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Heidis Lehr und Wanderjahre - Blog.de

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<strong>Heidis</strong> <strong>Lehr</strong> <strong>und</strong> <strong>Wan<strong>de</strong>rjahre</strong> 1<br />

Ratsherren mit <strong>de</strong>n großen, weißen Kragen so ernsthaft <strong>und</strong><br />

unverwandt auf einen nie<strong>de</strong>rschauten, da rief sie nun regelmäßig die<br />

Tinette herbei <strong>und</strong> sagte ihr, sie habe mitzukommen, im Fall etwas<br />

von dort herauf- o<strong>de</strong>r von oben herunterzutragen wäre. Tinette<br />

ihrerseits machte es pünktlich ebenso; hatte sie oben o<strong>de</strong>r unten<br />

irgen<strong>de</strong>in Geschäft abzutun, so rief sie <strong>de</strong>n Sebastian herbei <strong>und</strong><br />

sagte ihm, er habe sie zu begleiten, es möchte etwas<br />

herbeizubringen sein, das sie nicht allein tragen könnte.<br />

W<strong>und</strong>erbarerweise tat auch Sebastian akkurat dasselbe; wur<strong>de</strong> er in<br />

die abgelegenen Räume geschickt, so holte er <strong>de</strong>n Johann herauf <strong>und</strong><br />

wies ihn an, ihn zu begleiten, im Fall er nicht herbeischaffen<br />

könnte, was erfor<strong>de</strong>rlich sei. Und je<strong>de</strong>s folgte immer ganz willig<br />

<strong>de</strong>m Ruf, obschon eigentlich nie etwas herbeizutragen war, so dass<br />

je<strong>de</strong>s gut hätte allein gehen können; aber es war so, als <strong>de</strong>nke <strong>de</strong>r<br />

Herbeigerufene immer bei sich, er könne <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren auch bald für<br />

<strong>de</strong>nselben Dienst nötig haben. Während sich solches oben zutrug,<br />

stand unten die langjährige Köchin tiefsinnig bei ihren Töpfen <strong>und</strong><br />

schüttelte <strong>de</strong>n Kopf <strong>und</strong> seufzte: "Dass ich das noch erleben musste!"<br />

Es ging im Hause Sesemann seit einiger Zeit etwas ganz Seltsames<br />

<strong>und</strong> Unheimliches vor. Je<strong>de</strong>n Morgen, wenn die Dienerschaft<br />

herunterkam, stand die Haustür weit offen; aber weit <strong>und</strong> breit war<br />

niemand zu sehen, <strong>de</strong>r mit dieser Erscheinung im Zusammenhang stehen<br />

konnte. In <strong>de</strong>n ersten Tagen, da dies geschehen war, wur<strong>de</strong>n gleich<br />

mit Schrecken alle Zimmer <strong>und</strong> Räume <strong>de</strong>s Hauses durchsucht, um zu<br />

sehen, was alles gestohlen sei, <strong>de</strong>nn man dachte, ein Dieb habe sich<br />

im Hause verstecken können <strong>und</strong> sei in <strong>de</strong>r Nacht mit <strong>de</strong>m Gestohlenen<br />

entflohen; aber da war gar nichts fortgekommen, es fehlte im ganzen<br />

Hause nicht ein einziges Ding. Abends wur<strong>de</strong> nicht nur die Tür<br />

doppelt zugeriegelt, son<strong>de</strong>rn es wur<strong>de</strong> noch <strong>de</strong>r hölzerne Balken<br />

vorgeschoben--es half nichts: Am Morgen stand die Tür weit offen;<br />

<strong>und</strong> so früh nun auch die ganze Dienerschaft in ihrer Aufregung am<br />

Morgen herunterkommen mochte--die Tür stand offen, wenn auch<br />

ringsum alles noch im tiefen Schlaf lag <strong>und</strong> Fenster <strong>und</strong> Türen an<br />

allen an<strong>de</strong>ren Häusern noch fest verrammelt waren. Endlich fassten<br />

sich <strong>de</strong>r Johann <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Sebastian ein Herz <strong>und</strong> machten sich auf die<br />

dringen<strong>de</strong>n Zure<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Dame Rottenmeier bereit, die Nacht unten in<br />

<strong>de</strong>m Zimmer, das an <strong>de</strong>n großen Saal stieß, zuzubringen <strong>und</strong> zu<br />

erwarten, was geschehe. Fräulein Rottenmeier suchte mehrere Waffen<br />

<strong>de</strong>s Herrn Sesemann hervor <strong>und</strong> übergab <strong>de</strong>m Sebastian eine große<br />

Liqueurflasche, damit Stärkung vorausgehen <strong>und</strong> gute Wehr nachfolgen<br />

könne, wo sie nötig sei.<br />

Die bei<strong>de</strong>n setzten sich an <strong>de</strong>m festgesetzten Abend hin <strong>und</strong> fingen<br />

gleich an, sich Stärkung zuzutrinken, was sie erst sehr gesprächig<br />

<strong>und</strong> dann ziemlich schläfrig machte, worauf sie bei<strong>de</strong> sich an die<br />

Sesselrücken lehnten <strong>und</strong> verstummten. Als die alte Turmuhr drüben<br />

zwölf schlug, ermannte sich Sebastian <strong>und</strong> rief seinen Kamera<strong>de</strong>n an;<br />

<strong>de</strong>r war aber nicht leicht zu erwecken; sooft ihn Sebastian anrief,<br />

legte er seinen Kopf von einer Seite <strong>de</strong>r Sessellehne auf die an<strong>de</strong>re<br />

<strong>und</strong> schlief weiter. Sebastian lauschte nunmehr gespannt, er war<br />

nun wie<strong>de</strong>r ganz munter gewor<strong>de</strong>n. Es war alles mäuschenstill, auch<br />

von <strong>de</strong>r Straße war kein Laut mehr zu hören. Sebastian entschlief<br />

nicht wie<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>nn jetzt wur<strong>de</strong> es ihm sehr unheimlich in <strong>de</strong>r großen<br />

Stille, <strong>und</strong> er rief <strong>de</strong>n Johann nur noch mit gedämpfter Stimme an<br />

<strong>und</strong> rüttelte ihn von Zeit zu Zeit ein wenig. Endlich, als es<br />

droben schon ein Uhr geschlagen hatte, war <strong>de</strong>r Johann wach gewor<strong>de</strong>n<br />

<strong>und</strong> wie<strong>de</strong>r zum klaren Bewusstsein gekommen, warum er auf <strong>de</strong>m Stuhl<br />

sitze <strong>und</strong> nicht in seinem Bett liege. Jetzt fuhr er auf einmal<br />

sehr tapfer empor <strong>und</strong> rief: "Nun, Sebastian, wir müssen doch einmal<br />

hinaus <strong>und</strong> sehen, wie's steht; du wirst dich ja nicht fürchten.<br />

Nur mir nach."<br />

Johann machte die leicht angelehnte Zimmertür weit auf <strong>und</strong> trat<br />

hinaus. Im gleichen Augenblick blies aus <strong>de</strong>r offenen Haustür ein<br />

scharfer Luftzug her <strong>und</strong> löschte das Licht aus, das <strong>de</strong>r Johann in<br />

<strong>de</strong>r Hand hielt. Dieser stürzte zurück, warf <strong>de</strong>n hinter ihm<br />

stehen<strong>de</strong>n Sebastian beinah rücklings ins Zimmer hinein, riss ihn<br />

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