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Dokument 1.pdf - Universität Siegen

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Unzeitgemäße Denkfreiheiten 39<br />

Geschichtlichkeit als Chance<br />

Wenn wir heute im Zuge eines normativen Pluralismus vor die Aufgabe gestellt sind,<br />

transkulturell akzeptable Menschenbilder zu definieren, können wir nicht weiter<br />

Partikulardebatten über einen singulären Autor führen, sondern müssen hiervon ausgehend<br />

immer auch Transferleistungen auf das Allgemeine und Aktuelle vollbringen,<br />

Grundsatzfragen stellen und hierzu auch den reichen historischen Fundus als eine<br />

Entwicklungsfolie und Entscheidungshilfe nutzen. Wenn menschliches Leben nicht nur<br />

Gegenstand der Spekulation, sondern im Zuge der vieldiskutierten Genetik oder Gen-Ethik<br />

auch Gegenstand der Produktion sein kann, gewinnen Begriffe wie Sein, Seele, Gewissen eine<br />

andere Qualität. Ich denke wirklich, wir sollten der veränderten Gesamtsituation in unserer<br />

Forschung heute unbedingt Rechnung tragen, um die Philosophie in Gegenwartsfragen mit<br />

einzubeziehen und so vor einem Ausschluss ins gesellschaftliche Ghetto der<br />

Wirkungslosigkeit zu bewahren. Wir sollten es wagen, gerade auch angesichts der<br />

gesteigerten sozialen Nachfrage nach Wertethik, erkenntnistheoretische Fragen<br />

weiterzudenken und uns mit ihren konkreten Folgen und insbesondere ihren moralischen<br />

Implikationen auseinandersetzen.<br />

Hierbei wird Geschichtlichkeit ein unverzichtbarer Mitspieler in der Korrektur einer<br />

Gegenwartsmeinung, die als solche - der früheren undenkbar und der zukünftigen ein Irrtum -<br />

gewohnt selbstherrlich und ohne Eigenkritik auftritt. Unabhängig von der Frage, ob überhaupt<br />

Zweckrationalität oder Wertethik, oder welche Ausprägung hiervon, in einem einzelnen<br />

Anwendungsfall oder als geistige Tendenz einer bestimmten Kultur, zeitweise begründet und<br />

sinnvoll ist, müssen wie als Philosophen ein Nebeneinander verschiedener rationaler<br />

Meinungen ermöglichen, notfalls an sie erinnern, um Monopole vermeiden zu helfen. Denn<br />

dass diese schädlich sind, lehrt uns auch die Geschichte; dass die Selbstpropaganda jeder<br />

Epoche, die ihren Wertekanon unkritisch als den einzig vernünftigen und<br />

verbreitungswürdigen herausstellt, nicht nur dem widerspricht, was die Praxis im<br />

aristotelischen Sinne ausmacht: Vergrößerung des Sinnzusammenhangs und Gewinn an<br />

Lebensqualität, sondern mehr noch, dass sie im Kern faschistoid ist.<br />

Zwei Dinge gehen im unhinterfragten Meinungs-Monopolismus verloren, die für jedes<br />

Philosophieren unabdingbar sind: das Staunen und der Zweifel, denn beides entsteht nur aus<br />

dem Bewusstsein eines Anderen, Gegenspielerischen und der vagen Vermutung, eine konträre<br />

Position könnte ebenso wahr sein. Dem Philosophieren Staunen und Zweifel zurückzugeben<br />

und es damit vom zeitverhafteten Schablonen-Rollen abzulösen und wieder lebendig zu<br />

machen, heißt also, es wieder geschichtlich zu machen, Anderes zu finden und Geschichte als<br />

einen Schatz von unzeitgemäßen Ideen und Gegenbeispielen zu nutzen.

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