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Unzeitgemäße Denkfreiheiten 37 seine Rezipienten polarisiert, in Lager der Zustimmung und der Ablehnung teilt, 7 sie unmittelbar anspricht, so dass eine Entscheidung für oder gegen Meister Eckehart stets sogar auch eine Aussage über die Einschätzung der eigenen Existenz, die der Entscheidende mit sich trägt, beinhaltet. Jener große Mystiker plädiert dafür, Ethik im Sinne einer Wertethik mit ausgesprochen autonomen Charakter als eine Art gelebte Selbsterkenntnis aufzufassen. Seine Vorstellung ist hierbei, dass es in der menschlichen Erkenntniskraft, genauer gesagt in der Vernunft, eine Instanz gibt, die ungebrochene Einsicht, überindividuelle Weisheit und folglich gleichsam totale Objektivität vermittelt: den sogenannten Grund der Seele. Diese Vorstellung ist dabei keine Exklusividee Eckeharts, sondern ein durchaus gängiger, fast möchte man sagen "Grund"gedanke europäischer Mystik, der auch ganz ähnlich von Cusanus und Böhme ("apex menti", "Seelenspitze") vertreten wird. Durch die Fähigkeit des Menschen, im vertieften Erkenntnisprozess der Mystik mit dieser Instanz in Kontakt zu treten, wird er auch im moralischen Sinne entscheidungsfähig, denn Verantwortung, Recht und Gerechtigkeit sind direkt aus ihr abgeleitete Begriffe. Sein und Sollen in verschiedener Lesart Wer richtig handeln will, meint Eckehart, muss also zuerst erkennen, was er ist, nämlich ein in diesem Sinne vernunftbegabtes Lebewesen, das im Grunde der Erkenntnis ein überpersönliches Wissen und damit eine Fähigkeit zum fraglos selbstbestimmten rechten Handeln hat. Damit verschiebt sich die ursprünglich erkenntnistheoretisch formulierte Frage also ganz deutlich auf eine ontologische Ebene. Da diese theologisch interpretiert wurde - der Grund von Sein und Erkennen ist in mystischer Terminologie Gott - rief sie lange Zeit dementsprechend Theologen auf den Plan, die ihre Interpretation daran ausrichteten. Die Rezeption von klassischen Autoren wirft aber oft nicht nur ein Licht auf die Autoren, sondern auch auf die rezipierende Epoche. Die Fragen, die die Eckehartforschung gestellt hat, legten lange Zeit den Schwerpunkt auf metaphysische und erkenntnistheoretische Probleme als solche und entfalteten diese vor einem theologisch- 7 Kurt Ruh: “Meister Eckhart ist eine Schlüsselgestalt in der Geschichte der Menschen. Mit ihm oder gegen ihn werden Entscheidungen getroffen, die den Sinn oder Unsinn unserer Existenz betreffen. Das vermag vielleicht keine Generation besser zu begreifen als die unsrige. Über die Jahrhunderte hinweg erschließen sich aus unserer Lebenserfahrung und gegen sie, zunächst merkwürdig fremd, dann plötzlich nah und vertraut, nie erreichbar, aber unerschütterlich wahr, die Worte Meister Eckeharts.” (zitiert nach: Gerhard Wehr, Meister Eckehart, Hamburg 1989, S. 145).

38 Claudia Altmeyer philosophischen Hintergrund. 8 Jene zum großen Teil ausgezeichnete und fundierte Forschungsarbeit ist auf dieser Ebene kaum zu übertreffen. Allerdings sind die Fragen, die wir als Philosophen heute stellen, und die realen Konflikte, mit denen wir konfrontiert sind, mittlerweile andere, und die Antworten, die wir uns durch die Rezeption klassischer Autoren erhoffen, ebenfalls. Eckehart aktualisieren schließt auch immer eine Frage an: was von ihm aktualisieren? Aktualisieren wir die Erkenntnisdiskussion und folgern wir, wie er, von einer mystischen Erstursache, die allumfassend und allwissend ist, auch ungeachtet ihrer theologischen Lesart, auf eine Instanz objektiven Wissens in uns und von dieser auf unsere moralische Handlungsfähigkeit im Sinne des Bürgers, kollektiv gedacht im Sinne eines Rechtsstaates, bekommen wir sofort Probleme. Wir können keiner Ethikkommission "Nimm dein Selbes wahr" oder einen anderen mystischen Sinnspruch zuraunen, zumindest nicht, wenn wir ernstgenommen werden möchten (was ja doch für viele Philosophen wichtiger ist, als verstanden zu werden). Der Prozess der mystischen Selbstvergewisserung ist nun einmal eine so spezielle Art des Erkennens, dass er, wenngleich sehr traditionsreich, natürlich weder vorausgesetzt noch auch ohne Weiteres für eine breitere Masse nachvollziehbar gemacht werden kann. Die Grundüberlegung, die aus dem Sein als Vernunftwesen ein Erkennen und aus diesem ein Sollen zeitigt, ist aber dennoch bemerkenswert. Zunächst, weil wir ihre unscheinbarsten Ausläufer in einem demokratischen Rechtsstaat, seinem Begriff von Person, Würde und Rechtsfähigkeit und seiner Rechtssprechung finden, zum anderen, weil andere Kulturen wie etwa die islamische systematisch ganz ähnlich folgern, doch alle drei Punkte anders interpretieren und drittens aus strukturellen Gründen: um ein Meinungsmonopol, das jene Dreiheit rigoros trennt, zu konterkarieren. Im dreizehnten Jahrhundert Eckeharts würde ich mich, feurig aber hoffentlich nicht brennend, ebenfalls aus strukturellen Gründen für eine Position in Humes Stil ausgesprochen haben. 8 Hier ist insbesondere die Arbeit des Eckehartkenners Alois M. Haas hervorzuheben (exemplarisch für seine Werke hier nur eine kurze Erwähnung: Nim dîn selbes war, Studien zur Lehre der Selbsterkenntnis bei Meister Eckhart, Johannes Tauler und Heinrich Seuse, Freiburg/ Schweiz 1971, zu theologischphilosophischen Grenzfällen, Gottleiden – Gottlieben, Frankfurt 1989). Sein Schwerpunkt liegt, ähnlich wie der von Werner Beierwaltes, Hans Urs von Balthasar oder Josef Quint, vornehmlich auf der Positionierung der eckehartschen Erkenntnistheorie innerhalb der komplexen philosophischen und theologischen Tradition seiner Epoche. – Wenn diese hervorragenden historisch-systematischen Analysen für heute fruchtbar gemacht werden sollen, müsste man, denke ich, ihre Ergebnisse konsequent mit Gegenwartsfragen in Bezug setzen.

Unzeitgemäße Denkfreiheiten 37<br />

seine Rezipienten polarisiert, in Lager der Zustimmung und der Ablehnung teilt, 7 sie<br />

unmittelbar anspricht, so dass eine Entscheidung für oder gegen Meister Eckehart stets sogar<br />

auch eine Aussage über die Einschätzung der eigenen Existenz, die der Entscheidende mit<br />

sich trägt, beinhaltet.<br />

Jener große Mystiker plädiert dafür, Ethik im Sinne einer Wertethik mit ausgesprochen<br />

autonomen Charakter als eine Art gelebte Selbsterkenntnis aufzufassen. Seine Vorstellung ist<br />

hierbei, dass es in der menschlichen Erkenntniskraft, genauer gesagt in der Vernunft, eine<br />

Instanz gibt, die ungebrochene Einsicht, überindividuelle Weisheit und folglich gleichsam<br />

totale Objektivität vermittelt: den sogenannten Grund der Seele. Diese Vorstellung ist dabei<br />

keine Exklusividee Eckeharts, sondern ein durchaus gängiger, fast möchte man sagen<br />

"Grund"gedanke europäischer Mystik, der auch ganz ähnlich von Cusanus und Böhme ("apex<br />

menti", "Seelenspitze") vertreten wird. Durch die Fähigkeit des Menschen, im vertieften<br />

Erkenntnisprozess der Mystik mit dieser Instanz in Kontakt zu treten, wird er auch im<br />

moralischen Sinne entscheidungsfähig, denn Verantwortung, Recht und Gerechtigkeit sind<br />

direkt aus ihr abgeleitete Begriffe.<br />

Sein und Sollen in verschiedener Lesart<br />

Wer richtig handeln will, meint Eckehart, muss also zuerst erkennen, was er ist, nämlich ein<br />

in diesem Sinne vernunftbegabtes Lebewesen, das im Grunde der Erkenntnis ein<br />

überpersönliches Wissen und damit eine Fähigkeit zum fraglos selbstbestimmten rechten<br />

Handeln hat. Damit verschiebt sich die ursprünglich erkenntnistheoretisch formulierte Frage<br />

also ganz deutlich auf eine ontologische Ebene.<br />

Da diese theologisch interpretiert wurde - der Grund von Sein und Erkennen ist in mystischer<br />

Terminologie Gott - rief sie lange Zeit dementsprechend Theologen auf den Plan, die ihre<br />

Interpretation daran ausrichteten. Die Rezeption von klassischen Autoren wirft aber oft nicht<br />

nur ein Licht auf die Autoren, sondern auch auf die rezipierende Epoche. Die Fragen, die die<br />

Eckehartforschung gestellt hat, legten lange Zeit den Schwerpunkt auf metaphysische und<br />

erkenntnistheoretische Probleme als solche und entfalteten diese vor einem theologisch-<br />

7 Kurt Ruh: “Meister Eckhart ist eine Schlüsselgestalt in der Geschichte der Menschen. Mit ihm oder gegen<br />

ihn werden Entscheidungen getroffen, die den Sinn oder Unsinn unserer Existenz betreffen. Das vermag<br />

vielleicht keine Generation besser zu begreifen als die unsrige. Über die Jahrhunderte hinweg erschließen<br />

sich aus unserer Lebenserfahrung und gegen sie, zunächst merkwürdig fremd, dann plötzlich nah und<br />

vertraut, nie erreichbar, aber unerschütterlich wahr, die Worte Meister Eckeharts.” (zitiert nach: Gerhard<br />

Wehr, Meister Eckehart, Hamburg 1989, S. 145).

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