Heidis Lehr und Wanderjahre - Blog.de

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04.10.2013 Aufrufe

Heidis Lehr und Wanderjahre 1 die kleine Mamsell, die hat wieder etwas angestellt." Dann sagte er, den Jungen hereinziehend: "'s ist schon recht, komm mir nur nach und warte vor der Tür, bis ich wieder herauskomme. Wenn ich dich dann einlasse, kannst du gleich etwas spielen; das Fräulein hört es gern." Oben klopfte er am Studierzimmer und wurde hereingerufen. "Es ist ein Junge da, der durchaus an Fräulein Klara selbst etwas zu bestellen hat", berichtete Sebastian. Klara war sehr erfreut über das außergewöhnliche Ereignis. "Er soll nur gleich hereinkommen", sagte sie, "nicht wahr, Herr Kandidat, wenn er doch mit mir selbst sprechen muss." Der Junge war schon eingetreten, und nach Anweisung fing er sofort seine Orgel zu drehen an. Fräulein Rottenmeier hatte, um dem Abc auszuweichen, sich im Esszimmer allerlei zu schaffen gemacht. Auf einmal horchte sie auf.--Kamen die Töne von der Straße her? Aber so nahe? Wie konnte vom Studierzimmer her eine Drehorgel ertönen? Und dennoch--wahrhaftig--sie stürzte durch das lange Esszimmer und riss die Tür auf. Da--unglaublich--da stand mitten im Studierzimmer ein zerlumpter Orgelspieler und drehte sein Instrument mit größter Emsigkeit. Der Herr Kandidat schien immerfort etwas sagen zu wollen, aber es wurde nichts vernommen. Klara und Heidi hörten mit ganz erfreuten Gesichtern der Musik zu. "Aufhören! Sofort aufhören!", rief Fräulein Rottenmeier ins Zimmer hinein. Ihre Stimme wurde übertönt von der Musik. Jetzt lief sie auf den Jungen zu--aber auf einmal hatte sie etwas zwischen den Füßen, sie sah auf den Boden: ein grausiges, schwarzes Tier kroch ihr zwischen den Füßen durch--eine Schildkröte. Jetzt tat Fräulein Rottenmeier einen Sprung in die Höhe, wie sie seit vielen Jahren keinen getan hatte, dann schrie sie aus Leibeskräften: "Sebastian! Sebastian!" Plötzlich hielt der Orgelspieler inne, denn diesmal hatte die Stimme die Musik übertönt. Sebastian stand draußen vor der halb offenen Tür und krümmte sich vor Lachen, denn er hatte zugesehen, wie der Sprung vor sich ging. Endlich kam er herein. Fräulein Rottenmeier war auf einen Stuhl niedergesunken. "Fort mit allem, Mensch und Tier! Schaffen Sie sie weg, Sebastian, sofort!", rief sie ihm entgegen. Sebastian gehorchte bereitwillig, zog den Jungen hinaus, der schnell seine Schildkröte erfasst hatte, drückte ihm draußen etwas in die Hand und sagte: "Vierzig für Fräulein Klara, und vierzig fürs Spielen, das hast du gut gemacht"; damit schloss er hinter ihm die Haustür. Im Studierzimmer war es wieder ruhig geworden; die Studien wurden wieder fortgesetzt, und Fräulein Rottenmeier hatte sich nun auch festgesetzt in dem Zimmer, um durch ihre Gegenwart ähnliche Gräuel zu verhüten. Den Vorfall wollte sie nach den Unterrichtsstunden untersuchen und den Schuldigen so bestrafen, dass er daran denken würde. Schon wieder klopfte es an die Tür, und herein trat abermals Sebastian mit der Nachricht, es sei ein großer Korb gebracht worden, der sogleich an Fräulein Klara selbst abzugeben sei. "An mich?", fragte Klara erstaunt und äußerst neugierig, was das sein möchte; "zeigen Sie doch gleich einmal her, wie er aussieht." Sebastian brachte einen bedeckten Korb herein und entfernte sich dann eilig wieder. "Ich denke, erst wird der Unterricht beendet, dann der Korb ausgepackt", bemerkte Fräulein Rottenmeier. Seite 48

Heidis Lehr und Wanderjahre 1 Klara konnte sich nicht vorstellen, was man ihr gebracht hatte; sie schaute sehr verlangend nach dem Korb. "Herr Kandidat", sagte sie, sich selbst in ihrem Deklinieren unterbrechend, "könnte ich nicht nur einmal schnell hineinsehen, um zu wissen, was drin ist, und dann gleich wieder fortfahren?" "In einer Hinsicht könnte man dafür, in einer anderen dawider sein", entgegnete der Herr Kandidat; "(dafür) spräche der Grund, dass, wenn nun Ihre ganze Aufmerksamkeit auf diesen Gegenstand gerichtet ist--"; die Rede konnte nicht beendigt werden. Der Deckel des Korbes saß nur lose darauf, und nun sprangen mit einem Mal ein, zwei drei und wieder zwei und immer noch mehr junge Kätzchen darunter hervor und ins Zimmer hinaus, und mit einer so unbegreiflichen Schnelligkeit fuhren sie überall herum, dass es war, als wäre das ganze Zimmer voll solcher Tierchen. Sie sprangen über die Stiefel des Herrn Kandidaten, bissen an seinen Beinkleidern, kletterten am Kleid von Fräulein Rottenmeier empor, krabbelten um ihre Füße herum, sprangen an Klaras Sessel hinauf, kratzten, krabbelten, miauten; es war ein arges Gewirre. Klara rief immerfort voller Entzücken: "Oh, die niedlichen Tierchen! Die lustigen Sprünge! Sieh! Sieh! Heidi, hier, dort, sieh dieses!" Heidi schoss ihnen vor Freude in alle Winkel nach. Der Herr Kandidat stand sehr verlegen am Tisch und zog bald den einen, bald den andern Fuß in die Höhe, um ihn dem unheimlichen Gekrabbel zu entziehen. Fräulein Rottenmeier saß erst sprachlos vor Entsetzen in ihrem Sessel, dann fing sie an aus Leibeskräften zu schreien: "Tinette! Tinette! Sebastian! Sebastian!", denn vom Sessel aufzustehen konnte sie unmöglich wagen, da konnten ja mit einem Mal alle die kleinen Scheusale an ihr emporspringen. Endlich kamen Sebastian und Tinette auf die wiederholten Hilferufe herbei, und jener packte gleich eins nach dem andern der kleinen Geschöpfe in den Korb hinein und trug sie auf den Estrich zu dem Katzenlager, das er für die zwei von gestern bereitet hatte. Auch am heutigen Tage hatte kein Gähnen während der Unterrichtsstunden stattgefunden. Am späten Abend, als Fräulein Rottenmeier sich von den Aufregungen des Morgens wieder hinlänglich erholt hatte, berief sie Sebastian und Tinette ins Studierzimmer herauf, um hier eine gründliche Untersuchung über die strafwürdigen Vorgänge anzustellen. Nun kam es denn heraus, dass Heidi auf seinem gestrigen Ausflug die sämtlichen Ereignisse vorbereitet und herbeigeführt hatte. Fräulein Rottenmeier saß weiß vor Entrüstung da und konnte erst keine Worte für ihre Empfindungen finden. Sie winkte mit der Hand, dass Sebastian und Tinette sich entfernen sollten. Jetzt wandte sie sich an Heidi, das neben Klaras Sessel stand und nicht recht begriff, was es verbrochen hatte. "Adelheid", begann sie mit strengem Ton, "ich weiß nur (eine) Strafe, die dir empfindlich sein könnte, denn du bist eine Barbarin; aber wir wollen sehen, ob du unten im dunklen Keller bei Molchen und Ratten nicht zahm wirst, dass du dir keine solchen Dinge mehr einfallen lässt." Heidi hörte still und verwundert sein Urteil an, denn in einem schreckhaften Keller war es noch nie gewesen, der anstoßende Raum in der Almhütte, den der Großvater Keller nannte, wo immer die fertigen Käse lagen und die frische Milch stand, war eher ein anmutiger und einladender Ort, und Ratten und Molche hatte es noch keine gesehen. Aber Klara erhob einen lauten Jammer: "Nein, nein, Fräulein Rottenmeier, man muss warten, bis der Papa da ist; er hat ja geschrieben, er komme nun bald, und dann will ich ihm alles erzählen, und er sagt dann schon, was mit Heidi geschehen soll." Gegen diesen Oberrichter durfte Fräulein Rottenmeier nichts Seite 49

<strong>Heidis</strong> <strong>Lehr</strong> <strong>und</strong> <strong>Wan<strong>de</strong>rjahre</strong> 1<br />

Klara konnte sich nicht vorstellen, was man ihr gebracht hatte; sie<br />

schaute sehr verlangend nach <strong>de</strong>m Korb.<br />

"Herr Kandidat", sagte sie, sich selbst in ihrem Deklinieren<br />

unterbrechend, "könnte ich nicht nur einmal schnell hineinsehen, um<br />

zu wissen, was drin ist, <strong>und</strong> dann gleich wie<strong>de</strong>r fortfahren?"<br />

"In einer Hinsicht könnte man dafür, in einer an<strong>de</strong>ren dawi<strong>de</strong>r sein",<br />

entgegnete <strong>de</strong>r Herr Kandidat; "(dafür) spräche <strong>de</strong>r Gr<strong>und</strong>, dass,<br />

wenn nun Ihre ganze Aufmerksamkeit auf diesen Gegenstand gerichtet<br />

ist--"; die Re<strong>de</strong> konnte nicht beendigt wer<strong>de</strong>n. Der Deckel <strong>de</strong>s<br />

Korbes saß nur lose darauf, <strong>und</strong> nun sprangen mit einem Mal ein,<br />

zwei drei <strong>und</strong> wie<strong>de</strong>r zwei <strong>und</strong> immer noch mehr junge Kätzchen<br />

darunter hervor <strong>und</strong> ins Zimmer hinaus, <strong>und</strong> mit einer so<br />

unbegreiflichen Schnelligkeit fuhren sie überall herum, dass es war,<br />

als wäre das ganze Zimmer voll solcher Tierchen. Sie sprangen<br />

über die Stiefel <strong>de</strong>s Herrn Kandidaten, bissen an seinen<br />

Beinklei<strong>de</strong>rn, kletterten am Kleid von Fräulein Rottenmeier empor,<br />

krabbelten um ihre Füße herum, sprangen an Klaras Sessel hinauf,<br />

kratzten, krabbelten, miauten; es war ein arges Gewirre. Klara<br />

rief immerfort voller Entzücken: "Oh, die niedlichen Tierchen! Die<br />

lustigen Sprünge! Sieh! Sieh! Heidi, hier, dort, sieh dieses!"<br />

Heidi schoss ihnen vor Freu<strong>de</strong> in alle Winkel nach. Der Herr<br />

Kandidat stand sehr verlegen am Tisch <strong>und</strong> zog bald <strong>de</strong>n einen, bald<br />

<strong>de</strong>n an<strong>de</strong>rn Fuß in die Höhe, um ihn <strong>de</strong>m unheimlichen Gekrabbel zu<br />

entziehen. Fräulein Rottenmeier saß erst sprachlos vor Entsetzen<br />

in ihrem Sessel, dann fing sie an aus Leibeskräften zu schreien:<br />

"Tinette! Tinette! Sebastian! Sebastian!", <strong>de</strong>nn vom Sessel<br />

aufzustehen konnte sie unmöglich wagen, da konnten ja mit einem Mal<br />

alle die kleinen Scheusale an ihr emporspringen.<br />

Endlich kamen Sebastian <strong>und</strong> Tinette auf die wie<strong>de</strong>rholten Hilferufe<br />

herbei, <strong>und</strong> jener packte gleich eins nach <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r kleinen<br />

Geschöpfe in <strong>de</strong>n Korb hinein <strong>und</strong> trug sie auf <strong>de</strong>n Estrich zu <strong>de</strong>m<br />

Katzenlager, das er für die zwei von gestern bereitet hatte.<br />

Auch am heutigen Tage hatte kein Gähnen während <strong>de</strong>r<br />

Unterrichtsst<strong>und</strong>en stattgef<strong>und</strong>en. Am späten Abend, als Fräulein<br />

Rottenmeier sich von <strong>de</strong>n Aufregungen <strong>de</strong>s Morgens wie<strong>de</strong>r hinlänglich<br />

erholt hatte, berief sie Sebastian <strong>und</strong> Tinette ins Studierzimmer<br />

herauf, um hier eine gründliche Untersuchung über die strafwürdigen<br />

Vorgänge anzustellen. Nun kam es <strong>de</strong>nn heraus, dass Heidi auf<br />

seinem gestrigen Ausflug die sämtlichen Ereignisse vorbereitet <strong>und</strong><br />

herbeigeführt hatte. Fräulein Rottenmeier saß weiß vor Entrüstung<br />

da <strong>und</strong> konnte erst keine Worte für ihre Empfindungen fin<strong>de</strong>n. Sie<br />

winkte mit <strong>de</strong>r Hand, dass Sebastian <strong>und</strong> Tinette sich entfernen<br />

sollten. Jetzt wandte sie sich an Heidi, das neben Klaras Sessel<br />

stand <strong>und</strong> nicht recht begriff, was es verbrochen hatte.<br />

"A<strong>de</strong>lheid", begann sie mit strengem Ton, "ich weiß nur (eine)<br />

Strafe, die dir empfindlich sein könnte, <strong>de</strong>nn du bist eine Barbarin;<br />

aber wir wollen sehen, ob du unten im dunklen Keller bei Molchen<br />

<strong>und</strong> Ratten nicht zahm wirst, dass du dir keine solchen Dinge mehr<br />

einfallen lässt."<br />

Heidi hörte still <strong>und</strong> verw<strong>und</strong>ert sein Urteil an, <strong>de</strong>nn in einem<br />

schreckhaften Keller war es noch nie gewesen, <strong>de</strong>r anstoßen<strong>de</strong> Raum<br />

in <strong>de</strong>r Almhütte, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Großvater Keller nannte, wo immer die<br />

fertigen Käse lagen <strong>und</strong> die frische Milch stand, war eher ein<br />

anmutiger <strong>und</strong> einla<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Ort, <strong>und</strong> Ratten <strong>und</strong> Molche hatte es noch<br />

keine gesehen.<br />

Aber Klara erhob einen lauten Jammer: "Nein, nein, Fräulein<br />

Rottenmeier, man muss warten, bis <strong>de</strong>r Papa da ist; er hat ja<br />

geschrieben, er komme nun bald, <strong>und</strong> dann will ich ihm alles<br />

erzählen, <strong>und</strong> er sagt dann schon, was mit Heidi geschehen soll."<br />

Gegen diesen Oberrichter durfte Fräulein Rottenmeier nichts<br />

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