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Dokument 1.pdf - Universität Siegen

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70 Frank Müller<br />

Realität, seine literarische Entfiktionalisierung, es liefert mit der Vergewaltigung von Kohlers<br />

Tochter Hélène durch Dr. Benno, Prof. Winter und Daphne das wahre Motiv Kohlers nach. 36<br />

Erst jetzt offenbart sich das Ausmaß und die tödliche Präzision der vom Kantonsrat in Gang<br />

gesetzten Kausalketten. Dessen rigide Vergeltungsmoral trifft nacheinander alle Schuldigen<br />

wie die weiße Billardkugel auf dem Tisch verschiedene andere Kugeln anstößt und versenkt:<br />

„Sie (Hélène) wolle die Rache haben, schön sie solle die Rache bekommen. Seine Sache.<br />

Dann habe er vier Kugeln auf den Billardtisch gesetzt und zugestoßen, nur einmal, zuerst<br />

eine Kugel an die Bande, von dort sei sie zurückgekommen und habe eine Kugel in die<br />

‚Tasche‘ gestoßen, Winter, habe ihr Vater gesagt, als die nächste Kugel in einer Tasche<br />

verschwunden sei, Benno, Dann Daphne, und als er Steiermann gesagt habe, sei der Tisch<br />

leer gewesen. Und sie? habe sie gefragt. Sie sei das Queue, habe er geantwortet. Er werde<br />

sie nur einmal brauchen. Was mit ihnen geschehe, habe sie gefragt. ‚Sie werden sterben‘,<br />

habe er geantwortet. In der Reihenfolge, wie er es angekündigt habe.“ 37<br />

Rechtsanwalt Spät scheitert nicht nur, weil er in die Falle der Justiz gerät und das herrschende<br />

Recht mit Gerechtigkeit verwechselt, sondern auch, weil er sein Handeln nicht auf seine Unwissenheit<br />

38 abzustimmen vermag. Denn der Determinismus, als dessen Drahtzieher sich<br />

Kohler erweist, ist ihm nur als Modell, nicht in Bezug auf seinen spezifischen Inhalt, d. h. auf<br />

die Geschehensfolgen bekannt. Vernünftiger wäre eine Haltung gewesen, die die Position<br />

Angewandten Nichtwissens einnimmt, und zwar genau an dem Punkt, an dem die Bemühungen<br />

um die inhaltliche Füllung des deterministischen Systems nicht weiter voran schreiten.<br />

Angewandtes Nichtwissen, das ernüchternde Eingeständnis, dass die berechenbare Welt für<br />

den Einzelnen unberechenbar bleibt, wäre also zunächst ex negativo zu bestimmen als eine<br />

Form der Gelassenheit gegenüber deterministischen Undurchsichtigkeiten.<br />

Das zweite Beispiel für einen Billardroman stammt aus der Feder des Kleist-Preisträgers und<br />

Untier-Autors 39 Ulrich Horstmann. Der Roman Patzer (1995) erzählt die jokos verwilderte<br />

Geschichte des Ideenakquisiteurs Malte Laurenz Patzer. Patzer, von der Polizei zunächst als<br />

Mörder seiner Freundin Bérénice festgenommen, wird verdächtigt, mit einem menschheitsbedrohenden<br />

Virus infiziert zu sein. Mehr noch: der Mann, so wird gemutmaßt, sei ein Außerirdischer,<br />

vor dem man allenfalls sicher sei, wenn man ihn in einer „mobilen Quarantänestation“<br />

(MOBIQUA) von der Außenwelt isoliert.<br />

36<br />

Vgl. ebd., S. 220f.<br />

37<br />

Ebd., S. 222.<br />

38<br />

Vgl. die Frageketten in ebd., S. 129.<br />

39<br />

Vgl. Ulrich Horstmann. Das Untier. Konturen einer Philosophie der Menschenflucht. Frankfurt am Main<br />

1998.

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