Dokument 1.pdf - Universität Siegen
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46 Michael Gail<br />
entsprechend der Nobelpreis-Physiker Erwin Schrödinger, und Buddha dürfte es ohne<br />
alles Fachphilosophieren ähnlich gesehen haben, auch der antike Lebenskunstphilosoph<br />
Epikur, auch Jesus von Nazareth, von dem die Aufforderung stammen soll: 'Sorget euch<br />
nicht!' Auf ihn bezog sich der französische Philosoph Blaise Pascal, als er schrieb:<br />
'Die Vergangenheit soll uns nicht beunruhigen, da wir ja nur unsere Fehler zu bereuen<br />
haben. Doch die Zukunft darf uns noch weniger berühren, da sie gar nicht in unserem<br />
Verfügen steht und wir vielleicht nie dahin gelangen werden. Die Gegenwart ist die<br />
einzige Zeit, die uns wirklich gehört und über die wir Gott gemäß verfügen sollen. ...<br />
Doch die Welt ist so voll Sorge, dass man kaum je an das gegenwärtige Leben und an<br />
den Moment, in dem lebt, denkt, vielmehr an den, in dem man leben wird. So lebt man<br />
gleichsam immer in der Zukunft und nie in der Gegenwart.'<br />
Im Jetzt mag zuweilen die Vergangenheit vergessen sein - nämlich in den Verwandlungen<br />
zwischen diesem Jetzt und den nächsten Gegenwarten. Bei dem Dichter Hugo von<br />
Hofmannsthal kann man es lesen:<br />
'Verwandlung ist Leben des Lebens, ist das eigentliche Mysterium der schöpfenden<br />
Natur; Beharren ist Erstarren und Tod. Wer leben will, der muss über sich selber hinwegkommen,<br />
muss sich verwandeln: er muss vergessen. ... [D]ennoch ist ans Beharren,<br />
ans Nichtvergessen, an die Treue alle menschliche Würde geknüpft. Dies ist einer von<br />
den abgrundtiefen Widersprüchen, über denen das Dasein aufgebaut ist, wie der<br />
delphische Tempel über seinem bodenlosen Erdspalt.'<br />
Es könnte in der Tat so sein, dass Humanitas darin besteht, dem Vergangenen nicht<br />
auszuweichen, weil es stets vorhanden bleiben wird, und zugleich, nicht immer, doch oft,<br />
die Fülle des 'Da' und 'Jetzt' zu erfahren: als eine Fülle, für die es gelegentlich das Wort<br />
'Ewigkeit' gibt. ...<br />
Und aus der Erfahrung des Jetzt mag eine andere als die gängige Vorstellung von<br />
Geschichte hervorgehen; die Erfahrung nämlich, daß sich meine Geschichtlichkeit in<br />
diesem unverwechselbaren und uralten Jetzt zeigt und zeitigt.<br />
Das Jetzt nicht nur als etwas Beliebig-Flüchtiges anzusehen, sondern als etwas Uraltes zu<br />
erfahren: das bedeutet Widerstand gegen Geläufigkeiten, Normalitäten, Beliebigkeiten.“<br />
Daran anknüpfend kann man die Bedeutung Angewandten Nichtwissens erkennen: Angewandtes<br />
Nichtwissen im Sinne von Handeln und Entscheiden auf der Grundlage nicht objektivierbarer,<br />
aber dennoch nicht beliebiger Begriffe und Vorstellungen. Weil das Jetzt nicht