Heidis Lehr und Wanderjahre - Blog.de
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<strong>Heidis</strong> <strong>Lehr</strong> <strong>und</strong> <strong>Wan<strong>de</strong>rjahre</strong> 1<br />
einwen<strong>de</strong>n, umso weniger, da er wirklich in Bäl<strong>de</strong> zu erwarten war.<br />
Sie stand auf <strong>und</strong> sagte etwas grimmig: "Gut, Klara, aber auch ich<br />
wer<strong>de</strong> ein Wort mit Herrn Sesemann sprechen." Damit verließ sie das<br />
Zimmer.<br />
Es verflossen nun ein paar ungestörte Tage, aber Fräulein<br />
Rottenmeier kam nicht mehr aus <strong>de</strong>r Aufregung heraus, stündlich trat<br />
ihr die Täuschung vor Augen, die sie in <strong>Heidis</strong> Persönlichkeit<br />
erlebt hatte, <strong>und</strong> es war ihr, als sei seit seiner Erscheinung im<br />
Hause Sesemann alles aus <strong>de</strong>n Fugen gekommen <strong>und</strong> komme nicht wie<strong>de</strong>r<br />
hinein. Klara war sehr vergnügt; sie langweilte sich nie mehr,<br />
<strong>de</strong>nn in <strong>de</strong>n Unterrichtsst<strong>und</strong>en machte Heidi die kurzweiligsten<br />
Sachen; die Buchstaben machte es immer alle durcheinan<strong>de</strong>r <strong>und</strong><br />
konnte sie nie kennen lernen, <strong>und</strong> wenn <strong>de</strong>r Herr Kandidat mitten im<br />
Erklären <strong>und</strong> Beschreiben ihrer Formen war, um sie ihm anschaulicher<br />
zu machen <strong>und</strong> als Vergleichung etwa von einem Hörnchen o<strong>de</strong>r einem<br />
Schnabel sprach dabei, rief es auf einmal in aller Freu<strong>de</strong> aus: "Es<br />
ist eine Geiß!", o<strong>de</strong>r: "Es ist ein Raubvogel!" Denn die<br />
Beschreibungen weckten in seinem Gehirn allerlei Vorstellungen, nur<br />
keine Buchstaben. In <strong>de</strong>n späteren Nachmittagsst<strong>und</strong>en saß Heidi<br />
wie<strong>de</strong>r bei Klara <strong>und</strong> erzählte ihr immer wie<strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r Alm <strong>und</strong> <strong>de</strong>m<br />
Leben dort, so viel <strong>und</strong> so lange, bis das Verlangen darnach in ihm<br />
so brennend wur<strong>de</strong>, dass es immer zum Schluss versicherte: "Nun muss<br />
ich gewiss wie<strong>de</strong>r heim! Morgen muss ich gewiss gehen!" Aber Klara<br />
beschwichtigte immer wie<strong>de</strong>r diese Anfälle <strong>und</strong> bewies Heidi, dass es<br />
doch sicher dableiben müsse, bis <strong>de</strong>r Papa komme; dann wer<strong>de</strong> man<br />
schon sehen, wie es weitergehe. Wenn Heidi alsdann immer wie<strong>de</strong>r<br />
nachgab <strong>und</strong> gleich wie<strong>de</strong>r zufrie<strong>de</strong>n war, so half ihm eine fröhliche<br />
Aussicht dazu, die es im Stillen hatte, dass mit je<strong>de</strong>m Tage, <strong>de</strong>n es<br />
noch dablieb, sein Häuflein Brötchen für die Großmutter wie<strong>de</strong>r um<br />
zwei größer wür<strong>de</strong>, <strong>de</strong>nn mittags <strong>und</strong> abends lag immer ein schönes<br />
Weißbrötchen bei seinem Teller; das steckte es gleich ein, <strong>de</strong>nn es<br />
hätte das Brötchen nie essen können beim Gedanken, dass die<br />
Großmutter nie eines habe <strong>und</strong> das harte, schwarze Brot fast nicht<br />
mehr essen konnte. Nach Tisch saß Heidi je<strong>de</strong>n Tag ein paar St<strong>und</strong>en<br />
lang ganz allein in seinem Zimmer <strong>und</strong> regte sich nicht, <strong>de</strong>nn dass<br />
es in Frankfurt verboten war, nur so hinauszulaufen, wie es auf <strong>de</strong>r<br />
Alm getan, das hatte es nun begriffen <strong>und</strong> tat es nie mehr. Mit<br />
Sebastian drüben im Esszimmer ein Gespräch führen durfte es auch<br />
nicht, das hatte Fräulein Rottenmeier auch verboten, <strong>und</strong> mit<br />
Tinette eine Unterhaltung zu probieren, daran kam ihm kein Sinn; es<br />
ging ihr immer scheu aus <strong>de</strong>m Wege, <strong>de</strong>nn sie re<strong>de</strong>te nur in<br />
höhnischem Ton mit ihm <strong>und</strong> spöttelte es fortwährend an, <strong>und</strong> Heidi<br />
verstand ihre Art ganz gut, <strong>und</strong> dass sie es nur immer ausspottete.<br />
So saß Heidi täglich da <strong>und</strong> hatte alle Zeit, sich auszu<strong>de</strong>nken, wie<br />
nun die Alm wie<strong>de</strong>r grün war <strong>und</strong> wie die gelben Blümchen im<br />
Sonnenschein glitzerten <strong>und</strong> wie alles leuchtete rings um die Sonne,<br />
<strong>de</strong>r Schnee <strong>und</strong> die Berge <strong>und</strong> das ganze weite Tal, <strong>und</strong> Heidi konnte<br />
es manchmal fast nicht mehr aushalten vor Verlangen, wie<strong>de</strong>r dort zu<br />
sein. Die Base hatte ja auch gesagt, es könne wie<strong>de</strong>r heimgehen,<br />
wann es wolle. So kam es, dass Heidi eines Tages es nicht mehr<br />
aushielt; es packte in aller Eile seine Brötchen in das große rote<br />
Halstuch zusammen, setzte sein Strohhütchen auf <strong>und</strong> zog aus. Aber<br />
schon unter <strong>de</strong>r Haustür traf es auf ein großes Reisehin<strong>de</strong>rnis, auf<br />
Fräulein Rottenmeier selbst, die eben von einem Ausgang<br />
zurückkehrte. Sie stand still <strong>und</strong> schaute in starrem Erstaunen<br />
Heidi von oben bis unten an, <strong>und</strong> ihr Blick blieb vorzüglich auf <strong>de</strong>m<br />
gefüllten roten Halstuch haften. Jetzt brach sie los.<br />
"Was ist das für ein Aufzug? Was heißt das überhaupt? Habe ich<br />
dir nicht streng verboten, je wie<strong>de</strong>r herumzustreichen? Nun<br />
probierst du's doch wie<strong>de</strong>r <strong>und</strong> dazu noch völlig aussehend wie eine<br />
Landstreicherin."<br />
"Ich wollte nicht herumstreichen, ich wollte nur heimgehen",<br />
entgegnete Heidi erschrocken.<br />
"Wie? Was? Heimgehen? Heimgehen wolltest du?" Fräulein<br />
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