Heidis Lehr und Wanderjahre - Blog.de
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<strong>Heidis</strong> <strong>Lehr</strong> <strong>und</strong> <strong>Wan<strong>de</strong>rjahre</strong> 1<br />
noch gar nicht getragen, oh, du bist so schön in <strong>de</strong>inem schönen<br />
Sonntagsrock."<br />
Der Alte blickte vergnüglich lächelnd auf das Kind <strong>und</strong> sagte: "Und<br />
du in <strong>de</strong>m <strong>de</strong>inen; jetzt komm!" Er nahm <strong>Heidis</strong> Hand in die seine,<br />
<strong>und</strong> so wan<strong>de</strong>rten sie miteinan<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Berg hinunter. Von allen<br />
Seiten tönten jetzt die hellen Glocken ihnen entgegen, immer voller<br />
<strong>und</strong> reicher, je weiter sie kamen, <strong>und</strong> Heidi lauschte mit Entzücken<br />
<strong>und</strong> sagte: "Hörst du's, Großvater? Es ist wie ein großes, großes<br />
Fest."<br />
Unten im Dörfli waren schon alle Leute in <strong>de</strong>r Kirche <strong>und</strong> fingen<br />
eben zu singen an, als <strong>de</strong>r Großvater mit Heidi eintrat <strong>und</strong> ganz<br />
hinten auf <strong>de</strong>r letzten Bank sich nie<strong>de</strong>rsetzte. Aber mitten im<br />
Singen stieß <strong>de</strong>r zunächst Sitzen<strong>de</strong> seinen Nachbar mit <strong>de</strong>m<br />
Ellenbogen an <strong>und</strong> sagte: "Hast du das gesehen? Der Alm-Öhi ist in<br />
<strong>de</strong>r Kirche!"<br />
Und <strong>de</strong>r Angestoßene stieß <strong>de</strong>n Zweiten an <strong>und</strong> so fort, <strong>und</strong> in<br />
kürzester Zeit flüsterte es an allen Ecken: "Der Alm-Öhi! Der Alm-<br />
Öhi!", <strong>und</strong> die Frauen mussten fast alle einen Augenblick <strong>de</strong>n Kopf<br />
umdrehen, <strong>und</strong> die meisten fielen ein wenig aus <strong>de</strong>r Melodie, so dass<br />
<strong>de</strong>r Vorsänger die größte Mühe hatte, <strong>de</strong>n Gesang schön<br />
aufrechtzuerhalten. Aber als dann <strong>de</strong>r Herr Pfarrer anfing zu<br />
predigen, ging die Zerstreutheit ganz vorüber, <strong>de</strong>nn es war ein so<br />
warmes Loben <strong>und</strong> Danken in seinen Worten, dass alle Zuhörer davon<br />
ergriffen wur<strong>de</strong>n, <strong>und</strong> es war, als sei ihnen allen eine große Freu<strong>de</strong><br />
wi<strong>de</strong>rfahren. Als <strong>de</strong>r Gottesdienst zu En<strong>de</strong> war, trat <strong>de</strong>r Alm-Öhi<br />
mit <strong>de</strong>m Kin<strong>de</strong> an <strong>de</strong>r Hand heraus <strong>und</strong> schritt <strong>de</strong>m Pfarrhaus zu, <strong>und</strong><br />
alle, die mit ihm heraustraten <strong>und</strong> die schon draußen stan<strong>de</strong>n,<br />
schauten ihm nach, <strong>und</strong> die meisten gingen hinter ihm her, um zu<br />
sehen, ob er wirklich ins Pfarrhaus eintrete, was er tat. Dann<br />
sammelten sie sich in Gruppen zusammen <strong>und</strong> besprachen in großer<br />
Aufregung das Unerhörte, dass <strong>de</strong>r Alm-Öhi in <strong>de</strong>r Kirche erschienen<br />
war, <strong>und</strong> alle schauten mit Spannung nach <strong>de</strong>r Pfarrhaustür, wie <strong>de</strong>r<br />
Öhi wohl wie<strong>de</strong>r herauskommen wer<strong>de</strong>, ob in Zorn <strong>und</strong> Ha<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r im<br />
Frie<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>m Herrn Pfarrer, <strong>de</strong>nn man wusste ja gar nicht, was<br />
<strong>de</strong>n Alten heruntergebracht hatte <strong>und</strong> wie es eigentlich gemeint sei.<br />
Aber doch war schon bei vielen eine neue Stimmung eingetreten, <strong>und</strong><br />
einer sagte zum an<strong>de</strong>rn: "Es wird wohl mit <strong>de</strong>m Alm-Öhi nicht so bös<br />
sein, wie man tut; man kann ja nur sehen, wie sorglich er das<br />
Kleine an <strong>de</strong>r Hand hält." Und <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re sagte: "Das hab ich ja<br />
immer gesagt, <strong>und</strong> zum Pfarrer hinein ginge er auch nicht, wenn er<br />
so bo<strong>de</strong>nschlecht wäre, sonst müsste er sich ja fürchten; man<br />
übertreibt auch viel." Und <strong>de</strong>r Bäcker sagte: "Hab ich das nicht<br />
zuallererst gesagt? Seit wann läuft <strong>de</strong>nn ein kleines Kind, das zu<br />
essen <strong>und</strong> zu trinken hat, was es will, <strong>und</strong> sonst alles Gute, aus<br />
alle<strong>de</strong>m weg <strong>und</strong> heim zu einem Großvater, wenn <strong>de</strong>r bös <strong>und</strong> wild ist<br />
<strong>und</strong> es sich zu fürchten hat vor ihm?" Und es kam eine ganz<br />
liebevolle Stimmung gegen <strong>de</strong>n Alm-Öhi auf <strong>und</strong> nahm überhand, <strong>de</strong>nn<br />
jetzt nahten sich auch die Frauen herzu, <strong>und</strong> diese hatten so<br />
manches von <strong>de</strong>r Geißenpeterin <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Großmutter gehört, das <strong>de</strong>n<br />
Alm-Öhi ganz an<strong>de</strong>rs darstellte, als die allgemeine Meinung war, <strong>und</strong><br />
das ihnen jetzt auf einmal glaublich schien, dass es mehr <strong>und</strong> mehr<br />
so wur<strong>de</strong>, als warteten sie alle da, um einen alten Fre<strong>und</strong> zu<br />
bewillkommnen, <strong>de</strong>r ihnen lange gemangelt hatte.<br />
Der Alm-Öhi war unter<strong>de</strong>ssen an die Tür <strong>de</strong>r Studierstube getreten<br />
<strong>und</strong> hatte angeklopft. Der Herr Pfarrer machte auf <strong>und</strong> trat <strong>de</strong>m<br />
Eintreten<strong>de</strong>n entgegen, nicht überrascht, wie er wohl hätte sein<br />
können, son<strong>de</strong>rn so, als habe er ihn erwartet; die ungewohnte<br />
Erscheinung in <strong>de</strong>r Kirche musste ihm nicht entgangen sein. Er<br />
ergriff die Hand <strong>de</strong>s Alten <strong>und</strong> schüttelte sie wie<strong>de</strong>rholt mit <strong>de</strong>r<br />
größten Herzlichkeit, <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Alm-Öhi stand schweigend da <strong>und</strong><br />
konnte erst kein Wort herausbringen, <strong>de</strong>nn auf solchen herzlichen<br />
Empfang war er nicht vorbereitet. Jetzt fasste er sich <strong>und</strong> sagte:<br />
"Ich komme, um <strong>de</strong>n Herrn Pfarrer zu bitten, dass er mir die Worte<br />
vergessen möchte, die ich zu ihm auf <strong>de</strong>r Alm gere<strong>de</strong>t habe, <strong>und</strong> dass<br />
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