04.10.2013 Aufrufe

Heidis Lehr und Wanderjahre - Blog.de

Heidis Lehr und Wanderjahre - Blog.de

Heidis Lehr und Wanderjahre - Blog.de

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

<strong>Heidis</strong> <strong>Lehr</strong> <strong>und</strong> <strong>Wan<strong>de</strong>rjahre</strong> 1<br />

"Und wie heißt du, Kind?", fragte jetzt die Großmama.<br />

"Ich heiße nur Heidi; aber weil ich soll A<strong>de</strong>lheid heißen, so will<br />

ich schon Acht geben--"; Heidi stockte, <strong>de</strong>nn es fühlte sich ein<br />

wenig schuldig, da es noch immer keine Antwort gab, wenn Fräulein<br />

Rottenmeier unversehens rief: "A<strong>de</strong>lheid!", in<strong>de</strong>m es ihm noch immer<br />

nicht recht gegenwärtig war, dass dies sein Name sei, <strong>und</strong> Fräulein<br />

Rottenmeier war eben ins Zimmer getreten.<br />

"Frau Sesemann wird unstreitig billigen", fiel hier die eben<br />

Eingetretene ein, "dass ich einen Namen wählen musste, <strong>de</strong>n man doch<br />

aussprechen kann, ohne sich selbst genieren zu müssen, schon um <strong>de</strong>r<br />

Dienstboten willen."<br />

"Werteste Rottenmeier", entgegnete Frau Sesemann, "wenn ein Mensch<br />

einmal 'Heidi' heißt <strong>und</strong> an <strong>de</strong>n Namen gewöhnt ist, so<br />

nenn ich ihn so, <strong>und</strong> dabei bleibt's!"<br />

Es war Fräulein Rottenmeier sehr genierlich, dass die alte Dame sie<br />

beständig nur bei ihrem Namen nannte, ohne weitere Titulatur; aber<br />

da war nichts zu machen; die Großmama hatte einmal ihre eigenen<br />

Wege, <strong>und</strong> diese ging sie, da half kein Mittel dagegen. Auch ihre<br />

fünf Sinne hatte die Großmama noch ganz scharf <strong>und</strong> ges<strong>und</strong>, <strong>und</strong> sie<br />

bemerkte, was im Hause vorging, sobald sie es betreten hatte.<br />

Als am Tage nach ihrer Ankunft Klara sich zur gewohnten Zeit nach<br />

Tisch nie<strong>de</strong>rlegte, setzte die Großmama sich neben sie auf einen<br />

Lehnstuhl <strong>und</strong> schloss ihre Augen für einige Minuten; dann stand sie<br />

schon wie<strong>de</strong>r auf--<strong>de</strong>nn sie war gleich wie<strong>de</strong>r munter--<strong>und</strong> trat ins<br />

Esszimmer hinaus; da war niemand. "Die schläft", sagte sie vor<br />

sich hin, ging dann nach <strong>de</strong>m Zimmer <strong>de</strong>r Dame Rottenmeier <strong>und</strong><br />

klopfte kräftig an die Tür. Nach einiger Zeit erschien diese <strong>und</strong><br />

fuhr erschrocken ein wenig zurück bei <strong>de</strong>m unerwarteten Besuch.<br />

"Wo hält sich das Kind auf um diese Zeit, <strong>und</strong> was tut es? Das<br />

wollte ich wissen", sagte Frau Sesemann.<br />

"In seinem Zimmer sitzt es, wo es sich nützlich beschäftigen könnte,<br />

wenn es <strong>de</strong>n leisesten Tätigkeitstrieb hätte; aber Frau Sesemann<br />

sollte nur wissen, was für verkehrtes Zeug sich dieses Wesen oft<br />

aus<strong>de</strong>nkt <strong>und</strong> wirklich ausführt, Dinge, die ich in gebil<strong>de</strong>ter<br />

Gesellschaft kaum erzählen könnte."<br />

"Das wür<strong>de</strong> ich gera<strong>de</strong> auch tun, wenn ich so da drinnen säße wie<br />

dieses Kind, das kann ich Ihnen sagen, <strong>und</strong> Sie könnten zusehen, wie<br />

Sie mein Zeug in gebil<strong>de</strong>ter Gesellschaft erzählen wollten! Jetzt<br />

holen Sie mir das Kind heraus <strong>und</strong> bringen Sie mir's in meine Stube,<br />

ich will ihm einige hübsche Bücher geben, die ich mitgebracht habe."<br />

"Das ist ja gera<strong>de</strong> das Unglück, das ist es ja eben!", rief Fräulein<br />

Rottenmeier aus <strong>und</strong> schlug die Hän<strong>de</strong> zusammen. "Was sollte das<br />

Kind mit Büchern tun? In all dieser Zeit hat es noch nicht einmal<br />

das Abc erlernt; es ist völlig unmöglich, diesem Wesen auch nur<br />

(einen) Begriff beizubringen, davon kann <strong>de</strong>r Herr Kandidat re<strong>de</strong>n!<br />

Wenn dieser treffliche Mensch nicht die Geduld eines himmlischen<br />

Engels besäße, er hätte diesen Unterricht längst aufgegeben."<br />

"So, das ist merkwürdig, das Kind sieht nicht aus wie eines, das<br />

das Abc nicht erlernen kann", sagte Frau Sesemann. "Jetzt holen<br />

Sie mir's herüber, es kann vorläufig die Bil<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Büchern<br />

ansehen."<br />

Fräulein Rottenmeier wollte noch einiges bemerken, aber Frau<br />

Sesemann hatte sich schon umgewandt <strong>und</strong> ging rasch ihrem Zimmer zu.<br />

Sie musste sich sehr verw<strong>und</strong>ern über die Nachricht von <strong>Heidis</strong><br />

Beschränktheit <strong>und</strong> gedachte, die Sache zu untersuchen, jedoch nicht<br />

mit <strong>de</strong>m Herrn Kandidaten, <strong>de</strong>n sie zwar um seines guten Charakters<br />

willen sehr schätzte; sie grüßte ihn auch immer, wenn sie mit ihm<br />

Seite 58

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!