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Heidis Lehr und Wanderjahre - Blog.de

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nicht?"<br />

<strong>Heidis</strong> <strong>Lehr</strong> <strong>und</strong> <strong>Wan<strong>de</strong>rjahre</strong> 1<br />

Heidi hatte mit gespannter Aufmerksamkeit zugehört, <strong>und</strong> mit<br />

leuchten<strong>de</strong>n Augen sagte es jetzt, tief Atem holend: "Oh, wenn ich<br />

nur schon lesen könnte!"<br />

"Jetzt wird's kommen, <strong>und</strong> gar nicht lange wird's währen, das kann<br />

ich schon sehen, Heidi, <strong>und</strong> nun müssen wir mal nach <strong>de</strong>r Klara sehen;<br />

komm, die schönen Bücher nehmen wir mit." Damit nahm die Großmama<br />

Heidi bei <strong>de</strong>r Hand <strong>und</strong> ging mit ihm nach <strong>de</strong>m Studierzimmer.<br />

Seit <strong>de</strong>m Tage, da Heidi hatte heimgehen wollen <strong>und</strong> Fräulein<br />

Rottenmeier es auf <strong>de</strong>r Treppe ausgescholten <strong>und</strong> ihm gesagt hatte,<br />

wie schlecht <strong>und</strong> <strong>und</strong>ankbar es sich erweise durch sein<br />

Fortlaufenwollen <strong>und</strong> wie gut es sei, dass Herr Sesemann nichts<br />

davon wisse, war mit <strong>de</strong>m Kin<strong>de</strong> eine Verän<strong>de</strong>rung vorgegangen. Es<br />

hatte begriffen, dass es nicht heimgehen könne, wenn es wolle, wie<br />

ihm die Base gesagt hatte, son<strong>de</strong>rn dass es in Frankfurt zu bleiben<br />

habe, lange, lange, vielleicht für immer. Es hatte auch verstan<strong>de</strong>n,<br />

dass Herr Sesemann es sehr <strong>und</strong>ankbar von ihm fin<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>, wenn es<br />

heimgehen wollte, <strong>und</strong> es dachte sich aus, dass die Großmama <strong>und</strong><br />

Klara auch so <strong>de</strong>nken wür<strong>de</strong>n. So durfte es keinem Menschen sagen,<br />

dass es heimgehen möchte, <strong>de</strong>nn dass die Großmama, die so fre<strong>und</strong>lich<br />

mit ihm war, auch böse wür<strong>de</strong>, wie Fräulein Rottenmeier gewor<strong>de</strong>n war,<br />

das wollte Heidi nicht verursachen. Aber in seinem Herzen wur<strong>de</strong><br />

die Last, die darinnen lag, immer schwerer; es konnte nicht mehr<br />

essen, <strong>und</strong> je<strong>de</strong>n Tag wur<strong>de</strong> es ein wenig bleicher. Am Abend konnte<br />

es oft lange, lange nicht einschlafen, <strong>de</strong>nn sobald es allein war<br />

<strong>und</strong> alles still ringsumher, kam ihm alles so lebendig vor die Augen,<br />

die Alm <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Sonnenschein darauf <strong>und</strong> die Blumen; <strong>und</strong> schlief es<br />

endlich doch ein, so sah es im Traum die roten Felsenspitzen am<br />

Falknis <strong>und</strong> das feurige Schneefeld an <strong>de</strong>r Schesaplana, <strong>und</strong> erwachte<br />

dann Heidi am Morgen <strong>und</strong> wollte voller Freu<strong>de</strong> hinausspringen aus<br />

<strong>de</strong>r Hütte--da war es auf einmal in seinem großen Bett in Frankfurt,<br />

so weit, weit weg, <strong>und</strong> konnte nicht mehr heim. Dann drückte Heidi<br />

oft seinen Kopf in das Kissen <strong>und</strong> weinte lang, ganz leise, dass<br />

niemand es höre.<br />

<strong>Heidis</strong> freudloser Zustand entging <strong>de</strong>r Großmama nicht. Sie ließ<br />

einige Tage vorübergehen <strong>und</strong> sah zu, ob die Sache sich än<strong>de</strong>re <strong>und</strong><br />

das Kind sein nie<strong>de</strong>rgeschlagenes Wesen verlieren wür<strong>de</strong>. Als es<br />

aber gleich blieb <strong>und</strong> die Großmama manchmal am frühen Morgen schon<br />

sehen konnte, dass Heidi geweint hatte, da nahm sie eines Tages das<br />

Kind wie<strong>de</strong>r in ihre Stube, stellte es vor sich hin <strong>und</strong> sagte mit<br />

großer Fre<strong>und</strong>lichkeit: "Jetzt sag mir, was dir fehlt, Heidi; hast<br />

du einen Kummer?"<br />

Aber gera<strong>de</strong> dieser fre<strong>und</strong>lichen Großmama wollte Heidi nicht sich so<br />

<strong>und</strong>ankbar zeigen, dass sie vielleicht nachher gar nicht mehr so<br />

fre<strong>und</strong>lich wäre; so sagte Heidi traurig: "Man kann es nicht sagen."<br />

"Nicht? Kann man es etwa <strong>de</strong>r Klara sagen?", fragte die Großmama.<br />

"O nein, keinem Menschen", versicherte Heidi <strong>und</strong> sah dabei so<br />

unglücklich aus, dass es die Großmama erbarmte.<br />

"Komm, Kind", sagte sie, "ich will dir was sagen: Wenn man einen<br />

Kummer hat, <strong>de</strong>n man keinem Menschen sagen kann, so klagt man ihn<br />

<strong>de</strong>m lieben Gott im Himmel <strong>und</strong> bittet ihn, dass er helfe, <strong>de</strong>nn er<br />

kann allem Leid abhelfen, das uns drückt. Das verstehst du, nicht<br />

wahr? Du betest doch je<strong>de</strong>n Abend zum lieben Gott im Himmel <strong>und</strong><br />

dankst ihm für alles Gute <strong>und</strong> bittest ihn, dass er dich vor allem<br />

Bösen behüte?"<br />

"O nein, das tu ich nie", antwortete das Kind.<br />

"Hast du <strong>de</strong>nn gar nie gebetet, Heidi, weißt du nicht, was das ist?"<br />

Seite 60

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