Dokument 1.pdf - Universität Siegen
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Unzeitgemäße Denkfreiheiten 35<br />
Prozesse des Wissensgewinns in ihrer epochal unterschiedlichen Ausprägung verstehen heißt<br />
folglich, ihre Ergebnisse, die kulturellen Werte, und somit die Epoche selbst in ihrer<br />
Ähnlichkeit und ihrer Besonderheit im Vergleich zu unserer, zu verstehen. Ich spreche mich<br />
also für ein axiologisches Epochenverständnis aus und behaupte, dass Zeitverständnis – und<br />
somit auch ein Umweltverständnis und im Verhältnis unserer Integration in sie gleichfalls ein<br />
Selbstverständnis – primär davon abhängt, ob wir grundlegende Werte „lesen“ und ihre<br />
Generierung nachvollziehen können. Erst auf dieser Basis kann Akzeptanz, begründete<br />
Dissonanz und Toleranz als eine Folge des Einlesens und des Verständnisses überhaupt<br />
entstehen, andernfalls sind diese Begriffe unverdient. Wenn wir von Selbst- und<br />
Fremdverständnis sprechen, können wir das sinnvollerweise nur in dem Maße, in dem wir<br />
unsere und fremde Werte zu lesen in der Lage sind.<br />
Aus einer prämoralischen Perspektive heraus können wir heute als Philosophen<br />
Verständnisarbeit leisten, indem wir die Erkenntnisprozesse, die Werturteilen zugrunde<br />
liegen, transparent machen. Wir fördern damit nicht nur ein historisches Verständnis für<br />
verschiedene Zeitalter, sondern vor allem auch einen Einblick in aktuelle Probleme des<br />
Werturteils und der Normbegründung. Ein Epochenvergleich ist oft sinnvoll, um<br />
erkenntnistheoretische Diskussionen der Gegenwart zu kontrastieren und ihre Argumente<br />
nachvollziehen zu können. Jenseits von Gut und böse geht es darum, zu hinterfragen, welche<br />
Mechanismen des Erkenntnisgewinns Voraussetzung für bestimmte Werturteile sind. 4<br />
Die Hinterfragung von Prozessen des Erkennens hat einen essentiellen Charakter. Der<br />
Erkennende ist, als Erkennender, Mensch, und er ist als Handelnder, folglich als der, der das<br />
Erkannte realisiert, Mensch. Ob Wertethik oder Zweckrationalität das Bild einer Kultur<br />
prägen, hängt insbesondere davon ab, zu welchem gesellschaftlichen Konsens es über den<br />
Menschen als solchen kommt. Erkenntnismodelle und, von ihnen aus entwickelt, ethische<br />
Konzepte, korrelieren immer mit Vorstellungen von dem, was der Mensch ist. Die<br />
cartesianische Maxime führt hier zu weit – es geht an dieser Stelle nicht darum, zu überlegen,<br />
ob die Fähigkeit des Erkennens das konstitutive Kriterium des Menschen ist, oder ob die<br />
Erkenntnisfähigkeit in einer anderen, nichtkausalen Weise mit dem Menschsein einhergeht. 5<br />
4 Wir brauchen Nietzsches Ehrgeiz, verbindlich geltende Gesetze über die Prinzipien des Daseins aufzustellen,<br />
wie er ihn im gleichnamigen Pamphlet verwirklichen wollte, natürlich nicht zu teilen. Dennoch kann sein<br />
Spätwerk, insbesondere auch Zur Genealogie der Moral, in seiner gänzlichen Distanzierung von tradierten<br />
Normbegriffen einen wertvollen Kontrast zu unserer Diskussion von Eckeharts Erkenntnismodellen<br />
darstellen, die noch tief im überkommenen abendländisch- neuplatonischen Denken verwurzelt sind. Siehe<br />
auch Georgio Colli (Hrsg): Nietzsche, Kritische Studienausgabe, Bd. V, Berlin, S. 415ff. Der Nihilismus<br />
Nietzsches ist, in seiner radikalen Absage an ein theologisch verstandenes erkenntnistheoretisches A priori,<br />
gleichsam die Asymptote der Mystik.<br />
5 Zur Frage der gegenseitigen Bedingung von Erkenntnissubjekt und Erkenntnisprozess vgl. René Descartes,<br />
Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, Zehntes Axiom: “In der Vorstellung oder dem Begriff<br />
jeder Sache ist das Sein enthalten, weil man etwas nur als seiend auffassen kann.” – Meister Eckeharts<br />
Konzeption der scintilla animae, des „Seelenfünkleins“, kommt einer Vermittlungsinstanz zwischen<br />
Begrifflichkeit und Sein nahe (vgl. Predigt 51, DW, S. 393, 35 ff, hier wie im Folgenden zitiert nach: Josef