Dokument 1.pdf - Universität Siegen
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50 Michael Gail<br />
Entscheidungsfreiheit gibt es nur in der Perspektive der Zeit, des Augenblicks. Sie ist<br />
also eine Illusion.“ 6<br />
Heißt das nun, dass wir ganz ohne Bezug zur Vergangenheit auskommen können? Dass wir in<br />
einen geschichtslosen Zustand kommen, so wie es Oswald Spengler in seinem Buch "Der<br />
Untergang des Abendlandes" gesehen hat? Werden wir zu Fellachen 7 , die in den Tag hineinleben,<br />
es sich in einer Sitzecke oder auf Mallorca bequem machen und nur noch um ihre persönliche<br />
Bequemlichkeit bemüht sind? Die sich nicht mehr an die Vergangenheit erinnern,<br />
kein Gedächtnis mehr haben, die aber auch von der Zukunft nichts wissen wollen? Die nichts<br />
mehr gestalten und voranbringen wollen? Bedeutet das alles ein Ende von Geschichte? Ich<br />
denke nein. Aber es wird deutlich, wie sehr Geschichte, oder das, was wir als Geschichte<br />
kennen, von unserem Bewusstsein und unserem Hintergrund abhängt. Es macht deutlich, wie<br />
intensiv wir mit dem Problem Angewandten Nichtwissens konfrontiert sind. Die Geschichte,<br />
die Vergangenheit, ist nicht objektivierbar, aber auch bei weitem nicht beliebig. Wie war sie<br />
wirklich? Wir wissen es nicht, auch nicht, wenn wir uns noch so anstrengen. Wir kennen ja<br />
noch nicht einmal unsere eigene Vergangenheit genau. Wer kann sich denn noch an seine<br />
Kindheit erinnern, wirklich erinnern, ohne auf das zurückzugreifen, was ihm vielleicht von<br />
seinen Eltern einmal erzählt wurde, aber selbst daran müssen wir uns ja erinnern, und das<br />
können wir nur im Jetzt. Klaus Wagn führt das darauf zurück, dass die ersten Begriffe des<br />
Lebens sehr allgemein sind: Lust, Unwohlsein, Verlangen, Licht und Dunkelheit, und erst im<br />
Laufe des Lebens differenzierter werden. Trotzdem müssen wir aber täglich Entscheidungen<br />
treffen. Politiker sind in ihrer Gestaltungsaufgabe gefordert. Wohin soll sich die Gesellschaft<br />
entwickeln? All das geschieht zwar im Jetzt, aber unter Berücksichtigung dessen, was in der<br />
Vergangenheit getan wurde, genauer, unter Beachtung dessen, was wir im Augenblick der<br />
Entscheidung, im Jetzt, erinnern, wie es damals war. Wenn man sich das bewusst macht,<br />
können Entscheidungen sehr viel ausgewogener und frei von Arroganz und Überheblichkeit<br />
getroffen werden. In diesem Sinne ist Angewandtes Nichtwissen immer auch ein Plädoyer für<br />
Toleranz und Vorurteilsfreiheit.<br />
6 Klaus Wagn, Bewusstsein und Wirklichkeit, S. 23-24 (Internet-Version), 2002.<br />
7 Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, Band II, S. 125f., Beck. 1922.