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Sand im Getriebe Nr. 88 02/2011 - Attac Berlin

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nen den Ausdruck von der »verlorenen<br />

Entwicklungsdekade« prägten. Es folgten<br />

Schuldenkrisen in Osteuropa und Ostasien.<br />

In der Vergangenheit kam die materielle<br />

Expansion <strong>im</strong> Gesamtsystem <strong>im</strong>mer<br />

erst dann wieder in Schwung, wenn eine<br />

neue hegemoniale Macht die dafür erforderlichen<br />

globalen institutionellen Voraussetzungen<br />

(in finanzieller, geopolitischer<br />

und sozialer Hinsicht) schaffen<br />

konnte. Dann reinvestierten die Kapitalisten<br />

ihre Profite wieder gewohnheitsmäßig<br />

in die weitere Ausweitung von Produktion<br />

und Handel, wie es in den 1950er und<br />

1960er Jahren zu beobachten war, nachdem<br />

die von den USA gestifteten globalen<br />

Institutionen ein gewisses Maß an Sicherheit<br />

und Vorhersehbarkeit garantieren<br />

konnten. Die Schaffung solcher globaler<br />

Institutionen ist aber kein schneller oder<br />

einfacher Prozess. In der Vergangenheit<br />

büßten die niedergehenden Mächte ihre<br />

Fähigkeit, die notwendigen globalen institutionellen<br />

Bedingungen aufrechtzuerhalten,<br />

ein, bevor aufsteigende Mächte eine<br />

Führungsrolle übernehmen konnten oder<br />

wollten. Die Übergänge von einem langen<br />

Jahrhundert zum nächsten bilden daher in<br />

der Geschichte Zeitabschnitte großer<br />

Kriege und tiefer Krisen. Nur zu deutlich<br />

wurde das in der ersten Hälfte des 20.<br />

Jahrhunderts, <strong>im</strong> Übergang von der britischen<br />

zur US-amerikanischen<br />

Hegemonie. Es zeichnet sich ab, dass<br />

die Welt heute vor einem ähnlichen<br />

Dilemma steht.<br />

Interessanterweise fällt Marx in<br />

seiner Behandlung der<br />

»ursprünglichen Akkumulation« ein<br />

historisches Muster auf: Die<br />

Aufblähung des Kreditsystems spielte<br />

wiederholte Male eine zentrale Rolle<br />

für den Transfer überschüssigen<br />

Kapitals vom niedergehenden zum<br />

aufsteigenden geografischen Zentrum<br />

der kapitalistischen Produktion und<br />

des Handels. Die von Marx beobachtete<br />

Abfolge beginnt mit dem<br />

»verfallende[n] Venedig«, das große<br />

Geldsummen an Holland lieh; gefolgt<br />

von Holland, dessen »Hauptgeschäft<br />

… das Ausleihen ungeheurer<br />

Kapitalien, speziell an seinen mächtigen<br />

Konkurrenten England« wird, als »es aufgehört<br />

[hat], herrschende Handels- und<br />

Industrienation zu sein«; und schließlich<br />

vergab England schon zur Zeit von Marx<br />

Kredite an die Vereinigten Staaten. 8<br />

In<br />

der gesamten Lebensspanne des histori-<br />

schen Kapitalismus spielte also die Ausweitung<br />

des Kreditsystems mehrmals eine<br />

entscheidende Rolle, um die Kapitalakkumulation<br />

in einem neuen geografischen<br />

Zentrum wieder anzukurbeln – oder in der<br />

von uns gewählten Terminologie: Finanzielle<br />

Expansionen waren unentbehrlich<br />

für den Start eines neuen systemischen<br />

Akkumulationszyklus. 9<br />

Anders gesagt waren die finanziellen<br />

Expansionen in der Geschichte Zeiten<br />

hegemonialer Übergänge, in deren Verlauf<br />

sich in den Zwischenräumen des alten<br />

Systems eine neue Führungskraft herausbildete.<br />

Indem diese das System nach<br />

und nach reorganisierte, schuf sie die<br />

Voraussetzungen für eine neue weltweite<br />

materielle Expansion. Finanzialisierungsschübe<br />

waren nicht nur der »Herbst«<br />

des existierenden Hegemons, sie markierten<br />

auch den »Frühling« eines neuen umfassenden<br />

Zyklus kapitalistischer Entwicklung<br />

unter einer neuen Führung –<br />

also den Beginn eines neuen langen Jahrhunderts<br />

mit einem anderen geografischen<br />

Zentrum. Weil dieser Prozess keineswegs<br />

ruhig und einfach verläuft, kulminierten<br />

finanzielle Expansionen in recht lang andauernden<br />

Phasen von weit verbreitetem<br />

systemischen Chaos.<br />

Evolution<br />

Im vorhergehenden Abschnitt haben wir<br />

uns auf die Ähnlichkeiten zwischen den<br />

langen Jahrhunderten konzentriert. Wür-<br />

den wir von diesen Mustern der Wiederholung<br />

ausgehen, so kämen wir zu dem<br />

Schluss, dass wir uns gegenwärtig <strong>im</strong><br />

»Spätherbst« der US-amerikanischen<br />

Welthegemonie befinden und den »Vorfrühling«<br />

eines neuen langen Jahrhunderts<br />

mit einem anderen geografischen Zentrum<br />

(eventuell Ostasien) erleben. Wir müssten<br />

auch einigermaßen beunruhigt darüber<br />

sein, dass wir in eine mehr oder wenige<br />

lange Phase des systemischen Chaos geraten<br />

(oder bereits geraten sind), die mit<br />

enormem menschlichem Leid verbunden<br />

sein wird. Aber eben weil sich das globale<br />

System <strong>im</strong> Laufe der Zeit weiterentwickelt<br />

hat, können wir aus den Mustern der<br />

Wiederholung nur sehr begrenzt Rückschlüsse<br />

auf die heutige Situation und die<br />

absehbare Zukunft ziehen. In diesem Abschnitt<br />

konzentrieren wir uns auf Muster<br />

der Entwicklung.<br />

Abb. 1 (siehe folgende Seite) stellt das<br />

historische Entwicklungsmuster dar, das<br />

sich aus den wechselnden Merkmalen der<br />

»Machtbehälter« ergibt, in denen die jeweils<br />

führenden Organe (d.h. die vorherrschenden<br />

staatlich-unternehmerischen<br />

Komplexe) der vier langen Jahrhunderte<br />

angesiedelt waren: die Republik Genua,<br />

die niederländische Republik, das Vereinigte<br />

Königreich und die Vereinigten<br />

Staaten. 10<br />

Ein zentraler Aspekt des in<br />

Abb. 1 skizzierten Entwicklungsmusters<br />

ist die tendenzielle Zunahme<br />

von Größe, Macht und<br />

Komplexität der vorherrschendenstaatlichunternehmerischen<br />

Komplexe<br />

von einem langen Jahrhundert<br />

zum nächsten.<br />

Als Genua <strong>im</strong> Mittelpunkt<br />

der materiellen Expansion<br />

stand, war die Republik Genua<br />

ein Stadtstaat. Er war klein,<br />

einfach organisiert,<br />

gesellschaftlich tief gespalten<br />

und konnte sich militärisch<br />

kaum verteidigen. Im Vergleich<br />

zu allen damaligen<br />

Großmächten war er in fast<br />

jeder Hinsicht ein schwacher<br />

Staat. Da Genua aufgrund<br />

seines Reichtums ein<br />

verlockendes Ziel von Eroberungen darstellte,<br />

die Stadt aber über keine nennenswerte<br />

militärische Macht verfügte,<br />

waren die Genuesen von den spanischen<br />

9 Wir können uns diesen Prozess als eine 10 Die genauere historische Darstellung der<br />

Reihe sich überlappender S-Kurven vor- hier zusammengefassten Entwicklungsstellen.<br />

Die Überlappung zeigt an, dass ein muster findet sich in Arrighi: The Long<br />

neuer systemischer Akkumulationszyklus Twentieth Century und Arrighi/Silver:<br />

8 Karl Marx: Das Kapital, Band 1, Marx- bereits beginnt, wenn die noch vorherr- Chaos and Governance in the Modern<br />

Engels-Werke, Bd. 23, S. 783f.<br />

schende Macht an ihre Grenzen stößt.<br />

World System.<br />

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