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Heidis Lehr und Wanderjahre - Blog.de

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<strong>Heidis</strong> <strong>Lehr</strong> <strong>und</strong> <strong>Wan<strong>de</strong>rjahre</strong> 1<br />

Rottenmeier schlug die Hän<strong>de</strong> zusammen vor Aufregung. "Fortlaufen!<br />

Wenn das Herr Sesemann wüsste! Fortlaufen aus seinem Hause! Mach<br />

nicht, dass er das je erfährt! Und was ist dir <strong>de</strong>nn nicht recht in<br />

seinem Hause? Wirst du nicht viel besser behan<strong>de</strong>lt, als du<br />

verdienst? Fehlt es dir an irgen<strong>de</strong>twas? Hast du je in <strong>de</strong>inem<br />

ganzen Leben eine Wohnung o<strong>de</strong>r einen Tisch o<strong>de</strong>r eine Bedienung<br />

gehabt, wie du hier hast? Sag!"<br />

"Nein", entgegnete Heidi.<br />

"Das weiß ich wohl!", fuhr die Dame eifrig fort. "Nichts fehlt dir,<br />

gar nichts, du bist ein ganz unglaublich <strong>und</strong>ankbares Kind, <strong>und</strong> vor<br />

lauter Wohlsein weißt du nicht, was du noch alles anstellen willst!"<br />

Aber jetzt kam <strong>de</strong>m Heidi alles obenauf, was in ihm war, <strong>und</strong> brach<br />

hervor: "Ich will ja nur heim, <strong>und</strong> wenn ich so lang nicht komme, so<br />

muss das Schneehöppli immer klagen, <strong>und</strong> die Großmutter erwartet<br />

mich, <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Distelfink bekommt die Rute, wenn <strong>de</strong>r Geißenpeter<br />

keinen Käse bekommt, <strong>und</strong> hier kann man gar nie sehen, wie die Sonne<br />

gute Nacht sagt zu <strong>de</strong>n Bergen; <strong>und</strong> wenn <strong>de</strong>r Raubvogel in Frankfurt<br />

obenüber fliegen wür<strong>de</strong>, so wür<strong>de</strong> er noch viel lauter krächzen, dass<br />

so viele Menschen beieinan<strong>de</strong>r sitzen <strong>und</strong> einan<strong>de</strong>r bös machen <strong>und</strong><br />

nicht auf <strong>de</strong>n Felsen gehen, wo es einem wohl ist."<br />

"Barmherzigkeit, das Kind ist übergeschnappt!", rief Fräulein<br />

Rottenmeier aus <strong>und</strong> stürzte mit Schrecken die Treppe hinauf, wo sie<br />

sehr unsanft gegen <strong>de</strong>n Sebastian rannte, <strong>de</strong>r eben hinunter wollte.<br />

"Holen Sie auf <strong>de</strong>r Stelle das unglückliche Wesen herauf!", rief sie<br />

ihm zu, in<strong>de</strong>m sie sich <strong>de</strong>n Kopf rieb, <strong>de</strong>nn sie war hart angestoßen.<br />

"Ja, ja, schon recht, danke schön", gab Sebastian zurück <strong>und</strong> rieb<br />

sich <strong>de</strong>n seinen, <strong>de</strong>nn er war noch härter angefahren.<br />

Heidi stand mit flammen<strong>de</strong>n Augen noch auf <strong>de</strong>rselben Stelle fest <strong>und</strong><br />

zitterte vor innerer Erregung am ganzen Körper.<br />

"Na, schon wie<strong>de</strong>r was angestellt?", fragte Sebastian lustig; als er<br />

aber Heidi, das sich nicht rührte, recht ansah, klopfte er ihm<br />

fre<strong>und</strong>lich auf die Schulter <strong>und</strong> sagte tröstend: "Pah! Pah! Das<br />

muss sich das Mamsellchen nicht so zu Herzen nehmen, nur lustig,<br />

das ist die Hauptsache! Sie hat mir eben jetzt auch fast ein Loch<br />

in <strong>de</strong>n Kopf gerannt; aber nur nicht einschüchtern lassen! Na?<br />

Immer noch auf <strong>de</strong>mselben Fleck? Wir müssen hinauf, sie hat's<br />

befohlen."<br />

Heidi ging nun die Treppe hinauf, aber langsam <strong>und</strong> leise <strong>und</strong> gar<br />

nicht, wie sonst seine Art war. Das tat <strong>de</strong>m Sebastian Leid zu<br />

sehen; er ging hinter <strong>de</strong>m Heidi her <strong>und</strong> sprach ermutigen<strong>de</strong> Worte zu<br />

ihm: "Nur nicht abgeben! Nur nicht traurig wer<strong>de</strong>n! Nur immer<br />

tapfer darauf zu! Wir haben ja ein ganz vernünftiges Mamsellchen,<br />

hat noch gar nie geweint, seit es bei uns ist; sonst weinen sie ja<br />

zwölfmal im Tag in <strong>de</strong>m Alter, das kennt man. Die Kätzchen sind<br />

auch lustig droben, die springen auf <strong>de</strong>m ganzen Estrich herum <strong>und</strong><br />

tun wie närrisch. Nachher gehen wir mal zusammen hinauf <strong>und</strong><br />

schauen ihnen zu, wenn die Dame drinnen weg ist, ja?"<br />

Heidi nickte ein wenig mit <strong>de</strong>m Kopf, aber so freudlos, dass es <strong>de</strong>m<br />

Sebastian recht zu Herzen ging <strong>und</strong> er ganz teilnehmend <strong>de</strong>m Heidi<br />

nachschaute, wie es nach seinem Zimmer hin schlich.<br />

Am Aben<strong>de</strong>ssen heute sagte Fräulein Rottenmeier kein Wort, aber<br />

fortwährend warf sie son<strong>de</strong>rbar wachsame Blicke zu Heidi hinüber, so<br />

als erwartete sie, es könnte plötzlich etwas Unerhörtes unternehmen;<br />

aber Heidi saß mäuschenstill am Tisch <strong>und</strong> rührte sich nicht, es aß<br />

nicht <strong>und</strong> trank nicht; nur sein Brötchen hatte es schnell in die<br />

Tasche gesteckt.<br />

Am folgen<strong>de</strong>n Morgen, als <strong>de</strong>r Herr Kandidat die Treppe heraufkam,<br />

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