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Dokument 1.pdf - Universität Siegen

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72 Frank Müller<br />

durch umfassend angewandte Wissenschaft, die Vision eines Totalwissens. Es gehört zum<br />

eigenen Witz von Horstmanns Roman, dass die Befähigung zu einer Art Alltagsteleologie<br />

ausgerechnet der ‚außerirdischen‘ Bérénice zugeschrieben wird. Dass die Welt determiniert<br />

ist, sagt noch wenig über ihre Beherrschbarkeit. Für Patzer liegen die Wirkzusammenhänge<br />

im Dunkeln. Er hat, nicht unähnlich dem Josef K. in Kafkas berühmtem Prozess, permanent<br />

mit seiner Desinformation zu ringen, die er auf eigene Kosten, d. h. durch laufende Interpretationsanstrengungen<br />

integrieren muss. In Patzers perspektivischer Wirklichkeit, an diesem<br />

„Tag der Vernunftaussetzer und der schwarzen Löcher“ 47 , bleibt alle Wahrnehmung schemenhaft,<br />

erscheint „oben und unten durchgängig vertauscht“ 48 :<br />

„Der Strudel böser Ahnungen wirbelte mich herum. Eben drehten sich die Gedanken<br />

noch an der Bewusstseinsoberfläche im Kreis. Im nächsten Moment aber riss es sie auch<br />

schon hinab in die Unterwelt. Wasser schoss durch glattgeschmirgelte Schollen, gurgelte<br />

in Felsenkammern, zerschnitt sich über messerscharfen Graten, stürzte im Boden ins Bodenlose,<br />

zerschmetterte und zerstob.“ 49<br />

Patzer hat seinen Mangel an Wissen erkannt und bewegt sich damit von vorneherein auf dem<br />

Terrain Angewandten Nichtwissens. Er weiß, dass er infolge der Unwägbarkeiten des Geschehens<br />

und seines Informationsdefizits unablässig Bedeutung generiert, ohne dass er der<br />

Wahrheit damit auch nur ein Stück näher käme. Patzers dergestalt reflektierte Vergeblichkeit<br />

seiner Wirklichkeitsdeutung implizieren aber auch, dass er sich jeglicher Handlungsmöglichkeiten<br />

beraubt sieht und den ihm gegenüber geäußerten Verdacht insbesondere im letzten Teil<br />

des Romans nur noch scherzhaft und ironisch begegnen kann. Angewandtes Nichtwissen bedeutet<br />

in diesem Fall: Verzicht auf weitere Erkenntnis, Handlungsabstinenz und (Selbst-<br />

)Ironisierung infolge zwar determinierter, für den Einzelnen aber nicht durchschaubarer Zusammenhänge.<br />

Zuletzt scheint es, als sei Patzers implizites Konzept Angewandten Nichtwissens aufgegangen:<br />

Mit Hilfe Bérénices und des Randalierers Steinchen, der ebenfalls über die außergewöhnliche<br />

Befähigung zur Zukunftsdeutung verfügt, gelingt die Flucht aus der MOBIQUA.<br />

Die Perspektivfigur hat den Widerfahrnischarakter durchschaut, den ein geschlossenes ‚Billard‘-Universum<br />

bedeutet. Der Einzelne weiß zwar, dass alles mit allem zusammen hängt, er<br />

weiß nur nicht in welcher Weise. Unter diesen Bedingungen erscheint der Rückzug auf den<br />

treffen. Ferner tragen „gezügeltes Engagement“ (emotionale Selbstkontrolle) sowie ein „lakonischer Fatalismus“<br />

(mit den Wirkungen und Fernwirkungen des eigenen Handelns leben lernen) zur Zielverfolgung bei –<br />

beim Flipperspiel wie auch im wirklichen Leben. Vgl. Uwe Schimank. Flipperspielen und Lebenskunst. In:<br />

Herbert Willems/Alois Hahn (Hrsg.). Identität und Moderne. Frankfurt am Main 1999, S. 250-272.<br />

47<br />

Ulrich Horstmann. Patzer. Roman. Zürich 1990, S. 50.<br />

48<br />

Ebd., S. 199.<br />

49<br />

Ebd., S. 19.

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