeit, teilweise<br />
inflationär. Man kann den Eindruck gewinnen, dass das Prinzip „nice-to-have“ ( Schubert, 2001)<br />
herrscht.<br />
Sollte aber die Erarbeitung von Leitbildern verbindlich <strong>und</strong> ernsthaft betrieben werden, so sollten<br />
- Standards be<strong>im</strong> Entwicklungsprozess berücksichtigt werden<br />
- die Überschneidungen du die Abgrenzungen zu anderen Begriffen wie Mission, Vision,<br />
Gr<strong>und</strong>sätze <strong>und</strong> Philosophie benannt werden<br />
17
- diese „auffindbar“ <strong>und</strong> überprüfbar sein in allen Konzepten, Entwicklungen <strong>und</strong><br />
Entscheidungen.<br />
Leitbilder können „Dezentrales zentrieren“.<br />
Wie stark auch „moralische Annahmen“ Qualität <strong>und</strong> Zielsetzung von Handlung best<strong>im</strong>mt, zeigen die<br />
von der „joint commission on Accreditation of Healthcare Organizations“ (1990) formulierten Qualitäts-<br />
(Ziel-)kriterien medizinischen Handelns:<br />
- „generelle Wirksamkeit der Maßnahme<br />
- Angemessenheit für den konkreten Patienten<br />
- Zugangsmöglichkeit des Patienten für diese Maßnahme<br />
- Akzeptanz einer richtigen <strong>und</strong> zugänglichen Maßnahme durch den Patienten<br />
- Wirksame Ausführung der Maßnahme<br />
- Effizienz<br />
- Kontinuität der Ges<strong>und</strong>heitsversorgung“<br />
(The joint commisssion, 1990, zitiert nach: Woopen, 2001).<br />
„Woran orientiert sich nun der medizinisch Handelnde? Idealerweise reflektiert er über das<br />
Menschenbild <strong>und</strong> die moralischen Annahmen, die seinem Handeln zugr<strong>und</strong>e liegen <strong>und</strong> in seine<br />
Handlungsabsichten einfließen. Er wählt das Handlungsziel <strong>–</strong> gemeinsam mit dem Patienten <strong>–</strong> nach<br />
medizinischen Kriterien <strong>und</strong> unter Berücksichtigung denkbarer Folgen, steuert den Handlungsprozess<br />
nach einem Set medizinische <strong>und</strong> ökonomischer Kriterien <strong>und</strong> weiß die jeweiligen<br />
Handlungsumstände angemessen zu berücksichtigen“.<br />
3. Evidence-based Medicine <strong>–</strong> auch eine Perspektive für die Suchtkrankenhilfe?<br />
Es ist <strong>im</strong> Zuge der Vereinheitlichung <strong>und</strong> der Erhöhung der Effektivität der Behandlung eher<br />
wahrscheinlich, dass auch die <strong>Suchthilfe</strong> <strong>und</strong> ihre Arbeitbereiche sich bei der Nutzung <strong>und</strong><br />
Anwendung von Behandlungs- <strong>und</strong> Beratungsmethoden mehr <strong>und</strong> mehr das Kriterium gelten wird,<br />
inwieweit die angewandten Methoden „evidenz-basiert“ sind.<br />
Die Menge der angewandten Verfahren wird unüberschaubar, am Markt preist jeder Fortbilder,<br />
Anwender, Theoretiker <strong>und</strong> Praktiker das jeweils Seinige als das All-Heilende an <strong>–</strong> oder alles ist<br />
allüberall bei allen beliebig wirksam.<br />
Insofern kommt dem System der Evidence-based Medicine eine „sortierende“, aber auch eine<br />
wertende Bedeutung zu.<br />
Was hat sich denn wo bei wem <strong>und</strong> wie als Methode <strong>und</strong> Behandlungsinstrument bewährt?<br />
18
Um dieses fest zu stellen, sitzt der engagierte Praktiker vor einer Masse von Publikationen, die sich in<br />
ihren Ergebnissen <strong>und</strong> Bewertungen nicht selten widersprechen, vorausgesetzt, er hat zu diesen<br />
Publikationen Zugang <strong>und</strong> kann sich in dem Dschungel orientieren.<br />
In neuerer Zeit haben sich verschiedene Verfahren etabliert,<br />
- die Übersicht („reviews“) verschaffen sollen,<br />
- die bezüglich der Wirksamkeit Konsens durch Expertenkonferenzen verschaffen sollen,<br />
- die in Form von Meta-Analysen „Einzelstudien korrekt <strong>und</strong> methodisch nachprüfbar“<br />
(Schrappe/Lauterbach, 2001) zusammen fügt, um dann die Ergebnisse auf die klinische<br />
Praxis zu übertragen.<br />
Ziel ist es, für die klinische Praxis das Verfahren zu kennen <strong>und</strong> die Methode zur Verfügung zu haben,<br />
die das „beste….wissenschaftliche Wissen auf die Therapie des individuellen Patienten“ darstellt<br />
(Schrappe/Lauterbach, 2001) anwenden zu können, für das ein wissenschaftlicher Nachweis der<br />
Wirksamkeit bereits geführt wurde.<br />
Unterstellt wird bei den in Frage kommenden Studien, die auf diese Anforderung antworten, dass<br />
diese den entsprechenden wissenschaftlichen Kriterien entspricht.<br />
Zu erwarten ist also, dass auch die <strong>Suchthilfe</strong> <strong>und</strong> die in ihr tätigen Praktiker den Nachweis über die<br />
Wirksamkeit der von ihr angewandten Verfahren <strong>und</strong> Methoden nachweisen müssen.<br />
4. Qualität <strong>und</strong> Markt <strong>–</strong> Bemerkungen aus sozialethischer Sicht<br />
In einem bemerkenswerten Beitrag hat Bischof Hengsbach bereits <strong>im</strong> Jahre 2001 (Jahrestagung<br />
B<strong>und</strong>esverband stationäre Suchtkrankenhilfe, buss, Kassel) den Alibicharakter der damals schon<br />
aktuellen Qualitätsdiskussion aufgegriffen <strong>und</strong> die scheinbare Marktorientierung in Zweifel gezogen.<br />
Für ihn bedeutet die Qualitätsdiskussion<br />
- entweder ein Alibi<br />
- <strong>und</strong>/oder einen Weg in die Sackgasse<br />
- <strong>und</strong>/oder eine Chance für Sanierung.<br />
Für ihn ist klar, dass die Qualitätsdiskussion letztendlich zur Kosteneinsparung führen soll, <strong>und</strong> zwar<br />
sollen die belastet werden, „die keine Unternehmer sind“.<br />
Die Übertragung des Begriffes „Markt“ auf den sozialen Bereich verschleiert, dass die Märkte, an<br />
denen man sich dabei orientiert, keine Märkte sind, sondern Machtkämpfe, wobei <strong>im</strong> Prinzip klar ist,<br />
wer die Macht hat <strong>und</strong> wer entscheidet.<br />
Ebenso irritierend ist die Übertragung des Konstrukts des „selbstverantwortlichen K<strong>und</strong>en“ auf die<br />
Nutzer der Angebote in der <strong>Suchthilfe</strong>, wenn schon der „K<strong>und</strong>e“ in der Marktgesellschaft eher ein nicht<br />
besonders vernünftiges Verhalten zeigt.<br />
19
Zudem widerspricht die Trennung von Prozess <strong>und</strong> Ergebnis, wie sie die Qualitätsdiskussion mit sich<br />
bringt, wichtigen Prinzipien dessen, was <strong>im</strong> Kontext sozialer, therapeutischer <strong>und</strong> medizinsicher<br />
Arbeit „Wertschöpfung“ ist: „Der Prozess/der Weg ist das Ziel“.<br />
Dennoch hat auch für Hengsbach die Qualitätsdiskussion eine Chance, <strong>und</strong> die liegt darin, dass die<br />
Prinzipien sozialer/personaler Dienste beschrieben werden als<br />
- Prozess des permanenten Miteinander<br />
- eine Begegnung <strong>zwischen</strong> Individuen, die sich gegenüber stehen<br />
- Beziehungsarbeit, in der Veränderung von Lebensentwürfen auf der Basis des Respekts vor<br />
der Lebenswelt des anderen in einem von Sprache <strong>und</strong> Atmosphäre best<strong>im</strong>mten Raum<br />
stattfindet.<br />
Literatur:<br />
Lauterbach/Schrappe, (2001), Ges<strong>und</strong>heitsökonomie, Qualitätsmanagement <strong>und</strong> evidenc-based<br />
Medicine, Köln<br />
Hengsbach, (2001), Qualität <strong>und</strong> Ethik, Kassel<br />
Schrappe, Lauterbach, (2001), Medizinische Entscheidungsprozesse <strong>und</strong> Evidence-based Medicine,<br />
in: Lauterbach/Schrappe<br />
Woopen, (2001), Medizinisches Handeln als Gegenstand von Ethik, Qualitätsmanagement <strong>und</strong><br />
Ges<strong>und</strong>heitsökonomie<br />
Tretter, Erbas, (2002), in: Bayerische Akademie für Suchtfragen in Forschung <strong>und</strong> Praxis, BAS e.V:,<br />
darin: <strong>Ökonomie</strong> der Psychoaktiven Substanzen, der Sucht <strong>und</strong> der Suchttherapie, München<br />
Dipl. Psych. Gerhard Eckstein<br />
Grafing bei München, (G.Eckstein@t-online.de)<br />
20