Dokument 1.pdf - Universität Siegen
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62 Frank Müller<br />
Möglichkeit von Beobachtungsfehlern. 16 Die vier zuletzt genannten Einschränkungen treffen<br />
freilich auf alle Bereiche der Wahrscheinlichkeitsrechung zu.<br />
Wie sehr sich Laplace bei aller ‚dämonischen‘ Gewissheit bezüglich des Zustandes und Laufes<br />
der Welt doch der Unwägbarkeiten seiner Rechenkünste bewusst war, beweist auch das<br />
sehr ausführliche Kapitel über die Ursachen, die uns psychologisch bei der Abschätzung von<br />
Wahrscheinlichkeiten täuschen. Hier führt er dem Leser Kehrseite des idealtypischen, faktisch<br />
aber nie erreichbaren Wissens drastisch und in weltgeschichtlicher Dimension vor Augen:<br />
„Unsere Leidenschaften, unsere Vorurteile und die herrschenden Meinungen sind dadurch,<br />
dass sie die ihnen günstigen Wahrscheinlichkeiten übertreiben und die entgegengesetzten<br />
vermindern, reichliche Quelle gefährlicher Täuschungen. Die gegenwärtigen<br />
Übel und die Ursache, die sie hervorbringt, machen einen viel größeren Eindruck auf uns<br />
als die Erinnerung an die Übel, welche die entgegengesetzte Ursache hervorgebracht hat:<br />
sie hindern uns, die Übelstände der einen wie der anderen und die Wahrscheinlichkeit der<br />
geeigneten Mittel zur Verhütung derselben richtig abzuschätzen. Das ist es, was die Völker<br />
abwechselnd zum Despotismus und zur Anarchie hintreibt, wenn sie einmal aus dem<br />
Zustand der Ruhe herausgetreten sind, in den sie dann immer nur nach langen und qualvollen<br />
Aufregungen zurückkehren.“ 17<br />
Es irren sich die Mitspieler der französischen Lotterie, die glauben, dass eine lange Zeit nicht<br />
gezogene Nummer nun mit größerer Wahrscheinlichkeit gewinnen wird, es irren sich die Väter,<br />
wenn sie annehmen, dass die bereits geborenen Knaben die künftige Geburt von Mädchen<br />
wahrscheinlicher mache. Es irrt selbst der berühmte Leibniz, wenn er meint, mit seiner binären<br />
Arithmetik ein Bild der Schöpfung vor sich zu haben und ihre Wahrscheinlichkeit auf ½<br />
beziffert.<br />
Vielleicht kann man diesen Täuschungen nicht immer entgehen, aber man kann die ihnen<br />
zugrunde liegenden Regeln beschreiben. Daher widmet sich Laplace eingehend den inneren<br />
Mechanismen unserer Psyche („Sensorium“): den Empfindungen der Sympathie (Mitleid,<br />
Wohlwollen usw.) oder dem „Einfluss der Gedächtnisspuren auf die Sinneseindrücke“ 18 ,<br />
sprich: den kognitiven Ergänzungsleistungen, mittels derer wir das unvollständig Erkannte<br />
komplettieren. Beide trüben unser Urteilsvermögen, da sie uns etwas vorspiegeln, das nicht<br />
Bestandteil der Sache selbst ist. Dazu gesellt sich noch die Macht der Gewohnheit, vermöge<br />
derer wir „wie durch Instinkt“ 19 noch den unplausibelsten Wahrscheinlichkeiten zustimmen.<br />
16 Vgl. ebd., S. 168.<br />
17 Ebd., S. 124.<br />
18 Ebd., S. 142. Hervorhebung d. V.<br />
19 Ebd., S. 153.