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Heidis Lehr und Wanderjahre - Blog.de

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<strong>Heidis</strong> <strong>Lehr</strong> <strong>und</strong> <strong>Wan<strong>de</strong>rjahre</strong> 1<br />

die Treppe heraufkommen wollte. Klara war sehr aufgeregt <strong>und</strong><br />

Fräulein Rottenmeier hatte nun die größte Mühe, sie etwas zu<br />

beschwichtigen. Sie versprach ihr, sogleich an <strong>de</strong>n Papa zu<br />

schreiben <strong>und</strong> auch ihr Bett in Klaras Zimmer stellen <strong>und</strong> sie nie<br />

mehr allein lassen zu wollen. Alle konnten sie nicht in <strong>de</strong>mselben<br />

Raume schlafen, aber wenn A<strong>de</strong>lheid sich auch fürchten sollte, so<br />

müsste Tinette ihr Nachtlager bei ihr aufschlagen. Aber Heidi<br />

fürchtete sich mehr vor <strong>de</strong>r Tinette als vor Gespenstern, von <strong>de</strong>nen<br />

das Kind noch gar nie etwas gehört hatte, <strong>und</strong> es erklärte gleich,<br />

es fürchte das Gespenst nicht <strong>und</strong> wolle schon allein in seinem<br />

Zimmer bleiben. Hierauf eilte Fräulein Rottenmeier an ihren<br />

Schreibtisch <strong>und</strong> schrieb an Herrn Sesemann, die unheimlichen<br />

Vorgänge im Hause, die allnächtlich sich wie<strong>de</strong>rholten, hätten die<br />

zarte Konstitution seiner Tochter <strong>de</strong>rgestalt erschüttert, dass die<br />

schlimmsten Folgen zu befürchten seien; man habe Beispiele von<br />

plötzlich eintreten<strong>de</strong>n epileptischen Zufällen o<strong>de</strong>r Veitstanz in<br />

solchen Verhältnissen, <strong>und</strong> seine Tochter sei allem ausgesetzt, wenn<br />

dieser Zustand <strong>de</strong>s Schreckens im Hause nicht gehoben wer<strong>de</strong>.<br />

Das half. Zwei Tage darauf stand Herr Sesemann vor seiner Tür <strong>und</strong><br />

schellte <strong>de</strong>rgestalt an seiner Hausglocke, dass alles zusammenlief<br />

<strong>und</strong> einer <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren anstarrte, <strong>de</strong>nn man glaubte nicht an<strong>de</strong>rs, als<br />

nun lasse <strong>de</strong>r Geist frecherweise noch vor Nacht seine boshaften<br />

Stücke aus. Sebastian guckte ganz behutsam durch einen halb<br />

geöffneten La<strong>de</strong>n von oben herunter; in <strong>de</strong>m Augenblick schellte es<br />

noch einmal so nachdrücklich, dass je<strong>de</strong>r unwillkürlich eine<br />

Menschenhand hinter <strong>de</strong>m tüchtigen Ruck vermutete. Sebastian hatte<br />

die Hand erkannt, stürzte durchs Zimmer, kopfüber die Treppe<br />

hinunter, kam aber unten wie<strong>de</strong>r auf die Füße <strong>und</strong> riss die Haustür<br />

auf. Herr Sesemann grüßte kurz <strong>und</strong> stieg ohne weiteres nach <strong>de</strong>m<br />

Zimmer seiner Tochter hinauf. Klara empfing <strong>de</strong>n Papa mit einem<br />

lauten Freu<strong>de</strong>nruf, <strong>und</strong> als er sie so munter <strong>und</strong> völlig unverän<strong>de</strong>rt<br />

sah, glättete sich seine Stirn, die er vorher sehr zusammengezogen<br />

hatte, <strong>und</strong> immer mehr, als er nun von ihr selbst hörte, sie sei so<br />

wohl wie immer <strong>und</strong> sie sei so froh, dass er gekommen sei, dass es<br />

ihr jetzt ganz recht sei, dass ein Geist im Haus herumfahre, weil<br />

er doch daran schuld sei, dass <strong>de</strong>r Papa heimkommen musste.<br />

"Und wie führt sich das Gespenst weiter auf, Fräulein Rottenmeier?",<br />

fragte nun Herr Sesemann mit einem lustigen Ausdruck in <strong>de</strong>n<br />

M<strong>und</strong>winkeln.<br />

"Nein, Herr Sesemann", entgegnete die Dame ernst, "es ist kein<br />

Scherz. Ich zweifle nicht daran, dass morgen Herr Sesemann nicht<br />

mehr lachen wird; <strong>de</strong>nn was in <strong>de</strong>m Hause vorgeht, <strong>de</strong>utet auf<br />

Fürchterliches, das hier in vergangener Zeit muss vorgegangen <strong>und</strong><br />

verheimlicht wor<strong>de</strong>n sein."<br />

"So, davon weiß ich nichts", bemerkte Herr Sesemann, "muss aber<br />

bitten, meine völlig ehrenwerten Ahnen nicht verdächtigen zu wollen.<br />

Und nun rufen Sie mir <strong>de</strong>n Sebastian ins Esszimmer, ich will<br />

allein mit ihm re<strong>de</strong>n."<br />

Herr Sesemann ging hinüber <strong>und</strong> Sebastian erschien. Es war Herrn<br />

Sesemann nicht entgangen, dass Sebastian <strong>und</strong> Fräulein Rottenmeier<br />

sich nicht eben mit Zuneigung betrachteten; so hatte er seine<br />

Gedanken.<br />

"Komm Er her, Bursche", winkte er <strong>de</strong>m Eintreten<strong>de</strong>n entgegen, "<strong>und</strong><br />

sag Er mir nun ganz ehrlich: Hat Er nicht etwa selbst ein wenig<br />

Gespenst gespielt, so um Fräulein Rottenmeier etwas Kurzweil zu<br />

machen, he?"<br />

"Nein, meiner Treu, das muss <strong>de</strong>r gnädige Herr nicht glauben; es ist<br />

mir selbst nicht ganz gemütlich bei <strong>de</strong>r Sache", entgegnete<br />

Sebastian mit unverkennbarer Ehrlichkeit.<br />

"Nun, wenn es so steht, so will ich morgen Ihm <strong>und</strong> <strong>de</strong>m tapferen<br />

Seite 68

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