Dokument 1.pdf - Universität Siegen
Dokument 1.pdf - Universität Siegen
Dokument 1.pdf - Universität Siegen
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
68 Frank Müller<br />
wickelt, sondern dass die Bedeutung der beobachteten Effekte bewusst offen gehalten wird.<br />
Auf diese Weise kultivieren sie ein Behagen am Unbehagen.<br />
Im Unterschied zu Laplace will man sich die Wirklichkeit nicht gründlich, sondern unergründlich<br />
determiniert vorstellen. So kehrt das Nichtwissen zuletzt als verborgene Kehrseite<br />
der wissenschaftlichen Sichtweise wieder: als animistischer Glaube an die Ganzheit und Beseeltheit<br />
der Welt. Gerade das Unbestimmte scheint besonders zur Unterstreichung der eigenen<br />
Empathie und Sensibilität geeignet. Auf seinen besonderen Draht zum Übernatürlichen –<br />
oder ist es nur die sprichwörtliche lange Leitung? – darf man sich getrost etwas zugute halten.<br />
Alles dies führt jedoch leider weder dazu, weitere Deutungsanstrengungen zu unternehmen,<br />
noch das Nichtwissen in seiner konstitutiven Bedeutung anzuerkennen.<br />
4. Literarisches Billard<br />
Beispiele für die deterministische Herausforderung an Angewandtes Nichtwissen finden sich<br />
keineswegs nur in der Philosophie oder in den Wissenschaften, sondern auch in der schönen<br />
Literatur. In Friedrich Dürrenmatts Roman Justiz und Ulrich Horstmanns Patzer steht das<br />
Motiv des Billardspiels, in dem die Kugeln (idealerweise) in den vorausberechneten Bahnen<br />
verlaufen und andere Kugeln (ebenso berechenbar) anstoßen, sinnbildlich für einen lebensweltlichen<br />
bzw. sozialen Determinismus. Aber schafft eine berechenbare Welt für den Einzelnen<br />
wirkliche Gewissheiten? Falls nein, wie organisiert er sein Handeln trotzdem halbwegs<br />
rational?<br />
Dürrenmatts 1985 erschienener Roman erzählt die Geschichte eines Mordes, der anscheinend<br />
ohne jedes Motiv verübt wurde: In einem Restaurant erschießt der hochangesehene Kantonsrat<br />
Dr. h.c. Kohler im Beisein eines ehemaligen Olympiasiegers im Pistolenschießen, Dr.<br />
Benno, den Literaturwissenschaftler Prof. Adolf Winter. Jahre zuvor findet der fiktive Erzähler<br />
der Geschichte, Rechtsanwalt Felix Spät, die drei Männer im selben Lokal in ein Billardspiel<br />
vertieft, zu dem es seitens Kohlers zunächst kryptisch heißt: „A la bande. So muss man<br />
den Benno schlagen.“ 30 In Kohlers Bewusstsein firmiert das Billardspiel als „Modell der<br />
Wirklichkeit“. 31 Wie die Kugeln dort auf indirektem Weg ins Ziel gelangen, so lassen sich<br />
offenbar auch die Geschicke der Menschen vermittelt über Schaltstellen und Relaisstationen<br />
lenken.<br />
30<br />
Friedrich Dürrenmatt. Justiz. Roman. Zürich 1998, S. 19; vgl. auch S. 55, 174.<br />
31<br />
Ebd., S. 82.