04.10.2013 Aufrufe

Heidis Lehr und Wanderjahre - Blog.de

Heidis Lehr und Wanderjahre - Blog.de

Heidis Lehr und Wanderjahre - Blog.de

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

<strong>Heidis</strong> <strong>Lehr</strong> <strong>und</strong> <strong>Wan<strong>de</strong>rjahre</strong> 1<br />

nichts mehr hatte, musste er hingehen <strong>und</strong> Knecht sein bei einem<br />

Bauer, <strong>de</strong>r hatte aber nicht so schöne Tiere, wie auf seines Vaters<br />

Fel<strong>de</strong>rn waren, son<strong>de</strong>rn nur Schweinlein; diese musste er hüten, <strong>und</strong><br />

er hatte nur noch Fetzen auf sich <strong>und</strong> bekam nur von <strong>de</strong>n Trebern,<br />

welche die Schweinchen aßen, ein klein wenig. Da dachte er daran,<br />

wie er es daheim beim Vater gehabt <strong>und</strong> wie gut <strong>de</strong>r Vater mit ihm<br />

gewesen war <strong>und</strong> wie <strong>und</strong>ankbar er gegen <strong>de</strong>n Vater gehan<strong>de</strong>lt hatte,<br />

<strong>und</strong> er musste weinen vor Reue <strong>und</strong> Heimweh. Und er dachte: '<br />

Ich will zu meinem Vater gehen <strong>und</strong> ihn um Verzeihung bitten <strong>und</strong> ihm<br />

sagen, ich bin nicht mehr wert, <strong>de</strong>in Sohn zu heißen, aber lass mich<br />

nur <strong>de</strong>in Tagelöhner bei dir sein.' Und wie er von ferne gegen<br />

das Haus seines Vaters kam, da sah ihn <strong>de</strong>r Vater <strong>und</strong> kam<br />

herausgelaufen--was meinst du jetzt, Großvater?", unterbrach sich<br />

Heidi in seinem Vorlesen; "jetzt meinst du, <strong>de</strong>r Vater sei noch böse<br />

<strong>und</strong> sage zu ihm: 'Ich habe dir's ja gesagt!'? Jetzt<br />

hör nur, was kommt: Und sein Vater sah ihn <strong>und</strong> es jammerte ihn <strong>und</strong><br />

lief <strong>und</strong> fiel ihm um <strong>de</strong>n Hals <strong>und</strong> küsste ihn, <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Sohn sprach<br />

zu ihm: 'Vater, ich habe gesündigt gegen <strong>de</strong>n Himmel <strong>und</strong> vor<br />

dir <strong>und</strong> bin nicht mehr wert, <strong>de</strong>in Sohn zu heißen.' Aber <strong>de</strong>r<br />

Vater sprach zu seinen Knechten: 'Bringt das beste Kleid her<br />

<strong>und</strong> zieht es ihm an <strong>und</strong> gebt ihm einen Ring an seine Hand <strong>und</strong><br />

Schuhe an die Füße, <strong>und</strong> bringt das gemästete Kalb her <strong>und</strong><br />

schlachtet es <strong>und</strong> lasst uns essen <strong>und</strong> fröhlich sein, <strong>de</strong>nn dieser<br />

mein Sohn war tot <strong>und</strong> ist wie<strong>de</strong>r lebendig gewor<strong>de</strong>n, <strong>und</strong> er war<br />

verloren <strong>und</strong> ist wie<strong>de</strong>r gef<strong>und</strong>en wor<strong>de</strong>n.' Und sie fingen an,<br />

fröhlich zu sein."<br />

"Ist <strong>de</strong>nn das nicht eine schöne Geschichte, Großvater?", fragte<br />

Heidi, als dieser immer noch schweigend dasaß <strong>und</strong> es doch erwartet<br />

hatte, er wer<strong>de</strong> sich freuen <strong>und</strong> verw<strong>und</strong>ern.<br />

"Doch, Heidi, die Geschichte ist schön", sagte <strong>de</strong>r Großvater; aber<br />

sein Gesicht war so ernsthaft, dass Heidi ganz stille wur<strong>de</strong> <strong>und</strong><br />

seine Bil<strong>de</strong>r ansah. Leise schob es noch einmal sein Buch vor <strong>de</strong>n<br />

Großvater hin <strong>und</strong> sagte: "Sieh, wie es ihm wohl ist", <strong>und</strong> zeigte<br />

mit seinem Finger auf das Bild <strong>de</strong>s Heimgekehrten, wie er im<br />

frischen Kleid neben <strong>de</strong>m Vater steht <strong>und</strong> wie<strong>de</strong>r zu ihm gehört als<br />

sein Sohn.<br />

Ein paar St<strong>und</strong>en später, als Heidi längst im tiefen Schlafe lag,<br />

stieg <strong>de</strong>r Großvater die kleine Leiter hinauf; er stellte sein<br />

Lämpchen neben <strong>Heidis</strong> Lager hin, so dass das Licht auf das<br />

schlafen<strong>de</strong> Kind fiel. Es lag da mit gefalteten Hän<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn zu<br />

beten hatte Heidi nicht vergessen. Auf seinem rosigen Gesichtchen<br />

lag ein Ausdruck <strong>de</strong>s Frie<strong>de</strong>ns <strong>und</strong> seligen Vertrauens, <strong>de</strong>r zu <strong>de</strong>m<br />

Großvater re<strong>de</strong>n musste, <strong>de</strong>nn lange, lange stand er da <strong>und</strong> rührte<br />

sich nicht <strong>und</strong> wandte kein Auge von <strong>de</strong>m schlafen<strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong> ab.<br />

Jetzt faltete auch er die Hän<strong>de</strong>, <strong>und</strong> halblaut sagte er mit<br />

gesenktem Haupte: "Vater, ich habe gesündigt gegen <strong>de</strong>n Himmel <strong>und</strong><br />

vor dir <strong>und</strong> bin nicht mehr wert, <strong>de</strong>in Sohn zu heißen!" Und ein paar<br />

große Tränen rollten <strong>de</strong>m Alten die Wangen herab.--<br />

Wenige St<strong>und</strong>en nachher in <strong>de</strong>r ersten Frühe <strong>de</strong>s Tages stand <strong>de</strong>r Alm-<br />

Öhi vor seiner Hütte <strong>und</strong> schaute mit hellen Augen um sich. Der<br />

Sonntagmorgen flimmerte <strong>und</strong> leuchtete über Berg <strong>und</strong> Tal. Einzelne<br />

Frühglocken tönten aus <strong>de</strong>n Tälern herauf, <strong>und</strong> oben in <strong>de</strong>n Tannen<br />

sangen die Vögel ihre Morgenlie<strong>de</strong>r.<br />

Jetzt trat <strong>de</strong>r Großvater in die Hütte zurück. "Komm, Heidi!", rief<br />

er auf <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n hinauf. "Die Sonne ist da! Zieh ein gutes<br />

Röcklein an, wir wollen in die Kirche miteinan<strong>de</strong>r!"<br />

Heidi machte nicht lange; das war ein ganz neuer Ruf vom Großvater,<br />

<strong>de</strong>m musste es schnell folgen. In kurzer Zeit kam es<br />

heruntergesprungen in seinem schmucken Frankfurter Röckchen. Aber<br />

voller Erstaunen blieb Heidi vor seinem Großvater stehen <strong>und</strong><br />

schaute ihn an. "O Großvater, so hab ich dich nie gesehen", brach<br />

es endlich aus, "<strong>und</strong> <strong>de</strong>n Rock mit <strong>de</strong>n silbernen Knöpfen hast du<br />

Seite 86

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!