03.10.2013 Aufrufe

Stanislaw Kuschtan

Stanislaw Kuschtan

Stanislaw Kuschtan

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

<strong>Stanislaw</strong> <strong>Kuschtan</strong><br />

>> geb. 28.Juni 1941 in Snegi (Bezirk Witebsk)<br />

>> Abschluss des Bergbau-Technikums in Donetzk<br />

>> Bergbau-Techniker im Kombinat Donetzk-Bergwerk<br />

>> 16. Mai- 3. Juni 1986 Liquidator der Havarie des Atomkraftwerks Tschernobyl<br />

>> 1990 als Invalide II. Grades anerkannt<br />

>> Auszeichnungen: Ehrenurkunde des Präsidiums des Obersten Rates der Ukraine,<br />

Medaillen „Für die Tapferkeit“, „Für den Verdienst“ und „Ehre des Bergwerks“ I. und II. Grades<br />

Ende April 1986, genauer um den 27.-28. herum, las ich<br />

eine kurze Mitteilung in der Zeitung, dass sich im Kraftwerk<br />

Tschernobyl ein Unfall ereignet hatte. Anfangs maßen<br />

wir diesem Thema keine große Bedeutung bei. Erst<br />

zwei, drei Tage nach der Reaktorexplosion erfuhren wir,<br />

dass die Einwohner von Tschernobyl und Pripjat evakuiert<br />

und in andere Orte umgesiedelt wurden. Erst jetzt<br />

wurde über das wahre Ausmaß der Katastrophe berichtet.<br />

Mitte Mai wurden ich und viele andere zum Chef der<br />

Schachtbauabteilung Nr. 6 Trust „Donezkschachtbau“ befohlen. Er teilte uns mit, dass wir uns morgen, d. h. am<br />

16.05.1986, im Kombinat „Donezkschachtbau“ einfinden müssten. Wir wurden unverzüglich nach Tschernobyl<br />

geschickt, um dort Aufräumarbeiten im vierten Reaktorblock des Kernkraftwerkes durchzuführen. Man verabschiedete<br />

sich von uns feierlich und in diesem Moment war ich stolz darauf, dass ich bei der Katastrophenbekämpfung<br />

bzw. bei den Aufräumungsarbeiten nach dem Reaktorunglück dabei sein konnte, um meine Familie<br />

und die ganze Bevölkerung zu beschützen, die Situation in den Griff zu bekommen und die weitere Ausbreitung<br />

radioaktiver Strahlung zu verhindern. Katastrophenhelfer verschiedener Berufe wurden aus dem ganzen Land<br />

zusammengezogen. Unter Opferung ihrer Gesundheit verteidigten sie nicht nur ihr eigenes Land – die Ukraine<br />

-, sondern auch die anderen Länder Westeuropas.<br />

Während der ersten zwei Tage in Tschernobyl wurden wir über die Explosion und das Ausmaß der Katastrophe<br />

informiert, in eine Schule einquartiert und registriert. Wir erhielten die Arbeitsschutzkleidung mit allem Zubehör.<br />

Die Stadt befand sich in einem schrecklichen Zustand. In der Schule, wo wir uns einquartiert hatten, lagen überall<br />

in der Eile vergessene oder verlorene Sachen herum, Hühner und Schweine liefen durch die Stadt, auf den<br />

Wäscheleinen blieb die Wäsche hängen, auf den Fensterbänken standen vertrocknete Pflanzen. Besonders<br />

merkwürdig war es, dass wir den Gesang der Vögel nicht mehr hörten. Die Schwalben und Sperlinge waren nicht<br />

mehr zu sehen.<br />

Die ganze Zeit verbrachten wir drinnen in der Schule. Es war verboten, ohne triftigen Grund das Gebäude zu verlassen,<br />

denn draußen betrug die Strahlendosis zwei Röntgen pro Stunde. Die Soldaten führten Dekontaminierungen<br />

durch, die Straßen wurden mit Wasser bespritzt, um den radioaktiven Staub in der Luft zu reduzieren.<br />

Die Arbeiten wurden mit einem Baugrubenaushub, 10 m tief, in 10 m Entfernung von dem dritten Reaktorblock<br />

begonnen. Es musste der Schutz mit einem U-Stahl für diese Baugrube ausgeführt werden – von oben wurde<br />

eine dicke Folie darüber gespannt. In der Folie wurde eine Lücke freigelassen, durch diese wurde später<br />

der Werkstoff bzw. Werkzeug mit einem Kran befördert. Es wurden auch Schienen gelegt, die abgebaute Erde<br />

wurde mit Transportwagen herausgeschafft und in eine große Grube per Hand gekippt, von da aus wurde die


Erde mit Hilfe eines Baggers herausgehoben und anschließend in große Haufen zusammengebracht. Die Haufen<br />

wurden dann später auf die Laster verladen und zur Vergrabungsstelle gebracht. Die Baugrube wurde mit<br />

einem Lüftungssystem ausgestattet, dabei wurde die Luft abseits der Grube angesaugt. Die Anlage wurde in<br />

einem Gebäude untergebracht, das 15-20 Meter von der Grube entfernt war, um so sicherzustellen, dass die<br />

verwendete Luft eine 10 bis 100mal geringere Konzentration radioaktiver Strahlung aufwies. Den Aufbau des<br />

Lüftungssystems führte ich persönlich als damaliger stellvertretender Schichtleiter zusammen mit dem Leiter<br />

des Kombinats „DSCHS“, A. S. Buger, durch, um die Arbeiter bei ihrer Hauptaufgabe so wenig wie möglich zu<br />

stören.<br />

Die Arbeitstruppe des Ministeriums für Montanindustrie der UdSSR war so vor die schwerste Aufgabe gestellt,<br />

unter dem 4. Reaktorblock in der Grundschicht die Eisengerüste aufzustellen und einzubetonieren. Die Eisengerüste<br />

waren mit Thermosensoren versehen, um die Temperatur zu messen. Unten, die ganze 170 Meter lange<br />

Strecke von der Baugrube bis zum Reaktorblock entlang, wurden Rohre mit flüssigem Stickstoff verlegt, um<br />

die Temperatur zu senken und den Atomzerfall zu mindern. Auf jedem Fall hatte man uns das so erklärt. Und<br />

diese Aufgabe haben wir auch gut gemeistert. Die Bauarbeiten mussten zum 1. Juni 1986 beendet werden und<br />

am 30. Mai waren alle Baumaßnahmen erfolgreich abgeschlossen. Unter anderem war ich als stellvertretender<br />

Schichtleiter für die Organisation der Verpflegung für die Arbeiter verantwortlich. Am Anfang wurde in der<br />

Mannschaftskantine gegessen und kontaminiertes Leitungswasser aus dem städtischen Wasserwerk getrunken.<br />

Seit dem 18. Mai verbesserte sich die Ernährung dank der Küche, die der Leiter des Kombinats „DSCHS“ aus<br />

Donezk hierher gebracht hatte. Die Arbeiter bekamen ab jetzt Mineralwasser. Meine Aufgabe war es, die Leute<br />

von der Kantinentür bis zum Bus zu begleiten und dabei die Anwesenheit zu kontrollieren. Nach der Ankunft im<br />

Reaktor begleitete ich die ganze Schicht von mehr als 50 Menschen zum Sanitätsraum, wo die Leute die Jodtabletten<br />

bekamen.<br />

Zu meinen Aufgaben gehörten des weiteren: die Schicht durch die Wachposten bis zur Dienststelle bringen, den<br />

Arbeitseinsatz geben, im Dienstbuch die Punkte und die Höhe der radioaktiven Strahlung auf der Fahrtstrecke<br />

eingeben und die Arbeiter darüber informieren. Dafür musste ich zusammen mit einem Strahlenschutzmesstechniker<br />

den Weg abgehen, die radioaktive Strahlung messen und die Ergebnisse aufschreiben. Die Arbeiter<br />

zogen Überzieher über ihre Schuhe an. Ich persönlich kontrollierte den Bestand der Atemschutzgeräte und führte<br />

sie durch den so genannten „goldenen“ Gang durch Wachposten hindurch bis zum vierten explodierten Reaktor.<br />

Dann musste ich bis zur Pumpenanlage heruntergehen, vom Pumpenraum bis zur Grube 3-5 m, blitzschnell<br />

in die Grube hinein und von dort zum Abbruch laufen. Ich begleitete die LKWs mit Befestigungseinrichtungen,<br />

Fahrschienen und anderen Werkstoffen zum Reaktor. Der Fahrer bekam eine Schutzweste, und bei der Ankunft<br />

wurde er in einem Kompressorraum untergebracht. Ich kontrollierte die Entladung der Materialien und schickte<br />

danach den LKW zurück. Man musste die Soldaten um den Unglücksreaktor herumbringen, wo starke radioaktive<br />

Strahlung herrschte, und dem Kommandeur zeigen, welches Erdreich zur Entsorgung abtransportiert werden<br />

muss. Durch das Abtragen und Wegschaffen der Erde konnte die radioaktive Strahlung von 100 bis zu 6 Röntgen<br />

pro Stunde abgesenkt werden. Ich arbeitete 6 Stunden pro Tag, die Bergleute im Schacht 3 Stunden. Deswegen<br />

mussten ich und der Schichtleiter in zwei nacheinander liegenden 3-Stunden-Schichten arbeiten. Zu meinen<br />

Aufgaben gehörten unter anderem: das Material sichern, die Arbeitseinsätze geben und Material bestellen. Es<br />

herrschte strenge Disziplin. Die Arbeit unter solchen gesundheits- und lebensgefährdenden Bedingungen war<br />

hart.<br />

Folgende Personen haben sich unter diesen Arbeitsbedingungen besonders hervorgetan: die Bulldozerführer<br />

Boris Iwanowitsch Laser und Nikoalj Iwanowitsch Gurskij, der Kompressortechniker P. W. Swukow, die Schichtleiter<br />

N. A. Schpota und W. F. Schatalow, der stellvertretende Schichtleiter O. W. Sokolow, der Brigadeleiter der<br />

Schachthäuer M. I. Schwetz und viele andere. Alle wurden mit dem Lenin-Orden und mit dem „Orden des Roten<br />

Banners“ ausgezeichnet. Für meine aufopfernde Arbeit wurde ich mit einer Ehrenurkunde des Präsidiums<br />

des Obersten Rates der Ukraine, mit den Medaillen „Für die Tapferkeit“, „Für den Verdienst“ und der „Ehre des<br />

Bergwerks“ I. und II. Grades ausgezeichnet.<br />

In letzer Zeit wird den Katastrophenhelfern weniger und weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Die Krankenbehandlung<br />

ist schlechter geworden. Die kostenlose Zahnersatzbehandlung wurde gestrichen. Leider sind viele<br />

der oben genannten Personen nicht mehr am Leben. Wir hoffen, die Menschen werden sich an uns erinnern.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!