Heidis Lehr und Wanderjahre - Blog.de
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<strong>Heidis</strong> <strong>Lehr</strong> <strong>und</strong> <strong>Wan<strong>de</strong>rjahre</strong> 1<br />
offen haben. Wie das Vögelein, das zum ersten Mal in seinem schön<br />
glänzen<strong>de</strong>n Gefängnis sitzt, hin <strong>und</strong> her schießt <strong>und</strong> bei allen<br />
Stäben probiert, ob es nicht dazwischen durchschlüpfen <strong>und</strong> in die<br />
Freiheit hinausfliegen könne, so lief Heidi immer von <strong>de</strong>m einen<br />
Fenster zum an<strong>de</strong>ren, um zu probieren, ob es nicht aufgemacht wer<strong>de</strong>n<br />
könne, <strong>de</strong>nn dann musste man doch etwas an<strong>de</strong>res sehen als Mauern <strong>und</strong><br />
Fenster, da musste doch unten <strong>de</strong>r Erdbo<strong>de</strong>n, das grüne Gras <strong>und</strong> <strong>de</strong>r<br />
letzte schmelzen<strong>de</strong> Schnee an <strong>de</strong>n Abhängen zum Vorschein kommen, <strong>und</strong><br />
Heidi sehnte sich, das zu sehen. Aber die Fenster blieben fest<br />
verschlossen, wie sehr auch das Kind drehte <strong>und</strong> zog <strong>und</strong> von unten<br />
suchte, die kleinen Finger unter die Rahmen einzutreiben, damit es<br />
Kraft hätte, sie aufzudrücken; es blieb alles eisenfest aufeinan<strong>de</strong>r<br />
sitzen. Nach langer Zeit, als Heidi einsah, dass alle<br />
Anstrengungen nichts halfen, gab es seinen Plan auf <strong>und</strong> überdachte<br />
nun, wie es wäre, wenn es vor das Haus hinausginge <strong>und</strong> hintenherum,<br />
bis es auf <strong>de</strong>n Grasbo<strong>de</strong>n käme, <strong>de</strong>nn es erinnerte sich, dass es<br />
gestern Abend vorn am Haus nur über Steine gekommen war. Jetzt<br />
klopfte es an seiner Tür <strong>und</strong> unmittelbar darauf steckte Tinette <strong>de</strong>n<br />
Kopf herein <strong>und</strong> sagte kurz: "Frühstück bereit!"<br />
Heidi verstand keineswegs eine Einladung unter diesen Worten; auf<br />
<strong>de</strong>m spöttischen Gesicht <strong>de</strong>r Tinette stand viel mehr eine Warnung,<br />
ihr nicht zu nah zu kommen, als eine fre<strong>und</strong>liche Einladung<br />
geschrieben, <strong>und</strong> das las Heidi <strong>de</strong>utlich von <strong>de</strong>m Gesicht <strong>und</strong><br />
richtete sich danach. Es nahm <strong>de</strong>n kleinen Schemel unter <strong>de</strong>m Tisch<br />
empor, stellte ihn in eine Ecke, setzte sich darauf <strong>und</strong> wartete so<br />
ganz still ab, was nun kommen wür<strong>de</strong>. Nach einiger Zeit kam etwas<br />
mit ziemlichem Geräusch, es war Fräulein Rottenmeier, die schon<br />
wie<strong>de</strong>r in Aufregung geraten war <strong>und</strong> in <strong>Heidis</strong> Stube hineinrief:<br />
"Was ist mit dir, A<strong>de</strong>lheid? Begreifst du nicht, was ein Frühstück<br />
ist? Komm herüber!"<br />
Das verstand nun Heidi <strong>und</strong> folgte sogleich nach. Im Esszimmer saß<br />
Klara schon lang an ihrem Platz <strong>und</strong> begrüßte Heidi fre<strong>und</strong>lich,<br />
machte auch ein viel vergnügteres Gesicht als sonst gewöhnlich,<br />
<strong>de</strong>nn sie sah voraus, dass heute wie<strong>de</strong>r allerlei Neues geschehen<br />
wür<strong>de</strong>. Das Frühstück ging nun ohne Störung vor sich; Heidi aß ganz<br />
anständig sein Butterbrot, <strong>und</strong> wie alles zu En<strong>de</strong> war, wur<strong>de</strong> Klara<br />
wie<strong>de</strong>r ins Studierzimmer hinübergerollt <strong>und</strong> Heidi wur<strong>de</strong> von<br />
Fräulein Rottenmeier angewiesen, nachzufolgen <strong>und</strong> bei Klara zu<br />
bleiben, bis <strong>de</strong>r Herr Kandidat kommen wür<strong>de</strong>, um die<br />
Unterrichtsst<strong>und</strong>en zu beginnen. Als die bei<strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>r allein waren,<br />
sagte Heidi sogleich: "Wie kann man hinaussehen hier <strong>und</strong> ganz<br />
hinunter auf <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n?"<br />
"Man macht ein Fenster auf <strong>und</strong> guckt hinaus", antwortete Klara<br />
belustigt.<br />
"Man kann diese Fenster nicht aufmachen", versetzte Heidi traurig.<br />
"Doch, doch", versicherte Klara, "nur du noch nicht, <strong>und</strong> ich kann<br />
dir auch nicht helfen; aber wenn du einmal <strong>de</strong>n Sebastian siehst, so<br />
macht er dir schon eines auf."<br />
Das war eine große Erleichterung für Heidi zu wissen, dass man doch<br />
die Fenster öffnen <strong>und</strong> hinausschauen könne, <strong>de</strong>nn noch war es ganz<br />
unter <strong>de</strong>m Druck <strong>de</strong>s Gefangenseins von seinem Zimmer her. Klara<br />
fing nun an, Heidi zu fragen, wie es bei ihm zu Hause sei, <strong>und</strong><br />
Heidi erzählte mit Freu<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>r Alm <strong>und</strong> <strong>de</strong>n Geißen <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Wei<strong>de</strong><br />
<strong>und</strong> allem, was ihm lieb war.<br />
Unter<strong>de</strong>ssen war <strong>de</strong>r Herr Kandidat angekommen; aber Fräulein<br />
Rottenmeier führte ihn nicht, wie gewöhnlich, ins Studierzimmer,<br />
<strong>de</strong>nn sie musste sich erst aussprechen <strong>und</strong> geleitete ihn zu diesem<br />
Zweck ins Esszimmer, wo sie sich vor ihn hinsetzte <strong>und</strong> ihm in<br />
großer Aufregung ihre bedrängte Lage schil<strong>de</strong>rte <strong>und</strong> wie sie in<br />
diese hineingekommen war.<br />
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