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Insider analysieren, Initiativen berichten. - Internationales Bildungs

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03/ 11 Sommer 2011 ISSN 1616-7619 4,- € K 46699<br />

<strong>Insider</strong> <strong>analysieren</strong>, <strong>Initiativen</strong> <strong>berichten</strong>.<br />

53


Liebe Leserinnen und Leser,<br />

ganz Europa schaut in diesem Sommer auf Belarus.<br />

Das einst fast unbekannte Land zieht nun die<br />

Aufmerksamkeit der internationalen Öffentlichkeit<br />

auf sich: Wie nie zuvor wird es deutlich, dass Bela-<br />

rus kurz vor einem Umbruch steht, wenn nicht politisch,<br />

dann zumindest wirtschaftlich. Wird sich<br />

Belarus nach Europa oder nach Russland orientieren?<br />

Nun ist dies aufs Engste mit der Entwicklung<br />

der internationalen Wirtschaftspolitik verbunden:<br />

Eine schwere wirtschaftliche Krise, die Belarus<br />

ohne internationale Subventionen nicht mehr bewältigen<br />

kann, zwingt die belarussische Regierung,<br />

ihre Außenpolitik gründlich zu revidieren.<br />

Auch die internationalen Finanzinstitute verfolgen<br />

dabei ein klares Ziel – Belarus durch die Kredite<br />

zu einem strukturellen Wandel zu bewegen<br />

(Seiten 6 bis 8).<br />

Wie sich dabei die Beziehungen zu Russland ent-<br />

wickeln werden, bleibt offen. Erneut kriselt es<br />

zwischen den beiden Staaten (Seite 11) – und dies<br />

trotz einer scheinbar so gut funktionierenden Zollunion<br />

(Seiten 8 und 9). Auch seitens der EU und<br />

der USA wird eine fundamental neue Situation<br />

geschaffen. Waren die Sanktionen gegen das belarussische<br />

Regime bisher rein politisch, droht heute<br />

dem Land auch eine zunehmende wirtschaftliche<br />

Isolation. Welche Entwicklungswege die belarussische<br />

Wirtschaft in dieser Situation zur Auswahl<br />

hat, erfahren Sie auf den Seiten 20 und 21 von der<br />

Wirtschaftsexpertin Irina Točickaja. Wie auch vielen<br />

anderen Analytikern ist ihr bewusst, dass die<br />

belarussische Regierung der Privatisierung eines<br />

Teils des Staatsvermögens nicht mehr ausweichen<br />

kann. Wie diese Prozesse in Belarus verlaufen, erzählen<br />

Aleksandr Dautin und Andrej Timarov auf<br />

den Seiten 24 bis 26.<br />

Der Grund für den zunehmenden internationalen<br />

wirtschaftlichen Druck liegt dabei nicht zuletzt<br />

bei den innenpolitischen Prozessen im Land: Die<br />

Welle staatlicher Repressionen gegen die Opposition<br />

erreichte in diesem Sommer einen dramatischen<br />

Höhepunkt. Das brutale Vorgehen der belarussischen<br />

Miliz gegen die Teilnehmer der friedlichen<br />

„schweigenden Proteste“, die mitten im Sommer<br />

ausbrachen (Seiten 16 und 17), sowie die politische<br />

Verfolgung der belarussischen Menschenrechtsorganisationen<br />

(Seiten 28 und 29), lösten international<br />

eine Welle der Empörung aus, nicht zuletzt<br />

mit der Forderung, die Sanktionen gegen das belarussische<br />

Regime zu verschärfen. Andererseits gab<br />

es Impulse für neues gesellschaftliches und menschenrechtliches<br />

Engagement, sowohl auf nationaler<br />

(Seite 27) als auch auf internationaler Ebene<br />

(Seite 30).<br />

Aber nicht nur die belarussische Regierung steht<br />

vor der Herausforderung tiefgreifender Reformen.<br />

Auch die Opposition muss angesichts der neuen<br />

politischen und wirtschaftlichen Realität ihre Strategien<br />

und Ziele neu überdenken. Auf den Seiten<br />

12 bis 14 finden Sie den Artikel des belarussischen<br />

Oppositionspolitikers Aleksandr Milinkevič, der<br />

seine Überlegungen zu den Aufgaben und Herausforderungen<br />

der belarussischen Oppositionsbewegung<br />

mit Ihnen teilt.<br />

Wie instabil die politische und wirtschaftliche Situation<br />

auch sein mag, es bewegt sich doch viel in<br />

Belarus auf gesellschaftlicher Ebene. Auf den<br />

Seiten 31 und 32 <strong>berichten</strong> Martin Schön und<br />

Oleg Sivograkov von <strong>Initiativen</strong> im Rahmen des<br />

Handlungsprogramms Lokale Agenda 21, die<br />

unter anderem vom Förderprogramm Belarus unterstützt<br />

werden. Trotz vielen Schwierigkeiten und<br />

Herausforderungen fördern diese Konzepte das<br />

Engagement der Bürger und leisten einen großen<br />

Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung des Landes.<br />

Viel Spaß beim Lesen wünscht Ihnen<br />

Ihr Peter Junge-Wentrup<br />

Editorial


Inhalt<br />

4 Belarus Perspektiven<br />

6<br />

Kurz vor der Überschuldung<br />

Belarus auf der Suche nach Krediten<br />

Die belarussische Wirtschaft, die in eine Sackgasse<br />

geraten ist, hofft nun auf ausländische Kredite.<br />

Die belarussische Regierung rechnete bereits in<br />

diesem Jahr mit Milliarden von US-Dollar aus<br />

dem Ausland. Allerdings sieht momentan die Realität<br />

so aus, dass Minsk auf diese Summen vorläufig<br />

verzichten muss.<br />

Außenpolitik<br />

Internationale Kredite 6<br />

Zollunion in Kraft 8<br />

Beziehungen mit der EU 10<br />

Publikationen<br />

Foto: bymedia.net<br />

Tschernobyl-Opfer <strong>berichten</strong> 34<br />

12<br />

Wir sind nicht geschlagen!<br />

Opposition geht in eine neue Runde<br />

Viele Jahre prophezeite die belarussische Opposition<br />

entweder einen „heißen Frühling“ oder einen<br />

„heißen Herbst“, doch keiner ist gekommen. Das<br />

Regime hielt durch. Allmählich wird aber den<br />

meisten Belarussen klar, dass der Staat in eine<br />

Sackgasse geraten ist: Belarus steckt tief in einer<br />

Systemkrise. Und die Opposition stellt sich neu<br />

auf.<br />

Innenpolitik<br />

Foto: bymedia.net<br />

70. Jahrestag des Kriegsanfangs 11<br />

Opposition sucht neue Wege 12<br />

Fall Andrej Počobut 15<br />

„Schweigende Proteste“ 16<br />

Editorial 3<br />

Inhalt 4<br />

Chronologie 18<br />

Impressum 35<br />

Nr. 53 03 / 11


24<br />

Wirtschaft & Umwelt<br />

Foto: bymedia.net<br />

Kein Weg zurück<br />

Die Privatisierung ist unumgänglich<br />

Rhetorische Privatisierungsbekundungen gab es<br />

in Belarus bereits zur Genüge, nur führten sie selten<br />

zu handfesten Ergebnissen. Die erneute Privatisierungsankündigung<br />

unterscheidet sich von<br />

diesen durch die konkrete Benennung der sieben<br />

zu privatisierenden Betriebe und dadurch, dass es<br />

sich diesmal um russische Käufer handelt.<br />

Weg zum neuen Wirtschaftsmodell 20<br />

Krise als Gewohnheit 22<br />

Privatisierung in Belarus 24<br />

Der erste belarussische Börsengang 26<br />

31<br />

Quo vadis?<br />

Lokale Agenda 21 in Belarus<br />

Ein Traum für jeden Demokratietheoretiker:<br />

Bürger, die die Probleme vor Ort selber lösen. In<br />

Belarus gibt es bereits mehr als 110 <strong>Initiativen</strong>,<br />

die Lokale Agenden ausarbeiten oder sie veröffentlicht<br />

haben. Allerdings stehen die Vertreter<br />

nachhaltiger Entwicklungskonzepte vor großen<br />

Herausforderungen.<br />

NGO/Gesellschaft<br />

Foto: agendaschools.net<br />

Kampagne gegen Polizeigewalt 27<br />

Politische Gefangene 28<br />

Patenschaft-Kampagne 30<br />

Lokale Agenda 31<br />

03 / 11 Nr. 53 Belarus Perspektiven 5<br />

Inhalt


Außenpolitik<br />

Rettung auf Kredit?<br />

Die belarussische Wirtschaft, die in eine Sackgasse geraten ist, hofft nun auf ausländische Kredite. Die belarussische Regierung<br />

rechnete bereits in diesem Jahr mit Milliarden von US-Dollar aus dem Ausland. Allerdings sieht momentan die Realität so aus,<br />

dass Minsk auf diese Summen vorläufig verzichten muss. Effektiv bekam Belarus bis dato nur 800 Millionen US-Dollar aus<br />

dem Krisenfonds der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft (KF EAWG).<br />

6 Belarus Perspektiven<br />

Der KF EAWG gewährte Belarus insgesamt drei<br />

Milliarden US-Dollar innerhalb von drei Jahren<br />

(obwohl die belarussische Regierung anfangs die<br />

gesamte Summe bis Ende 2011 zu erhalten hoffte).<br />

Die erste Tranche in Höhe von 800 Millionen<br />

US-Dollar wurde Ende Juni auf das Konto des Finanzministeriums<br />

überwiesen. Im Herbst erwartet<br />

Minsk weitere 440 Millionen. Allerdings sei diese<br />

Tranche noch mit einem Fragezeichen versehen,<br />

so der russische Vizepremier und Finanzminister<br />

Aleksej Kudrin, der gleichzeitig dem KF EAWG<br />

vorsteht.<br />

Wie Kudrin am 8. Juli in London bei einer Sitzung<br />

des Russisch-Britischen Regierungskomitees<br />

für Handel und Investitionen verkündete, können<br />

die Voraussetzungen für die Bewilligung des Stabilisierungskredites<br />

aus dem KF EAWG im Falle<br />

einer Nichterfüllung von Verpflichtungen revidiert<br />

werden. Kudrin erklärte, dass weitere Voraussetzungen<br />

für die nächste Tranche im November<br />

bestimmt werden, wenn die Ergebnisse der von<br />

Minsk übernommenen Verpflichtungen ausgewertet<br />

seien, meldete die russische Nachrichtenagentur<br />

RIA Novosti. Auf die Frage, ob eine Überprüfung<br />

der Voraussetzungen für die Kreditbewilligung im<br />

Falle der Beibehaltung der Einfuhrbeschränkungen<br />

in Belarus möglich sei, antwortete Aleksej<br />

Kudrin: „Ich schließe es nicht aus“. Der russische<br />

Finanzminister ist überzeugt, dass die Importeinschränkungen,<br />

Preisbindung auf dem Markt sowie<br />

die aktuelle Situation bestimmter Fremdwährungskurse<br />

während einer Krise unzulässig seien. Laut<br />

Kudrin würden die administrativen Maßnahmen<br />

der belarussischen Regierung nicht zur Gesundung<br />

der Wirtschaft beitragen und könnten daher nicht<br />

als Krisenbewältigungsmaßnahmen gelten. „Ich<br />

habe den Eindruck, dass die belarussischen Behörden<br />

nicht ausreichend Maßnahmen zur Überwindung<br />

der Krise treffen“, sagte der russische<br />

Gennadij Kesner, Minsk<br />

Vizepremier und bemerkte, es sei innerhalb von<br />

drei Jahren ein „unglaubliches“ Leistungsbilanzdefizit<br />

in Bezug auf Export und Import in Bela-<br />

rus entstanden. Kudrin teilte mit, dass im Herbst<br />

die Auswertung der von Belarus unternommenen<br />

Krisenbewältigungsaktivitäten sowie deren Marktfähigkeit<br />

anstehen. Die Privatisierung könne laut<br />

Kudrin zusätzliche Ressourcen für die belarussische<br />

Wirtschaft freisetzen.<br />

Der Kredit des KF EAWG ist Belarus für zehn Jahre<br />

mit variabler Jahresverzinsung von 4,1 Prozent<br />

gewährt und wird in mehreren Tranchen innerhalb<br />

der nächsten drei Jahre ausgezahlt. Eine der Voraussetzungen<br />

für die Kreditbewilligung ist die Privatisierung<br />

der belarussischen Aktiva im Wert von<br />

7,5 Milliarden US-Dollar innerhalb von drei Jahren.<br />

„Die wichtigste Kapitalquelle ist die Privatisierung,<br />

daher die Bedingung, das Staatsvermögen<br />

im Wert von 2,5 Milliarden US-Dollar pro Jahr innerhalb<br />

von drei Jahren in Privatvermögen umzuwandeln.<br />

Diese Klausel wird auf jeden Fall bleiben.<br />

Sollte die belarussische Regierung diese Ressource<br />

nicht nutzen, erachte ich die Kreditgewährung für<br />

weniger begründet“, erklärte Kudrin.<br />

In Bezug auf den Eingang von 800 Millionen US-<br />

Dollar aus dem KF EAWG hob der Finanzminister<br />

Belarus‘ Andrej Charkovec hervor, dass die Regierung<br />

mit diesen Mitteln nicht das Haushaltsdefizit<br />

finanzieren würde. „Diese Ressourcen sind Bestandteil<br />

der Gold- und Währungsreserven“, erklärte<br />

Charkovec. Der Ex-Vorstandvorsitzende der Bela-<br />

russischen Nationalbank Stanislav Bogdankevič ist<br />

sich hingegen sicher, dass diese Mittel zum „Stopfen<br />

der Haushaltslöcher“ genutzt würden. „Wir<br />

können nicht vom Leben auf Pump mit einem<br />

Schlag zur strengen Haushaltsdisziplin übergehen.<br />

Wir schaffen es nicht, sofort auf das Handelsbilanzdefizit<br />

zu verzichten, da wir monatlich eine<br />

Nr. 53 03 / 11


Milliarde mehr verbrauchen als wir produzieren.<br />

Wir müssen die Schulden bezahlen und gleichzeitig<br />

das Zahlungsbilanzdefizit abbauen. Vielleicht<br />

würden wir Geld für andere Zwecke ausgeben wollen,<br />

aber wir können nicht auf den Import von Gas<br />

und Öl verzichten, für welche wir mehr bezahlen<br />

als wir dann durch die Weiterverarbeitung erwirtschaften<br />

können. Unser größtes Problem liegt daran,<br />

dass wir auf Pump Milliarden von US-Dollar<br />

verbrauchen und plötzlich gezwungen werden, zu<br />

einem vernünftigen und bescheidenen Lebensstil<br />

zu wechseln. Wir benötigen einen Kredit, um diesen<br />

Wechsel so fließend wie möglich zu gestalten,<br />

und gleichzeitig die Wirtschaft zu reformieren. Jedoch<br />

wird der angekündigte Kredit des KF EAWG<br />

eindeutig nicht ausreichen. Deswegen werden wir<br />

uns an den IWF wenden müssen, mit der Bitte um<br />

weit größere Unterstützung als drei Milliarden US-<br />

Dollar“, betonte Bogdankevič.<br />

Der Wirtschaftsexperte Dr. Leonid Zlotnikov ist<br />

der Meinung, dass die 800 Millionen US-Dollar<br />

vom KF EAWG die Situation nicht retten würden.<br />

„Wir brauchen 1,2 – 1,3 Milliarden US-Dollar<br />

monatlich, um zu dem bisherigen Lebensstandard<br />

zurückzukehren und ihn aufrechtzuerhalten. Aber<br />

wir verbrauchen mit Hilfe der Kredite mehr als die<br />

Wirtschaft imstande ist zu leisten, und nun bietet<br />

man uns an, dies auch auf Kosten der Privatisierung<br />

zu tun. Damit wird uns das Hemd über den<br />

Kopf gezogen. Das ist sehr gefährlich. Wir befinden<br />

uns in einer Situation, bei der wir für einige<br />

Zeit unsere Gürtel enger schnallen und zu einer<br />

effizienten Wirtschaft übergehen sollen. Keiner<br />

wird lange für uns Unterhalt zahlen“, so der Wirtschaftsexperte.<br />

Die Regierung von Belarus hätte auch nichts gegen<br />

die Finanzspritze seitens der Weltbank einzuwenden.<br />

Bereits Ende 2010 begannen Belarus und die<br />

Weltbank mit Vorbereitungen der neuen Strategie<br />

für eine weitere Zusammenarbeit. In diesem Jahr<br />

endet das aktuelle Programm, das für den Zeitraum<br />

2008-2011 genehmigt wurde. Bereits am 3.<br />

Dezember 2010 meldete der für die Ukraine, Bela-<br />

rus und Moldau zuständige Direktor der Weltbank,<br />

Martin Raiser, dass noch ein weiterer Kredit<br />

in Höhe von 100 Millionen US-Dollar für Belarus<br />

bewilligt werden könne. Eine stärkere Kreditversorgung<br />

von Belarus habe laut Raiser mit der Verabschiedung<br />

der aktualisierten Weltbank-Strategie<br />

für Belarus zu tun. Ende 2010 bewilligte der IWF-<br />

Vorstand Belarus eine Darlehensgewährung in<br />

Höhe von 200 Millionen US-Dollar für Entwicklungszwecke.<br />

Der Kredit wird für 16 Jahre mit der<br />

Möglichkeit eines Aufschubes von sechs Jahren für<br />

die Kreditrückzahlung gewährt.<br />

Allerdings hört man in den letzten Monaten kaum<br />

etwas über die Weltbank-Kredite. Darüber hinaus<br />

wurde die Wirtschaftspolitik der belarussischen<br />

Regierung von den Vertretern der Weltbank harsch<br />

kritisiert. So erklärte der bereits erwähnte Martin<br />

Raiser Ende Juni 2011 auf einer Pressekonferenz<br />

in Minsk: „Trotz der sozialen Errungenschaften<br />

in der Vergangenheit hat das belarussische Wirtschaftsmodell<br />

ausgedient. Angesichts der bestehenden<br />

makroökonomischen Ungleichgewichte<br />

ist der Zeitrahmen für notwendige Korrekturen<br />

schnell enger geworden“. Raiser arbeitete in Minsk<br />

im Rahmen der Vorbereitung eines Kooperations-<br />

Außenpolitik<br />

Mitgliedstaaten der<br />

EAWG: Belarus,<br />

Kasachstan,<br />

Kirgistan, Russland,<br />

Tadžikistan.<br />

Foto: bymedia.net<br />

03 / 11 Nr. 53 Belarus Perspektiven 7


Außenpolitik<br />

Die belarussisch-russische Grenze<br />

bleibt unter Kontrolle<br />

Am 1. Juli wurde in der Zollunion zwischen Russland, Belarus und Kasachstan die Zollkontrolle an den gemeinsamen Grenzen<br />

eingestellt. Was hat sich aber an der belarussisch-russischen Grenze tatsächlich gerändert?<br />

Foto: bymedia.net<br />

8 Belarus Perspektiven<br />

programms zwischen der Weltbank und Belarus,<br />

welches für Belarus neue Kredite der Weltbank sichern<br />

sollte. Er teilte ebenfalls mit, dass die weitere<br />

finanzielle Unterstützung für Belarus völlig von der<br />

gesamtwirtschaftlichen Lage im Land sowie von<br />

der Ausarbeitung eines Programms für die Zusammenarbeit<br />

mit dem IWF abhängen werde. Die Position<br />

der Weltbank ist einfach zu erklären, wenn<br />

man berücksichtigt, dass sowohl die Weltbank als<br />

auch der IWF die ähnlichen Ansätze zur Lösung<br />

der belarussischen Probleme haben. Der Sinn dieser<br />

Ansätze liegt darin, Belarus durch die Kredite<br />

zu strukturellen Reformen zu bewegen. Analytikern<br />

zufolge versuchen die internationalen Finanzorganisationen<br />

eine effizientere Nutzung von Kreditmitteln<br />

zu erreichen. „Die früheren Kredite an<br />

Belarus wurden unwirtschaftlich genutzt“, bemerkt<br />

der Wirtschaftsreporter Vladimir Tarasov. Sollte<br />

Belarus keine strukturellen Reformen angehen,<br />

würden die neuen Kredite genauso wie die bisherigen<br />

ineffizient eingesetzt, so der Experte.<br />

Der Direktor der Nationalen Agentur für Investitionen<br />

und Privatisierung (NAIP) Dmitrij Klevžic<br />

teilte mit, dass die Weltbank inzwischen ihre Be-<br />

reitschaft erklärt habe, Belarus bei der Privatisierung<br />

von zehn Unternehmen zu helfen. „Der<br />

Privatisierungsblock, welcher Belarus bei der Privatisierung<br />

unterstützen soll, wurde unter Beteiligung<br />

der Weltbank gebildet. Belarus bekommt die<br />

Mittel zur Durchführung der Objektprivatisierung<br />

unter anderem mit der Unterstützung der österreichischen<br />

Regierung“, so Klevžic. Nach Angaben<br />

des NAIP-Direktors würden bei der Privatisierung<br />

Finanzexperten hinzugezogen, die in Europa positive<br />

Erfahrungen bei der Umwandlung der staatlichen<br />

Objekte in Privatvermögen sammelten. Er<br />

betonte, dass die ausländischen Investoren an Bela-<br />

rus interessiert seien, allerdings besäßen sie nicht<br />

ausreichend Informationen über die zu privatisierenden<br />

Objekte. Deswegen versuche seine Agentur<br />

diesen Umstand zeitnah zu ändern.<br />

Auf die Privatisierung der belarussischen Unternehmen<br />

bestehen sowohl der KF EAWG, als auch<br />

die Weltbank und der IWF. Eines wird dabei deutlich:<br />

Wenn die belarussische Regierung ihre Hoffnungen<br />

auf die neuen Kredite nicht aufgeben will,<br />

kann sie sich vor der Privatisierung des Staatsvermögens<br />

nicht mehr drücken.<br />

Aleksandr Burakov, Minsk<br />

Am ersten Julitag kursierte in den russischen und<br />

belarussischen Medien das folgende Zitat von Sergej<br />

Zanegin, dem Chef des westlichen Zollpostens im<br />

russischen Gebiet Smolensk: „Die Abteilungen der<br />

Zollabwicklung und der Zollkontrolle am westlichen<br />

Zollposten haben aufgehört zu existieren“.<br />

Um Mitternacht wurden die Computer heruntergefahren,<br />

das Licht an den Arbeitsplätzen erlosch,<br />

die Stempel wurden abgegeben. An den Zufahrtswegen<br />

zu dem Posten wurden die Hinweisschilder<br />

auf die bevorstehende Zollkontrolle abmontiert.<br />

Die Autos fuhren nun durch, ohne anzuhalten.<br />

Nr. 53 03 / 11


Es gab keinerlei Kontrollen. Die Zollunion wurde<br />

verwirklicht.<br />

Allerdings sah die Situation bereits nach fünf Tagen<br />

etwas anders aus. Auf der wichtigsten Transportverbindung<br />

Moskau-Brest blieben die Zollschilder<br />

hängen. Lediglich die mobilen Hinweistafeln „Zone<br />

der Zollkontrolle“ wurden entfernt. Der Parkplatz<br />

vor dem einstigen Zollterminal war tatsächlich<br />

leer, auch die Schilder am Zollgebäude wurden abgenommen.<br />

Im Gebäude selbst brannte aber nach<br />

wie vor Licht und durch die Fenster konnte man im<br />

Inneren die Offiziere des russischen Zolldienstes<br />

beobachten.<br />

Grenze bleibt Grenze<br />

Um genau zu sein, wurde an der belarussisch-russischen<br />

Grenze die Zollkontrolle für den Transit<br />

von Waren aus Drittländern abgeschafft. Diese<br />

Erleichterung hat den langen Wartezeiten an der<br />

Grenze ein Ende bereitet. Die Autos brauchen nun<br />

nicht mehr durch das Zollterminal geschleust zu<br />

werden. Allerdings stehen unmittelbar am Fahrbahnrand<br />

nach wie vor zwei uniformierte Kontrolleure<br />

mit Warnwesten. Nur dass auf ihren Westen<br />

nicht mehr „Zoll“ steht. Wer diese Menschen sind<br />

und was ihre Aufgabe an der Grenze ist, kann niemand<br />

schlüssig beantworten. Aber alle vorbeifahrenden<br />

Autofahrer bieten ihnen fleißig ihre Papiere<br />

zur Kontrolle an.<br />

„An der Grenze hängen dunkle Wolken…“<br />

Etwas gesprächiger als die Kontrolleure erweisen<br />

sich die Fernfahrer. Auf die Frage hin, was sich<br />

seit dem 1. Juli verändert habe, erinnerte sich einer<br />

an ein altes russisches Lied: „An der Grenze hängen<br />

dunkle Wolken…“. Für die Fernfahrer gibt es keine<br />

Zweifel daran, dass die Grenze unter Kontrolle bleiben<br />

wird: Hat man die Zollkontrolle abgeschafft,<br />

wird man irgendeine andere Kontrolle verstärken.<br />

Die Fernfahrer zeigen auf den Posten der Transportkontrolle<br />

auf der russischen Seite. Vor dem<br />

Terminal steht eine Schlange von etwa 30 LKWs,<br />

obwohl die Transportkontrolle an der russisch-bela-<br />

russischen Grenze bereits am 1. April abgeschafft<br />

wurde. Nun steht also die Schlange nicht vor dem<br />

Zollterminal, sondern 200 Meter davor.<br />

Die Fernfahrer sind sich sicher, dass die Zollunion<br />

die Länder mit sehr unterschiedlichen Interessen<br />

vereint habe. An der russisch-kasachischen Grenze<br />

habe man am 1. Juli ebenfalls feierlich die Flagge<br />

des föderalen Zolldienstes eingeholt. Die Grenzposten<br />

arbeiten heute dennoch nach wie vor. Selbst<br />

für die Fernfahrer ist es kein Geheimnis mehr, dass<br />

Kasachstan der Zollunion beigetreten ist, ohne die<br />

Zollgebühren für über 400 Warenarten abzustimmen.<br />

Für insgesamt 88 Tarifnummern – Medikamente,<br />

medizinische Technik und Haushaltgeräte<br />

– wird Kasachstan weiterhin gesenkte Einfuhrzollsätze<br />

beibehalten. Die Fernfahrer schließen nicht<br />

aus, dass diese Waren bald in Belarus auftauchen<br />

werden. Ob es dann als Zollschmuggelei eingestuft<br />

wird, ist bis heute noch unklar.<br />

Auch in Belarus wird es weiterhin Grenzen geben.<br />

Nach wie vor gelten in Belarus Ausfuhrbeschränkungen<br />

auf Fleisch, Treibstoff und Zigaretten.<br />

Der Export von Spiritus und Metallen ist gänzlich<br />

verboten. Unmittelbar vor der Zollgrenze wird regelmäßig<br />

Metallschrott konfisziert, denn selbst die<br />

Ausfuhr von Schrott gilt nach wie vor als Wirtschaftsverbrechen.<br />

Allein im Gebiet Mogilevsk<br />

gibt es dafür an der Grenze zu Russland 14 mobile<br />

Kontrollposten.<br />

Außenpolitik<br />

Foto: bymedia.net<br />

Dieser Artikel ist am<br />

8. Juli 2011 unter<br />

www.dw-world.de/<br />

belarus erschienen<br />

und wird mit freundlicher<br />

Genehmigung<br />

der Deutschen Welle<br />

abgedruckt.<br />

Die Zollunion zwischen Belarus, Russland und Kasachstan wurde am<br />

6. Oktober 2007 gegründet und versteht sich als ein Schritt zur<br />

Integration im Rahmen der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft. Im<br />

Laufe des Jahres 2009 wurden mehr als 40 internationale Verträge abgeschlossen<br />

und ratifiziert, die die rechtliche Grundlage der Union bilden.<br />

Der einheitliche Zolltarif, der einheitliche Zollkodex sowie einheitliche<br />

Regelungen zu Einfuhr- und Ausfuhreinschränkungen traten am<br />

1. Januar 2010 in Kraft. Innerhalb der Zollunion sollen sämtliche Zollgebühren<br />

und Einschränkungen abgeschafft werden, ausgenommen<br />

Schutz-, Antidumping- und Ausgleichsmaßnahmen. Am 1. April 2011<br />

wurde die Transportkontrolle an inneren Grenzen der Union abgeschafft<br />

und am 1. Juli 2011 die Zollkontrolle. Quelle: www.tsouz.ru<br />

03 / 11 Nr. 53 Belarus Perspektiven 9


Außenpolitik<br />

Belarus und die EU:<br />

Im Westen nichts Neues<br />

Die Beziehungen zwischen Minsk und Brüssel entwickeln sich mit wechselndem Erfolg. Beide Hauptstädte verharren sich in der<br />

inzwischen schon gewöhnlichen Phase des Abwartens: Im nur schleppend vorankommenden Dialog wartet jede Seite stets auf die<br />

Reaktion der anderen.<br />

Marina Rachlej, Berlin<br />

10 Belarus Perspektiven<br />

2008 hat die EU als Reaktion auf die Entlassung<br />

politischer Gefangener von der Politik der Sanktionen<br />

hin zu einem Dialog gewechselt: Belarus wurde<br />

in das neue Programm „Ostpartnerschaft“ involviert<br />

und erhielt eine Reihe von IWF-Krediten.<br />

Kurz vor den Präsidentschaftswahlen fing sowohl<br />

der Westen als auch die belarussische Gesellschaft<br />

vorsichtig an, die Liberalisierungspolitik von Minsk<br />

zu loben. Umso überraschender waren die brutale<br />

Auflösung der Demonstration am Wahlabend und<br />

die darauffolgende Repressionswelle. Nach dem<br />

19. Dezember 2010 kehrte die EU zur Politik der<br />

Sanktionen zurück. Einer Reihe von hochstehenden<br />

belarussischen Beamten wurde die Einreise<br />

in die EU wegen Verletzung der Menschenrechte<br />

untersagt. Darüber hinaus wurden die wirtschaftlichen<br />

Sanktionen gegen diejenigen belarussischen<br />

Unternehmen verhängt, welche nach der Einschätzung<br />

der EU das autoritäre belarussische Regime<br />

finanziell unterstützen. Wenn aber die EU heute<br />

die Entlassung aller politischen Gefangenen erwartet,<br />

rechnet Minsk dabei mit einem Vorschuss,<br />

bevor es diesen Schritt überhaupt macht. Beispielsweise<br />

in Form eines neuen IWF-Kredites.<br />

Nach der Aussage des Präsidenten Lukašenko gab<br />

es in Belarus vor den Wahlen „so viel Demokratie,<br />

dass einem schon fast übel wurde“. Seine Position<br />

hat sich seit dieser Zeit wenig verändert: Die Liberalisierung<br />

sei nach Lukašenko überflüssig. Ein<br />

Jahr vor den parlamentarischen Wahlen ist die bela-<br />

russische Regierung genauso weit wie 2008 und<br />

schlägt nun abermals vor, den Schritt-für-Schritt<br />

Dialog wieder herzustellen.<br />

Der unsichtbare „Dritte“ in den Beziehungen zwischen<br />

der EU und Minsk bleibt Moskau. Nicht<br />

umsonst droht Minsk der EU mit einer Kooptation<br />

durch den Kreml, um die verhängten Sanktionen<br />

zu mildern. Andererseits gehört die wirtschaftliche<br />

Expansion Russlands zum belarussischen Alltag:<br />

Russische Großunternehmer interessieren sich<br />

wenig dafür, wie demokratisch das belarussische<br />

Regime ist. Moskau spielt auf Zeit, verzichtet aber<br />

niemals auf den Erwerb belarussischer Großunternehmen.<br />

Andererseits gehört Belarus heute wohl kaum zu<br />

den Prioritäten der europäischen Außenpolitik.<br />

Davon zeugt beispielsweise der jüngste Vorfall<br />

mit den nächsten europäischen Nachbarn Belarus‘<br />

– den wichtigsten Partnern der belarussischen<br />

Opposition. Die Staatsanwaltschaften Polens und<br />

Litauens haben ihren belarussischen Kollegen<br />

die Informationen über die Bankkonten von 400<br />

belarussischen Oppositionellen ausgeliefert. Dies<br />

hat die belarussische Regierung genutzt, um den<br />

Menschenrechtler Ales Beljackij wegen des Vorwurfs<br />

der Steuerhinterziehung zu inhaftieren<br />

und andere Oppositionelle unter Druck zu setzten.<br />

Nun hat Minsk einen politischen Gefangenen<br />

mehr, den es im „Kuhhandel“ mit Europa einsetzen<br />

kann.<br />

Der EU mangelt es aber nicht nur an Interesse an<br />

Belarus, sondern auch an kurz- und langfristigen<br />

Strategien der Entwicklung ihrer Beziehungen zu<br />

Belarus. Das von den „farbigen Revolutionen“ in<br />

Osteuropa und Mittelasien sowie vom „arabischen<br />

Frühling“ inspirierte Brüssel erwartet, dass sich<br />

die Situation in Belarus von selbst verändert. Die<br />

belarussische Zivilgesellschaft hofft jedoch weiterhin<br />

auf die Unterstützung Europas. Um die belarussische<br />

Regierung zu politischem Entgegenkommen<br />

zu bewegen, soll die EU einheitlich und koordiniert<br />

handeln und klare Ziele setzen. Wichtig dabei ist,<br />

dass die Tür nach Belarus nicht zugeschlagen wird.<br />

Denn solange es im Westen nichts Neues gibt, wird<br />

die belarussische Regierung gezwungen sein, einen<br />

Schritt auf Europa zuzugehen.<br />

Nr. 53 03 / 11


Streit nun auch feiertags<br />

Innenpolitik<br />

Nach der traditionellen Siegestagsparade vom 9. Mai wurde in Belarus am 22. Juni 2011 der Internationale Gedenktag zur Erinnerung<br />

an die Opfer des Großen Vaterländischen Krieges sowie der 70. Jahrestag des Krieganfanges begangen. Die Trauerfeier<br />

fand vor dem Hintergrund der schwierigen wirtschaftlichen Krise und der gespannten Beziehungen zu Russland statt.<br />

Marina Rachlej, Berlin<br />

Seit dem ersten Kriegstag wurde Belarus zum riesigen<br />

Kampfplatz. In den ersten Stunden wurden die<br />

Stadt Brest und die Brester Festung einem massiven<br />

Artillerie- und Luftbombardement ausgesetzt.<br />

Länger als einen Monat kämpfte die Besatzung der<br />

Festung um Leben und Tod. In der Zeit der Besatzung<br />

Belarus‘ wurden mehr als 209 Städte und<br />

9200 Dörfer vernichtet, fast jeder dritte Einwohner<br />

hat den Krieg nicht überlebt.<br />

Am Abend des 21. Juni nahm Präsident Alexander<br />

Lukašenko an der Trauerfeier in der Brester Festung<br />

teil. Zusammen mit Gästen und internationalen<br />

Delegationen weihte er feierlich die Skulptur<br />

„Den Helden der Grenze, den Frauen und Kindern,<br />

die durch ihren Mut unsterblich geworden sind“<br />

ein. Anschließend überreichte er den Grenztruppen<br />

die Truppenfahnen und zündete in der Garnisonskirche<br />

St. Nikolai eine Kerze zum Gedenken<br />

an die Verteidiger der Festung an. Das Programm<br />

schloss mit einem Konzert-Requiem ab, bei dem<br />

Chöre und Ensembles aus Belarus und Russland<br />

auftraten.<br />

Russlands Präsident Dmitrij Medvedev kam nicht<br />

zur Trauerfeier. Die belarussische Regierung kritisierte<br />

diese Entscheidung im staatlichen Fernsehsehen<br />

scharf. De facto wurde dem russischen<br />

Staatschef sogar die Organisation der „schweigenden“<br />

Proteste – der Online-Kampagne „Revolution<br />

durch soziale Netzwerke“ – vorgeworfen.<br />

Der Fernsehanalytiker Jurij Prokopov, der die<br />

Meinung des offiziellen Minsk vertritt, erklärte in<br />

seinem Programm „Im Fokus der Aufmerksamkeit“,<br />

das oligarchische Russland versuche sich<br />

die schwierige wirtschaftliche Lage Belarus‘ zunutze<br />

zu machen, um sein Staatseigentum preiswert<br />

aufzukaufen - in erster Linie die Fabriken,<br />

die dann verkauft und deren Arbeiter entlassen<br />

werden können. Lukaschenko stehe diesem Annexionsversuch<br />

entgegen, was Russland selbstverständlich<br />

missfall, so Prokopov. Unter anderem<br />

wies er darauf hin, dass Russland soweit keine of-<br />

fizielle Erklärung vorgelegt hatte, warum Medvedev<br />

die Einladung nach Brest nicht angenommen<br />

hatte. Auch die russischen Fernsehsender ent-<br />

gingen nicht seiner Kritik. Denn statt nach Brest zu<br />

kommen, berichteten diese über die Protestaktionen<br />

und Massenverhaftungen von Demonstranten:<br />

„Eine Randale von ein paar hundert Faulenzern<br />

sind den russischen Medien wichtiger, als tausende<br />

Veteranen, darunter nicht nur belarussische, sondern<br />

auch russische“.<br />

Allerdings war der Medienkrieg damit noch nicht<br />

zu Ende. Ferner wurde Medvedev dafür verurteilt,<br />

dass er entgegen seiner Tradition den Teilnehmern<br />

des jährlichen Musikfestivals Slavjanskij Bazar<br />

in Vitebsk zur Eröffnung nicht gratulierte. Zum<br />

ersten Mal in seiner zwanzigjährigen Geschichte<br />

wurde das Festival in die Tagespolitik verwickelt.<br />

„Das Ignorieren der wichtigsten Ereignisse der<br />

Union seitens des Kremls fällt nicht zufällig mit<br />

dem Ultimatum zusammen. Belarus wird gezwungen,<br />

Aktiva im Wert von 7,5 Milliarden US-Dollar<br />

zu verkaufen. Und dies ganz nach dem russischem<br />

Szenario: schnell, billig und den Oligarchen“, berichtete<br />

eine Nachrichtensendung im staatlichen<br />

Fernsehen.<br />

Nicht zum ersten Mal greifen sich Minsk und Moskau<br />

in den komplizierten Verhandlungen gegenseitig<br />

mit persönlichen Vorwürfen an. Doch zum ersten<br />

Mal ist diese Konfrontation so offensichtlich.<br />

Ehrenwache in der<br />

Gedenkstätte „Brester<br />

Heldenfestung“.<br />

Foto: bymedia.net<br />

03 / 11 Nr. 53 Belarus Perspektiven 11


Innenpolitik<br />

Der Weg zum Politischen Subjekt<br />

Viele Jahre prophezeite die belarussische Opposition entweder einen „heißen Frühling“ oder einen „heißen Herbst“, doch keiner<br />

ist gekommen. Das Regime hielt durch. Lukašenko demonstrierte hervorragende taktische Fähigkeiten und seine Strategie<br />

bewährte sich: Wir ahnten nicht, wo er das Land hin führte. Allmählich wird jedoch den meisten Belarussen klar, dass wir<br />

in eine Sackgasse geraten sind. Der Staat steckt tief in einer Systemkrise, das hoffnungslos veraltete autoritäre Modell versagt<br />

ohne Subventionen aus dem Ausland und braucht dringend strukturelle Reformen. Wenn der Staatschef behauptet, dass nichts<br />

verändert werden muss, bedeutet es für die Zukunft nur eine Beschleunigung von negativen Prozessen.<br />

12 Belarus Perspektiven<br />

Drei Wege in die Zukunft<br />

Es sind drei Entwicklungsszenarien möglich. Das<br />

erste: Lukašenko verkauft an Moskau die Filetstücken<br />

aus der belarussischen Wirtschaft, bekommt<br />

russische Kredite und Geld durch die Privatisierung<br />

und löst damit vorübergehend sozialökonomische<br />

Probleme. Sukzessiv würde Belarus zu einer<br />

russischen Provinz mit einer formalen Souveränität<br />

und einer „lenkbaren Demokratie“ mit einem<br />

„Generalgouverneur“ an der Spitze. Das zweite<br />

Szenario ist die Selbstisolation des Landes und die<br />

Verschärfung der Diktatur: Eine „Kubanisierung“<br />

des Landes, höchstwahrscheinlich durch eine Ausrufung<br />

des Kriegszustandes und eine gezielte Suche<br />

nach den Feinden im In- und Ausland - eine<br />

wenig wahrscheinliche Variante, denn wir leben<br />

immerhin nicht auf einer Insel. Das dritte Szenario:<br />

Das Regime entlässt die politischen Gefangenen,<br />

stellt den Dialog mit dem Westen her und baut<br />

die Diktatur durch wirtschaftliche und politische<br />

Liberalisierung ab. Das erste Szenario bedeutet ein<br />

Verlust der Unabhängigkeit, das zweite eine Degradation,<br />

wenn nicht eine Revolution, das dritte eine<br />

Rückkehr auf den Entwicklungsweg der europäischen<br />

Zivilisation.<br />

Wer gehört zu den wichtigsten politischen Akteuren<br />

in Belarus? Wir alle – das Volk, die Opposition<br />

und das Regime – haben am Wahltag, am 19.<br />

Dezember, verloren und unsere Chance auf einen<br />

europäischen Weg für einige Zeit verspielt. Gewonnen<br />

haben die Anhänger der Repressionspolitik<br />

und einer totalen Kontrolle über die Gesellschaft.<br />

Demokratische Staaten haben nach diesen Wahlen<br />

jeglichen Einfluss auf die innenpolitische Situation<br />

in unserem Land verloren. Als würde zwischen<br />

Grodno und Białystok eine neue Berliner Mauer<br />

stehen. Unsere letzten Wahlen hat effektiv Moskau<br />

Aleksandr Milinkevič, Minsk<br />

gewonnen, das Belarus in der Sphäre seiner politischen<br />

Dominanz behalten will. Heute verfügt der<br />

Kreml über alle wirtschaftlichen, politischen, informationellen,<br />

sozialen sowie diplomatischen Instrumente,<br />

um eine europäische Integration Belarus‘<br />

zu verhindern. Wie dem auch sei, die wichtigsten<br />

politischen Akteure bleiben immer die Bürger. Und<br />

immer mehr Belarussen treten für marktorientierte<br />

demokratische Reformen ein. Deswegen sind<br />

letztendlich weder der Kreml, noch Washington<br />

oder Brüssel entscheidend, sondern die Prozesse,<br />

die die belarussische Öffentlichkeit bewegen.<br />

Krise der Opposition<br />

Seit 2007 steckt die Opposition in einer permanenten<br />

Krise. Die Bestätigung dafür sind neun unabhängige<br />

Präsidentschaftskandidaten: Ihre neun<br />

separaten Strategien ruinierten die demokratische<br />

Gemeinschaft und gefährdeten die Unabhängigkeit<br />

des Landes. Demokratische Kräfte spalten sich<br />

jetzt nicht allein ideologisch, sondern zunehmend<br />

auch nach ihrer geopolitischen Wahl sowie nach<br />

der Frage „Wer ist daran schuld“. Einige Demokraten,<br />

vor allem die linken, schlagen eine Integration<br />

in Russland und eine Freundschaft mit Europa vor,<br />

die rechten – eine Integration in die EU und eine<br />

gute Nachbarschaft zu Russland. Die ersten sagen:<br />

„Wie kommen wir ohne Moskau klar? Wenn schon<br />

nach Europa, dann nur mit Russland, oder zumindest<br />

mit seiner Genehmigung“. Die Opponenten<br />

versichern: „Nur im vereinten Europa können wir<br />

unsere Unabhängigkeit bewahren, Wohlstand erreichen<br />

und eine Renaissance unserer Gesellschaft erleben“.<br />

Diese zwei Strategien der Entwicklung sind<br />

natürlich diametral entgegengesetzt. Und Belarus<br />

wird nie zu einer sympathischen Schweiz werden,<br />

denn wir sind nicht in den Alpen geboren, sondern<br />

an der Grenze der Zivilisationen. Wir werden eine<br />

Nr. 53 03 / 11


harte Wahl treffen müssen: Nicht die Wahl für den<br />

Stärkeren, an den man sich anschließen könnte,<br />

sondern die Wahl zwischen Werten, die die Zukunft<br />

der Belarussen bestimmen werden.<br />

Die Opposition spaltet sich auch bei der Suche nach<br />

den Gründen der Krise. Einige wenige Oppositionellen<br />

sehen das größte Elend in Lukašenko. Für<br />

die Demokratie befürworten sie totale wirtschaftliche<br />

Sanktionen gegen das Regime und würden<br />

sogar russische Panzer willkommen heißen. Zum<br />

Glück ist es der demokratischen Mehrheit bewusst,<br />

dass Lukašenko keine Ursache, sondern ein Resultat,<br />

wohl ein Produkt des postsowjetischen Denkens<br />

ist. Wir leben in der „letzten Diktatur Europas“,<br />

weil sie fest in unseren Köpfen sitzt – dort gibt<br />

es nämlich zu wenig Demokratie und Nationalbewusstsein.<br />

Für diese Opposition ist es wichtig, dass<br />

das Land nicht unter den Trümmern des Regimes<br />

begraben wird. Sie ersetzt das simple „Hauptsache<br />

ohne Lukašenko“durch ein nationalbewusstes<br />

„Belarus an 1. Stelle“. Sie sagt damit: „Liebt Belarus<br />

mehr als ihr Lukašenko hasst“.<br />

Zurück zum Status eines Politischen Subjektes<br />

Das Wichtigste, was die oppositionellen Kräfte erreichen<br />

müssen, ist die Wiedererlangung des Status<br />

eines Politiksubjekts. Die Opposition in Belarus<br />

enttäuschte die Belarussen genauso wie die westlichen<br />

Demokratien. Bei den letzten Wahlen haben<br />

die Leute gefragt: „Ihr erzählt uns, wie schlecht<br />

Lukašenko ist. Das wissen wir auch selber! Sagt<br />

uns lieber, warum unser Leben mit euch besser<br />

werden soll?“. Ohne eine klare Antwort auf diese<br />

Frage können wir als oppositionelle Bewegung<br />

selbst bei den fairsten Wahlen nicht gewinnen. Der<br />

Staatschef verliert seine Unterstützer, die Opposition<br />

bleibt aber bei ihren 30 Prozent – wie auch<br />

2001 oder 2006. Wir können die Belarussen nicht<br />

gewinnen, die sich vom Regime abkehren. Sie sind<br />

vernünftig und wollen nicht nur zerstören, sondern<br />

auch aufbauen. Wir müssen sie überzeugen, dass<br />

wir Erbauer sind. Wir brauchen ein positives Image<br />

und eine klare Sicht auf die Zukunft des Landes.<br />

Die Opposition ist unfähig, sich hinter einem Führer<br />

zu vereinigen. Trotzdem soll sie einstimmig<br />

gegen die Diktatur auftreten und eine gemeinsame<br />

Taktik im Kampf um die Freiheit entwickeln.<br />

Politiker und gesellschaftliche Aktivisten, Journalisten<br />

und Experten sollen mit der Regierung an<br />

einem Runden Tisch zusammen kommen. Heute<br />

ist es noch unrealistisch, jedoch ist die Situation<br />

unberechenbar und sehr dynamisch. Wir müssen<br />

dazu bereit sein, wenn wir uns in der realen Politik<br />

etablieren wollen. Für die alte Opposition führt<br />

wohl der einzige Weg in die Rehabilitation. Die Alternative<br />

wäre der politische Tod.<br />

Was den Westen angeht, soll dessen Politik gegenüber<br />

Belarus moralisch, scharf und differenziert<br />

sein sowie zwischen dem Regime und der Gesellschaft<br />

unterscheiden. Für die Entlassung der politischen<br />

Gefangenen sollen konsequent politische,<br />

persönliche und diplomatische Sanktionen verhängt<br />

werden, die wirtschaftlichen allerdings nur<br />

gezielt und einzeln, weil darunter in erster Linie<br />

die einfachen Bürger leiden. Sie kippen die proeuropäische<br />

Stimmung und helfen der Propaganda,<br />

aus der Opposition ein Feindbild zu konstruieren.<br />

Heute macht es sich schon bemerkbar, dass<br />

der Verzicht der EU auf wirtschaftliche Sanktionen<br />

eine sehr weitsichtige Entscheidung gewesen<br />

ist: Die Verantwortung für den katastrophalen<br />

Zustand der Wirtschaft liegt gerechterweise bei<br />

Lukašenko und nicht bei der EU. Die EU und die<br />

USA sollen auf keinen Fall den Deklarationen aus<br />

Minsk vertrauen, nur den konkreten Handlungen.<br />

Die Zusammenarbeit soll sich auf eine Schritt-um-<br />

Schritt-Weise einstellen: Keinen Schritt zur Liberalisierung<br />

– keine Hilfe.<br />

Das Belarus „danach“<br />

Das Land sucht die Antwort auf zwei ewige Fragen:<br />

„Wer ist schuld?“ und „Was tun?“. Der Glau-<br />

Innenpolitik<br />

Der Physiker und<br />

Politiker Aleksandr<br />

Milinkevič ist der Vorsitzende<br />

der belarussischen<br />

oppositionellen<br />

Demokratie-Bewegung<br />

Za Svabodu (Für<br />

die Freiheit). 2006<br />

wurde er von den<br />

belarussischen Oppositionsparteien<br />

zu<br />

ihrem gemeinsamen<br />

Kandidaten für die<br />

Präsidentschaftswahlen<br />

nominiert. Im<br />

selben Jahr erhielt<br />

er vom Europäischen<br />

Parlament den<br />

Sacharow-Preis für<br />

geistige Freiheit.<br />

Foto: Archiv Za<br />

Svabodu<br />

03 / 11 Nr. 53 Belarus Perspektiven 13


Innenpolitik<br />

Dieser Artikel ist am<br />

17. August 2011 unter<br />

www.naviny.by<br />

erschienen und wird<br />

mit freundlicher<br />

Genehmigung des<br />

Autors abgedruckt.<br />

14 Belarus Perspektiven<br />

be an Wunder ist zählebig: Viele denken, sobald<br />

es keinen Lukašenko gibt, leben wir sofort wie in<br />

Europa. Die Diktatur muss natürlich gestürzt werden.<br />

Trotzdem müssen wir uns von den Illusionen<br />

befreien und gestehen, dass eine Transformation<br />

zu überstehen schwieriger ist als Freiheit zu gewinnen.<br />

Wir dürfen nicht im heutigen Kampf um die<br />

Freiheit das „Belarus danach“ vergessen. Es wird<br />

die Zeit unserer höchsten Verantwortung sein, der<br />

Verantwortung der national-demokratischen Elite.<br />

Lukašenko wird „seine“ Wahlen nicht mehr wiederholen<br />

können. Etwas wird ihn zum Abtreten<br />

zwingen: eine soziale Explosion, eine wirtschaftliche<br />

Krise, ob eine natürliche oder künstlich provozierte,<br />

oder sogar eine Verschwörung in seinem<br />

Umfeld. Dessen Pflichten wird der Ministerpräsident<br />

stellvertretend und übergangsweise übernehmen,<br />

der dann die ersten Präsidentschaftswahlen<br />

nach der Diktatur ausrufen wird. Diese Wahlen<br />

werden demokratisch verlaufen und die Zukunft<br />

von Belarus entscheiden. Denn dies wird vom<br />

Volk gefordert. Daran werden sowohl Russland als<br />

auch Europa interessiert sein. Der neue Präsident<br />

übernimmt die Präsidentenmacht nach der Verfassung<br />

von Lukašenko – mit nahezu kaiserlichen<br />

Befugnissen. Er kann ein neues, europäisch freies<br />

Belarus aufbauen, auf die unbeschränkte Macht<br />

zugunsten des Parlamentes, des Ministerrats sowie<br />

der Gemeinden verzichten, die Meinungsfreiheit<br />

etablieren und die totale Angst der Gesellschaft<br />

ausrotten. Er kann aber auch die autoritäre Gesetzgebung<br />

behalten, als Dankeschön für die Unterstützung<br />

vom Osten den russischen Rubel einführen<br />

oder einen militärischen Bund mit Moskau<br />

schließen.<br />

Daher dürfen wir diese Wahlen „danach“ auf keinen<br />

Fall verlieren. Wir müssen uns jetzt schon darauf<br />

vorbereiten. Die Situation wird nicht einfach<br />

sein. Die Opposition wird sich hinsichtlich ihrer<br />

unterschiedlichen geopolitischen Sympathien in<br />

verschiedene Lager spalten. Der Staatsapparat<br />

– eine ernst zu nehmende Kraft – wird höchstwahrscheinlich<br />

ebenfalls zerbröckeln. Ein Teil der<br />

Beamten wird daran interessiert sein, Ämter und<br />

Zuständigkeiten zu erhalten und sich gegen die Invasion<br />

der Oligarchen zu wenden. Diejenigen aber,<br />

die ihr großes Geld im Osten machen, werden im<br />

Moskauer Szenario mitspielen. Ausgeschlossen<br />

ist weder die Koalition von Nationaldemokraten<br />

mit der probelarussischen Nomenklatur, noch der<br />

Bund zwischen der prorussischen Opposition und<br />

der Regierung.<br />

Doch entscheidend wird die gesellschaftliche Stimmung<br />

sein. Wir sind verpflichtet, die Verbreitung<br />

der proeuropäischen Werte im Land kontinuierlich<br />

zu fördern. Wichtig ist, dass diese nicht nur<br />

intuitiv bleiben, sondern sich fest etablieren. Wir<br />

brauchen eine Mitte-Rechts-Koalition, auf deren<br />

Basis wir eine parlamentarische Partei aufbauen<br />

können - eine Partei, die die europäische Wahl<br />

Belarus‘ und die belarussische nationale Emanzipation<br />

verteidigen wird.<br />

Die Bewegung Za Svabodu hat das ambitionierte<br />

Ziel, das Zentrum der Vereinigung der proeuropäischen<br />

belarussischen Kräfte zu werden. Dafür führt<br />

sie <strong>Bildungs</strong>- und Informationskampagnen durch,<br />

die zur Integration Belarus` in die europäische Familie<br />

beitragen sollen. Wir wollen in der Gesellschaft<br />

eine Diskussion über die Zukunft Belarus‘<br />

initiieren, über die Vorteile und Herausforderungen<br />

der europäischen Integration sowie über die<br />

Leistungen und Fehler der neuen EU-Mitglieder.<br />

Wir wollen unsere künftige regionale Elite fördern<br />

und zusammen mit den Experten aus der Slowakei,<br />

Estland, Polen und anderen Nachbarländern die<br />

anstehenden Reformen Belarus‘ ausarbeiten. Wir<br />

wollen junge belarussische Patrioten erreichen, die<br />

das Belarus „danach“ aufbauen werden. Denn der<br />

Grundstein dafür muss schon jetzt gelegt werden.<br />

Nr. 53 03 / 11


Innenpolitik<br />

Ein freier Mensch zu sein<br />

Die Entlassung des Journalisten Andrej Počobut war für alle – auch für ihn selbst - so überraschend, dass man sich erst später<br />

fragte: Wie weit muss es mit unserem Leben gekommen sein, wenn wir uns darüber freuen, dass ein Kollege zu drei Jahren Haft<br />

mit einem Aufschub des Vollzugs verurteilt wurde.<br />

Aleksej Šota, Krakau<br />

Der Grodnoer Korrespondent der polnischen Gazeta<br />

wyborcza Andrej Počobut wurde am 5. Juli<br />

2011 wegen eines Verleumdungsvorwurfes von Alexander<br />

Lukašenko zu drei Jahren Haft mit einem<br />

Aufschub von zwei Jahren verurteilt. Vom Vorwurf<br />

der Beleidigung des Staatschefs – einer viel schwereren<br />

Anklage – wurde der Journalist allerdings<br />

freigesprochen. Die Untersuchung der Texte, die<br />

Počobut in der polnischen Wochenzeitung sowie<br />

auf dem Webportal Belaruspartisan und in seinem<br />

Blog poczobut.livejournal.com veröffentlichte, hat<br />

ebenfalls ein weiteres Verbrechen nachgewiesen:<br />

Die „Diskreditierung der Republik Belarus“. Dies<br />

wurde allerdings vom Gericht abgelehnt.<br />

Die Sitzung des Gerichts war geschlossen, weder<br />

Freunde oder Verwandte des Angeklagten, noch<br />

Journalisten oder polnische Diplomaten wurden zu<br />

der Sitzung zugelassen. Počobut hatte keinen Zugang<br />

zu den Sitzungsprotokollen, da seinem Anwalt<br />

jegliche Aufnahmen untersagt wurden. „Ich habe<br />

immer wiederholt, dass das Protokoll gefälscht werden<br />

kann, und daher habe ich nichts angegeben. Ich<br />

habe nur gesagt, dass ich tatsächlich diese Beiträge<br />

geschrieben habe, dass sie sich auf Fakten stützen<br />

und keine Lüge enthalten. Und dass ich wegen meiner<br />

zivilgesellschaftlichen Position verfolgt werde“,<br />

erzählte Počobut am nächsten Tag auf seiner Pressekonferenz<br />

in Grodno. Er wirkte munter und versicherte,<br />

dass er auf keinen Fall seine journalistische<br />

Tätigkeit aufgeben werde. Denn der Strafaufschub<br />

sollte offensichtlich den ungnädigen Journalisten<br />

zum Schweigen zwingen. „Nicht schnell entlassen<br />

zu werden war mir wichtig, sondern nach der Entlassung<br />

ein freier Mensch zu sein“, kommentierte<br />

Počobut die Situation. Denn frei ist er eben nicht:<br />

Ein einziges „falsch“ geschriebenes Wort oder eine<br />

Verletzung der Meldeverpflichtung und er kann<br />

wieder hinter Gitter gelangen.<br />

Počobut ist sicher, dass seine Entlassung dem internationalen<br />

Druck auf die belarussische Regierung<br />

zu verdanken ist, vor allem von der polnischen Sei-<br />

te. Denn neben Journalismus geht Počobut einer<br />

anderen in Belarus unzulässigen Tätigkeit nach:<br />

der Arbeit im nicht anerkannten belarussischen<br />

Bund der Polen. Da Polen seit dem 1. Juli den EU-<br />

Vorsitz übernommen hatte, stehe seine Entlassung<br />

damit offensichtlich in einer Verbindung. Andererseits<br />

konnte die belarussische Regierung auch ohne<br />

Počobut gut demonstrieren, dass sie die Situation<br />

im Land vollständig kontrolliert und von der Meinung<br />

der internationalen Öffentlichkeit keinesfalls<br />

abhängt. Denn die polnische Botschaft in Minsk<br />

kann bald ihr Gebäude verlieren. Ende Juni wurden<br />

die Diplomaten gebeten, bis zum Jahresende ihre<br />

Räumlichkeiten in der Ulica Rumjanceva in Minsk<br />

zu verlassen. Der Bau eines eigenen Gebäudes wird<br />

allerdings mit allen Formalitäten mindestens drei<br />

bis vier Jahre dauern. Die Experten erwarten, dass<br />

das Thema der „Ausweisung“ der polnischen Botschaft<br />

demnächst die gesamten polnisch-belarussischen<br />

Beziehungen dominieren wird.<br />

Der Strafverfahren gegen Andrej Počobut wurde<br />

am 28. März 2011 bei Gericht eingeleitet. Bereits<br />

am 6. April gelangte er in eine Untersuchungshaftanstalt<br />

wegen der Verletzung der Meldeverpflichtung,<br />

weil er versuchte von Grodno nach Minsk zu<br />

fahren. Seit dieser Zeit befand er sich in Isolationshaft,<br />

konnte aber über Angehörige seinen Blog<br />

aktualisieren.<br />

Foto: bymedia.net<br />

03 / 11 Nr. 53 Belarus Perspektiven 15


Innenpolitik<br />

Schweigen die „schweigenden<br />

Proteste“ für immer?<br />

Am 1. Juni 2011 brach in Minsk und anderen belarussischen Städten eine Welle von sogenannten „schweigenden Protesten“<br />

aus - Aktionen, die durch soziale Netzwerke im Internet initiiert und organisiert wurden. Jeden Mittwoch versammelten sich<br />

zwei Monate lang auf den Straßen tausende Belarussen, um gegen die Regierung zu schweigen. Die Aktionen wurden gewaltsam<br />

aufgelöst, dennoch blieb die Zahl der Teilnehmer anfänglich konstant. Die Repressionen nach den Präsidentschaftswahlen<br />

hatten den Widerstandsgeist der Gesellschaft offensichtlich nicht gebrochen. Als die Zahl der Demonstranten sank, legten die<br />

Organisatoren eine Pause bis Oktober ein, um ein neues Format der „Revolution durch soziale Netzwerke“ zu bestimmen.<br />

Zwei Monate lang<br />

versammelten sich<br />

auf den Straßen tau-<br />

sende Belarussen, um<br />

gegen die Regierung<br />

zu schweigen.<br />

Foto: bymedia.net<br />

16 Belarus Perspektiven<br />

Einerseits waren die Proteste keinesfalls unerwartet:<br />

Seit Ende Mai wuchs zunehmend die allgemeine<br />

Unzufriedenheit wegen der wirtschaftlichen<br />

Situation. Die Belarussen hatten mehrere Monate<br />

auf eine Rubelabwertung gewartet, es gab kaum<br />

noch Möglichkeiten, Valuta zu kaufen. Wegen der<br />

Probleme mit Valuta verschwanden aus den Läden<br />

allmählich die Importwaren. Die Preise auf Zucker,<br />

Pflanzenöl und sogar Salz stiegen schlagartig.<br />

Zwischen den Berichten der offiziellen Nachrichtenagenturen<br />

über die Erfolge der belarussischen<br />

Wirtschaft und der Kaufkraft der Bevölkerung<br />

entstand eine riesige Kluft.<br />

Andererseits war der Erfolg der Aktionen tatsächlich<br />

überraschend. Das Internet-Projekt „Revolution<br />

durch soziale Netzwerke“, das im Rahmen<br />

des russischen Facebook-Analoges Vkontakte.ru<br />

Marina Rachlej, Berlin<br />

initiiert wurde, rief alle mit dem Regime unzufriedenen<br />

Bürger auf, sich jeden Mittwoch zu versammeln<br />

und ohne jegliche Sprechchöre oder Transparente<br />

gegen das Regime zu schweigen - jede andere<br />

Protestform bräuchte eine staatliche Genehmigung.<br />

Das Händeklatschen wurde zu einer Parole:<br />

Die Protestierenden konnten dadurch die Gleichgesinnten<br />

genau identifizieren, konnten sehen und<br />

hören, dass sie nicht allein sind. Es machte Mut<br />

und stärkte den Durchhaltewillen.<br />

Unerwartet und unverhältnismäßig gewaltsam wurde<br />

die Reaktion des Sicherheitsapparates auf diese<br />

rechtlich gesehen absolut legale Protestform. Das<br />

Händeklatschen wurde zur Verletzung der öffentlichen<br />

Ordnung erklärt. Die applaudierenden Protestteilnehmer<br />

wurden von Milizionären in zivil<br />

ohne Angaben von Gründen in bereitgestellte Gefängnisbusse<br />

gestoßen. Die Festnahmen erfolgten<br />

im wahrsten Sinne des Wortes unter Applaus, der<br />

in der belarussischen Realität sofort zum Zeichen<br />

des Tadels wurde. Verhaftet wurden Protestler als<br />

auch Journalisten sowie zufällige Passanten, die<br />

gerade aus dem Laden nach Hause eilen wollten.<br />

Die Zahl der Teilnehmer wuchs kontinuierlich.<br />

Auf die Straßen strömten nicht nur junge Menschen,<br />

sondern auch Rentner und sogar ganze Familien<br />

mit Kindern. An einem Mittwoch waren in<br />

der Stadt viertausend schweigend Protestierende<br />

unterwegs. An einigen Tagen fanden die Proteste<br />

– zum ersten Mal in der belarussischen Geschichte<br />

– gleichzeitig in fast 40 Städten statt. Jedes Mal<br />

wurden Hunderte von Demonstranten unter massivem<br />

Einsatz von Gewalt festgenommen und zu<br />

mehrtägigen Haft- oder Geldstrafen in Höhe von<br />

Nr. 53 03 / 11


umgerechnet 15 bis 250 US-Dollar verurteilt. Im<br />

Juli begann die Teilnehmerzahl zu sinken.<br />

Inzwischen ist im Internet ein Interview mit einem<br />

der Administratoren der Webseite „Revolution<br />

durch soziale Netzwerke“, Vjačeslav Dianov aufgetaucht.<br />

Der wohl bekannteste junge belarussische<br />

Oppositionelle war 2008 ein politischer Kampfgefährte<br />

von Ales Michalevič. 2010 kandidierte<br />

er selbst für den Minsker Stadtrat. Während der<br />

Präsidentschaftswahlen 2010 unterstützte Dianov<br />

Jaroslav Romančuk. Nach den Repressionen vom<br />

19. Dezember musste er das Land zwangsläufig<br />

verlassen, jetzt studiert er in Krakau. Am 3. August<br />

- nach insgesamt neun „schweigenden“ Protestaktionen<br />

- legte Dianov eine Pause ein. Damit die<br />

Initiative nicht in eine Sackgasse gerät, entschied<br />

er sich für eine neue Protestform. Die Namen der<br />

weiteren Organisatoren werden geheim gehalten:<br />

Nach den letzten Repressalien sind nur wenige<br />

Oppositionelle in der politischen Szene geblieben,<br />

und die Gefahr, dass sie für künftige Aktionen verfolgt<br />

werden können, ist zu groß.<br />

Das Schicksal der „schweigenden Proteste“ soll<br />

am 8. Oktober im Rahmen der Aktion „Narodnyj<br />

schod“ entschieden werden - einer „Volksversammlung“,<br />

die die Opposition in Minsk, in den Gebietshauptstädten<br />

und in 48 anderen kleineren Orten<br />

durchzuführen plant. In der „Volksversammlung“<br />

wird vor allem nach den Wegen aus der politischen<br />

und wirtschaftlichen Krise gesucht. Die Organisatoren<br />

der Aktion rechnen mit einer staatlichen<br />

Genehmigung, denn gemäß dem Paragraph 37<br />

der belarussischen Verfassung ist jedem belarussischen<br />

Staatsbürger das Recht gewährleistet, über<br />

die Fragen des staatlichen und öffentlichen Lebens<br />

im Land in Versammlungen zu diskutieren. Nach<br />

dem Gesetz können diese Versammlungen unter<br />

der Zustimmung von 10 Prozent der Bevölkerung<br />

veranstaltet werden. Die Organisatoren setzen auf<br />

einen „heißen Herbst“: Die Wirtschaftsexperten<br />

rechnen mit dem Steigen der sozialen Unzufriedenheit<br />

wegen Preiserhöhungen auf Waren des täglichen<br />

Bedarfs sowie auf Alkohol und Zigaretten.<br />

Zu erwarten ist außerdem eine Erhöhung der Preise<br />

auf Warmwasser und Zentralheizung, die am<br />

15. Oktober im ganzen Land eingeschaltet wird.<br />

Die politischen Analytiker bezweifeln ihrerseits,<br />

dass die Proteste am 8. Oktober ihren Höhepunkt<br />

erreichen. Nach ihren Einschätzungen würden sich<br />

die Belarussen erst an die neue Situation anpassen<br />

wollen. Eine neue Protestwelle könne erst am<br />

Jahresende ausbrechen. „Niemand kann zweimal<br />

in den gleichen Fluss steigen“, kommentiert der<br />

Medienanalytiker Pavljuk Bykovskij die Situation.<br />

Der Experte meint, das Format der „schweigenden<br />

Proteste“ könne kaum mit Erfolg wiederholt werden,<br />

allerdings sollte die Opposition daraus viel<br />

lernen: sich neue Mobilisierungstechnologien aneignen,<br />

Erfahrungen im Parteimanagement sammeln<br />

und die Parteidisziplin stärken. Inwiefern<br />

jedoch die Oppositionsbewegung transformationsfähig<br />

ist, bleibe eine große Frage, so Bykovskij.<br />

Der politische Analytiker Aleksandr Klaskovskij<br />

zweifelt daran, dass die Offline-Opposition mit<br />

der neuen Online-Bewegung effektiv zusammenarbeiten<br />

kann: Die erste übernehme nur vorsichtig<br />

zusätzliche Verantwortung, denn die Schleife ihrer<br />

Misserfolge sei ohnehin zu lang, und die Dissidenten<br />

haben keine gemeinsame Strategie. Die<br />

Proteste vom 19. Dezember 2010 und die darauffolgende<br />

Repressionswelle seien eine dramatische<br />

Bestätigung dafür, meint der Experte. Er weist<br />

ebenfalls auf die geplante Änderung des Gesetzes<br />

zu Massenveranstaltungen hin, die Schweigen und<br />

Untätigkeit für gesetzwidrig erklären sollte. Die<br />

belarussischen „schweigenden Proteste“ erwachten<br />

zweifelsohne durch die revolutionäre Situation in<br />

Ägypten und Tunesien, meint der Analytiker. Allerdings<br />

sei die Stimmung im schwermütigen Belarus<br />

im Vergleich zu Nordafrika noch weit von einer<br />

revolutionären entfernt. „Die Protestbereitschaft der<br />

belarussischen Gesellschaft wird zunehmen, denn<br />

die Regierung wird das anachronische wirtschaftliche<br />

System kaum retten können. Und das Knowhow<br />

der „Revolution durch soziale Netzwerke“ wird<br />

bald gebraucht werden“, sagt Klaskovskij.<br />

Innenpolitik<br />

Das brutale Vorgehen<br />

der Miliz gegen die<br />

Demonstranten löste<br />

europaweit eine Welle<br />

der Empörung aus.<br />

Foto: bymedia.net<br />

03 / 11 Nr. 53 Belarus Perspektiven 17


Chronologie<br />

Chronologie<br />

18. Mai bis 18. August<br />

18. bis 28. Mai<br />

In Minsk treffen sich die Regierungschefs<br />

der GUS-Länder, der Eurasischen<br />

Wirtschaftsgemeinschaft sowie der Zollunion<br />

zwischen Russland, Kasachstan<br />

und Belarus. Schwerpunkt sind die Folgen<br />

der Finanzkrise.<br />

Die beiden Präsidentschaftskandidaten<br />

Vladimir Nekljajev und Vitalij<br />

Romaševskij sowie vier weitere Oppositionelle<br />

werden wegen Teilnahme an<br />

den Wahlprotesten zu Haftstrafen von<br />

ein bis zwei Jahren verurteilt.<br />

Die Belarussische Nationalbank wertet<br />

die Landeswährung um 56 Prozent ab,<br />

von 3.155 auf 4.930 Belarussische Rubel<br />

für einen US-Dollar.<br />

Die EU-Außenminister beschließen Visa-<br />

Sanktionen und Kontoeinfrierung für 13<br />

hochstehende belarussische Beamte, in<br />

erster Linie Richter und Staatsanwälte.<br />

Die USA erheben Sanktionen gegen<br />

zwei belarussische Firmen, die technische<br />

Geräte exportieren. Sie sollen das<br />

Embargo gegen Iran verletzt haben.<br />

Ein Minsker Gericht verurteilt die Ex-<br />

Präsidentschaftskandidaten Nikolaj<br />

Statkevič und Dmitrij Uss zu fünf bzw.<br />

sechs Jahren Haft.<br />

29. Mai bis 4. Juni<br />

Die Europäische Kommission beginnt<br />

Verhandlungen mit allen Teilnehmern<br />

des Programms „Östliche Partnerschaft”<br />

über die Einrichtung von Freihandelszonen<br />

– mit Ausnahme von Belarus.<br />

18 Belarus Perspektiven<br />

Der russische Außenminister Sergej Lavrov<br />

fordert Belarus auf, seine internationalen<br />

Verpflichtungen bezüglich der<br />

Menschenrechte einzuhalten. Sein Land<br />

werde jedoch keinerlei Sanktionen gegen<br />

Minsk verhängen.<br />

Brasilien eröffnet seine Botschaft in<br />

Belarus.<br />

Die Europäische Kommission gibt den<br />

Startschuss für das Projekt “Stabilität<br />

der belarussischen Zivilgesellschaft”.<br />

Das Projekt soll belarussische Opfer von<br />

Repressionen sowie unabhängige Medien<br />

unterstützen.<br />

5. bis 12. Juni<br />

Acht Beitrittskandidaten und assoziierte<br />

Partner der EU erweitern ebenfalls die<br />

Liste belarussischer Beamter, denen die<br />

Einreise untersagt ist, auf 188 Personen.<br />

Beim Treffen der Zentraleuropäischen<br />

Initiative in Triest unterzeichnen die<br />

Außenminister von Belarus und Italien,<br />

Sergej Martynov und Franko Frattini,<br />

eine Reihe von Kooperationsvereinbarungen.<br />

13. bis 19. Juni<br />

Der polnische Außenminister Radosław<br />

Sikorski erklärt, der polnische Journalist<br />

Andrej Počobut sei eine “Geisel der<br />

belarussisch-polnischen Beziehungen”.<br />

Počobut steht in Grodno wegen Präsidialbeleidigung<br />

vor Gericht, ihm droht<br />

eine Höchststrafe von vier Jahren.<br />

Andrej Savinych, Pressesekretär des<br />

belarussischen Außenministeriums,<br />

wird in Genf einstimmig zum Vorsitzenden<br />

des Handelskomitees der Europäischen<br />

Wirtschaftskommission der UNO<br />

gewählt.<br />

Der Menschenrechtsrat der UNO verabschiedet<br />

mit einfacher Mehrheit eine<br />

Resolution, in der Belarus für Repressionen<br />

während und nach den Präsidentschaftswahlen<br />

2010 kritisiert wird.<br />

20. bis 27. Juni<br />

Der Pressesprecher des belarussischen<br />

Außenministeriums, Andrej Savinych,<br />

kritisiert das „Sanktions-Denken“ des<br />

EU-Rates als unkonstruktiv und perspektivlos.<br />

Das Minsker Wirtschaftsgericht lehnt<br />

die Nichtigkeitsklage der oppositionellen<br />

Partei BNF über die zwangsweise<br />

Räumung ihres Parteibüros ab. Die BNF<br />

erklärt, sie sei bereit, ihre Tätigkeit im<br />

Untergrund fortzusetzen.<br />

Tausende Belarussen nehmen an friedlichen,<br />

schweigenden Protestaktionen in<br />

Minsk und dutzenden anderen belarussischen<br />

Städten teil. Etwa 220 Teilnehmer<br />

werden festgenommen.<br />

Der Präsident des Europäischen Parlaments<br />

Jerzy Buzek fordert eine sofortige<br />

Freilassung der inhaftierten Teilnehmer<br />

schweigender Proteste und befürwortet<br />

die EU-Sanktionen gegen das belarussische<br />

Regime.<br />

28. Juni bis 4. Juli<br />

Russland schränkt seine Stromlieferungen<br />

an Belarus wegen einer Zahlungsverzögerung<br />

ein. Der russische stellvertretende<br />

Regierungschef Igor Sečin<br />

erklärt, die Einschränkung habe keine<br />

politischen Hintergründe.<br />

Nr. 53 03 / 11


Sechs oppositionelle Parteien und Organisationen<br />

erklären während einer<br />

gemeinsamen Pressekonferenz in Minsk<br />

die Gründung einer neuen Plattform für<br />

die künftige Zusammenarbeit.<br />

Das lettische Außenministerium reicht<br />

in Belarus eine Protestnote wegen der<br />

Verhaftung von Uģis Lībietis ein, eines<br />

Korrespondenten des lettischen Radios.<br />

Lībietis wurde am 29. Juni in Minsk festgenommen,<br />

als er über die schweigende<br />

Protestaktion <strong>berichten</strong> wollte.<br />

Präsident Aleksandr Lukašenko nimmt<br />

die große Militärparade in Minsk zum<br />

20. Jahrestag der belarussischen Unabhängigkeit<br />

ab. Er erklärt, Szenarien einer<br />

„farbigen Revolution“ seien in Belarus<br />

perspektivlos. EU- und US-Botschafter<br />

nehmen an der Parade nicht teil.<br />

5. bis 11. Juli<br />

In Minsk findet die Konferenz der zivilgesellschaftlichen<br />

Plattform des EU-<br />

Programms „Östliche Partnerschaft“<br />

statt. 31 Organisationen werden nach<br />

der Abstimmung zur Teilnahme am<br />

dritten „Forum der Zivilgesellschaft“<br />

empfohlen.<br />

In Minsk findet eine weitere schweigende<br />

Protestaktion statt, 190 Teilnehmer<br />

werden festgenommen. Human Rights<br />

Watch kritisiert die Verhaftung der Teilnehmer<br />

an den schweigenden Protesten<br />

und fordert ihre sofortige Freilassung.<br />

Im Rahmen der Parlamentarischen Versammlung<br />

der OSZE in Belgrad trifft<br />

sich die belarussische Delegation mit<br />

den Delegationen von Serbien, Italien<br />

und Slowenien. Themen sind Zusammenarbeit<br />

im Rahmen der OSZE und<br />

Aussichten für die bilaterale Kooperation.<br />

Der belarussische Ministerpräsident<br />

Michail Mjasnikovič bietet Aserbaidschan<br />

eine Teilnahme an Privatisierungsprozessen<br />

in Belarus an.<br />

12. bis 25. Juli<br />

In Moskau treffen sich die Ministerpräsidenten<br />

von Belarus, Kasachstan und<br />

Russland auf einer Konferenz zu Problemen<br />

der Zollunion. Der belarussische<br />

Ministerpräsident Michail Mjasnikovič<br />

hält einen gemeinsamen Waffenmarkt<br />

in der Zollunion für notwendig.<br />

Die Parlamentarische Versammlung der<br />

OSZE verweigert belarussischen Vertretern<br />

die Teilnahme an der Sitzung über<br />

das Projekt zur Unterstützung des Gerichtssystems<br />

in den Ländern der „Östlichen<br />

Partnerschaft“.<br />

Maira Mora, neue Leiterin der Repräsentanz<br />

der Europäischen Kommission<br />

in Belarus, trifft in Minsk ein.<br />

26. bis 31. Juli<br />

Georgiens Präsident Michail Saakašvili<br />

spricht sich entschieden gegen die europäische<br />

Isolation Belarus‘ aus. Die Behauptung,<br />

Russland sei „demokratischer<br />

als Belarus“ hält er für absurd.<br />

Belarussische Behörden verweigern Marek<br />

Migalski, Mitglied des Europäischen<br />

Parlaments, der die Patenschaft für den<br />

politischen Gefangenen Dmitrij Bondarenko<br />

übernommen hat, die Einreise<br />

nach Belarus.<br />

In Belarus werden zwei Todesstrafen<br />

vollzogen, was von der UNO als Verletzung<br />

der internationalen Verpflichtungen<br />

Belarus‘ erklärt wird. Der Pressesekretär<br />

des belarussischen Außenministeriums<br />

Andrej Savinych hält diese Erklärung<br />

für unbegründet.<br />

1. bis 8. August<br />

Der russische Verein „Slavjanka“ demonstriert<br />

vor der US-Botschaft in<br />

Moskau gegen die europäischen und<br />

amerikanischen Sanktionen gegenüber<br />

Belarus.<br />

Der polnische Außenminister Radosław<br />

Sikorski ruft den belarussischen Präsidenten<br />

auf, die Verhandlungen über<br />

Chronologie<br />

die „friedliche Machtübergabe“ zu beginnen.<br />

Der Pressesekretär des belarussischen<br />

Außenministeriums Andrej<br />

Savinych kommentiert die Aussage als<br />

„exotisch“ und „lächerlich“.<br />

Der Vorsitzende des Menschenrechtszentrums<br />

Viasna Ales Beljackij wird wegen<br />

des Vorwurfs der Steuerhinterziehung<br />

verhaftet. Das Europäische Parlament<br />

und die internationale Öffentlichkeit<br />

fordern die belarussische Regierung auf,<br />

den Menschenrechtler freizulassen.<br />

Das litauische Justizministerium, das<br />

der belarussischen Seite die Informationen<br />

über die litauischen Bankkonten<br />

der belarussischen oppositionellen Organisationen<br />

auslieferte, erklärt dem<br />

belarussischen Regime die einstweilige<br />

Einstellung der Rechtshilfe. Die Rolle<br />

der Justizministerien Litauens und Polens<br />

bei der Verhaftung von Ales Beljackij<br />

wird zu einem internationalen<br />

Skandal.<br />

Die oppositionelle Journalistin Natalja<br />

Radina bewirbt sich um Asyl in Litauen.<br />

9. bis 18. August<br />

Die Minsker Staatanwaltschaft lehnt die<br />

Einleitung eines Verfahrens über den<br />

Mordanschlag an dem Ex-Präsidentschaftskandidaten<br />

Vladimir Nekljajev<br />

ab.<br />

Präsident Aleksandr Lukašenko begnadigt<br />

neun Regimekritiker, die am Wahlabend<br />

des 19. Dezember 2010 wegen der<br />

Teilnahme an Massenprotesten verhaftet<br />

wurden.<br />

Die EU verhängt ein Einreiseverbot gegen<br />

die stellvertretende Justizministerin<br />

Belarus‘ Alla Bodak.<br />

Der belarussische Erdölkonzern Belneftechim<br />

erklärt die Sanktionen des<br />

US-amerikanischen Finanzministeriums<br />

gegen Belarus als eine „unredliche<br />

Konkurrenz“.<br />

03 / 11 Nr. 53 Belarus Perspektiven 19


Wirtschaft & Umwelt<br />

Belarus auf dem Weg zum neuen<br />

Wirtschaftsmodell<br />

Im letzten Jahrzehnt wies Belarus relativ hohe Wachstumsraten auf – 7,5 Prozent im Jahresdurchschnitt. Die belarussische<br />

Regierung nutzte sie, um das sozioökonomische Entwicklungsmodell als das einzig Wahre zu proklamieren, und ignorierte<br />

dabei die Warnungen der internationalen Experten über das zunehmend wachsende makroökonomische Ungleichgewicht.<br />

Nun zeigt sich in der heutigen Realität Belarus‘ die Labilität des Wirtschaftssystems.<br />

20 Belarus Perspektiven<br />

Die Veränderungen der Bedingungen des Energiehandels<br />

mit Russland sowohl 2007 als auch 2010<br />

und die Weltwirtschaftskrise sowie die Bewältigung<br />

ihrer Folgen, für die Belarus einen IWF-<br />

Kredit in Höhe von 3,63 Milliarden US-Dollar<br />

bekommen hatte, bestätigten die Befürchtungen<br />

von Experten. Diese Prozesse zeigten auf, dass das<br />

belarussische Wirtschaftssystem, das auf einem sowjetischen<br />

Planwirtschaftsprinzip und einer Konzeption<br />

von Staatseigentums beruht, kurz vor dem<br />

Zusammenbruch steht. Belarus steht vor der Notwendigkeit<br />

tiefgreifender struktureller Reformen,<br />

die seit Anfang der 90er Jahre hartnäckig auf die<br />

lange Bank geschoben wurden. Dadurch wurde die<br />

Währungskrise, die im März 2011 ausbrach, befördert.<br />

Das Land steht nun vor einer doppelten Herausforderung:<br />

einer Wirtschaftsstabilisierung bei<br />

gleichzeitiger Transformation des ökonomischen<br />

Wachstumsmodells zur Marktwirtschaft.<br />

Wachstumsquellen in den vergangenen Jahren<br />

Die geschlossene Wirtschaft Belarus‘ befindet sich<br />

stets in einer starken Abhängigkeit vom Außenhandel.<br />

Daher sicherte die günstige Konjunktur<br />

am Anfang der 2000er Jahre - vor allem der privilegierte<br />

Zugang zum boomenden russischen Markt<br />

- eine beträchtliche Nachfragesteigerung nach belarussischen<br />

Waren und förderte das Wirtschaftswachstum.<br />

Entscheidend war hierbei außerdem,<br />

dass Belarus russisches Öl und Gas zum halben<br />

Weltmarktpreis erhielt, aber die daraus erzeugten<br />

Produkte der Öl- und Gasverarbeitung zu vollen<br />

Weltmarktpreisen exportierte. Diese Situation ermöglichte<br />

der Regierung die Durchführung zahlreicher<br />

staatlicher Programme und Investitionen.<br />

Der Staat finanzierte subventionierte Baukredite<br />

und stimulierte eine konsequente Lohnsteigerung.<br />

Irina Točickaja, Minsk<br />

Wirtschaftssituation 2010-2011<br />

2010 waren diese Quellen des Wirtschaftswachstums<br />

ausgeschöpft. Die Bedingungen des Energiehandels<br />

mit Russland verschlechterten sich, als<br />

Russland die Exportzollsätze auf Öl einführte und<br />

die Gaspreise kontinuierlich an diejenigen auf dem<br />

europäischen Markt annäherte. Dies führte zu einer<br />

schlagartigen Verschlechterung der Handelsbilanz<br />

und dementsprechend auch der Situation des<br />

laufenden Zahlungsverkehrs. 2010 erreichte der<br />

Verlustsaldo 15,6 Prozent des Bruttoinlandsproduktes.<br />

Das stetig wachsende Außenhandelsdefizit<br />

führte zur Steigerung der Auslandsschulden.<br />

Die belarussische Regierung, die den Plan zur<br />

Steigerung des Bruttoinlandsproduktes erfüllen<br />

wollte, führte eine Politik der Emissionsfinanzierung<br />

der Wirtschaft durch. Ende 2010 nahm das<br />

Investitionsvolumen um 35,5 Prozent gegenüber<br />

dem Vorjahr zu. Außerdem wurden die Löhne der<br />

Staatsbediensteten wesentlich erhöht. Dies machte<br />

die Situation mit dem laufenden Zahlungsverkehr<br />

noch komplizierter, weil es eine Importsteigerung<br />

bei den Unternehmen als auch bei der Bevölkerung<br />

stimulierte.<br />

All das führte zur Verschärfung der makroökonomischen<br />

Ungleichgewichte. Das Verlustsaldo<br />

erreichte Anfang 2011 den Rekordstand von 27,6<br />

Prozent des Bruttoinlandsproduktes, die Gold-<br />

und Währungsbestände verminderten sich bis auf<br />

3,8 Milliarden US-Dollar. Nach den erfolglosen<br />

Versuchen der Einführung unterschiedlichster Importeinschränkungen<br />

wurden die Regierung und<br />

die Nationalbank gezwungen, am 24. Mai eine einstufige<br />

Rubelabwertung um 64,4 Prozent in Bezug<br />

auf den Euro durchzuführen. Allerdings reichte<br />

Nr. 53 03 / 11


diese Abwertung nicht aus - angesichts des wachsenden<br />

Währungsbedarfs, des Vertrauensverlustes<br />

zum belarussischen Rubel sowie des Zögerns beim<br />

Übergang zu einer harten monetären Politik. Weder<br />

die Bevölkerung noch die Unternehmen können<br />

bis jetzt Valuta frei kaufen - der Schwarzmarkt<br />

blüht auf. Zunehmend wächst das Ungleichgewicht<br />

zwischen den Unternehmen, weil sich die Betriebe<br />

des staatlichen Sektors, die Valuta nach dem offiziellen<br />

Kurs kaufen können, in einer günstigeren<br />

Lage befinden.<br />

Da die meisten belarussischen Unternehmen mehr<br />

oder weniger in Wahrenausfuhr- oder Wareneinfuhrgeschäfte<br />

einbezogen sind, wirkte sich die<br />

Währungskrise sofort auf ihre Unternehmensbilanz<br />

aus. Der Anteil der Unternehmen, die an<br />

der Grenze zur Unrentabilität balancieren (0 bis<br />

5 Prozent), wuchs im Juni 2011 auf 51,4 Prozent.<br />

Der Anteil der Verlustbetriebe betrug 16,7 Prozent.<br />

Die Schulden der belarussischen Unternehmen an<br />

die ausländischen Lieferanten verdoppelten sich.<br />

Daraufhin versuchten die Betriebe Kosten zu sparen<br />

und führten für ihre Mitarbeiter zwangsweise<br />

Teilzeitbeschäftigung bzw. unbezahlte Zwangsurlaube<br />

ein. Darüber hinaus haben auch die unkontrollierten<br />

Preiserhöhungen (im Juni 2011 betrug<br />

die Inflationsrate 43,8 Prozent gegenüber dem Vorjahr)<br />

negative Auswirkungen auf die Unternehmen<br />

als auch auf die Bevölkerung.<br />

Aussichten<br />

Diese Situation fordert unverzügliche Maßnahmen<br />

zur Stabilisierung des Währungsmarktes und der<br />

gesamten Wirtschaft. Leider haben die Regierung<br />

und die Nationalbank bisher keine komplexe Strategie<br />

zur Krisenbewältigung vorgelegt, obwohl sie<br />

eine der Voraussetzungen für einen zweiten IWF-<br />

Kredit ist (Belarus rechnet mit einem weiteren<br />

Kredit in Höhe von 3,5 bis 7 Mrd. US-Dollar für<br />

drei bis fünf Jahre). Zu den vordringlichsten Aufgaben<br />

gehört zweifellos eine weitere Reduzierung<br />

der Emissionsfinanzierung der staatlichen Programme.<br />

Dabei wurde die Nationalbank, die ihre<br />

Emissionsfinanzierung eingestellt hatte, durch das<br />

Finanzministerium abgelöst. Das Finanzministerium<br />

hat seine Geldeinlagen entnommen und in der<br />

Emissionsfinanzierung der Wirtschaft eingesetzt.<br />

Zu den weiteren Maßnahmen zählen auch die Verschärfung<br />

der Zinspolitik, der Verzicht auf die Bindung<br />

des Rubelkurses und der Übergang zu einem<br />

Floating-Kurs.<br />

Neben diesen Stabilisierungsmaßnahmen ist in<br />

Belarus offensichtlich eine Liberalisierung des<br />

gesamten wirtschaftlichen Sektors unumgänglich,<br />

d.h. die Durchführung struktureller marktorientierter<br />

Reformen, die die Staatsintervention reduzieren.<br />

Dieses Programm sollte unter anderem<br />

die Unterstützung der Unternehmertätigkeit und<br />

Investitionen einschließen, den Verzicht auf planwirtschaftliche<br />

Modelle sowohl auf der makroökonomischen<br />

Ebene als auch bei den Unternehmen<br />

aller Eigentumsformen sowie ein planmäßiges und<br />

transparentes Privatisierungsprogramm. Darüber<br />

hinaus müssen die Tarife der Kommunalwirtschaft<br />

bis auf den Stand der Kostenerstattung erhöht werden.<br />

Denn momentan werden die Kosten der staatlichen<br />

Kommunalleistungen von der Bevölkerung<br />

nur zu 25 Prozent erstattet. Dementsprechend soll<br />

auch das System der sozialen Sicherung transformiert<br />

und an den neuen sozioökonomischen Kontext<br />

angepasst werden.<br />

Wirtschaft & Umwelt<br />

Lange Nächte im<br />

Regierungspalast:<br />

Wie wird die Zukunft<br />

der belarussischen<br />

Wirtschaft gestaltet<br />

werden?<br />

Foto: Giancarlo Rosso<br />

03 / 11 Nr. 53 Belarus Perspektiven 21


Wirtschaft & Umwelt<br />

Krise als Gewohnheit<br />

Die Wirtschaftskrise in Belarus zwang viele Menschen dazu, ihren Gürtel enger zu schnallen, vor allem Rentner und<br />

Staatsbedienstete. Die Privatwirtschaft hat mit Personalabbau auf die Krise reagiert und versucht nun, sich auf die neuen<br />

Wirtschaftsbedingungen einzustellen.<br />

Mehr als nur Urlaub<br />

gestrichen: Besonders<br />

Rentner leiden unter<br />

der Krise.<br />

Foto: bymedia.net<br />

22 Belarus Perspektiven<br />

Indexbindung ist kein Allheilmittel<br />

Laut statistischen Angaben der Eurasischen Entwicklungsbank<br />

wuchs der Jahrespreisindex in den<br />

ersten drei Monaten von 9,9 Prozent auf 13,9 Prozent.<br />

Die Erwartungen einer Rubelabwertung führten<br />

zur Reduzierung der Währungsreserven um<br />

38 Prozent sowie zu einer einstufigen Wertminderung<br />

des Rubels um 56 Prozent bei einer Inflationssteigerung<br />

bis um 32,6 Prozent im Mai. Zum<br />

Hauptkatalysator der Krise wurden die großen<br />

staatlichen Ausgaben und die starke Zunahme der<br />

Geldmenge im letzten Jahr (um 41,8 Prozent von<br />

März bis September), so der Bericht der Bank.<br />

Die Regierung führte die Lohnindexierung für<br />

Beschäftigte im öffentlichen Dienst durch, um<br />

die belarussischen Bürger vor dem negativen Einfluss<br />

der Krise zu schützen. Die Gehälter für Juni<br />

Andrej Aleksandrovič, Minsk<br />

dieses Jahres wurden um 37,5 Prozent erhöht.<br />

Allerdings erfolgte die Indexierung nach einer<br />

speziellen Norm. Auf diese Weise wird es für die<br />

Staatsbediensteten eine Gehaltszulage in Höhe<br />

von 128.700 Rubel (ca. 18 Euro) geben. Die Geschäftsleute<br />

wunderten sich über dieses Handeln<br />

der Staatsbeamten. Die Gehaltsindexierung ist im<br />

Grunde genommen der Lohn für das Scheitern der<br />

staatlichen Wirtschaftspolitik. Allerdings wird dieser<br />

Lohn aus dem Budget gezahlt, in das unter anderem<br />

auch die Unternehmer Steuern einzahlen.<br />

Und eine Lohnzulage bekommen nur diejenigen,<br />

die dieses Budget verschwenden.<br />

Allerdings konnte sogar die Indexierung die zunehmenden<br />

Einkommenseinbußen der Bevölkerung<br />

und die Verschlechterung des Lebensstandards<br />

nicht verhindern. Eine wesentlichere Hilfe<br />

für viele Bevölkerungsschichten war der Sommer.<br />

Die Ferienzeit im Wochenendhaus, Gemüse- und<br />

Obsternte aus dem eigenen Garten, niedrige Kommunalabgaben<br />

halfen vor allem den Rentnern, über<br />

die Runden zu kommen. Viele Belarussen verzichteten<br />

bewusst auf eine Urlaubsreise in diesem Jahr,<br />

um zu sparen. Und viele fingen an ihre Ersparnisse<br />

bei der Bank abzuheben. Während im März die<br />

Fremdwährungseinlagen der Bevölkerung sich um<br />

40 Millionen US-Dollar verringerten, betrug die<br />

Reduzierung im April und Mai ca. 460 Millionen<br />

US-Dollar pro Monat. So verminderten die Belarussen<br />

ihre Fremdwährungseinlagen fast um eine<br />

Milliarde US-Dollar in drei Monaten. Sie hoben<br />

ihre Ersparnisse auch in Nationalwährung ab. Allein<br />

im Mai reduzierten die belarussischen Bürger<br />

ihre Bankeinlagen fast um eine Billion belarussische<br />

Rubel.<br />

Mit Warenhortung gegen Inflation<br />

Dabei investierten viele Bürger in Waren. Gemäß<br />

den Angaben des Nationalen Statistischen Komitees<br />

stieg in den ersten fünf Monaten des laufenden<br />

Jahres der Ankauf von Baumaterialien seitens<br />

Nr. 53 03 / 11


der belarussischen Bevölkerung gegenüber dem<br />

Vorjahr um 65 Prozent. Die zweithöchste Steigerung<br />

(um 50 Prozent) ergab sich durch den Verkauf<br />

von synthetischen Reinigungsmitteln. Die Bürger<br />

beschlossen ebenfalls, in Schuhe, Kleidung, Trikotagen,<br />

Sonnenblumenöl und Nudeln stark zu<br />

investieren. Zusätzlich, so die Umfrageergebnisse<br />

des Soziologischen Zentrums „Zerkalo-Info“,<br />

sparen die Belarussen nun bei den Lebensmitteln.<br />

Die Mitarbeiter des Zentrums baten die Bürger,<br />

die folgende Frage zu beantworten: „Können Sie<br />

sagen, dass Sie (Ihre Familienmitglieder) in den<br />

letzten 2-3 Monaten im Vergleich zu früher günstigere<br />

Lebensmittel und Artikel des täglichen Bedarfs<br />

kauften?“. Die überwiegende Mehrheit der<br />

Befragten bejahte die Frage.<br />

Das Gefühl zu fallen<br />

Doch das Sparen der Bevölkerung spiegelt sich<br />

direkt in der Wirtschaft wider. Die Umfrageergebnisse<br />

des Instituts für Business und Management<br />

zeigen, dass die überwiegende Mehrheit der<br />

Unternehmer die Auswirkungen der Krise stark zu<br />

spüren bekamen: Die fallende Kaufkraft der Bevölkerung<br />

im Inland (69,5 Prozent), die Beschränkungen<br />

des Devisenmarktes (57,2 Prozent), die<br />

Nichtzahlung für gelieferte Produkte (50,4 Prozent),<br />

die Neuausrichtung der Kunden nach den<br />

günstigeren Anbietern (33,4 Prozent) sowie die<br />

Zugangsbeschränkung zu Finanzressourcen der<br />

Banken (32,9 Prozent). Entwicklungsmöglichkeiten<br />

für ihre Unternehmen im Jahr 2011 sehen 63,6<br />

Prozent der Befragten in der Suche nach neuen<br />

Businessmodellen, 50,1 Prozent in der effektiveren<br />

Nutzung der Finanzressourcen. 29,5 Prozent erwarten<br />

den Wegfall der Konkurrenz, 25,3 Prozent<br />

beabsichtigen die Modernisierung der Produktionskapazitäten,<br />

24,3 Prozent haben vor, qualifizierte<br />

Kräfte für weniger Lohn einzustellen.<br />

Allerdings können solche Pläne in Unternehmen<br />

nur unter der Voraussetzung vorgenommen werden,<br />

dass sie nicht von allein Konkurs gehen. Der<br />

Leiter des belarussischen Nationalkomitees für<br />

Statistik, Vladimir Sinovskij, verkündete bereits<br />

im März, angesichts der schwierigen Wirtschaftslage<br />

und der komplizierten Situation in der Wirtschaftsbranche,<br />

dass „in der letzten Zeit 600.000<br />

Arbeitnehmer gezwungen waren, vorübergehend<br />

ihre Beschäftigung zu unterbrechen“. Solche vorübergehenden<br />

Beschäftigungsunterbrechungen sind<br />

in Belarus weiterhin an der Tagesordnung. Etwas<br />

einfacher ist die Situation bei den Einzelunterneh-<br />

mern. Zwar erfahren sie seit Frühling einen starken<br />

Umsatzrückgang, können aber auf marktgängigere<br />

Waren ausweichen. Und auch von der Krise<br />

kann man profitieren, zum Beispiel von der Vielzahl<br />

der Währungskurse, wenn es nicht möglich<br />

ist, für belarussische Rubel zum offiziellen Preis<br />

Fremdwährung zu kaufen.<br />

Devisengeschäft<br />

Wie auch nach dem Zerfall der Sowjetunion machen<br />

die meisten Devisenschieber ihre Geschäfte<br />

auf den Märkten der Städte. Bemerkenswert ist,<br />

dass den Devisenankauf praktisch alle Verkäufer<br />

betreiben. Ihre Ware erwerben sie außerhalb<br />

von Belarus, wo niemand belarussische Rubel<br />

haben möchte. Würden sie der Bevölkerung keine<br />

Fremdwährung abnehmen, riskieren sie ohne<br />

Devisenkapital zum Ankauf neuer Ware zu bleiben.<br />

Überdies gibt es wesentlich einflussreichere<br />

Devisenschieber, die im Vergleich zu früher nicht<br />

mehr mit Schildern auf den Märkten stehen und<br />

„Dollar, Mark, russische Rubel“ schreien, sondern<br />

sie sitzen in einem Cafe und halten Kontakt über<br />

Handy. Im Übrigen haben sie wie damals keine<br />

Angst vor der Miliz. Allein schon deswegen, weil<br />

die belarussischen Behörden beharrlich so tun, als<br />

ob es keine Wirtschaftskrise im Land gäbe. Die<br />

belarussischen Wirtschaftsexperten warnen währenddessen<br />

vor weiteren Erschütterungen. Beispielsweise<br />

wird das aktuelle Preisniveau durch<br />

den Energiesektor und die erdölverarbeitende<br />

Industrie subventioniert. Die Stromtarife wurden<br />

praktisch seit Frühjahr nicht mehr erhöht und das<br />

gesamte belarussische Energieversorgungssystem<br />

arbeitet derzeit mit Verlust. Das wird nicht lange<br />

Bestand haben können. Sollten die Energiepreise<br />

gesenkt werden, erwartet das Land eine weitere<br />

Inflationsrunde.<br />

Wirtschaft & Umwelt<br />

Devisenhandel statt<br />

Kartoffelernte: Jede<br />

Krise hat ihre Gewinner.<br />

Foto: bymedia.net<br />

03 / 11 Nr. 53 Belarus Perspektiven 23


Wirtschaft & Umwelt<br />

Das Gespenst der belarussischen<br />

Privatisierung<br />

Die Privatisierung in Belarus erinnert irgendwie an den Sieg des Kommunismus: Beides wurde versprochen und fest eingeplant,<br />

hat sich aber niemals ereignet.<br />

Aleksandr Dautin, Minsk<br />

Der Börsengang von<br />

Naftan – der ältesten<br />

belarussischen Ölraffinerie<br />

- soll nun das<br />

Haushaltsloch stopfen.<br />

Foto: bymedia.net<br />

24 Belarus Perspektiven<br />

Die Aussage des belarussischen Ministerpräsidenten<br />

Michail Mjasnikovičs, die Regierung verhandele<br />

mit russischen Unternehmen über die Privatisierung<br />

von staatlichen Aktienpaketen von sieben<br />

belarussischen Betrieben, sorgte nicht gerade für<br />

Furore. Rhetorische Privatisierungsbekundungen<br />

der belarussischen Führung gab es in der Vergangenheit<br />

zu Genüge, nur führten sie selten zu handfesten<br />

Ergebnissen. Die erneute Ankündigung<br />

unterscheidet sich allerdings von den vorherigen<br />

durch die konkrete Benennung der sieben zu privatisierenden<br />

Betriebe und dadurch, dass es sich<br />

diesmal um russische Käufer handelt.<br />

Dabei wird laut Mjasnikovič über die Beteiligung an<br />

Grodno Azot mit den russischen Sibur und Rosneft<br />

verhandelt, an Naftan mit Lukoil, an Beltransgaz<br />

mit Gazprom, an der Ölraffinerie Mozyrskij NPZ<br />

mit Rosneft, am belarussischen Telekommunikationsanbieter<br />

MTS mit dem russischen AFK Sistema,<br />

am Fahrzeughersteller MAZ mit Russian Machines<br />

und dem Staatsunternehmen Rostechnologiji – und<br />

mit dem Letzten auch um die Beteiligung an Integral.<br />

„Die Verhandlungen, die über alle diese Posten<br />

geführt werden, könnten etwas dynamischer sein“,<br />

fügte der belarussische Ministerpräsident hinzu.<br />

Der russische Uralkali habe noch kein Angebot zur<br />

Privatisierung von Belaruskali vorgelegt. „Vielleicht<br />

wollen sie nicht“, mutmaßte der Regierungschef.<br />

Zu Belaruskali hatte sich zuvor bereits Aleksandr<br />

Lukašenko geäußert, als er den Wert des Unternehmens<br />

auf 30 Milliarden US-Dollar bezifferte<br />

und ihm eine künftige Steigerung prophezeite.<br />

Bemerkenswert ist, dass das russische Großunternehmen<br />

Rosneft die Aussagen des belarussischen<br />

Ministerpräsidenten bereits dementierte und damit<br />

sich selbst und die entsprechenden Objekte aus<br />

der „Liste der Sieben“ herausstrich. „Rosneft führt<br />

keine Verhandlungen mit der belarussischen Seite<br />

über den Erwerb von erdölchemischen Aktivbeständen<br />

auf belarussischen Territorium“, sagte ein<br />

Vertreter des Unternehmens.<br />

Nach Meinung der Experten werden die potenziellen<br />

Investoren in Belarus vor allem durch die<br />

hohen Preise für das Staatseigentum und die wechselhaften<br />

Geschäftskonventionen abgeschreckt.<br />

Das Dekret, das die Privatisierung von Staatsaktien<br />

erlaubt, wurde noch im Jahr 2008 vom Präsidenten<br />

unterzeichnet. Seit diesem Tag hat es diverse<br />

Pläne für die Privatisierung gegeben. Sie konnten<br />

aber kaum realisiert werden. Viele Betriebe, die<br />

zum Verkauf vorgesehen waren, fanden schlichtweg<br />

keine Käufer. Selbst das verantwortliche Staatskomitee<br />

musste die Probleme mit der Privatisierung<br />

in den Jahren 2008-2010 einräumen. Schuld an<br />

dieser Entwicklung trägt in erster Linie der Präsident<br />

Lukašenko, der mehrmals verkündete, er sei<br />

gegen eine massenhafte - mit seinen Worten „eine<br />

wilde“ - Privatisierung in Belarus.<br />

Im Endergebnis findet die Privatisierung allein auf<br />

dem Papier statt. Nach Georgij Kuznecov, dem Vorsitzenden<br />

des Komitees für Staatseigentum, tragen<br />

die Direktoren der Aktiengesellschaften Schuld<br />

Nr. 53 03 / 11


daran, die einst mithilfe des Staates errichtet wurden.<br />

Diese würden Widerstand gegen die Privatisierungsprozesse<br />

leisten. „Wir sehen viele Gegner<br />

der Privatisierung in der Republik. Das sind die<br />

Direktoren der Betriebe, die Ministerialbeamten,<br />

die sie unterstützen, und auch die örtlichen Behörden“,<br />

sagte Kuznecov auf einer Pressekonferenz in<br />

Minsk. In früheren Zeiten hätten diese Betriebsleiter<br />

„ihre Unternehmen ruiniert, dabei Unterstützung<br />

des Staates bekommen, sie aber nicht nutzen<br />

können“. Nun spürten sie, dass sie nach der Privatisierung<br />

ihre Stellungen verlieren könnten und tun<br />

alles, um es zu verhindern, so Kuznecov.<br />

Um die Privatisierung wenigstens etwas anzukurbeln,<br />

bestimmte das Komitee zehn Unternehmen,<br />

die unter Beteiligung der Weltbank und der internationalen<br />

Berater verkauft werden sollen. Der Verkauf<br />

ihrer Aktienpakete soll in den Jahren 2011-2013<br />

realisiert werden. Zu den betroffenen Unternehmen<br />

gehören der Hersteller von Stahlbetonkonstruktionen<br />

Baranovičskij kombinat železobetonnych<br />

konstrukcij (mit einer Staatsbeteiligung von<br />

99 Prozent), der Elektromechanikproduzent Brestskij<br />

elektromechaničeskij zavod (Staatsbeteiligung<br />

83,8 Prozent), Minsker Belsantechmontaž-2 (77,4<br />

Prozent), Brester Stroitelnyj Trest Nr. 8 (85,3 Prozent),<br />

Minsker Avtomagistral (83,5 Prozent) und<br />

Belgazstroj (50,6 Prozent), Gomeler Medplast<br />

(99,9 Prozent) und Barhim (99,6 Prozent), Konfa<br />

aus Malodečno (25 Prozent) und der Minsker<br />

Margarineproduzent Minskij margarinovyj zavod<br />

(Staatsbeteiligung 93,8 Prozent). Die Weltbank hat<br />

Baranovičskij kombinat železobetonnych konstrukcij<br />

Brestskij elektromechaničeskij zavod<br />

Belsantechmontaž-2<br />

Stroitelnyj Trest Nr. 8<br />

Avtomagistral<br />

Belgazstroj<br />

Medplast<br />

Barhim<br />

Konfa<br />

Minskij margarinovyj zavod<br />

bereits angekündigt, mit fünf Millionen US-Dollar<br />

die Organisation dieser Privatisierung zu unterstützen.<br />

Darüber hinaus beabsichtigt das Komitee<br />

für Staatseigentum vier Auktionen, an denen 39<br />

Aktiengesellschaften versteigert werden sollen. Allerdings<br />

besteht die Liste aller bis 2013 zu privatisierenden<br />

Objekten aus 244 Unternehmen. Die bela-<br />

russische Nationalbank plant bereits im laufenden<br />

Jahr mit Einkünften aus der Privatisierung von drei<br />

Milliarden US-Dollar. Im ersten Halbjahr fand aber<br />

eine Privatisierung praktisch nicht statt. Gemessen<br />

daran verspricht auch die zweite Jahreshälfte<br />

ein ähnliches Fiasko zu werden. Gerade um diese<br />

Einkommensausfälle zu kompensieren, könnte die<br />

partielle Privatisierung von Beltransgaz und Bela-<br />

rusneft forciert werden. In jedem Fall sehen die<br />

Experten die Privatisierung als Einkommensquelle<br />

für die Staatskasse, erst recht in der Wirtschaftskrise,<br />

die das Land zurzeit erlebt.<br />

25<br />

Staatsbeteiligung in Prozent<br />

Privatanteil in Prozent<br />

Wirtschaft & Umwelt<br />

Den Arbeitern der MAZ-<br />

Werke bleibt nichts außer<br />

zuzusehen: Die „Liste der<br />

Sieben“ steht.<br />

Foto: bymedia.net<br />

Derzeitige Staatsbeteiligung<br />

an den zehn<br />

zu privatisierenden<br />

Unternehmen<br />

03 / 11 Nr. 53 Belarus Perspektiven 25<br />

50,6<br />

77,4<br />

83,8<br />

85,3<br />

83,5<br />

99<br />

99,9<br />

99,6<br />

93,8<br />

16,2<br />

22,6<br />

14,7<br />

16,5<br />

49,4<br />

75<br />

6,2


Wirtschaft & Umwelt<br />

Der erste Börsengang scheitert<br />

Der erste Börsengang in der belarussischen Geschichte scheiterte. Von 125 Tausend Aktien des belarussischen Pharmaherstellers<br />

Borisovskij zavod medicinskich preparatov wurden nur 223 verkauft. Die Veranstalter sehen die Gründe des Fiaskos in<br />

den knappen Fristen und der Weigerung des Staates, sein Kontrollpaket abzugeben.<br />

Foto: bymedia.net<br />

Dieser Artikel ist am<br />

16. Juli 2011 unter<br />

www.dw-world.de/<br />

belarus erschienen<br />

und wird mit freund-<br />

licher Genehmigung<br />

derDeutschen Welle<br />

abgedruckt.<br />

26 Belarus Perspektiven<br />

Aller Anfang ist schwer<br />

Der öffentliche Verkauf von Aktien des Borisovsker<br />

Pharmaherstellers wurde in der ersten Julihälfte<br />

durchgeführt. Insgesamt wurden fast 15 Prozent<br />

des gesamten Satzungsfonds des Unternehmens<br />

feilgeboten - 125,5 Tausend Aktien im Wert von 10<br />

Millionen US-Dollar. Beachtenswert ist, dass alle<br />

verkauften Aktien fast ausschließlich von belarussischen<br />

Staatsbürgern erworben wurden.<br />

Der unabhängige Wirtschaftsexperte Michail<br />

Zalesskij hielt das Projekt von Anfang an für ein<br />

Experiment. Nach seiner Einschätzung sei die bela-<br />

russische Realität so veranlagt, dass der Teilhaber<br />

von 15 Prozent Aktien bei der Kontrolle des<br />

Staates keinen realen Einfluss auf die Politik des<br />

Unternehmens ausüben kann. So besitze Gazprom<br />

momentan 50 Prozent von Aktien des Beltransgaz<br />

und könne damit in der Tat kaum etwas beeinflussen.<br />

„Daher sind 15 Prozent der Fabrik in<br />

Borisovsk für keinen von großem Interesse“, so der<br />

Experte.<br />

An Portfolios und Investoren vorbei<br />

Der Vorsitzende des Vereins der Mittel- und Kleinunternehmer<br />

Sergej Balykin weist darauf hin, dass<br />

sich das IPO ursprünglich auf die strategischen In-<br />

Andrej Timarov, Minsk<br />

vestoren bzw. auf Portfolio-Investoren richtete. Jedoch<br />

sei der Anteil von 15 Prozent für jeden strategischen<br />

Investor, der die Borisovsker Pharmafabrik<br />

in sein Produktionsprozess einschließen möchte,<br />

wenig interessant. Für Portfolio-Investoren – meist<br />

Investmentfonds oder private Personen – die von<br />

den Aktien vor allem hohe Dividenden erwarten,<br />

wäre der Kauf eines 15-prozentigen Anteils ebenso<br />

unrentabel. „In Belarus gibt es kaum Eigentumsgarantien,<br />

die wirtschaftliche Situation ist instabil.<br />

Angesichts solcher Bedingungen kann man wenig<br />

auf Portfolio-Investoren spekulieren“, meint Balykin.<br />

In Erwartung des Kontrollpakets<br />

Valerij Postovskij, Geschäftsführer der Firma Brostok,<br />

der die Rolle des Investitionsagenten beim IPO<br />

der Borisovsker Fabrik übernahm, zählte in seinem<br />

Interview der DW eine Reihe von Verfahrensproblemen<br />

auf. Beispielsweise wurden für dieses IPO<br />

von der belarussischen Gesetzgebung nur zehn<br />

Tage vorgesehen, was eindeutig zu wenig sei. Darüber<br />

hinaus sei der 15-prozentige Anteil für Investoren<br />

unattraktiv. Andererseits, so Postovskij, wäre<br />

es naiv, zu erwarten, dass Belarussen diese Aktien<br />

in großen Mengen aufkaufen würden. Denn auch<br />

sie legen ihre Ersparnisse bevorzugt in Banken für<br />

Dividenden an, und nicht in Unternehmen.<br />

Das erste Problem der knappen Fristen für das<br />

IPO soll bereits im September gelöst werden, wenn<br />

die vorgesehene Verkaufszeit durch den Beschluss<br />

des Finanzministeriums bis zu 60 Tage verlängert<br />

wird. Wann jedoch die Frage der Erhöhung des<br />

feilgebotenen Anteils geklärt werden kann, kann<br />

Postovskij nicht einschätzen. Seiner Meinung nach<br />

wäre der Verkauf der Aktien an einen strategischen<br />

Investor die optimale Variante. Dies würde allerdings<br />

die Freigabe von 51 Prozent der Aktien bedeuten.<br />

Und diese Entscheidung kann nur die Regierung<br />

treffen.<br />

Nr. 53 03 / 11


Olga Karač, Politikerin aus Vitebsk, erzählt: „Die<br />

Idee dieser Kampagne ist bereits vor langem entstanden,<br />

und zwar als es uns klar wurde, dass die<br />

Polizei einen ‚besonderen Umgang‘ mit den festgenommenen<br />

Frauen pflegen. Mehrere Aktivistinnen<br />

berichteten darüber, dass sie bei der Festnahme sexuell<br />

belästigt wurden. Als ich selbst am 19. April<br />

festgenommen und zur Wache in Minsk gebracht<br />

wurde, wurde ich dort geschlagen. Der Polizist Dinas<br />

Linkus hat mir mit einer Vergewaltigung gedroht.<br />

Dann habe ich verstanden, dass ich mich<br />

aktiv dagegen einsetzen muss.“<br />

Viele Frauen, die von 2006 bis 2011 an den<br />

politischen Protestaktionen teilgenommen haben,<br />

waren der brutalen Gewalt der Polizei und an-<br />

derer Institutionen ausgesetzt. Einige wurden bei<br />

der Festnahme verprügelt, andere aus politischen<br />

Gründen von der Arbeit, Schule oder Universität<br />

entlassen. Oft werden die Frauen mit der Drohung,<br />

dass ihnen ihre Kinder weggenommen würden,<br />

unter Druck gesetzt. Da Kindererziehung und Elternpflege<br />

im patriarchal geprägten Belarus ausschließlich<br />

den Frauen überlassen bleibt, sind bei<br />

der Festnahme von einer Frau auch ihre Kinder<br />

und Familienangehörige stark betroffen. Vielen<br />

inhaftierten Frauen wird medizinische Versorgung<br />

verweigert, einige werden sogar in den Selbstmord<br />

getrieben. Jana Poljakova, Menschenrechtsaktivistin<br />

aus Saligorsk, wurde von einem Polizisten<br />

vor der eigenen Tür überfallen. Ihre Beschwerde<br />

wurde vom Gericht als eine Verleumdung verklärt.<br />

2009 wurde Jana Poljakova zu zweieinhalb Jahren<br />

Haft verurteilt und beging aus Verzweiflung Selbstmord.<br />

Die Einzelphasen der Kampagne befinden sich aktuell<br />

in der aktiven Planung. Es wurden bereits einige<br />

Artikel zum Thema im Internet veröffentlicht,<br />

Informations-Videos gedreht, Online-Diskussionen<br />

NGOs & Gesellschaft<br />

Vorsicht, Polizei!<br />

Mehrere Aktivistinnen in Belarus erlebten in den letzten Jahren die Brutalität der belarussischen Polizei. Jetzt wollen sie<br />

dagegen kämpfen. Mit der Kampagne „Vorsicht, Polizei!“ engagieren sich Politikerinnen, Journalistinnen und Wissenschaftlerinnen<br />

aus unterschiedlichen Städten Belarus‘ gegen die Gewalt der Polizei gegenüber Frauen. Denn vor allem Frauen sind<br />

gegen das gewaltsame Vorgehen der Sicherheitskräfte schutzlos.<br />

Jeanna Krömer, Berlin<br />

angeregt. Vor kurzem hat die Kampagne ein Kindermalbuch<br />

„Mein Papa ist ein Polizist: Was macht<br />

er auf der Arbeit?“ herausgegeben. Künftig planen<br />

die Aktivistinnen weitere Offline-Aktionen. Die<br />

Soziologin Irina Solomatina ist der Meinung, dass<br />

die belarussische Polizei tiefgreifende radikale Reformen<br />

braucht. „Die Polizisten wissen oft selbst<br />

nicht, dass sie gegen das Gesetz verstoßen. Es mangelt<br />

an Ausbildung, Selbständigkeit, technischen<br />

Ressourcen und vor allem an der Möglichkeit, auf<br />

lokaler Ebene eine Kontrolle der Gesellschaft über<br />

die Polizei zu errichten. Die Kampagne „Vorsicht,<br />

Polizei!“ soll der erste Impuls für eine solche Reform<br />

werden“.<br />

Das offizielle Logo<br />

der Kampagne<br />

Mehr Informationen<br />

zu der Kampagne<br />

finden Sie unter<br />

www.nash-dom.info.<br />

03 / 11 Nr. 53 Belarus Perspektiven 27


NGOs & Gesellschaft<br />

Kampf hinter Gittern<br />

Über 30 oppositionelle Politiker und Aktivisten sind in Belarus im letzten halben Jahr wegen vermeintlicher Massenunruhen<br />

am Tag der Präsidentschaftswahlen zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden. Nun erlebt Belarus eine neue Repressionswelle<br />

– diesmal gegen die Menschenrechtsverteidiger, die sich für die Unterstützung von politischen Gefangenen engagieren.<br />

Familienangehörige und Anwälte schlagen Alarm.<br />

Jeanna Krömer, Berlin<br />

Über 30 politische<br />

Gefangene befinden<br />

sich zurzeit in Haft.<br />

Foto: bymedia.net<br />

28 Belarus Perspektiven<br />

Wegen seines übertriebenen Strafapparats, der<br />

sich nicht nur gegen Kriminalität, sondern oft auch<br />

gegen die politische Opposition richtet, gilt Belarus<br />

seit Jahren als Polizeistaat. Laut World Prison<br />

Population List kommen in Belarus auf 100 000<br />

Bürger ungefähr 385 Gefangene. In Deutschland<br />

beträgt diese Rate 87 pro 100 000. Wie viele Menschen<br />

genau in Belarus wegen ihres gesellschaftspolitischen<br />

Engagements hinter Gittern sind, ist nicht<br />

klar. Es handelt sich auf jeden Fall um Hunderte,<br />

so Valerij Levonevskij, Menschenrechtler, Politiker<br />

und in der Vergangenheit selbst politischer Gefangener.<br />

Nach den Präsidentschaftswahlen im Dezember<br />

2010 kam es in Belarus zu einer massiven Repressionswelle<br />

gegen die Opposition. „Mehr als<br />

30 Menschen wurden allein in diesem Jahr verurteilt.<br />

Dazu zählen weder die Gefangenen, die auf<br />

ihre Gerichtsprozesse warten, noch diejenigen, die<br />

zu Bewährungsstrafen oder einer Haftstrafe mit<br />

einem Aufschub des Vollzugs verurteilt worden<br />

sind“, so Enira Bronitskaja, Vertreterin der Menschenrechtsorganisation<br />

Salidarnasc, die sich für<br />

die Opfer staatlicher Repressionen engagiert. „Bereits<br />

in der Untersuchungshaft erleben politische<br />

Gefangene Erpressungen und Einschüchterungen,<br />

manche werden sogar gefoltert. Auch in den Gefängnissen<br />

werden die Menschenrechte permanent<br />

verletzt. Die Lage ist einfach inakzeptabel!“, kommentiert<br />

die Menschenrechtlerin die Situation.<br />

Viele politische Gefangene verbüßen ihre Strafen<br />

unter unerträglichen Umständen. Oft haben sie<br />

keinen Zugang zur Korrespondenz, viele werden<br />

wochenlang in Isolierzellen gesperrt und bekommen<br />

keine ausreichende medizinische Versorgung.<br />

Darja Korsak, die Ehefrau des verurteilten Journalisten<br />

Alexandr Otroščenkov, durfte nach langer<br />

Zeit ihren Ehemann in der Strafanstalt besuchen.<br />

Ihr erster Eindruck: Der Gatte habe stark abgenommen.<br />

„Ich mache mir große Sorgen um seine<br />

Gesundheit. Es gibt in dieser Strafkolonie kein<br />

warmes Wasser, ich weiß nicht wie sie da den Winter<br />

überleben werden“, sagt sie. Evgenija, die Ehefrau<br />

des Ex-Präsidentschaftskandidaten Dmitrij<br />

Uus, erzählt, dass ihr Mann in der Haft an Herzschmerzen<br />

und hohem Blutdruck leide, aber keine<br />

medizinische Versorgung bekomme. „Ich habe<br />

ihm ein Paket mit den nötigsten Arzneimitteln geschickt,<br />

aber es ist nicht angekommen. Die Ärzte<br />

im Gefängnis unternehmen auch nichts.“ Im kritischen<br />

gesundheitlichen Zustand befindet sich der<br />

verhaftete oppositionelle Aktivist Dmitrij Bondarenko.<br />

Monatelang wurde ihm die komplizierte<br />

Wirbelsäulen-Operation untersagt, die er dringend<br />

benötigte, da sie nicht auf dem Territorium<br />

der Strafanstalt durchgeführt werden konnte. Erst<br />

nach einem halben Jahr wurde er unter dem Druck<br />

der internationalen Öffentlichkeit zur Operation<br />

zugelassen. Momentan befindet sich Bondarenko<br />

in einer neurochirurgischen Klinik in Minsk, kann<br />

aber jederzeit zurück ins Gefängnis abtransportiert<br />

Nr. 53 03 / 11


werden. Dabei benötigt er eine spezielle medizinische<br />

Rehabilitation, die stationäre Behandlung von<br />

bis zu zehn Monaten voraussetzt.<br />

Politische Gefangene befinden sich in insgesamt<br />

neun belarussischen Kolonien in Haft. Wie schwer<br />

ihre Lage ist, hänge von den jeweiligen Vorgesetzten<br />

ab, meint Darja Korsak. „Manche können sich<br />

in die Situation der Gefangenen hineinversetzen<br />

und machen einfach ihre Arbeit. Andere aber blockieren<br />

den Inhaftierten den Zugang zur Information<br />

und denken sich weitere Strafmaßnahmen aus.<br />

Besonders alarmierend ist die Lage in der Kolonie<br />

17 in Šklov. Da befinden sich vier politische Gefangene.<br />

Nach unseren Angaben werden sie in Haft<br />

erpresst. Einen ähnlichen Ruf hat die Strafanstalt<br />

in Bobrujsk“, erzählt Korsak. Besonders stark sind<br />

Nikita Lichovid und Zmiter Daškevič den Gefängnisrepressionen<br />

ausgesetzt. In der Strafanstalt weigerten<br />

sich die jungen Männer, die demütigenden<br />

Befehle der Wärter auszuführen. Denn dies würde<br />

bedeuten, dass sie das Urteil akzeptieren. Für diese<br />

„Straftaten“ befinden sie sich nun in Isolationshaft<br />

– in einer Einzelzelle mit extremen Bedingungen:<br />

wenig Platz, keine frische Luft, keine Matratzen<br />

oder Bettwäsche, wenig Essen und kein Kontakt<br />

zur Außenwelt. Der 21-jährige Nikita Lichovid verbrachte<br />

inzwischen über 50 Tage in der Isolationshaft<br />

und wurde vor kurzem zu weiteren 30 Tagen<br />

verurteilt.<br />

Eine neue Repressionswelle brach gegen die Menschenrechtsaktivisten<br />

aus, die sich für politische<br />

Gefangene engagieren. Die Tätigkeiten vieler Menschenrechtsorganisationen<br />

wurden in den letzten<br />

Monaten außerplanmäßig durch das Justizministerium<br />

kontrolliert und für gesetzwidrig erklärt. Die<br />

Menschenrechtsverteidiger in Minsk sind für ein<br />

persönliches Interview kaum zu erreichen: Entweder<br />

sind sie in der heutigen Situation mit der Arbeit<br />

überfordert, oder sind eingeschüchtert und meiden<br />

jeden Kontakt zu Journalisten. Der Vorsitzende<br />

des Menschenrechtszentrums Viasna Ales Beljackij<br />

wurde am 4. August wegen angeblicher Steuerhinterziehung<br />

inhaftiert. Ihm droht eine Haftstrafe<br />

von bis zu sieben Jahren. Die Menschenrechtsorganisationen<br />

Viasna, Salidarnasc und das Belarussi-<br />

sche Helsinki-Komitee haben allein in den letzten<br />

sieben Monaten mehr als 1500 Menschen unterstützt,<br />

die unter der politischen Verfolgung gelitten<br />

haben. Ales Beljackij wurde für sein Engagement<br />

zweimal für den Friedensnobelpreis nominiert.<br />

Nikolaj Chalezin, Leiter des politisch verfolgten<br />

Freien Theaters, schrieb in seinem Blog: „Sie [Viasna]<br />

waren es, die den Großanteil der finanziellen<br />

Mittel für Verfolgte und ihre Familien gesammelt<br />

haben. Und das ist es auch, warum sie jetzt selbst<br />

verfolgt werden: Man will eine der tragenden Säulen<br />

der belarussischen Opposition vernichten.“<br />

Viele politische Gefangene werden erpresst, ein<br />

Begnadigungsgesuch an den Präsidenten zu unterschreiben,<br />

das für sie bedeuten würde, dass sie die<br />

ihnen angelastete Schuld gestehen. Am 14. August<br />

sind zwar sieben Gefangene begnadigt worden,<br />

mit Politik hatten sie allerdings wenig zu tun. Die<br />

oppositionellen Aktivisten, die sich aktiv im politischen<br />

Leben engagiert haben, bleiben nach wie<br />

vor inhaftiert.<br />

NGOs & Gesellschaft<br />

Ales Beljackij: Als<br />

Helfer nun selbst in<br />

Haft.<br />

Foto: bymedia.net<br />

03 / 11 Nr. 53 Belarus Perspektiven 29


NGOs & Gesellschaft<br />

Patenschaften für politische<br />

Gefangene<br />

Die Menschenrechtsorganisation Libereco – Partnership for Human Rights setzt sich für die Freilassung aller politischen<br />

Gefangenen in Belarus ein und hat hierzu eine Patenschaftskampagne lanciert.<br />

Lars Bünger, Zürich<br />

Weitere Informationen<br />

und Anmeldung<br />

zum Belarus-Newsletter:<br />

www.lphr.org<br />

Online-Petition für<br />

Dmitrij Bondarenko:<br />

www.bandarenka.pl<br />

Facebook-Seite<br />

für Ales Beljackij :<br />

www.facebook.com/<br />

WeAllAreAles<br />

30 Belarus Perspektiven<br />

Nach der brutalen Auflösung der Proteste gegen<br />

die Fälschung der Präsidentschaftswahlen am<br />

Wahlabend des 19. Dezember 2010 kam es in<br />

Belarus zu einer massiven Verhaftungs- und Repressionswelle,<br />

die bis heute anhält. Mehr als 700<br />

Menschen wurden festgenommen und verbrachten<br />

die Weihnachtstage und den Jahreswechsel<br />

im Gefängnis. Oppositionelle Präsidentschaftskandidaten<br />

und andere Inhaftierte wurden in<br />

Haft massiv eingeschüchtert und einige von ihnen<br />

gefoltert.<br />

In anschließenden Schauprozessen wurden von<br />

Februar bis Mai 2011 insgesamt 31 Regimekritiker<br />

zu Haftstrafen von 2 bis 6 Jahren verurteilt, von<br />

denen neun im August 2011 begnadigt wurden.<br />

Weiterhin inhaftiert sind Aleksandr Otroščenkov,<br />

Dmitrij Bondarenko, Dmitrij Bulanov, Dmitrij<br />

Doronin, Dmitrij Daškevič, Oleg Fedorkevič,<br />

Oleg Gnedčik, Ales Kirkevič, Aleksandr Klaskovskij,<br />

Nikita Lichovid, Vladimir Loban, Eduard<br />

Lobov, Aleksandr Molčanov, Fjodor Mirzajanov,<br />

Dmitrij Novik, Andrej Protasenia, Andrej Sannikov,<br />

Pavel Severinec, Michail Statkevič, Dmitrij<br />

Uss, Ilja Vasilevič, Pavel Vinogradov, Michail<br />

Avtuchovič und Svjatoslav Baranovič. Mit der<br />

Verhaftung von Ales Beljackij, dem Vorsitzenden<br />

des Menschenrechtszentrums Viasna, erreichten<br />

die Repressionen Anfang August 2011 einen traurigen<br />

Höhepunkt. Libereco hat zur Unterstützung<br />

des belarussischen Menschenrechtsverteidigers<br />

eine Solidaritätsseite auf Facebook lanciert.<br />

Um der Forderung nach Freilassung aller politischen<br />

Gefangenen Nachdruck zu verleihen, hatte<br />

Libereco im April 2011 eine Patenschaftskampagne<br />

lanciert. Abgeordnete nationaler Parlamente<br />

und des Europaparlaments adoptieren hierbei<br />

einen der politischen Gefangenen und setzen sich<br />

öffentlich sowie mit Schreiben an die belarussischen<br />

Behörden für dessen Freilassung ein. Bis<br />

Mitte August hatten bereits 14 Abgeordnete aus<br />

Deutschland, Polen und der Schweiz Gefangenen-<br />

Patenschaften übernommen, darunter Vertreter<br />

der CDU/CSU, Bündnis90/Die Grünen, FDP<br />

und SPD. Ziel von Libereco ist es, für alle 25<br />

(Stand 17. August 2011) politischen Gefangenen in<br />

Belarus einen parlamentarischen Paten zu finden.<br />

Mehrere der Abgeordneten stehen in Kontakt mit<br />

den Angehörigen der Gefangenen, um sie moralisch<br />

zu unterstützen. Marek Migalski, Mitglied des<br />

Europäischen Parlaments, hat eine Online-Petition<br />

für die Freilassung von Dmitrij Bondarenko<br />

aufgesetzt und setzt sich mit zahlreichen Statements<br />

und Appellen für „seinen“ Gefangenen<br />

ein. Besonderen Grund zur Besorgnis gibt in diesem<br />

Fall der Gesundheitszustand von Bondarenko,<br />

der operiert werden musste und eine spezielle<br />

medizinische Rehabilitation benötigt.<br />

Im Gefängnis sind die politischen Gefangenen<br />

weiteren Repressionen und Strafmaßnahmen<br />

ausgesetzt. Insbesondere Nikita Lichovid, für<br />

den der Bundestagsabgeordnete Manuel Sarrazin<br />

die Patenschaft übernommen hat, ist hiervon<br />

betroffen. Er befindet sich Berichten zufolge für<br />

drei Monate in Isolationshaft, was von belarussischen<br />

Menschenrechtsorganisationen als „folterähnliche<br />

Umstände“ angesehen wird.<br />

Unter den neun im August begnadigten Gefangenen<br />

befindet sich auch Sergej Kazakov, für den die<br />

deutsche Bundestagsabgeordnete Angelika Graf<br />

die Patenschaft übernommen hatte. Zusammen<br />

mit den zahlreichen Abgeordneten, die sich an<br />

der Patenschafts-Kampagne beteiligen, wird sich<br />

Libereco weiterhin für die Freilassung aller politischen<br />

Gefangenen in Belarus und die Bestrafung<br />

der für Menschenrechtsverletzungen Verantwortlichen<br />

einsetzen. Die Freilassung von Sergej Kazakov<br />

und acht weiterer Gefangener kann hierbei nur<br />

der erste Schritt des belarussischen Regimes sein.<br />

Zahlreiche weitere müssen folgen – sofort und<br />

bedingungslos.<br />

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NGOs & Gesellschaft<br />

Lokale Agenda 21 in Belarus –<br />

quo vadis?<br />

Das Instrument der Lokalen Agenda 21 (LA 21) spielt eine zentrale Rolle in Nachhaltigkeitskonzepten und –programmen auf<br />

der ganzen Welt. In LA21-Dokumenten erarbeiten Vertreter einer lokalen Gemeinschaft gemeinsam eine Vision, Ziele und<br />

Instrumente für ihren „Mikrokosmos“ - ein Dorf, eine Schule, eine Stadt oder ein ganzes Land. In Belarus gibt es heute mehr<br />

als 110 <strong>Initiativen</strong>, die Lokale Agenden ausarbeiten oder bereits veröffentlicht haben. Allerdings stehen die Vertreter nachhaltiger<br />

Entwicklungskonzepte in Belarus vor großen Herausforderungen.<br />

Oleg Sivograkov, Minsk & Martin Schön, Dortmund<br />

Ein Traum für jeden Demokratietheoretiker: Bürger,<br />

die sich nicht über „die da oben“ beschweren,<br />

sondern sich mit allen Beteiligten – Politik, Verwaltung,<br />

NGOs, Unternehmer – zusammensetzen und<br />

die Probleme vor Ort selber lösen. Kaum jemand<br />

zweifelt am positiven Effekt des Instruments der<br />

LA-21 für die Entwicklung der belarussischen Gesellschaft.<br />

Vor Ort profitieren alle Akteure von den<br />

Nachhaltigkeitsbemühungen der <strong>Initiativen</strong>. Beispielsweise<br />

taten sich Schüler des Polozker Gymnasiums<br />

Nr.12 im Rahmen der Agendaaktivitäten mit<br />

der Wohnungsverwaltung zusammen und halfen bei<br />

der Gestaltung der Innenhöfe ihres Stadtteils. Eine<br />

solche aktive Position des Einzelnen spielt für LA-<br />

21-Konzepte eine zentrale Rolle und kann einen<br />

wichtigen Beitrag dazu leisten, dass sich die belarussische<br />

politische Kultur hin zu mehr Eigenverantwortlichkeit<br />

und Selbstständigkeit entwickelt.<br />

Auf den ersten Blick ist die Geschichte der Lokalen<br />

Agenda in Belarus eine Erfolgsgeschichte. Im Jahr<br />

1999 verabschiedete das Kinderzentrum „Nadežda“<br />

das erste belarussische Dokument, das sich auf das<br />

LA-Konzept berief. Heute gibt es im Land mehr<br />

als 110 <strong>Initiativen</strong>, die LA21-Dokumente ausarbeiten<br />

oder bereits ausgearbeitet haben. Es gibt sie<br />

in kleinen Dörfern, wie in Perebrodje (Vitebsker<br />

Gebiet), in Schulen, wie in der Kleinstadt Rečica<br />

(Gomeler Gebiet), aber auch im Stadtteil „West“<br />

der Hauptstadt Minsk. Viele LA in ländlichen Gebieten<br />

setzen einen Schwerpunkt auf die Arbeit<br />

im Bereich Agrotourismus und die Erhaltung des<br />

historischen Erbes ihrer Heimatorte. Auch unter<br />

Schulen ist das Konzept „in“: Dem landesweiten<br />

Netzwerk von Agenda-Schulen, das ganzheitliche<br />

<strong>Bildungs</strong>konzepte in der Schulbildung anwendet,<br />

gehörten bereits etwa 100 Schulen an.<br />

Grundsätzlich existieren in Belarus gute Rahmenbedingungen<br />

für die Entwicklung Lokaler<br />

Agenden. Im Jahr 2004 ratifizierte der belarussische<br />

Ministerrat die nationale Strategie für nachhaltige<br />

sozial-ökonomische Entwicklung bis 2020.<br />

Das Dokument ersetzte die im Jahr 1997 verabschiedete<br />

Nachhaltigkeitsstrategie – die erste im<br />

GUS-Raum. Es enthält neben konkreten Zielen,<br />

die auf dem Weg zur nachhaltigen Entwicklung erreicht<br />

werden sollen, auch eine Reihe innovativer<br />

Ideen, beispielsweise die Einführung einer lokalen<br />

Selbstverwaltung in Belarus. Ausgearbeitet wurde<br />

die Strategie im Rahmen eines UNDP-Projekts,<br />

das auch die Schaffung einer Nationalen Nachhaltigkeitskommission<br />

initiierte. Diese sollte den Umsetzungsprozess<br />

der Strategie begleiten. Die guten<br />

institutionellen Rahmenbedingungen gehen mit<br />

der Unterstützung internationaler Geldgeber einher<br />

- unter ihnen das UNDP, die Europäische Kommission,<br />

das Förderprogramm Belarus, amerikanische,<br />

französische und schwedische Organisationen<br />

der Entwicklungszusammenarbeit. Das Förderprogramm<br />

Belarus berät unter anderem mit Experten<br />

landesweit Lokale Agenden und bietet thematische<br />

Schwerpunktseminare an. Das 2010 ausgelaufene<br />

UNDP-Projekt „Nachhaltige Entwicklung auf lokaler<br />

Ebene“ unterstützte 35 lokale <strong>Initiativen</strong>.<br />

Ungeachtet der guten Bedingungen und positiven<br />

Entwicklungen trifft der Prozess der Umsetzung<br />

von Nachhaltigkeitskonzepten in Belarus heute<br />

auf ernsthafte Probleme. Das erste ist anhand der<br />

Anzahl der Lokalen Agenden zu erkennen, die<br />

2010 im Rahmen des genannten UNDP-Projekts<br />

publiziert wurden: Nur 15 von 35 <strong>Initiativen</strong> erarbeiteten<br />

und veröffentlichten tatsächlich eine Strategie<br />

der nachhaltigen Entwicklung für ihre lokale<br />

03 / 11 Nr. 53 Belarus Perspektiven 31


NGOs & Gesellschaft<br />

32 Belarus Perspektiven<br />

Gemeinschaft. Ebenso hat bisher kaum eine Initiative<br />

anhand der eigenen Nachhaltigkeitsindikatoren<br />

einen Bericht erstellt. Hat sich beispielsweise<br />

eine Kleinstadt vorgenommen, den öffentlichen<br />

Personennahverkehr zu stärken, und dies an der<br />

Zahl der Buslinien und der beförderten Passagiere<br />

fest gemacht, so findet oft keine systematische<br />

Beobachtung und keine kritische Analyse dieser<br />

Prozesse statt. Weder die Initiativgruppe noch<br />

die lokale Gemeinschaft können somit klar definieren,<br />

an welchem Punkt der Zielerreichung sie<br />

sich befinden. Hier fehlt es den <strong>Initiativen</strong> häufig<br />

an Erfahrung und Analyseinstrumenten, aber auch<br />

an der Erkenntnis der Bedeutung eines systematischen<br />

Monitorings. Ein zweites Problem besteht<br />

im Nachlassen des Engagements vor Ort. Einige<br />

Initiativgruppen bilden sich, beziehen Akteure ein,<br />

entwickeln ein Konzept, verlieren jedoch dann den<br />

Elan, weiter zu arbeiten. Oft fehlt eine institutionelle<br />

Einbindung, die enorm wichtig ist. Sie kann<br />

Verbindlichkeiten schaffen und ermöglicht es, zusätzliche<br />

Ressourcen zu gewinnen. Die Schulagenden<br />

bemühen sich deshalb, Pädagogen und Schüler<br />

in den Agendaprozess einzubeziehen. Andere<br />

institutionelle Formen der lokalen Agenda-Arbeit<br />

bilden Fonds, die zu Nachhaltigkeitsthemen arbeiten,<br />

beispielsweise in der Kleinstadt Beloozjorsk<br />

im Brester Gebiet. Im ganzen Land sind außerdem<br />

in Kooperation mit dem Förderprogramm Belarus<br />

der Bundesregierung elf gesellschaftliche Räte entstanden.<br />

Bei den Treffen des Rats für Agroutourismus<br />

im Minsker Gebiet diskutieren beispielsweise<br />

Vertreter von Behörden, NGOs und Agroutourismushöfen,<br />

wie sie ökologisch verantwortlichen Urlaub<br />

in der Region attraktiver gestalten können.<br />

Ein drittes wesentliches Problem ist, dass einige<br />

Lokalverwaltungen und staatlichen Behörden weniger<br />

Interesse daran haben, die Nachhaltigkeitskonzepte<br />

bzw. konkrete Lokale-Agenda-<strong>Initiativen</strong><br />

weiter zu unterstützen. Zu Beginn des Entwicklungsprozesses<br />

der Lokalen Agenden in Belarus<br />

nahmen an dem Prozess mehrere Ministerien<br />

teil, der Ministerrat verabschiedete sogar die Nationale<br />

Nachhaltigkeitsstrategie. Heute zeigt die<br />

Regierung kaum Interesse daran, die Arbeit an<br />

der Strategie fortzuführen. Die Nationale Nachhaltigkeitskommission<br />

wurde aufgelöst. Da es auf<br />

nationaler Ebene kein Ministerium gibt, das für<br />

regionale Entwicklung verantwortlich wäre, fehlt<br />

somit auch der Druck der Zentrale auf die Peripherie,<br />

sich stärker zu engagieren. Zwar gibt es nach<br />

wie vor eine Reihe lokaler Verwaltungen, die das<br />

Potenzial Lokaler Agenden für die lokale Gemeinschaft<br />

erkennen und sie unterstützen. Aufgrund<br />

des Fehlens staatlicher Organe und Kontrollmechanismen<br />

bleibt diese Initiative jedoch stark von<br />

Einzelpersonen abhängig. Das lokale Monitoring-<br />

Dilemma scheint sich außerdem auf nationaler<br />

Ebene zu wiederholen: Der Leiter der Abteilung<br />

für Auslandsbeziehungen des Umweltministeriums,<br />

Alexander Račevskij, kritisiert, Belarus verfasse<br />

keine Berichte zu den selbst formulierten<br />

Indikatoren. Račevskij, ehemaliger Mitglieder der<br />

Nachhaltigkeitskommission, hofft allerdings auf<br />

die nächste UN-Konferenz 2012 in Brasilien, bei<br />

der die Ergebnisse des 1992 angestoßenen Agendaprozesses<br />

ausgewertet werden. Belarus hat dazu<br />

einen Fragebogen des UN-Sekretariats zum Stand<br />

der Umsetzung von Nachhaltigkeitskonzepten im<br />

Land ausgefüllt. Račevskij meinte Ende des Jahres,<br />

dies würde zu „einer Reihe interner Diskussionen<br />

im Staatsapparat“ führen und dem Prozess neuen<br />

Schwung verleihen.<br />

In dieser komplizierten Situation wäre die weitere<br />

institutionelle Festigung von LA-21-Prozessen dringend<br />

nötig. Eine wichtige Rolle könnten hier neben<br />

den gesellschaftlichen Räten und den Agendaschulen<br />

die fünf Informationszentren für nachhaltige<br />

Entwicklung spielen, die auf Basis erfolgreicher<br />

lokaler und regionaler Kooperation im UNDP-<br />

Projekt 2010 entstanden sind. Sie stehen heute vor<br />

der verantwortungsvollen Aufgabe, Ressourcen für<br />

die weitere Arbeit zu akquirieren und sich gleichzeitig<br />

zentrale Themenfelder zu erschließen, in<br />

denen sie sich spezialisieren können. Potenzielle<br />

Schwerpunkte können Agrotourismus oder energieeffizientes<br />

Bauen sein. Gleichzeitig müssen die<br />

Zentren andere Akteure und die Bevölkerung in<br />

diesen Prozess strukturell mit einbeziehen.<br />

Die Phase der Verbreitung von Konzepten nachhaltiger<br />

regionaler Entwicklung ist in Belarus weitestgehend<br />

abgeschlossen. Inwiefern jedoch das Potenzial<br />

der Lokalen Agenden tatsächlich realisiert<br />

wird, hängt nicht zuletzt von der Aktivität der Bürger<br />

ab. Aber auch davon, inwiefern es gelingt, die<br />

Arbeit im Bereich der nachhaltigen Entwicklung<br />

zu institutionalisieren, sowohl in Form von lokalen<br />

Organisationen und Kooperationsformen, als<br />

auch auf der Ebene nationalstaatlicher Institutionen.<br />

Dafür ist weiterhin die Unterstützung internationaler<br />

Programme notwendig, wie dass in 2012<br />

anlaufende Projekt der Europäischen Kommission<br />

für nachhaltige Entwicklung oder das Förderprogramm<br />

Belarus.<br />

Nr. 53 03 / 11


NGOs & Gesellschaft<br />

Treffpunkt Dialog der Generationen<br />

Seit ihrer Gründung widmet sich die Internationale <strong>Bildungs</strong>- und Begegnungsstätte „Johannes Rau“ Minsk einer gemeinsamen<br />

Aufarbeitung des Vernichtungskrieges 1941-1944 und sieht ihren Auftrag in der Versöhnung zwischen Belarus und<br />

Deutschland. Diesem Zweck dient auch das Projekt der Geschichtswerkstatt Minsk „Treffpunkt Dialog“ – ein Programm zur<br />

Unterstützung und Begleitung der Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.<br />

Julija Luščik, Minsk<br />

„Treffpunkt-Dialog“ wurde im Oktober 2010 als<br />

eine Fortführung des Projekts „Begleitung der<br />

Zeitzeugen in Würde“ ins Leben gerufen. Ermöglicht<br />

wurde es durch die Stiftung „Erinnerung,<br />

Verantwortung, Zukunft“ in Kooperation mit der<br />

Internationalen gesellschaftlichen Vereinigung<br />

„Verständigung“, dem Internationalen <strong>Bildungs</strong>-<br />

und Begegnungswerk (IBB) Dortmund, der Evangelischen<br />

Kirche in Hessen und Nassau sowie<br />

vielen privaten Spenden. Das Projekt richtet sich<br />

darauf, zur Würdigung der Lebensleistung und gesellschaftlichen<br />

Anerkennung der Opfer des Nationalsozialismus<br />

beizutragen, ihnen psychologische<br />

Hilfe und Unterstützung zu geben und sie ins öffentliche<br />

Leben zu integrieren.<br />

Das Projekt bietet den Zeitzeugen der Kriegszeit<br />

und weiteren Angehörigen der älteren Generation<br />

vielfältige Freizeitangebote. Für ältere Menschen<br />

gibt es in Belarus nur wenige Möglichkeiten für<br />

eine Weiterbildung oder Freizeitgestaltung. „Treffpunkt<br />

Dialog“ versucht, diese Lücke zu füllen. Die<br />

Teilnehmer pflegen in den angebotenen Interessenklubs<br />

ihre alten Hobbys oder erlernen neue, sei<br />

es im „Klub der Handarbeit“ oder im „Klub der<br />

deutschen Sprache“. Insbesondere der Letzte erfreut<br />

sich großer Beliebtheit, da er die Möglichkeit<br />

gibt, sich im Gespräch mit zahlreichen internationalen<br />

Gästen der Geschichtswerkstatt, aber auch<br />

sich bei Ausflügen zu Gedenkstätten in Deutschland,<br />

Polen und Österreich sicherer zu fühlen.<br />

Das Projekt integriert ältere Menschen durch die<br />

Organisation von unterschiedlichen Aktivitäten<br />

ins aktive öffentliche Leben. Dazu gehören beispielsweise<br />

der „Tag des Jubilars“, an dem Geburtstage<br />

gemeinsam gefeiert werden, oder das<br />

„Cafe der Begegnung“, wo Zeitzeigen den jungen<br />

Menschen ihre Lebensgeschichten erzählen können.<br />

Diese Aktivitäten sollen dazu beitragen, ältere<br />

Menschen vor Einsamkeit und sozialer Isolation<br />

zu schützen. Auch die junge Generation profitiert<br />

von diesen Treffen, da sie Geschichte miterleben<br />

kann: Die Erinnerungen der wenigen lebenden<br />

Zeitzeugen der Kriegszeit sind eine einzigartige<br />

historische Quelle.<br />

Im Rahmen des Projektes werden regelmäßige<br />

Ausflüge zu Gedenkstätten und Sehenswürdigkeiten<br />

in Minsk und ganz Belarus organisiert. Ein<br />

besonderer Wert wird dabei auf den gegenseitigen<br />

Austausch zwischen Jung und Alt durch die Gewinnung<br />

und Zusammenarbeit mit zahlreichen<br />

Freiwilligen gelegt. Das Projekt bietet ebenfalls<br />

eine professionelle Begleitung und Unterstützung<br />

der Freiwilligen, beispielsweise im Rahmen von<br />

Psychodramasitzungen des deutschen Spezialisten<br />

Fred Dorn. Jährlich findet das Internationale<br />

Freiwilligenforum statt, um junge Menschen und<br />

die Öffentlichkeit für das Problem der älteren Generationen<br />

zu sensibilisieren. Dieses Forum bietet<br />

eine Austauschplattform für unterschiedliche gesellschaftliche<br />

<strong>Initiativen</strong> und gibt vielen engagierten<br />

jungen Menschen die Chance, ihre Projekte<br />

vorzustellen.<br />

Eine gemeinsame Erinnerung warnt uns vor der<br />

Wiederholung der Fehler. Das Projekt „Treffpunkt<br />

Dialog“ richtet sich gegen Vergessen, um das Andenken<br />

an Gestorbene zu behalten und die Geschichten<br />

der Lebenden an jüngere Generationen<br />

weiter zu geben.<br />

Foto: Julija Luščik<br />

03 / 11 Nr. 53 Belarus Perspektiven 33


Publikationen<br />

Umsiedler der Tschernobylkatastrophe<br />

<strong>berichten</strong><br />

Im Jahr 2011 erschienen anlässlich des 25. Jahrestages der Tschernobylkatastrophe zahlreiche Zeitschriftenartikel, wissenschaftliche<br />

Abhandlungen, Kongressberichte, Bücher und Bildbände über das Thema Tschernobyl. Ein besonders „intimes“ Buch mit<br />

Interviews betroffener Menschen aus der Zone steht seit kurzem zur Verfügung. Der Leser erhält einen hervorragenden Einblick<br />

in das Befinden der Menschen angesichts der unvorstellbaren Katastrophe. Diese subjektive Betrachtung ist das Entscheidende -<br />

nicht nackte statistische Zahlen über Kranke und Tote, so wichtig sie auch in wissenschaftlichen Abhandlungen sind.<br />

34 Belarus Perspektiven<br />

Für die von dem Ehepaar Irmgard und Dietrich<br />

von Bodelschwingh 1991 gegründete „ganzheitliche“<br />

Hilfsorganisation Heim-statt Tschernobyl e.V.<br />

gab es von Anfang an nur eine Hilfe für Menschen<br />

aus den verstrahlten Gebieten: die Umsiedlung in<br />

ein nicht verstrahltes Gebiet. Im Laufe der Jahre<br />

entstanden durch gemeinsame Arbeit von 1500<br />

freiwilligen Helfern sowie Selbsthilfe der Umsiedlerfamilien<br />

zwei Dörfer mit über 50 ökologischen<br />

Häusern, Dorfgemeinschaftshäusern, Kirchen und<br />

einem Ambulanzzentrum. In einem zweiten Schritt<br />

beschäftigte sich der gemeinnützige Verein neben<br />

dem Häuserbau zunehmend mit Energieprojekten<br />

als logische Antwort auf die Tschernobylkatastrophe<br />

(Windkraft- und Solaranlagen, Holzpellets-<br />

Heizungen sowie zur Förderung der Energieeffizienz<br />

die Errichtung einer Schilfplatten-Fabrikation<br />

für die Hausdämmung), aber auch mit Sozial- und<br />

Gesundheitsprojekten.<br />

Melanie Arndt,<br />

Margarete Steinhausen (Hrsg.):<br />

Wir mussten völlig neu anfangen.<br />

Opfer der Tschernobylkatastrophe<br />

<strong>berichten</strong> (2011, 160 Seiten).<br />

Luther-Verlag, Bielefeld<br />

ISBN 978-3-7858-0596-1<br />

Für acht Euro zu bestellen bei Heim-statt Tschernobyl e.V.<br />

Bodelschwinghstr. 118<br />

32257 Bünde<br />

Tel.: 05223-960560<br />

heim-statt-tschernobyl@t-online.de<br />

www.heimstatt-tschernobyl.org<br />

Ludwig Brügmann, Berlin<br />

Durch die langjährige sehr enge Verbindung der<br />

Vereinsmitglieder zu den Umsiedlerfamilien bot<br />

sich die Gelegenheit, die direkten und langfristigen<br />

Konsequenzen der schweren Entscheidung,<br />

die Heimat zu verlassen, zu dokumentieren. Herausgeberinnen<br />

des Buches sind die Historikerin<br />

Melanie Arndt vom Zentrum für Zeithistorische<br />

Forschung in Potsdam und die Journalistin Margarethe<br />

Steinhausen. 20 Zeitzeugen <strong>berichten</strong>, wie<br />

einschneidend die Reaktorkatastrophe ihren Alltag<br />

verändert hat. Ein kleinerer Teil der Interviewten<br />

entschied, in der verstrahlten Region zu bleiben,<br />

die anderen erzählen davon, wie sie mit Hilfe des<br />

Vereins Heim-statt Tschernobyl e.V. nach Jahren<br />

der Resignation wieder Mut für einen Neuanfang<br />

in einer nicht verstrahlten Region gefunden haben.<br />

In dem ansprechend aufgemachten, mit vielen Bildern<br />

ausgestatteten, preisgünstigen Buch erfährt<br />

der Leser durch die persönlichen Berichte das Erleben<br />

der unsichtbaren Bedrohung vor Ort - mit<br />

ihren gesundheitlichen Konsequenzen, aber auch<br />

dem Verdrängen von Gefahr. Sowie die schwerwiegende<br />

Entscheidung und die Zweifel, die Heimat<br />

zu verlassen, um sich eine neue Existenz aufzubauen.<br />

Der Leser wird mit hinein genommen in die<br />

schwierige Anfangsphase in der neuen Umgebung<br />

mit Fertigstellung des Hauses, Arbeitsplatzsuche<br />

und Eingewöhnen in der Fremde sowie der weiter<br />

bestehenden Sehnsucht nach der alten Heimat.<br />

Das Buch wird abgerundet durch die gelungene<br />

Darstellung der 20-jährigen Arbeit dieser bemerkenswerten<br />

NGO, die 1993 mit dem Marion Dönhoff<br />

Förderpreis ausgezeichnet wurde.<br />

Nr. 53 03 / 11


IMPRESSUM<br />

HERAUSGEBER<br />

Peter Junge-Wentrup, IBB Dortmund<br />

REDAKTION<br />

Galina Widrich, Berlin<br />

Sabrina Bobowski, Berlin<br />

Martin Schön, IBB Dortmund<br />

Dr. Edith Spielhagen, Berlin<br />

Dorothea Wolf, Minsk<br />

ART DIRECTOR/LAYOUT<br />

Grit Tobis (www.grittobis.com)<br />

ANSCHRIFT DER REDAKTION<br />

<strong>Internationales</strong> <strong>Bildungs</strong>- und<br />

Begegnungswerk gGmbH<br />

Bornstr. 66<br />

44145 Dortmund<br />

Tel. 0231 9520960<br />

E-Mail: info@ibb-d.de<br />

Website: www.ibb-d.de<br />

ÜBERSETZUNGEN<br />

Galina Widrich, Berlin<br />

Anton Markschteder, Berlin<br />

Heinrich Maser, Köln<br />

DRUCK<br />

druckwerk gmbh, Dortmund<br />

VERTRIEB<br />

Einzelverkauf: 4 Euro,<br />

Jahresabonnement inkl. Versand: 15 Euro.<br />

LESERBRIEFE:<br />

belarusperspektiven@ibb-d.de<br />

Gekennzeichnete Artikel entsprechen nicht<br />

unbedingt der Meinung der Redaktion.

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