OH NEIN! - FAZ.net
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D-45958 Juni 2013 Nr. 126 1,40 Euro www.hochschulanzeiger.de Schlaflos in Südkorea Die härteste Examens-Vorbereitung der Welt OH NEIN! Oh doch! Warum Scheitern der Karriere hilft DAS SELFMADE-KRAFTWERK Auf dem Spielplatz kreativer Ingenieure FREUNDE IM FERNSEHER Weshalb DVD-Serien so erfolgreich sind und wir nicht auf sie verzichten können In Kooperation mit
- Seite 2: TITEL: NORMAN KONRAD; EDITORIAL: ST
- Seite 6: FERNGESPRÄCH Ein Anruf in Beirut
- Seite 10: Jang Jin Kim, 29, auf der Dachterra
- Seite 14: Ist der Schlüssel diese Schüssel?
- Seite 18: Franzi und die sieben Zwerge Folge
- Seite 22: Manche, sagt er, schauen irritiert,
- Seite 26: IMMER DER REIHE NACH Fernsehserien
- Seite 30: KARRIERE „Meine Brüste haben ein
- Seite 34: FOTO: SANDRA STEIN Nach dem Abi wol
- Seite 38: 21 FAKTEN ÜBER INGENIEURE Sie baue
- Seite 42: ZUG UM ZUG Im Juli 1851 wurden in P
- Seite 46: Marie-Sophie Hindermann, 22 VORNAME
D-45958 Juni 2013 Nr. 126 1,40 Euro www.hochschulanzeiger.de<br />
Schlaflos in Südkorea<br />
Die härteste Examens-Vorbereitung der Welt<br />
<strong>OH</strong> <strong>NEIN</strong>!<br />
Oh doch! Warum Scheitern der Karriere hilft<br />
DAS SELFMADE-KRAFTWERK<br />
Auf dem Spielplatz kreativer Ingenieure<br />
FREUNDE IM FERNSEHER<br />
Weshalb DVD-Serien so erfolgreich sind<br />
und wir nicht auf sie verzichten können<br />
In Kooperation mit
TITEL: NORMAN KONRAD; EDITORIAL: STEFAN KÖNIG, OLIVER KRÖNING; ILLUSTRATION: KATRIN RODEGAST/2AGENTEN; FOTOGRAF: RAGNAR SCHMUCK<br />
IMPRESSUM<br />
EDITORIAL<br />
Liebe Leserinnen, liebe Leser,<br />
die Tage sind auf Monate im Voraus getaktet, und alles,<br />
was im Weg stehen könnte und Spaß macht, ist verboten: Freizeit,<br />
Faulenzen, Flirten – wer vor dem Staatsexamen steht, geht<br />
durch eine fast unmenschliche Zeit. Doch unsere Autorin Constanze<br />
Kindel hat in Korea einen Ort aufgespürt, in dem der<br />
durchschnittliche deutsche Staatsexamen-Anwärter wirkt wie<br />
ein entspannter Traumschiff-Reisender auf dem Sonnendeck:<br />
Gosichon. Was sich anhört wie ein Strafgefangenen-Lager in<br />
Nordkorea, ist ein Dorf im Westen von Seoul, in dem 23.000<br />
Prüfungsanwärter bis zu 15 Stunden am Tag für die schwersten<br />
Prüfungen des Landes büffeln (ab Seite 8). Die Angst und der<br />
Druck sind riesig. Kein Wunder, dass sich in Gosichon niemand<br />
für die Atombombendrohungen aus Nordkorea interessierte.<br />
Während Diktator Kim Jong Un hierzulande durch die Nachrichten<br />
wütete und Angst verbreitete, war Kindel überrascht,<br />
wie wenig Notiz die Südkoreaner von den irren Drohungen aus<br />
dem Norden nahmen. Eine viel fröhlichere Reiseerfahrung hat<br />
unsere Autorin Franziska Bulban gemacht. Wir haben sie zum<br />
Flughafen geschickt und gebeten, in den nächstbesten Flieger<br />
für 200 Euro zu steigen. Im Gepäck: ein Gartenzwerg namens<br />
Herrmann. Sie soll für ihn ein neues Zuhause suchen – aber nur,<br />
wenn sie im Tausch etwas dafür bekommt. Was sie erlebt hat,<br />
steht auf Seite 18.<br />
Viel Spaß beim Lesen und Blättern.<br />
ANDREAS TAZL<br />
PS: Wir freuen uns übrigens sehr über Ihr Feedback. Hat<br />
Ihnen etwas besonders gut gefallen, oder gibt es ein Thema,<br />
über das Sie gern mehr erfahren wollen? Dann schreiben Sie<br />
uns: redaktion@hochschulanzeiger.de<br />
14 Das können wir allein: Studierende<br />
erfinden ein Öko-Kraftwerk<br />
20 Leberhaken statt Granaten:<br />
Im Sportklub Boxing Israel trainieren Juden<br />
und Palästinenser gemeinsam<br />
„Ohne Zuversicht?<br />
Bin ich ein toter Mann“<br />
8 Sumin Oh, 27, lebt in Gosichon, einem Stadtteil<br />
von Seoul. Studierende ziehen hierhin für die optimale<br />
Examensvorbereitung. Willkommen in der Hölle<br />
VERLAG: Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Hellerhofstraße 2–4, 60327 Frankfurt; zugleich ladungsfähige Anschrift für die im Impressum genannten Verantwortlichen und Vertretungsberech tigten GESCHÄFTSFÜHRUNG:<br />
Tobias Trevisan (Sprecher), Dr. Roland Gerschermann REDAK TIONSLEITER: Andreas Tazl, V. i. S. d. P. TEXTCHEF: York Pijahn VERANTWORTLICH FÜR ANZEIGEN: Andreas Formen (Verlagsgeschäftsführer)<br />
AU TOREN: Franziska Bulban, Anna Gielas, Daniel Haas, Katja Kasten, Constanze Kindel, Gunthild Kupitz, Nadine Lischick, Oranus Mahmoodi, Gabriele Meister, Felix Rettberg, Inka Schmeling, Aileen Tiedemann, Raimund Witkop<br />
BILDREDAKTION: Anne Schälike FOTOGRAFEN: Katrin Binner, Franziska Bulban, Michael Jungblut, Stefan König, Norman Konrad, Oliver Kröning, Frizzi Kurkhaus, Felix Rettberg, Ragnar Schmuck, Sandra Stein, Michael<br />
Weber, Daniel Weisser, Sim Chi Yin, Urban Zintel ILLUSTRATION: Volkmar Kurkhaus (S. 18/19, 30/31), Sean McCabe (S. 26), Jindrich Novotny (S. 44), Katrin Rodegast/2Agenten (S. 3, 17) BILDNACHWEIS: Titelfoto: Norman<br />
Konrad, Seite 3: Fotos: Stefan König, Oliver Kröning, Ragnar Schmuck; Illustration: Katrin Rodegast/2Agenten, Seite 4: iStockphoto, Frizzi Kurkhaus, Seite 6/7: Plainpicture, Getty Images, privat, PR, Seite 8–13: Sim Chi Yin / VII<br />
Mentor Program, Seite 14–16: Oliver Kröning, Seite 17: Illustration: Katrin Rodegast/2Agenten; Foto: Ragnar Schmuck, Seite 18/19: Franziska Bulban (3), Julian Stratenschulte/dpa/picture-alliance, Firebox.com, PR (2); Illustration:<br />
Volkmar Kurkhaus, Seite 20–25: Felix Rettberg, Seite 26: Sean McCabe, Seite 28: Julia Knop/laif, Seite 30/31: Plainpicture (2), privat; Illustration: Volkmar Kurkhaus, Seite 32: Katrin Binner, Seite 34: Sandra Stein, Daniel Weisser,<br />
Seite 35: Urban Zintel, Seite 36/37: Michael Jungblut, Seite 38: © Disney, Thinkstock (2), Seite 40: iStockphoto, Thinkstock (2), Porsche, Seite 42: iStockphoto, Mercedes-Benz, Thinkstock (2), Seite 44: Jindrich Novotny, Seite 46:<br />
iStockphoto, Frizzi Kurkhaus, Michael Weber LAYOUT: Frizzi Kurkhaus LEKTORAT: SKH SprachKontor Hamburg GmbH, www.sprachkontor.de HERSTELLUNG: Westdeutsche Verlags- und Druckerei GmbH, Kurhessen straße<br />
4–6, 64546 Mörfelden-Walldorf, www.wvd-online.de VERTRIEB: Frank furter Allgemeine Zeitung GmbH ANSCHRIFT: Frank furter Allgemeine Zeitung GmbH, Heller hofstraße 2–4, 60327 Frankfurt; Redaktion: Telefon 040 468991133 und<br />
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stellenmarkt@faz.de. Der F. A. Z. Hochschulanzeiger erscheint sechsmal im Jahr. Alle in ihm enthaltenen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Mit Ausnahme der gesetzlich zugelassenen Fälle ist eine Verwertung<br />
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Frank Schirrmacher, Holger Steltzner.
CAMPUS<br />
6 Meldungen: Ein Buch in nur zwei Minuten lesen,<br />
ein Wettbewerb für Durchschnitts-Typen und ein Anruf in Beirut<br />
8 Schlaflos in Korea: Die härteste Examensvorbereitung der Welt<br />
14 Die Energiekiste: Studierende erfinden ein Öko-Kraftwerk<br />
LEBEN<br />
18 Meldungen: Ein Gartenzwerg in Budapest, Camping im Volkswagen<br />
und ein Jobangebot für Headbanger<br />
20 Der Ring: Wie ein israelischer Boxklub Juden und Araber zusammenbringt<br />
26 Play all: Wir lieben DVD-Serien. Aber warum machen sie süchtig?<br />
28 Sommer vorm Wagon: Ein Engländer verrät<br />
die schönsten Bahnstrecken für die Ferien<br />
KARRIERE<br />
30 Meldungen: Wie man Crash-Test-Experte wird oder den richtigen Job<br />
in der Luftfahrtindustrie findet und Überraschendes über die Babypause<br />
32 Klappt nicht, macht nix: Warum Scheitern der Karriere helfen kann<br />
36 Moon Monkey: Ein Computer-Affe soll in den Weltraum fliegen<br />
38 Nichts zu schwör: Fakten über Ingenieure<br />
44 Kommt zu uns: Die wichtigsten Recruiting-Events<br />
46 Mein letztes Mal: Sich für den Sport verbiegen<br />
FOTO: ISTOCKPHOTO; FRIZZI KURKHAUS
FERNGESPRÄCH<br />
Ein Anruf<br />
in Beirut<br />
Über meine Entscheidung, im Libanon zu studieren,<br />
haben sich viele gewundert. Sie dachten, ich würde jetzt<br />
im Kriegsgebiet studieren, weil sie an Bilder aus Syrien<br />
gedacht oder den Libanon mit Libyen verwechselt haben.<br />
Für mich war Sicherheit eigentlich kein Thema.<br />
Seit einer Exkursion nach Israel/Palästina hat mich das<br />
Nebeneinander der Religionen im Mittleren Osten fasziniert.<br />
Als ich das Theologiestudium an der Near East<br />
School of Theology entdeckt habe, wusste ich: Das ist<br />
es! Ich war mir sicher, dass sie das Austauschprogramm<br />
nicht anbieten würden, wenn es gefährlich wäre.<br />
Kurz nachdem ich in Beirut angekommen bin, ist<br />
dann tatsächlich eine Autobombe explodiert. Die deutschen<br />
Medien haben einen halben Bürgerkrieg daraus<br />
gemacht. Klar kann die Situation immer kippen, aber<br />
ich fühle mich überhaupt nicht unsicher. Und ein Kopftuch<br />
tragen, wie mancher vielleicht denkt, muss ich<br />
auch nicht. Das hat auch damit zu tun, dass dies ursprünglich<br />
ein christliches Land war. Auch jetzt leben<br />
hier neben Schiiten und Sunniten noch über 30 Prozent<br />
Christen. Außerdem ist der Libanon sehr westlich geprägt<br />
– es gibt Einkaufsmeilen mit Starbucks und H & M<br />
und eine große amerikanische Universität.<br />
Obwohl alles so modern wirkt, ist die Gesellschaft<br />
aber noch recht patriarchal: Männer starren<br />
einem viel offensichtlicher hinterher als in Deutschland,<br />
am öffentlichen Strand wollten sogar einige mal<br />
Fotos von mir machen. Ich hatte das nicht erwartet –<br />
hier laufen die Frauen durchaus mit den kürzesten<br />
Röcken durch die Straßen. Das war aber das einzig unangenehme<br />
Erlebnis, sonst habe ich viel Offenheit und<br />
Gastfreundschaft erfahren, vor allem bei Einladungen<br />
zu arabischem Kaffee und Wasserpfeife.<br />
PROTOKOLL: GABRIELE MEISTER<br />
Sandstein meets Glasfassade in Beirut:<br />
An der Mohammed-al-Amin-Moschee vorbei blickt<br />
man auf das Four-Seasons-Hotel.<br />
LIBYEN, NEE – LIBANON:<br />
Lisa Mohns, 26, studiert<br />
jetzt für ein Jahr Theologie<br />
an der Near East School of<br />
Theology in Beirut.<br />
HOCHSCHUL<br />
ANZEIGER 6<br />
5.000 Dollar für<br />
Mr. und Mrs. Boring<br />
An Jordan Bass aus Florida ist alles … Wie sagen wir es jetzt? Durchschnittlich. Sie ist<br />
1,63 groß, Durchschnitt in Amerika, sie studiert Marketing und ist so unauffällig, dass<br />
nicht mal ihr Prof von ihr Notiz nahm. Für all das wurde Jordan Bass nun mit 5.000<br />
US-Dollar belohnt. Die amerikanische Website „College Humor“ suchte nämlich<br />
nach den durchschnittlichsten Studierenden. Neben Bass wurde auch David Timothy<br />
Cole aus Indiana ausgezeich<strong>net</strong>, der in seinem Bewerbungsvideo ein Gemisch aus<br />
Salz, Knoblauch und Zwiebel trank. Weitere Bewerbungen, in denen Studierende<br />
über ihre Mittelmäßigkeit lamentieren, gibt es online nachzulesen. Danach fühlt man<br />
sich plötzlich unglaublich erfolgreich. www.collegehumor.com/average- studentscholarship-contest-winners.<br />
Eine Auswahl von Preisen für Studierende mit<br />
mehr als durchschnittlichen Fähigkeiten finden Sie übrigens auf Seite 17.<br />
„Promovieren? Ist sehr einsam,<br />
man hat wenig mit anderen zu tun.“<br />
AUMA OBAMA, BARACK OBAMAS<br />
HALBSCHWESTER, ÜBER IHR<br />
GERMANISTIKSTUDIUM IN DEUTSCHLAND<br />
PLAINPICTURE, GETTY IMAGES, PRIVAT, PR<br />
„Ich komme selbst aus Polen, und<br />
daher sehe ich die größten Herausforderungen<br />
darin, die stark<br />
klischeehaften Vorstellungen<br />
über Polen in Deutschland wie<br />
auch über Deutschland in Polen<br />
in Bewegung zu bringen. An der<br />
Universität Potsdam gibt es eine<br />
der ganz wenigen Slavistik-Professuren<br />
in Deutschland mit einer<br />
polonistischen Denomination: ‚Professur für slavische<br />
Literatur- und Kulturwissenschaft mit einem<br />
Schwerpunkt in der Polonistik‘. Polonistik kann<br />
man bei uns in unterschiedlichen Bachelor- und<br />
Master-Studiengängen studieren, wir haben eine<br />
starke kulturwissenschaftliche Ausrichtung.<br />
Literaturkritisch und journalistisch können<br />
sich die Polonistik-Studierenden während des<br />
Studiums zum Beispiel in der Online-Zeitschrift<br />
novinki (www.novinki.de) betätigen. Der Campus<br />
am Neuen Palais in unmittelbarer Nähe des<br />
Parks Sanssouci, wo die Polonistik und die übrigen<br />
geisteswissenschaftlichen Institute und Fächer<br />
der Uni Potsdam untergebracht sind, gehört<br />
ohne Zweifel zu den schönsten Uni-Standorten in<br />
Deutschland. Und wir profitieren sehr stark von<br />
der Nähe zu Berlin – die polnische Kunstszene<br />
dort ist äußerst spannend: Berlin gilt nach Warschau<br />
als die zweite Kulturhauptstadt Polens.<br />
Man kann das Studium der Polonistik ganz ohne<br />
Sprachkenntnisse aufnehmen. Dann erwarten wir<br />
aber, dass zu Beginn des Studiums ein Sprachpro-<br />
ALLE ZU MIR<br />
EIN HOCH AUF DIE NISCHENFÄCHER! DIESMAL: DR. MAGDALENA MARSZAŁEK,<br />
PROFESSORIN FÜR POLONISTIK AN DER UNIVERSITÄT POTSDAM.<br />
P O L O N I S T I K<br />
pädeutikum am Sprachenzentrum<br />
der Universität Potsdam absolviert<br />
wird, damit bereits im<br />
Bachelor-Studium die Sprache<br />
auf einem Niveau beherrscht<br />
wird, das zum Beispiel ein Auslandssemester<br />
ermöglicht. Man<br />
kann aber auch in den Ferien<br />
Sommerkurse an den Sprachschulen<br />
der polnischen Universitäten<br />
besuchen. Obligatorisch für alle Studienbewerber<br />
führen wir seit zwei Jahren eine Online-<br />
Eignungsfeststellungsprüfung durch. Wer keine<br />
guten Noten in Schulfächern wie Sprachen und<br />
Geschichte vorzuweisen hat, kann uns aber auch<br />
in einem Motivationsbrief erklären, warum sie<br />
oder er sich für unser Fach interessiert.<br />
Wir haben in allen polonistischen Fächern zusammen<br />
insgesamt etwa 200 Studierende, die sich<br />
zum großen Teil aus der zweiten Generation der<br />
Migranten rekrutieren, die in den 1980er-Jahren<br />
aus Polen nach Deutschland kamen: Spätaussiedler-Familien,<br />
politische und Arbeitsmigranten. Wir<br />
sind also zu einem Fach geworden, für das die ‚Heritage<br />
Students‘, wie man sie in den Vereinigten<br />
Staaten nennt, eine große Rolle spielen. Es gibt<br />
auch immer wieder Studierende – die ich persönlich<br />
zugegebenermaßen besonders mag –, die das<br />
Fach den Eltern zum Trotz studieren, um die Sprache<br />
der Großeltern zu lernen, weil die Eltern zu<br />
Hause kein Polnisch mehr sprechen wollten.“<br />
PROTOKOLL: CONSTANZE KINDEL<br />
Ein Buch in zwei Minuten lesen<br />
Wir haben den starken Verdacht, dass die App, über die Sie gleich mehr erfahren werden,<br />
vor allem von Aufschneidern, Blendern und allen anderen gekauft wird, die auf Partys<br />
rum erzählen, was sie alles schon wieder gelesen haben. Doch die App des Berliner Startup-Unternehmens<br />
Blinkist ist tatsächlich genial. Sie liefert die Kernaussagen interessanter<br />
Sachbücher aus den Bereichen Karriere, Politik, Zeitgeschehen und Populärwissenschaft.<br />
Die sogenannten „blinks“, die man in nur zwei Minuten lesen und verstehen kann, sind für<br />
mobile Endgeräte optimiert. Derzeit sind rund 50 internationale Bücher im Angebot, darunter<br />
„Tiere essen“ von Jonathan Safran Foer und „Der Preis der Ungleichheit“ von Joseph<br />
Stiglitz. Die App und die drei ersten Bücher sind kostenlos. Jeder weitere Buchtitel kostet<br />
1,79 Euro, das monatlich kündbare Abo mit Zugriff auf die komplette Bibliothek liegt bei<br />
4,49 Euro. www.blinkist.com<br />
HOCHSCHUL<br />
ANZEIGER 7<br />
G U N T H I L D K U P I T Z<br />
WIE KOMMT<br />
DAS DA REIN?<br />
Mono<br />
statt multi<br />
Frauen sind großartige Wesen. Erstens, weil<br />
sie so sind, wie sie sind. Und zweitens, weil sie<br />
Multitasking beherrschen. Das ist wissenschaftlich<br />
zwar nicht bewiesen, trotzdem ist<br />
der Göttinger Neurobiologe Gerald Hüther davon<br />
überzeugt – allerdings mit Einschränkung:<br />
„Sie können es nur auf der sensorischen Ebene,<br />
und auch nur da, weil Übung die Meisterin<br />
macht.“ Soll heißen: Frauen sind fähig, wenig<br />
komplexe Dinge, wie Fernsehgucken, der<br />
Freundin am Telefon zuzuhören und die Nudeln<br />
vor dem Überkochen zu bewahren, gleichzeitig<br />
zu tun, einfach deshalb, weil sie es ständig<br />
tun. Und Männer? Wären bei regelmäßigem<br />
Training natürlich auch dazu in der Lage.<br />
Doch kein noch so intensives Training<br />
macht es möglich, beispielsweise ein Referat<br />
gründlich vorzubereiten, wenn zwischendurch<br />
immer wieder Mails gecheckt und SMS-Nachrichten<br />
beantwortet werden, parallel noch<br />
neue Software installiert wird und Anrufe angenommen<br />
werden. Denn das Gehirn kann immer<br />
nur eine einzige Aufgabe bearbeiten.<br />
Muss es dagegen zwischen mehreren hin- und<br />
herwechseln, sinkt seine Leistungsfähigkeit<br />
bis zu 40 Prozent, so Forscher der Universität<br />
von Michigan.<br />
Wesentlich klüger (und produktiver) ist<br />
es, man hält sich an Clint Eastwood in „Dirty<br />
Harry“: „A man’s gotta know his limitations.“<br />
Gilt auch für Frauen.
Die<br />
Prüfung<br />
VON CONSTANZE KINDEL<br />
FOTOS: SIM CHI YIN/<br />
VII MENTOR PROGRAM<br />
Wer sich in Südkorea auf ein Examen<br />
vorbereitet, zieht vermutlich<br />
irgendwann an diesen Ort:<br />
nach Gosichon, einen Stadtteil<br />
von Seoul. In schallgedämpften<br />
Räumen, in einer Welt, die nur<br />
aus Bibliotheken und winzigen<br />
Lernhotels besteht, bereiten sich<br />
Zehntausende auf die einmal im<br />
Jahr stattfindenden Examen vor.<br />
Kein Sport, keine Freundschaften,<br />
keine Ablenkungen, das sind<br />
die Regeln Gosichons. Einer der<br />
Studierenden ist Sumin Oh. Ja, er<br />
habe die Hoffnung, die Prüfung<br />
zu bestehen, sagt er. Denn sonst?<br />
„Bin ich ein toter Mann.“<br />
HOCHSCHUL<br />
ANZEIGER 8<br />
HOCHSCHUL<br />
ANZEIGER 9<br />
Ein Fenster zum Hof: Wer im Prüfungsdorf von Seoul lernt, mag es schlicht.
Jang Jin Kim, 29, auf der Dachterrasse seines Lesesaales. Er will Beamter werden.<br />
Manche leben für Jahre in den<br />
schäbigen Lernhotels der Stadt<br />
„Wissen ist hier ein Mittel zum Überleben“: Hyo-Ju Choi, 20, in ihrem Wohnheimzimmer.<br />
Bett, Schreibtisch, Mini-Kühlschrank und kostenloses WiFi: Sumin Oh, 27, in seinem Zimmer im Gositel.<br />
Seine Welt ist geschrumpft auf eine kahle Zimmerzelle, ein paar Häuserblocks;<br />
er wollte es so. Seine Tage sind genormt und getaktet, alles<br />
getilgt, was sein Ziel gefährden könnte, Sport, Freizeit, Frauen. Sein<br />
Leben war nie so einsam wie jetzt, allein unter Tausenden, die leben<br />
wie er, auf ein paar Quadratmetern Wohnheimzimmer oder Kleinstapartment,<br />
von billigem Kantinenessen, Instantkaffee und zu wenig<br />
Schlaf. Sumin Oh hat sich selbst in die Verbannung geschickt. Willkommen<br />
in Gosichon. Gosichon, das Prüfungsdorf, liegt im Westen<br />
der südkoreanischen Hauptstadt Seoul, ein paar Straßenzüge, verteilt<br />
auf zwei Hügel rechts und links von einer mehrspurigen Hauptstraße,<br />
die sich durch den Stadtteil Sillim zur Seoul National University<br />
zieht. Eine Enklave aus Lesesälen, Studieninstituten, Buchläden, in<br />
die zieht, wer lernen will für eine Prüfung, ungestört und rund um die<br />
Uhr. Fast alle hier lernen für eine von drei großen staatlichen Prüfungen,<br />
die Aufnahmetests für den öffentlichen und für den auswärtigen<br />
Dienst oder zur Zulassung als Anwalt, jede nur einmal im Jahr zu absolvieren,<br />
mal besteht einer von zwanzig, mal einer von vierzig.<br />
Gosichon nahm seinen Anfang Mitte der 1970er-Jahre mit immer<br />
mehr Studieninstituten, die sich im Viertel ansiedelten, dann zogen<br />
die Studierenden selbst nach. Heute leben hier 23.000 Prüfungsanwärter,<br />
Gosi genannt, die meisten zwischen Mitte zwanzig und<br />
Anfang dreißig. Hierherzukommen, sagen sie, ist, wie in ein anderes<br />
Land zu ziehen. Sumin Oh, 27 Jahre alt, Uni-Abschluss in Wohlfahrtspflege<br />
von der Chungnam-Nationaluniversität in Daejeon, lebt<br />
seit drei Monaten im Prüfungsdorf. Seine Tage in Gosichon beginnen<br />
in Zimmer 216, ein Bett, ein Schrank, ein Mini-Kühlschrank, die Tür<br />
öff<strong>net</strong> sich per Nummerncode.<br />
Gositel oder Gosiwon heißen die typischen Unterkünfte hier,<br />
irgendwo zwischen Wohnheim und billigem Motel. Sumins Gositel<br />
liegt an der Hauptstraße über einem Maklerbüro und einem Barbecue-Restaurant,<br />
250.000 Won Monatsmiete, umgerech<strong>net</strong> 175 Euro,<br />
für ein kammerkleines Zimmer, Gemeinschaftsküche und Dusche<br />
auf dem Gang, WiFi kostenlos. Die Besitzerin verwaltet ihr Gositel<br />
wie eine Hausmutter ihr Internat, strikte Geschlechtertrennung, 18<br />
Jungen auf der zweiten, elf Mädchen auf der dritten Etage.<br />
Jeden Morgen trifft Sumin die Mitglieder seiner Lerngruppe in<br />
der Bibliothek der Seoul National University, Anwesenheitskontrolle<br />
auf Gegenseitigkeit, danach lernt jeder für sich. Sumin lernt für die<br />
Aufnahmeprüfung im öffentlichen Dienst, präzise nach Plan, mit Tageszielen,<br />
selbst Krankheitstage sind eingerech<strong>net</strong> bis zu den beiden<br />
Prüfungen im Spätsommer. Die eine würde ihm die Beamtenlaufbahn<br />
in Seoul eröffnen, die andere einen Behördenjob in seiner Heimatstadt,<br />
einer 60.000-Einwohner-Kommune irgendwo im Süden.<br />
Zwei Multiple-Choice-Tests, je 100 Fragen in 100 Minuten, er trainiert<br />
mit Stoppuhr.<br />
Von den beiden Mädchen in seiner Lerngruppe hält er sich fern,<br />
aus Selbstschutz, weil Verliebtsein beim Lernen stören würde, Sumin<br />
Oh, Mann der Bücher, Mönch wider Willen. Auf seinem Smartphone<br />
hütet er das Bild seines Sixpacks aus vergangenen Sportlerzeiten.<br />
Die Aufnäher seiner Militärjacke feiern Musik, Tequila, Frauen und<br />
Marihuana. Manchmal finden sich Paare in Gosichon, und wenn er<br />
sie zusammen lernen sieht, weiß er nicht, wie das funktionieren soll.<br />
Die Mädchen bestehen meistens trotzdem. Die Jungs nicht. Nicht<br />
multitaskingfähig, sagt Sumin. Es gibt keine sichtbaren Grenzen, die<br />
Gosichon vom Rest der Hauptstadt trennen. Eine Parallelwelt auf den<br />
zweiten Blick, in der Immobilienmakler und Kantinenbetreiber mit<br />
Noten und Namen ehemaliger Prüflinge werben und Lesesäle damit,<br />
dass sie offiziell nur zweimal am Tag die Eingangstür zum Verlassen<br />
des Gebäudes öffnen. Eine Welt, in der Menschen beinahe jede wache<br />
Minute im kalten Neonlicht mehrstöckiger Lesesäle verbringen,<br />
klimatisiert und kameraüberwacht, in nummerierten Verschlägen<br />
aus Pressholzplatten, die Wände mit Post-it-Zetteln beklebt, die Tür-
schlösser mit Schaumstoff gepolstert, geräuschlos<br />
bis auf das weiße Rauschen, mit dem in der Zimmerdecke<br />
eingelassene Generatoren die stillen Räume<br />
fluten, Stunde um Stunde, Tag um Tag, Jahr um Jahr.<br />
Bis kurz vor den Prüfungen die Nerven so blank liegen,<br />
dass einer, der seinen Platz verlässt, bei der<br />
Rückkehr vielleicht einen Zettel auf dem Tisch findet:<br />
Du atmest zu laut.<br />
Morgens um sieben markieren sie am Eingang der<br />
Veritas-Akademie, eines der drei großen Studieninstitute<br />
in Gosichon, mit Plastiktüten eine Warteschlange,<br />
um sich die besten Plätze in den Abendvorlesungen zu<br />
sichern. Mittags sitzen sie in einer Kellerkantine an langen<br />
Tischen, in Daunenjacken, Trainingshosen, Badelatschen,<br />
Kapuzen ins Gesicht gezogen,<br />
Kopfhörer in den Ohren, und schlingen<br />
kalte Nudeln und scharfen Kimchi-Kohl<br />
von fleckig weißen Plastiktellern.<br />
Abends müssen die Empfangsmitarbeiter<br />
im Lesesaal Habkeok-Bubhakwon,<br />
„Der Ort, die Prüfung zu bestehen“,<br />
um Mitternacht das Licht ausmachen,<br />
damit die Letzten gehen. Über<br />
die gläserne Schiebetür, die die Lernräume<br />
vom angeschlossenen Buchladen<br />
trennt, zieht sich ein Paar-Zeilen-<br />
Gedicht: This is the moment/My final<br />
test …, und dann geht es um Vorbestimmung<br />
und darum, dass Scheitern keine<br />
Option ist und der zweite Platz genauso<br />
wenig. Fast jeder in Gosichon kann Geschichten<br />
erzählen von denen, die nicht<br />
aufgeben wollen. Von Bekannten und<br />
Bekannten von Bekannten, die 40 Jahre alt sind oder 45<br />
und immer noch versuchen, die Prüfung zu bestehen,<br />
jedes Jahr aufs Neue. Die immer noch vom Geld ihrer<br />
Eltern leben, sich von ihrer Ehefrau unterstützen lassen<br />
oder von Freunden. Die einfach weiter lernen, weil<br />
draußen in der Welt nur die Aussichtslosigkeit der<br />
Jobsuche wartet.<br />
Vielleicht kann das sture, weltvergessene Weiterlernen<br />
nur hier funktionieren, an diesem Ort, der<br />
das Lernen bis zur Selbstaufgabe zur Philosophie<br />
überhöht hat, an dem selbst die schwarz getünchte<br />
Wand einer Bierbar existenzielle Weisheiten offenbart:<br />
Viele Versager im Leben sind Menschen, die<br />
nicht erkannt haben, wie nahe sie dem Erfolg waren,<br />
als sie aufgegeben haben.<br />
Unten am Fußgängerüberweg an der Hauptstraße,<br />
wo das Prüfungsdorf inoffiziell beginnt, haben<br />
sie an einer Kreuzung eine Stahlskulptur aufgestellt,<br />
Bleistiftspitzen ragen aus einem aufgeklappten<br />
Buch, dessen Seiten den Passanten Beschwörungen<br />
entgegenschleudern: Traum! Erfolg! Leidenschaft!<br />
Für die Welt da draußen leben sie den Weg zu ihrem<br />
Traum, jeder Einzelne von ihnen. Yesong, die einen<br />
Koffer auf ihr Bett legt, wenn sie in ihrem Zimmer<br />
lernt, um sich davon abzuhalten, schlafen zu gehen.<br />
Yong Jin, der an jedem Abend eines Lerntages eine<br />
Stunde lang allein im leeren Kirchensaal der<br />
Sillim Church sitzt und Gitarre spielt als Ritual gegen<br />
den Stress. Seoyoung, die bis zum Abschluss noch<br />
zwei Semester Internationale Beziehungen vor sich<br />
hat, schon jetzt in Gosichon wohnt und probelernt und<br />
Angst hat, zu verwahrlosen, wenn sie die Gosi morgens<br />
in Pyjamahosen durch die Straßen laufen sieht,<br />
wenn anderswo in Seoul Frauen in High Heels und<br />
kurzen Röcken und Männer in smarten Anzügen aus<br />
den U-Bahn-Schächten steigen. Jang Jin, der Bestseller<br />
darüber liest, wie sich das Lernen perfektionieren<br />
lässt, mit Titeln wie Garantien: Wie man Versagen vermeidet,<br />
und der die wichtigsten Ratschläge abschreibt,<br />
die korrekte Stuhllehnenform, die richtige Raumtemperatur.<br />
Hyo-Ju, die Biologie auf Lehramt studiert und<br />
Lernhöhle: Zehn, zwölf, 14 Stunden lang sitzen die Studierenden hier.<br />
nach einem Jahr in Gosichon findet, das ganze südkoreanische<br />
Bildungsmodell müsse sich ändern, am<br />
liebsten werden wie das von Finnland, weil dort keiner<br />
ständig Menschen mit anderen Menschen vergleicht.<br />
Hier, sagt sie, haben doch alle vergessen, was wirklich<br />
wichtig ist im Leben.<br />
Sie haben große Erklärungen für die nationale Bildungsbesessenheit,<br />
diesen unbedingten Wettbewerbswillen,<br />
kleines Land, schlimmer Krieg, mühsamer Aufbau,<br />
nicht genug Rohstoffe, deshalb abhängig davon, in<br />
Menschen zu investieren und in ihre Ausbildung. Sie<br />
erzählen von konfuzianischen Werten und davon, dass<br />
es in China und Japan auch nicht viel anders ist. Von der<br />
Angst reden sie nicht. Von dem Wunsch nach Sicherheit,<br />
der alle hier umtreibt. Die Jugendarbeitslosigkeit<br />
ist landesweit hoch, es fehlt an Jobs, besonders für Absolventen<br />
der weniger renommierten Universitäten.<br />
Südkorea hat die höchste Studienanfängerquote der<br />
Welt, 82 Prozent aller Schulabgänger schreiben sich an<br />
einer Hochschule ein. In keinem anderen Land geben<br />
Familien so viel Geld für Privatunterricht aus, viele verschulden<br />
sich, um die Zusatzausbildung in den Hagwon<br />
zu finanzieren, Nachhilfe-Instituten, in denen Schüler<br />
nach Schulschluss weiterlernen bis in den Abend. Der<br />
Privatunterricht in den Hagwon ist eine Multimilliarden-Dollar-Industrie,<br />
und er zielt ab auf einen einzigen<br />
Schicksalstag. Jedes Jahr am zweiten Donnerstag im<br />
HOCHSCHUL<br />
ANZEIGER 12<br />
November entscheidet eine Neun-Stunden-Folge von<br />
Multiple-Choice-Tests über das Leben, das Hunderttausende<br />
Highschool-Schüler als 50-Jährige führen<br />
werden. Das glanzvolle Bestehen des „College Scholastic<br />
Ability Tests“ (CSAT) ist Voraussetzung für die<br />
Aufnahme an den besten Hochschulen des Landes, Seoul<br />
National, Yonsei, Korea University, unter deren Absolventen<br />
die Chaebol, die großen Unternehmensgruppen,<br />
Samsung, Hyundai oder LG, ihre Führungskräfte<br />
rekrutieren. Das Land steht beinahe still an diesem Tag.<br />
Großunternehmen lassen ihre Mitarbeiter eine Stunde<br />
später zur Arbeit antreten als üblich, um den Prüflingen<br />
die Rushhour zu ersparen; selbst der Handel an der Börse<br />
in Seoul beginnt später. Schüler, die verschlafen haben,<br />
können über eine Notrufnummer<br />
eine Po lizeieskorte anfordern. Um die<br />
Prüfungsruhe nicht zu stören, werden<br />
Flugpläne geändert, dürfen Autofahrer<br />
nicht hupen, müssen Bauunternehmen<br />
die Arbeit unterbrechen.<br />
Als Sumin Oh sich auf den CSAT<br />
vorbereitete, beklebte er seinen Arbeitsplatz<br />
mit Durchhalteparolen: Beweg<br />
deinen Hintern nicht, bleib auf<br />
deinem Stuhl. Wer seinen Hintern zu<br />
oft vom Stuhl bewegt, besteht nicht,<br />
heißt es, und wer in Seoul zur Uni gehen<br />
möchte, muss in der Highschool<br />
mit vier Stunden Schlaf pro Nacht auskommen.<br />
Für eine Uni außerhalb von<br />
Seoul reicht es auch mit sechs. Die<br />
Highschool, sagt Sumin, war die beste<br />
Zeit seines Lebens, er war Sänger in<br />
der Schulband, seine Eltern die seltene Ausnahme<br />
unter den koreanischen Erziehungsberechtigten, ein<br />
bisschen jünger als die Eltern seiner Freunde, ein<br />
bisschen liberaler, sie ließen ihm Freiheiten, machten<br />
keinen Druck. Als er keine eigenen Ziele für die<br />
Zukunft fand, riet ihm der Vater, selbst Beamter, zur<br />
Laufbahn im öffentlichen Dienst, es sprach viel dafür<br />
und nichts dagegen, und das vorläufige Ende war Gosichon.<br />
Jetzt ist er mittendrin im System, muss<br />
schneller sein als alle anderen, muss gewinnen und<br />
denkt manchmal, irgendjemand müsste das alles<br />
bremsen, und zwar bald.<br />
Spät am Abend sitzt Sumin in einem Coffeeshop<br />
im Halbdunkel hinter einer Säule versteckt. Das Tagespensum<br />
für heute, 60 Seiten zweitausendjährige<br />
koreanische Geschichte, hat er nur zur Hälfte geschafft.<br />
Manchmal geht er nach 14, 15 Stunden Lernen<br />
nicht gleich zurück in seine Zelle im Gositel. An diesen<br />
Abenden steht er mitten in Gosichon in einer stickigen<br />
Videospielhalle, auf flimmernden Bildschirmen<br />
rasen Motorradfahrer durch Großstadtstraßen,<br />
Welten explodieren. Sumin macht die Tür einer Karaoke-Kabine<br />
hinter sich zu, wirft eine Münze ein und<br />
singt an gegen die Einsamkeit, zwei Songs für 500<br />
Won. Er glaubt, dass er die Prüfung schaffen wird am<br />
Ende des Sommers, er muss es glauben. Ohne Zuversicht,<br />
sagt Sumin, bin ich ein toter Mann.<br />
Wenn die Studierenden der Seoul National University abends den Heimweg antreten, geht im Wohnheim das Lernen weiter.<br />
Living in a box: Am Ende eines einsamen Lerntages mietet Sumin Oh eine Karaoke-Kabine. Allein.<br />
Seoyoung Park, 22, will Diplomatin werden.<br />
Und ist erst seit Kurzem im Lerndorf.<br />
Endstation Sehnsucht: Paare gibt es<br />
kaum in Gosichon. Liebe lenkt nur ab.
Ist der Schlüssel diese Schüssel?<br />
Das Team Solenik<br />
baut ein Sonnenkraftwerk.<br />
O R A N U S M A H M O O D I<br />
NA, SAUBER<br />
Klein, umweltschonend, mit einfachster<br />
Technik, sodass man es in der ganzen<br />
Welt nachbauen kann. So müsste das Kraftwerk<br />
von morgen sein. Studierende der<br />
Ingenieurwissenschaften aus Karlsruhe<br />
sind gerade dabei, es zu erfinden.<br />
Ein Werkstattbesuch.<br />
FOTOS: OLIVER KRÖNING<br />
Michael Kant, 26, hat mit seinen Kommilitonen<br />
den Kraftwerk-Wettbewerb erfunden.<br />
Es ist, als betrete man ein geheimes<br />
Forschungsgelände wie aus einem<br />
Spionage-Film – zwölf Kilometer von<br />
Karlsruhe entfernt, ein Areal mitten im dunklen Wald. Hinter dem<br />
Schlagbaum erkennt man Werkhallen, Flachbauten, Schornsteine,<br />
die in den bedeckten Himmel ragen. Uran und Plutonium werden<br />
gelagert auf dem Gelände, das einmal das deutsche Kernforschungszentrum<br />
war. Heute ist hier der Campus Nord des Karlsruher<br />
Institutes für Technologie, kurz KIT, zu Hause. Es klingt wie<br />
Ironie der Geschichte – aber mit etwas Glück ist dies der Ort, an<br />
dem vielleicht die Erfindung gemacht wird, die den Strom von morgen<br />
für alle liefert. Und Atomstrom für immer überflüssig macht.<br />
Sauber, emissionsfrei, günstig, mit der<br />
Kraft der Sonne. Ausweiskontrolle,<br />
der Schlagbaum geht hoch.<br />
Michael Kant, 26, Maschinenbaustudent,<br />
hat den Kragen seiner Seemannsjacke<br />
hochgeschlagen, breites<br />
Lachen, braunes Haar, so lehnt er in der<br />
Kaffeeküche des KIT-Flüssigmetalllabors.<br />
Kant ist der Sprecher von „reech“,<br />
einer Gruppe von Studierenden der Ingenieurwissenschaften,<br />
die gemeinsam<br />
einen spektakulären Wettbewerb auf<br />
die Beine gestellt hat: die sogenannte<br />
Renewable Energy Challenge. Die Aufgabe:<br />
ein Kraftwerk bauen, mit ganz<br />
einfachen Mitteln, so klein, dass es mit<br />
nur zehn Quadratmeter Fläche in eine<br />
Garage passt, betrieben mit erneuerbarer<br />
Energie. Neben Michael Kant<br />
sitzt Charlotte Meyer, 25, eine von drei<br />
Frauen bei reech, sie studiert Wirtschaftsingenieurwesen<br />
und ist unter<br />
anderem für die Finanzen des Vereines<br />
HOCHSCHUL<br />
ANZEIGER 15<br />
Lowtech für Low Budget. Das Kraftwerk von „GreanAirEnergy“ arbeitet mit heißer Luft.<br />
verantwortlich. „Wir wollten nicht bloß über Kraftwerke aus erneuerbaren<br />
Energieträgern reden, wir wollten sie auch bauen<br />
lassen“, erklärt Meyer. Ein Konstruktionswettbewerb musste her,<br />
eine Challenge für die fähigsten Studierenden-Ingenieursteams<br />
der Universität. reech suchte und fand Förderer, Sponsoren; die<br />
Bürgermeisterin von Karlsruhe verlieh ihnen 2012 den Preis<br />
„Wissen und Kompetenz“. Währenddessen machten sich sieben<br />
Ingenieursteams vom Karlsruher Campus an die Arbeit. Konstruktionspläne<br />
wurden eingereicht, eine Jury aus KIT-Professoren und<br />
Sponsoren wählte zwei aus, die jetzt tatsächlich ein Sonnenkraftwerk<br />
bauen: die Teams „GreenAirEnergy“ und „Solenik“ mit einem<br />
Budget von je 1.500 Euro.<br />
Durch die Technikumshalle des Campus Nord dröhnt Reggaemusik.<br />
Vorbei an Laboren, in denen rot, blau, gelbe Rohrkonstrukte<br />
aufgestellt sind, führt eine Metalltreppe auf eine zweite Ebene.<br />
Acht Studierende von „GreenAirEnergy“ bohren, schrauben und<br />
schneiden Holz, Plexiglas und Styropor. Ein Konstruktionsplan<br />
klebt am Metallschrank, daneben stehen drei Werktische.<br />
Vier Studierende heben ein Absorberblech auf einen bettgroßen<br />
Holzkasten. Später soll die Sonne das schwarze Blech erhitzen,<br />
Luft erwärmen, die wiederum einen Stirlingmotor antreiben<br />
soll. Klingt kompliziert – ist es aber nicht: Der Stirlingmotor funktioniert<br />
ähnlich simpel wie eine Dampfmaschine; das Prinzip ist<br />
200 Jahre alt. Messen, bohren, schrauben. „Das ist wie Malen nach<br />
Zahlen“, sagt Lukas Kaul, 24, der sich immer wieder seine blonden<br />
Haare aus den Augen schiebt. „Das Schöne ist, dass wir die Zahlen<br />
selbst gemacht haben. Wir bauen Lowtech auf Low Budget“, sagt<br />
er – und man hört heraus, wie stolz er ist. „Das Modul, das wir gerade<br />
bauen, kann in unseren Breiten an einem Sonnentag eine Leistung<br />
von etwa 60 Watt produzieren“, sagt Kaul. Das reicht bis dato<br />
zum Laden von drei, vier Handys, doch bei mehr Sonne steigt auch<br />
die Leistung des Kraftwerkes. Das Team steht unter Zeitdruck: Im
Guter Plan – sieben Teams haben Konstruktionspläne eingereicht, zwei bauen jetzt ein Kraftwerk.<br />
HOCHSCHUL<br />
ANZEIGER 16<br />
Sieben Mitglieder von reech:<br />
Die Idee zum Ingenieurswettbewerb<br />
kam der Gruppe gemeinsam.<br />
Juni sollen sie ihr Kraftwerk auf dem<br />
Campus Süd in der Karlsruher Innenstadt<br />
präsentieren – vor Unternehmern<br />
der Erneuerbare-Energien-Branche<br />
und vor Wissenschaftlern.<br />
Ob ihre Konkurrenten vom Team<br />
„Solenik“ zum Sommer mit ihrem<br />
Kraftwerk überhaupt startklar sind, ist<br />
zu diesem Zeitpunkt noch völlig unklar.<br />
Das Konzept von „Solenik“ ist weitaus<br />
aufwendiger und teurer als das einfache<br />
Kraftwerk von „Green Air Energy“. Ein Aluminiumgestell<br />
dient als Gerüst für schachbrettartig angelegte<br />
Linsen und Spiegel, mit denen die Solarstrahlung auf<br />
einen Punkt konzentriert werden soll. Die geballte<br />
Hitze soll dann einen Generator antreiben. Soweit die<br />
Theorie – praktisch hat Team „Solenik“ noch nicht alle<br />
Teile besorgt. Zu teuer, zu aufwendig; kein Wunder,<br />
dass Lukas Kaul vom Konkurrenzteam siegessicher<br />
grinst und sich seinen dunkelroten Schal zurechtzupft:<br />
„Das Spektakuläre an unserer Anlage ist ihre technische<br />
Einfachheit“, sagt er. Sie könne etwa in einem<br />
Dorf in Afrika für zehn beleuchtete Räume sorgen,<br />
Schulcomputer mit Strom versorgen oder eine Wasserpumpe<br />
antreiben. „Unser Traum wäre, dass unser<br />
Kraftwerk in Entwicklungsländern von den Menschen<br />
vor Ort nachgebaut wird“, sagt Kaul. Auf die Frage, ob<br />
das Team seine Erfindung denn nicht per Patent schützen<br />
will, schüttelt Kaul den Kopf. „Wir wollen kein<br />
Geld machen. Wenn jemand auf dieser Welt unsere<br />
Anlage gebrauchen kann, sind wir glücklich.“<br />
FILM<br />
GANZ<br />
GROSSES<br />
KINO<br />
HOLT EUCH DIE KNETE<br />
Filme drehen? Oder Modellflugzeuge erfinden?<br />
Bei diesen sechs Wettbewerben gibt es Geld für gute Ideen.<br />
Es ist der begehrteste Filmpreis der Welt.<br />
Aber man muss weder Superstar noch<br />
Hollywood-Regisseur sein, um diesen Oscar<br />
zu gewinnen. Die Academy of Motion Picture<br />
Arts and Sciences zeich<strong>net</strong> auch talentierten<br />
Nachwuchs in vier Kategorien aus: Animation,<br />
narrativer Film, alternativer Film und Dokumentarfilm.<br />
Wer hier gewinnt, tritt in große<br />
Fußstapfen: Spike Lee, Robert Zemeckis<br />
und andere berühmte Regisseure begannen<br />
ihre Karriere mit dem Student Academy<br />
Award. Preisgeld: 5.000 Dollar. Mehr Infos:<br />
www.oscars.org/awards/saa/index.html<br />
TEXT: ANNA GIELAS<br />
ILLUSTRATION: KATRIN RODEGAST/2AGENTEN<br />
FOTOGRAF: RAGNAR SCHMUCK<br />
TECHNIK<br />
MR. SPOCK<br />
SAGT:<br />
FASZINIEREND<br />
In den „Star Trek“-Serien kommen sie<br />
in der fernen Zukunft zum Einsatz –<br />
die amerikanische X PRIZE Foundation<br />
will sie schon jetzt bauen lassen.<br />
Die Rede ist von medizinischen<br />
Tricodern. Das Gerät soll handlich<br />
klein sein und fünfzehn Krankheiten<br />
diagnostizieren können. Studierendenteams<br />
können sich bis zum 30. August<br />
für den Wettbewerb registrieren. Preisgeld:<br />
10 Millionen Dollar. Mehr Infos:<br />
www.qualcommtricorderxprize.org<br />
KUNST<br />
MEISTERWERKE<br />
RELOADED<br />
Wie würde die „Mona Lisa“ mit zwei Nasen aussehen?<br />
Und wie der lange Tisch in da Vincis „Das Abendmahl“<br />
am Ende des Abends? Bei der Mystery Build Competition<br />
kann man in diesem Jahr ein berühmtes Kunstwerk neu<br />
interpretieren. Preisgeld: erster Preis 5.000 Dollar, zweiter<br />
Preis 2.000 Dollar, dritter Preis 1.000 Dollar.<br />
Mehr Infos: www.mysterybuild.com<br />
MOBILE UNTERHALTUNG<br />
HIGH SCORE<br />
IN DER<br />
WARTESCHLANGE<br />
Wie können Handys, Tablets und andere Gadgets das Warten<br />
am Flughafen angenehmer machen? Um diese Frage geht es in<br />
einer Fallstudie der Accenture Campus Innovation Challenge.<br />
Wer allein oder im Team überzeugende Vorschläge einreicht,<br />
düst zur Belohnung nach Cannes oder Nizza und darf das<br />
Accenture Technology Lab in Sophia Antipolis an der Côte<br />
d’Azur besuchen. Neben Präsentationscoachings und<br />
VIP-Fußballtickets winken auch Kontakte zu großen<br />
Accenture-Kunden. Mehr Infos: www.accenture.com<br />
FLUGZEUGBAU<br />
ECHT<br />
ABGEHOBEN<br />
Es soll klein, unbemannt und<br />
ferngesteuert sein – das Fluggerät,<br />
das dem American Institute<br />
of Aeronautics and Astronautics<br />
(AIAA) vorschwebt.<br />
Studierende können das Gerät<br />
selbst entwerfen und bauen.<br />
Der Berufsverband macht es<br />
den Eigenkreationen aber nicht<br />
leicht: Sicherheitsinspektoren<br />
entscheiden vorab, ob der Mini-<br />
Flieger überhaupt zum Testflug<br />
abheben darf. Preisgeld:<br />
1.000 bis 2.500 Dollar.<br />
Mehr Infos: www.aiaadbf.org<br />
ABSCHLUSSARBEITEN<br />
HOPPLA, JETZT KOMM ICH<br />
Hat immer schon genervt, dass Examensarbeiten nach<br />
den Prüfungen von der Bildfläche verschwinden,<br />
oder? Doch das wird jetzt anders. Die Initiative<br />
„Making Science News“ der F. A. Z. prämiert Master-<br />
und Bachelor-Arbeiten mit Preisen von bis zu 3.000<br />
Euro. Mehr noch: Alle Arbeiten werden im Online-<br />
Katalog von „Making Science News“ veröffentlicht, der<br />
in Zukunft als Kontaktbörse zwischen Uni-Absolventen<br />
und zukünftigen Arbeitgebern funktionieren soll.<br />
Mehr Infos: www.makingsciencenews.com
Franzi und die sieben Zwerge<br />
Folge 1: Budapest<br />
Was passiert, wenn man einfach in den nächstbesten Flieger für 200 Euro steigt?<br />
Unsere Autorin probiert es aus. Im Gepäck: ein Gartenzwerg. Für den sucht<br />
sie ein neues Zuhause – aber nur, wenn sie im Tausch etwas mitnehmen darf …<br />
Da stehe ich also, auf dem Raucherbalkon eines Budapester<br />
Clubs mit meinem Gartenzwerg. Ich – Minirock<br />
und Stoffsneakers. Er – Bierkrug und Zipfelmütze. Ich<br />
habe ihn Herrmann getauft. Er grinst.<br />
Drinnen bammeln Discokugeln vor angegilbten<br />
Mustertapeten, und betrunkene<br />
Briten in Korsage und Strapsen lassen<br />
sich schminken. Ruinen-Pubs sind<br />
das Beste am Budapester Nachtleben.<br />
Sie werden in Häusern eröff<strong>net</strong>, bei denen<br />
die Stadt nur darauf wartet, dass sie<br />
zusammenbrechen. Das Leben tobt im<br />
morbide-malerischen Verfall. Um mich<br />
herum friert eine Gruppe junger Ungarn<br />
im eisigen Wind. Sie sind alle um die 30<br />
und kennen sich schon ewig. Über meine<br />
Mission haben sie herzlich gelacht –<br />
wer will schon einen Gartenzwerg?<br />
Aber auf einmal zaubert einer eine<br />
Orange aus der seiner Jackentasche<br />
streckt sie mir entgegen „Hier. Dafür<br />
kannst du Herrmann tauschen“, sagt er.<br />
Alle kichern. Ich gucke fragend. „Das<br />
ist eine politische Sache.“ Klar. Alles ist<br />
in Budapest gerade eine politische Sache.<br />
Ungarische Orange, erklärt man<br />
mir, ist der Name einer regierungskritischen Zeitung.<br />
„Magyar Na rancs“ sei eine Stimme der Opposition.<br />
Und der fühlen sich hier alle zugehörig. Ein Gartenzwerg<br />
mit Gamsbart gegen ein revolutionäres Früchtchen?<br />
Eigentlich kein schlechter Tausch. Wäre da<br />
Sehen sich irgendwie ähnlich:<br />
Hermann und seine<br />
neue Besitzerin Judit.<br />
Muss jetzt nie wieder frieren:<br />
Autorin Franziska Bulban mit<br />
getauschten Ohrenschützern.<br />
nicht Judit. Judit mit dem roten Schal, der genau zur<br />
Zipfelmütze passt. Judit, die sofort sagt: „Ich will auch<br />
so einen, ich geb dir ein paar bunte Ohrschützer dafür.“<br />
Sie liebe diese Ohrschützer, sagen ihre<br />
Freunde. Mit den bunten Bommeln auf<br />
dem Kopf werde man ständig angelächelt.<br />
Und das finde ich angemessen.<br />
Den ganzen Tag hat Herrmann gute<br />
Laune verbreitet: auf dem Burgpalast<br />
und in der Stephans-Basilika, vor dem<br />
Innenministerium, das auf Ungarisch<br />
echt Belügyminisztérium heißt, und im<br />
Café Mosaik, in dem man um die Rechnung<br />
würfeln darf – überall haben die<br />
Menschen gelächelt, kleine japanische<br />
Mädchen sind ihm nachgelaufen, und<br />
russische Paare haben sich mit ihm fotografieren<br />
lassen. Herrmann hat gegrinst.<br />
Ich werde ihn fast ein bisschen<br />
vermissen. Judits Wohnung liegt direkt<br />
im alten jüdischen Viertel, heute dem<br />
Szeneviertel Budapests. Zwei Zimmer,<br />
Parkett, eine kleine Küche, das alles<br />
gehört ihr. Ein Eigenheim sei Teil der<br />
ungarischen Kultur, sagt Judit. So etwas<br />
wie Miete gibt es kaum, da seien<br />
die Leute hier sehr traditionell. Judit hat ihre Blumenkästen<br />
mit rosafarbenen Schleifen verziert, auf<br />
der Couch sitzen Stoffigel von Ikea, und ihr Fahrradkorb<br />
ist mit Plastikblumen verziert. Im Sommer, verspricht<br />
Judit, stellt sie Herrmann auf den Balkon.<br />
HOCHSCHUL<br />
ANZEIGER 18<br />
DREI PRODUKTE,<br />
DIE WIR LIEBEN<br />
WIEDERSEHEN MIT DEM SCHULRANZEN<br />
Was haben wir ihn früher gehasst, den Lederschulranzen.<br />
Und waren neidisch auf alle mit Eastpak-Rucksäcken.<br />
Aber man trifft sich ja immer<br />
zweimal im Leben, und jetzt ist er plötzlich wieder<br />
hip, der Schulranzen. Den Leather Satchel von<br />
Bohemia gibt es in Schwarz, Pink, Gold, Neongelb.<br />
Ab 99,50 Euro. www.bohemiadesign.co.uk<br />
VW-BUS MIT HERINGEN<br />
Es ist der ultimative Hippie-Traum,<br />
einmal mit dem VW-Bus um die Welt zu juckeln.<br />
Wer kein Geld für einen echten Bus hat, kann mit<br />
diesem VW-Camper-Van-Zelt vorliebnehmen.<br />
In den zwei getrennten Schlafkabinen, die gut<br />
1,80 Meter hoch sind, finden vier Personen Platz.<br />
Preis: 355 Euro. www.vwcampervantent.<strong>net</strong><br />
RECYCELTE SKATEBOARDS<br />
Sein altes Skateboard wegzuschmeißen, tut weh.<br />
Deswegen kamen Skater und Musiker Gianfranco<br />
de Gennaro und Gitarrenbauer Ezequiel Galasso auf<br />
die Idee, alte Boards zu recyceln und E-Gitarren<br />
daraus zu machen, die sogar sehr gut klingen.<br />
Preis: 780 Euro. www.facebook.com/sktgtr F<br />
OTOS: FRANZISKA BULBAN (3), JULIAN STRATENSCHULTE/DPA/PICTURE-ALLIANCE, FIREBOX.COM, PR (2); ILLUSTRATION: VOLKMAR KURKHAUS<br />
JENS HENDRIK MAIER<br />
Diplom-Psychologe<br />
KUMMERKASTEN<br />
SOPHIE H. VIA MAIL<br />
Wenn ich am Wochenende ausgehe,<br />
schaue ich oft zu tief ins Glas und mache<br />
wahnsinnigen Quatsch, von dem ich<br />
am nächsten Morgen nur noch die Hälfte<br />
weiß. Sollte ich eine Therapie machen,<br />
oder kriege ich das so in den Griff?<br />
Ein paar leicht verschwommene Nächte gehören zum Studentenleben ja dazu, das war bei<br />
mir auch so. Aber wer am nächsten Morgen einen richtigen Filmriss hat und nicht mehr rekonstruieren<br />
kann, wie er nach Hause gekommen ist, sollte das als Alarmzeichen betrachten.<br />
Egal, ob das einmal im Monat passiert oder einmal im Quartal. Wenn sich der Alkoholkonsum<br />
negativ auf die Gesundheit, die Arbeit oder die Partnerschaft auswirkt, handelt<br />
es sich um Substanzmissbrauch. Man kann natürlich lernen, sein Konsumverhalten in den<br />
Griff zu bekommen. Der einfachste Weg ist, nach jedem Bier ein unalkoholisches Getränk<br />
zu trinken. Wenn die Freunde einem dann trotzdem einen Schnaps vor die Nase halten, hat<br />
man vielleicht die falschen Freunde. Hilfreich ist auch, sich ein Alkoholtestgerät zu besorgen.<br />
Wem diese Selbstkontrolle schwerfällt, der kann sich einen Freund mitnehmen, mit<br />
dem vorher klar ausgemacht wird, wie viel man trinken darf. Um das Ganze verbindlicher<br />
zu gestalten, würde ich klare Konsequenzen festlegen. Zum Beispiel, dass man drei Wochen<br />
lang den Abwasch in der WG machen muss, wenn man sich nicht an die Vorsätze hält.<br />
Hilft auch das nicht, liegt vielleicht sogar eine Suchterkrankung vor. Dann sollte man sich<br />
Hilfe holen. Je früher, desto besser. Und zwar nicht bei den Party-Kommilitonen, sondern<br />
zum Beispiel bei der Hochschulberatung oder bei Freunden, die nicht trinken.<br />
Kostenlos aufs Festival<br />
Diesen Sommer kein Geld für ein Festivalticket? Macht nichts, denn<br />
der Hamburger Festival-Veranstalter FKP Scorpio sucht für den Sommer<br />
noch zahlreiche Lotsen für das bereits ausverkaufte Hurricane<br />
Festival sowie für das Southside, Highfield, Chiemsee Reggae Summer<br />
und M’era Luna. Das Konzept des 2012 eingeführten „Projekt<br />
24/5“ ist einfach: 24 Stunden arbeiten, verteilt auf fünf Festivaltage.<br />
Zu den Einsatzbereichen gehören Einlass, Auf- und Abbau, Verkehr,<br />
Recycling, Campmeister und Reporter. In ihrer freien Zeit können die<br />
Lotsen im Lotsencamp entspannen und natürlich das musikalische<br />
Programm genießen. Damit keiner seine Lieblingsband verpasst, sind<br />
die Arbeitszeiten nach Veröffentlichung des Spielplanes frei wählbar.<br />
Einen kurzen Trailer zum Lotsen-Job gibt es im Inter<strong>net</strong>. www.hurricane.de/de/interaktiv/projekt-24-5/
TEXT UND FOTOS:<br />
FELIX RETTBERG<br />
Boxing Israel<br />
In einem alten Bunker in Jerusalem trainieren<br />
Juden und Palästinenser gemeinsam.<br />
Der Boxring ist ihre neutrale Zone, in der<br />
Weltpolitik, Ressentiments und die Angst<br />
für ein paar Stunden ausgesperrt sind.<br />
Einer der Kämpfer ist der arabische Israeli<br />
Omar Natsheh. Ein Treffen.
Manche, sagt er, schauen irritiert, heben die Augenbrauen,<br />
fragen ihn, warum er ausgerech<strong>net</strong> dort hingehe.<br />
Zu den Juden. Omar Natsheh, 18, sagt dann<br />
nur: „Es ist der beste Klub der Stadt.“ Und er, er will<br />
nur eines: in den Ring. Kämpfen. Siegen. Einer der<br />
Besten sein. Raus in die Welt. Profiboxer zu sein –<br />
das ist sein Traum. Der einzige große Traum. Kein<br />
Plan B. „Wozu?“<br />
Vier bis fünf Stunden<br />
am Tag schleppt<br />
Omar Natsheh Kisten<br />
und Kartons, räumt in<br />
einem Supermarkt in der<br />
Innenstadt von Jerusalem<br />
für eine Molkerei<br />
die Milch, Butter, den<br />
Käse und Joghurt in die<br />
Regale, um Geld zu verdienen.<br />
Hier, in dem Teil<br />
der Stadt, wo viele Männer<br />
mit einer Kippa auf dem Hinterkopf durch die<br />
Straßen eilen, im gepflegten, modernen Zentrum, in<br />
dem vor allem der jüdische Teil der Bevölkerung<br />
wohnt und arbeitet. Omar Natsheh ist Muslim, arabischer<br />
Israeli. Ein drahtiger junger Mann mit wachen<br />
Fast zu schön, um wahr zu sein: Omar Natsheh, 18, über den Dächern seiner Heimatstadt Jerusalem.<br />
Die Boxkarriere soll das Ticket zum Erfolg sein. Jerusalem verlassen? Niemals.<br />
Der Trainer schreibt<br />
Liebesgedichte. Den<br />
Boxring hat er aus<br />
Altmetall und Panzerschrauben<br />
gebaut.<br />
braunen Augen, schwarzen Haaren, an den Seiten<br />
kurz rasiert. Ein kleines Bart-Dreieck unter der Unterlippe<br />
hat er stehen lassen, in die rechte Augenbraue<br />
einen kleinen Spalt rasiert. Mit seiner Familie<br />
lebt er in Ostjerusalem, in Beit Hanina, einem arabisch<br />
geprägten Stadtteil, wo auch der israelische<br />
Grenzzaun zur Westbank verläuft – hier ist er eine<br />
massive Mauer aus Beton,<br />
mehrere Meter<br />
hoch. Jerusalem – die<br />
umstrittene heilige<br />
Stadt, seit Jahrtausenden<br />
umkämpft, von immer<br />
anderen erobert, regiert.<br />
Auch an der Frage,<br />
wie viel von Jerusalem<br />
bei einem Friedensabkommen<br />
Israel und was<br />
den Palästinensern zusteht,<br />
scheitert eine Lösung<br />
des seit Jahrzehnte andauernden Konfliktes.<br />
Selbst wenn innerhalb der Stadt keine Barrieren existieren,<br />
ist es ein Leben nebeneinander: Westjerusalem<br />
und Ostjerusalem, Juden und Araber, Israelis<br />
und Palästinenser. Jeder hat seine Schulen, seine<br />
HOCHSCHUL<br />
ANZEIGER 22<br />
Sportvereine. Parallelwelten. Kaum einen drängt es<br />
in die Stadtteile des anderen.<br />
So oft es geht, mindestens dreimal die Woche,<br />
sonntags, dienstags, donnerstags, packt Omar jedoch<br />
seine Sporttasche, fährt eine Dreiviertelstunde mit<br />
Straßenbahn und Bus in den Westen der Stadt, in ein<br />
jüdisches Viertel, in dem er bis vor einem Jahr noch<br />
nie gewesen ist. Sein Vater, selbst ein Boxer, hat ihn<br />
dort hingeschickt: Omar soll mit den Besten trainieren.<br />
Egal, ob sie Juden sind. „Wer hat das Recht, in<br />
diesem Land zu leben, Zwei-Staaten-Lösung oder<br />
nicht? Über all diese großen politischen Fragen mache<br />
ich mir keine großen Gedanken“, sagt Omar, „ich<br />
muss an meine Zukunft denken. Nur daran kann ich<br />
arbeiten.“ Unter drei Meter dickem Beton, fünfeinhalb<br />
Meter unter der Erde, arbeitet Omar an seinem<br />
Traum: im alten Luftschutzbunker von Gershon Luxemburg,<br />
68. Ein Mann, der Liebesgedichte schreibt<br />
und trotzdem eisern seinen Boxklub regiert: „Wo ist<br />
deine Deckung?“<br />
Auf einem Parkplatz, mitten im Jerusalemer<br />
Stadtteil Alt-Katamon, steht zwischen Autos der gemauerte<br />
kleine Quader, an dem eine kleine Fahne<br />
weht: Jerusalem Boxing Club. Hinter der Metalltür<br />
geht es die Stufen hinab in den Bunker, vorbei an mit<br />
Gershon Luxemburg, 68, war sein Leben lang Boxer, er hat Boxing Israel gegründet, den einzigen Klub der Stadt,<br />
in dem sowohl Juden als auch Palästinenser trainieren.
Links: David Vitner, 26, ist Jude und trainiert bei Boxing Israel,<br />
weil es ihm Spaß macht. Er kommt mit den Palästinensern im Klub<br />
aus – man müsse sich ja nicht gleich anfreunden.<br />
Oben: Ismail Dschafri, 39, arabischer Israeli, war einer der Ersten,<br />
die vor knapp 20 Jahren zum Training in den bis dahin rein<br />
jüdischen Klub kamen. Heute leitet er das Training.<br />
HOCHSCHUL<br />
ANZEIGER 24<br />
Oben: Jedes Klubmitglied<br />
wird mit Passfoto an der Klubwand<br />
verewigt. Links: Omar<br />
Natsheh albert mit Kindern<br />
in seinem Viertel herum, die<br />
seine Boxkünste bewundern.<br />
Fotos zutapezierten Wänden. Die Wände sind das Album des Lebens<br />
von Luxemburg und seinem Bruder Eli, 73: Porträts von ihnen<br />
selbst aus jungen Jahren, als sie noch als Boxer aktiv waren, verschwitzt,<br />
strahlend, erschöpft, Kampfszenen, Siegerehrungen.<br />
Schnappschüsse von Ausflügen mit ihren Boxschülern aus diesem,<br />
ihrem Klub, aus über 30 Jahren, hunderte Passfotos all derer, die<br />
von ihnen lernen wollten, sich zu behaupten, eng angeord<strong>net</strong> wie<br />
ein Mosaik.<br />
Im Flur vor den zwei großen Trainingsräumen bedecken<br />
Wohnzimmer-Teppiche den Boden, rote Plastikblumen schmücken<br />
eine alte Kommode mit eingebautem Radio. Den großen Boxring<br />
aus alten Panzerschrauben und anderem noch brauchbaren Metall<br />
hat Luxemburg selbst gebaut. In Sichtweite vom Ring hängt ein<br />
großes Foto von Muhammad Ali, dem zum Islam konvertierten Boxer,<br />
die Legende des leichtfüßigen, eloquenten, unschlagbaren<br />
Sportlers, alles überblickend – es ist ein Zuhause, das Luxemburg<br />
hier geschaffen hat. Der Jerusalem Boxing Club ist der einzige gemischte<br />
Klub der Stadt. Juden und Araber, Israelis und Palästinenser<br />
– alle tragen sie hier auf ihren Trikots den gleichen Aufdruck:<br />
Israel Boxing. „Dass ich mich hier so schnell so wohlfühlen würde,<br />
hätte ich nie geglaubt“, sagt Omar. „Als Trainer ist Gershon hart,<br />
aber immer fair. Er behandelt alle gleich.“<br />
Sich mit Fäusten eine eigene, selbst bestimmte Zukunft bauen<br />
– das hat Gershon Luxemburg schon geschafft. Profiboxer waren er<br />
und sein Bruder bereits als junge Männer, doch damals fern von dieser<br />
Stadt, in ihrer alten Heimat Usbekistan. Boxen machten sie zu<br />
ihrem Sport, weil es ihnen das Gefühl von Stärke gab, die Sicherheit,<br />
sich wehren zu können, in einem Land, in dem sie, als Juden, in<br />
der Minderheit waren. Noch vor der Schule, als Kinder, hatte Luxemburgs<br />
Vater ihn und seine Brüder zum Boxtraining geschickt.<br />
Fünfmal wurde Luxemburg in Usbekistan Meister. 1972 wanderte<br />
er aus, nach Israel, dorthin, wo er nicht mehr nur einer von wenigen<br />
sein würde, wo Jude zu sein normal ist. Ein Jahr später zog er schon<br />
in den Kampf: zuerst als Soldat im Jom-Kippur-Krieg. Danach als<br />
Sportler in den Ring. Siebenmal in Folge wurde er israelischer<br />
Meister, gehörte dem Nationalteam an, trainierte dieses dann auch<br />
zusammen mit seinem Bruder.<br />
Weiß-grau sind mittlerweile seine Haare, sein Bart geworden,<br />
eine kleine Klammer hält die Kippa auf dem Hinterkopf stets fest an<br />
ihrem Platz. Ein Bauch wölbt sich unter der Trainingsjacke. Doch<br />
zackig bewegt er sich durch sein Zuhause, macht vor, was er von<br />
seinen Schülern sehen will. Bei den jüngsten zurrt er schon mal<br />
selbst die Schutzhelme fest, schmunzelt. Bellend laut weist er seine<br />
Schüler zurecht, wenn sie beim Training im Ring zu hart zuschlagen.<br />
Er will Champions, keine Schläger.<br />
Von Luxemburg, dem mehrfachen Champion, der Boxer trainierte,<br />
die es von Israel aus bis zu Weltmeisterschaften, bis zu<br />
Olympischen Spielen schafften, will Omar lernen, ein Großer zu<br />
werden. So groß wie sein Vorbild, der amerikanische Boxer Roy<br />
Jones. „Seine Technik, seine Strategie sind einfach noch besser als<br />
die von Muhammad Ali“, findet Omar. Er ist auf dem Weg: Bei einem<br />
seiner letzten Turniere, den „Palestinian Championships“ in<br />
Ramallah vor einigen Monaten, besiegte Omar nicht nur alle seine<br />
Gegner. Obendrein zeich<strong>net</strong>en ihn die Richter als besten Boxer des<br />
Turniers aus. Im Training bei Luxemburg trägt Omar keinen Schutzhelm<br />
mehr wie andere, er tänzelt über die Matte, treibt seine Gegner<br />
immer wieder in die Ecke.<br />
So offen für jeden, egal wer sie sind, woher sie kommen, war<br />
Luxemburg nicht immer. Mitte der 80er-Jahre hatte er sich illegal<br />
Waffen besorgt, Anti-Panzergranaten gehortet – um notfalls sich<br />
und seine Familie schützen zu können, vor Palästinensern. Monatelang<br />
hat er dafür im Gefängnis gesessen, wurde zu Hausarrest verurteilt.<br />
Vor allem russische, jüdische Jungen trainierte er damals in<br />
seinem Klub. Bis ihn plötzlich ein Palästinenser ansprach, der die<br />
Werbung für den Klub an Luxemburgs Wagen gesehen hatte. „Als<br />
er tatsächlich kam, wusste ich nicht, ob das gut ist. Ob wir hier tatsächlich<br />
miteinander auskommen. Es klappte aber.“<br />
Heute gibt Luxemburg die Visitenkarte des Klubs jedem Araber,<br />
jedem Palästinenser, in dem er Talent vermutet. Und er ist stolz<br />
darauf, dass manche jüdische Mitglieder des Klubs, die in Siedlungen<br />
wohnen, auch arabische Kinder im Auto mitnehmen, damit sie<br />
es zum Training schaffen. Und das Training selbst vertraut er einem<br />
seiner besten Freunde an: Ismail Dschafri, 39, einem arabischen<br />
Lkw-Fahrer. Ein großer, stämmiger Mann mit kurzen schwarzgrauen<br />
Haaren, der immer strahlt, wenn ihm die jungen Boxer die<br />
Hand geben – zur Begrüßung, zum Dank nach dem Training. „Wann<br />
immer ich nicht arbeiten muss, bin ich hier“, sagt Dschafri, „so viele<br />
Probleme es in diesem Land zwischen all denen, die hier leben, auch<br />
gibt, hier bleibt die Politik draußen.“<br />
Hämmernde Beats dreht Gershon Luxemburg auf, und er setzt<br />
sich entspannt in seinen weißen Plastikstuhl im Büro, wenn Dschafri<br />
die Führung übernimmt. Sie joggen, laufen, hechten durch den<br />
Klub, kleine Schritte, weite Schritte, Sprung aus der Hocke an die<br />
Decke, rechte Faust, linke Faust, Schweiß perlt auf der Stirn. „Ismail<br />
ist ein sehr guter Trainer – und ein toller Kerl“, sagt David Vitner,<br />
26, schwarze Haare, schmales Gesicht. Er spricht ruhig, zurückhaltend.<br />
Nach einem Jahr Pause ist er zurück im Bunker. Das Boxen hier<br />
hat ihm gefehlt. Er komme nur aus Spaß am Sport. Was er aus seinem<br />
Leben machen will, wisse er noch nicht. Während seiner drei Pflichtjahre<br />
in der Armee war er Koch. „Vielen hat’s geschmeckt, besonders<br />
das Brot, das ich gebacken habe. Vielleicht eröffne ich einmal einen<br />
Imbiss oder ein kleines Restaurant, mal sehen.“<br />
Normalerweise, sagt er, möchte er nicht mehr mit Arabern zu<br />
tun haben als nötig, er meidet ihre Stadtteile: „Man weiß nie, wie sie<br />
dort auf mich, einen Juden, reagieren.“ Doch in diesem Bunker geht<br />
es ihm wie Omar. „Wir kommen miteinander aus. Gut sogar. Gleich<br />
die allerbesten Freunde werden, darum geht’s ja auch nicht.“ Rund<br />
200 Mitglieder, darunter etwa 20 arabische Israelis und Palästinenser,<br />
stehen derzeit in Gershon Luxemburgs handgeschriebener Kartei. Wer<br />
zahlen kann, der zahlt, wer nicht, darf trotzdem kommen. Neben den<br />
Jungen und Männern kommen auch einige, wenige Mädchen, wie<br />
Maya Veramov, 15, die boxen wollen, mit Ehrgeiz. In den Pausen necken<br />
sich Omar und sie immer wieder. „Er ist süß“, sagt sie, „aber meine<br />
Mutter würde nie erlauben, dass wir, oder meine Schwester und er,<br />
jemals mehr als Freunde wären. Juden und Araber, findet sie, das passt<br />
nicht zusammen.“<br />
Zwei Stunden Training sind vorüber. Omar, verschwitzt, doch<br />
aufgekratzt, streift die Handschuhe ab. Luxemburg macht seine<br />
Runde durch den Klub, sortiert seinen Schreibtisch, sucht die<br />
Schlüssel. „Ob Omar ein ganz Großer werden kann“, sagt er, „kann<br />
ich nicht sagen. Dafür ist er jetzt noch zu jung. Was er an Technik<br />
braucht, das zeige ich ihm. Den Mumm zumindest, den hat er. 90<br />
Prozent des Erfolges ist sowieso der Wille. Der Löwe in dir.“<br />
HOCHSCHUL<br />
ANZEIGER 25
IMMER DER REIHE NACH<br />
Fernsehserien gibt es seit Jahrzehnten. Aber erst seit Neuestem<br />
machen sie uns süchtig. Hier erfahren Sie, warum …<br />
Von Daniel Haas, Illustration: Sean McCabe<br />
HOCHSCHUL<br />
ANZEIGER 26<br />
Es gibt Leute, die benutzen heute noch den Klingelton. Dreimal<br />
kurz, einmal lang. Counter Terrorist Unit, kurz CTU, Sitz in Los<br />
Angeles. Dort klangen die Telefone so. Der Sound einer Serie – und<br />
einer neuen Ära des Fernsehens.<br />
Die CTU jagte Staatsfeinde, ihr wichtigster Agent hieß Jack<br />
Bauer. „24“ – der Titel war Programm: pro Staffel 24 Folgen à 60<br />
Minuten. Einen Tag lang die Welt retten. Und wieder von vorn.<br />
Es gab schon vorher gute Serien, es gab den amerikanischen<br />
Bezahlsender HBO mit „Sex and the City“ und den „Sopranos“,<br />
aber bei „24“ konnte man erleben, wie sich eine Reihe in unser Leben<br />
hineinmogelt, als sei sie selbst ein<br />
Stück Realität und nicht etwas, das irgendwo<br />
in Hollywood zusammenge-<br />
bastelt wird. Der Klingelton zum Runterladen<br />
ist dabei nur ein Aspekt. Bedeutender<br />
war, dass Mitte der 90er-<br />
Jahre die DVD aufkam. „24“-Staffeln<br />
erschienen als Box-Set, und so sahen<br />
viele das Geschehen in der Weise, wie<br />
Jack Bauer es erlebte: in Echtzeit. Wer<br />
damals einen Bürojob hatte oder früh<br />
zur Uni musste, konnte am Kaffeeautomaten<br />
bleiche Serienjunkies treffen. Sie waren fast genauso<br />
gerädert wie der Held der Reihe, fieberten aber schon dem nächsten<br />
Auftrag, sprich den nächsten Folgen entgegen. Das Medium hatte<br />
die Wirklichkeit erobert.<br />
„24“ ist aufgrund der Erzählweise ein extremes Beispiel, aber<br />
es zeigt, warum viele heute lieber Serien schauen als ins Kino gehen<br />
oder lesen. Warum Serien das Gesprächsthema Nummer eins auf<br />
Partys sind, warum die F. A. Z. dem Serienformat neuerdings eine<br />
ganze Seite widmet (immer mittwochs, alle zwei Wochen) und warum<br />
Jo Lendle, Chef des renommieren Hanser-Verlages, nach einer<br />
Lesung des amerikanischen Schriftstellers Chad Harbach im vergangenen<br />
Winter sagte, er mache sich langsam Sorgen um seine Lektoren.<br />
„Die lesen nicht mehr, die schauen nur noch Serien.“<br />
Seitdem Fernsehreihen nicht mehr pro Folge einen Fall abhandeln,<br />
sondern große Erzählungen auffächern, seitdem die Figuren<br />
ein Gedächtnis haben und nicht jedes Mal so tun, als seien die<br />
letzten fünfzehn Folgen spurlos an ihnen vorübergegangen, seitdem,<br />
so schreiben Kulturkritiker (zuletzt Richard Beck im New<br />
Yorker Intellektuellenblatt „n+1“), sei die Serie zu Literatur geworden.<br />
Im 19. Jahrhundert hätten die Leute in der Zeitung Dickens und<br />
Balzac als Fortsetzungsgeschichten gelesen, heute schauten sie<br />
eben „Breaking Bad“ oder „Game of Thrones“. Das ist ein beliebtes<br />
Argument zur Erklärung des Serienhypes, aber es ist nur die halbe<br />
Wahrheit. Es erklärt nicht, warum es riesige Fangemeinden gibt,<br />
die Serien wie „Grey’s Anatomy“, „One Tree Hill“ oder „Vampire<br />
Diaries“ schauen. Storys, knapp über dem Inhaltsniveau von Groschenheften.<br />
Der Grund liegt in der Form der Serie selbst, ihrer fortlaufenden<br />
Erzählung. Auch weniger aufwendig produzierte Reihen begleiten<br />
ihre Figuren über mehrere Staffeln hinweg durch den Alltag, bei der<br />
Job- oder Partnersuche. Und auch sie sind bereits nach wenigen Folgen<br />
zu voraussetzungsreich für den beiläufigen Konsum. Warum Meredith<br />
in der fünften Staffel „Grey’s“ sauer ist auf Derek, das leitet sich aus einem<br />
Konflikt aus den ersten fünf Folgen her. Quereinsteigen funktioniert<br />
deshalb nicht. „Das Narrative heilt durch Struktur, nicht durch<br />
die Vermittlung direkter Ratschläge“, sagt der Soziologe Richard<br />
Sen<strong>net</strong>t. Sen<strong>net</strong>t, 70, lehrt Soziologie an der New York University<br />
und der London School of Economics and Political Science, sein<br />
Die Serie ist der neue<br />
Roman. Aber auch eine<br />
Konstante in einer Zeit,<br />
in der sich alles ändert.<br />
HOCHSCHUL<br />
ANZEIGER 27<br />
Spezialgebiet sind moderne Arbeitsverhältnisse. Von ihm stammt<br />
die Formulierung des „flexiblen Menschen“, so klassifiziert der<br />
Gelehrte den modernen Arbeitnehmer, der sich auf die rapide wechselnden<br />
Ansprüche der neuen Märkte einstellen muss.<br />
In der Struktur also, nicht in den Inhalten, die vermittelt werden,<br />
liegt für Sen<strong>net</strong>t der Kniff. Auf Serien angewendet heißt das:<br />
Wir können die romantische Verbohrtheit der „One Tree Hill“-Akteure<br />
ebenso genießen wie die subtilen Ränkespiele der Politserie<br />
„The West Wing“, nicht weil die Helden etwas Bestimmtes tun,<br />
sondern weil sie es immer wieder tun, mit geringfügigen Variationen.<br />
So entsteht dieser faszinierende<br />
Effekt: Das Leben dort auf dem Schirm<br />
und meines gehören zusammen. Sie<br />
folgen einem ähnlichen Rhythmus.<br />
Sen<strong>net</strong>t spricht von der „Formung<br />
eines Charakters zur durchhaltbaren<br />
Erzählung“ und davon, dass ein Muster,<br />
nach dem sich eine Identität solide aufbauen<br />
lässt, gerade heute attraktiv ist.<br />
Dies leuchtet sofort ein. Wenn wir immer<br />
weniger Zeit haben für ein Studium,<br />
wenn wir danach alle drei Jahre die<br />
Stelle wechseln, wenn überhaupt die entscheidenden Dinge permanent<br />
zur Debatte stehen – der Wohnort, die soziale Stellung, die emotionalen<br />
Bindungen –, dann hat die Kontinuität eines Lebensentwurfes,<br />
wie ihn Serien vorführen, etwas Tröstliches. Serien leisten also<br />
zweierlei: Sie zerstreuen uns, aber sie sind auch ein Mittel zur Orientierung<br />
und für Konstanz.<br />
Die DVD hat dazu, wie erwähnt, erheblich beigetragen. Die<br />
aktuellen Zahlen beweisen, dass die Serie zum Lebensbegleiter geworden<br />
ist: 2012 stiegen die deutschen Verkaufszahlen im Vergleich<br />
zum Vorjahr um 28 Prozent, der Umsatz kletterte von 191 auf<br />
228 Millionen Euro.<br />
Auch das Inter<strong>net</strong> wird immer wichtiger für die Serienverbreitung.<br />
Mittlerweile verfügen alle großen Reihen über Websites, und<br />
die Darsteller twittern und chatten, was die Server hergeben. Alison<br />
Brie, die zurzeit gleich zwei große Rollen spielt – Annie in der College-Sitcom<br />
„Community“, Trudy bei den „Mad Men“ –, hat mittlerweile<br />
430.000 Follower (im Vergleich: die gesamte „Mad Men“-<br />
Crew kommt auf 570.000). Das Magazin „Wired“ schrieb, Brie<br />
habe „Berühmtheit mit einer algorithmischen Perfektion optimiert“.<br />
Das stimmt, aber sie hat vor allem dafür gesorgt, dass ihre<br />
Serienfigur nun weltweit im Gespräch ist. Der Zusammenschnitt<br />
ihrer Japs-Szenen – ihr Markenzeichen als Annie ist eine Art „erschrecktes<br />
Keuchen“ (F. A. S.) – lief auf Youtube bislang 270.000mal.<br />
Für HBO drehte die „True Blood“-Darstellerin Deborah Ann<br />
Woll einen Videoblog, und zwar in ihrer Rolle als Jungvampir. Da<br />
denkt sie dann über die Verantwortung nach, die übernatürliche<br />
Kräfte mit sich bringen oder warum Shoppen sinnlos ist („Wenn<br />
man ewig lebt, was bedeuten die Dinge dann noch?“).<br />
Auf diese Weise sind uns unsere Serienfreunde noch näher.<br />
Die tatsächliche Welt, mit nervigen Kommilitonen, anstrengenden<br />
Profs oder blöden Kollegen rückt in den Hintergrund. Und dann ist<br />
ja auch unser Leben eine Serie: dieselbe Vorlesung, dieselbe Mensa,<br />
derselbe Job. Wenn wir sie mit den Helden unsere Lieblingsreihen<br />
bevölkern, ist sie vielleicht nicht weniger stressig – aber ein<br />
bisschen besser geschrieben.
Herr Smith, Sie haben Ihre Website nach Ihrem<br />
Lieblingsplatz im Eurostar benannt. Was ist so besonders<br />
an dem Platz Nummer 61?<br />
Wenn ich mir eine Fahrt in der ersten Klasse gönne, buche<br />
ich immer diesen Sitz in Wagen 7, 8, 11 oder 12. Da<br />
weiß ich, was mich erwartet: ein bequemer Einzelsitz<br />
gegenüber einem anderen, ein Tisch mit einer dieser altmodischen<br />
Tischlampen und vor allem ein freier Blick<br />
aus dem Fenster. Auf diesem Platz habe ich London<br />
schon für viele Reisen verlassen, nach Italien, Spanien,<br />
Griechenland, Tunesien, Marrakesch, Istanbul, Damaskus,<br />
Moskau und sogar bis nach Tokio.<br />
Sie hatten jahrelang für die britische Bahn als<br />
Bahnhofsmanager und Experte für den Ticketverkauf<br />
gearbeitet, bevor Sie 2001 Ihre Website<br />
gründeten und diese seit 2007 in Vollzeit betreiben.<br />
Wann haben Sie Ihre Liebe zum Zugfahren<br />
entdeckt?<br />
Ach je, das ist schon so lange her, dass ich mich<br />
nicht mehr daran erinnern kann. Schon als 13-Jähriger<br />
habe ich mein Taschengeld gespart, mir für 2,73<br />
Liebesfilm im Zug<br />
Die Landschaft macht wuuusch: Von Chicago nach San Francisco mit dem California Zephyr Train.<br />
Nein, das da auf dem Foto ist nicht Mark Smith. Aber die Strecke, die da am Fenster vorbeifliegt,<br />
ist der kauzige Brite natürlich schon gefahren. Wie beinahe jede Bahnstrecke der Welt, die so schön ist, dass<br />
man nur noch still aus dem Fenster gucken mag. Wohin sollen wir diesen Sommer fahren?<br />
Ein Beratungsgespräch mit dem König der Schiene.<br />
Interview: Inka Schmeling<br />
Pfund ein Zugticket zur Isle of Wight gekauft und bin<br />
einfach losgefahren. Meine Eltern sind vor Sorge fast<br />
verrückt geworden. Bis heute verreise ich am liebsten<br />
mit dem Zug. In ein paar Tagen muss ich auf eine<br />
Geschäftsreise nach Montenegro – da fliege ich doch<br />
nicht mit dem Flugzeug.<br />
Warum nicht?<br />
Weil eine Reise nicht nur ein Ziel hat, sondern auch<br />
den Weg zum Ziel. Und der ist im Zug deutlich bequemer,<br />
romantischer, abenteuerlicher, geschichtsträchtiger,<br />
umweltfreundlicher und oft sogar günstiger<br />
als im Flugzeug. Eine Zugfahrt ist die Chance, mal<br />
dem ganzen Alltagsstress zu entkommen. Im Flieger<br />
oder Auto starrt man bloß seine Uhr an und fragt sich,<br />
wann man endlich da ist. Eine Fahrt im Zug ist bereits<br />
Teil des Urlaubes. Im Zug kann ich schlafen, essen,<br />
aufstehen, mich unterhalten, lesen, die neusten<br />
Folgen von Mad Men auf meinem iPad anschauen<br />
oder einfach nur aus dem Fenster gucken. Ich schaue<br />
meinen Mitreisenden ins Gesicht und nicht bloß auf<br />
den Rücken. Kein Wunder, dass Liebesfilme meist<br />
HOCHSCHUL<br />
ANZEIGER 28<br />
im Zug spielen und Katastrophenfilme im Flugzeug.<br />
Was macht den Zug zu einer guten Kulisse für<br />
Liebesfilme?<br />
Manche Züge haben eine ganz besondere Magie. Als<br />
meine Frau und ich etwa vor zehn Jahren von London<br />
nach Venedig gefahren sind, auf der westlichen<br />
Strecke des alten Orientexpress, habe ich ihr plötzlich<br />
einen Heiratsantrag gemacht. Obwohl ich das vorher<br />
überhaupt nicht geplant hatte.<br />
Sie sind mitten im Zug auf die Knie gefallen?<br />
Wir fuhren gerade über den Brenner von Österreich<br />
nach Italien und saßen im Korridor des Schlafwagens<br />
auf einem unserer Betten. Ich weiß nicht mehr,<br />
wer von uns was gesagt hat, aber plötzlich habe ich<br />
sie gefragt, ob sie meine Frau werden möchte. Diese<br />
besondere Berglandschaft hinterm Fenster muss mich<br />
dazu gebracht haben. So haben wir Innsbruck ledig<br />
verlassen und kamen verlobt in Verona an.<br />
Und seitdem ist die alte Orientstrecke Ihre liebste<br />
Reiseroute?<br />
Nein, ich habe viele Lieblingsrouten. Eine Strecke, die<br />
FOTO: JULIA KNOP/LAIF<br />
ich mindestens einmal im Jahr fahren muss, ist die West Highland<br />
Line von London mit dem Nachtzug hoch nach Fort William: Sie<br />
steigen abends in der Großstadt in den Zug ein und wachen morgens<br />
in den abgeschiedenen schottischen Highlands auf. Das ist die<br />
schönste Bahnstrecke Großbritanniens. Ein paar andere Lieblingsstrecken<br />
von mir sind die Fahrt im California Zephyr von Chicago<br />
nach San Francisco, in der Himalayan Queen von Delhi nach Shimla,<br />
im neuseeländischen Overlander von Auckland nach Wellington und<br />
in der Transsibirischen Eisenbahn von Moskau nach Peking.<br />
Was ist die längste Zugfahrt, die Sie je gemacht haben?<br />
Das war die Reise von London nach Tokio: Zwei Wochen bin ich über<br />
Brüssel, Moskau und Wladiwostok gefahren. Selbst ich kann mich<br />
irgendwann an Birkenwäldern sattsehen, aber die Fahrt war insgesamt<br />
schon sehr beeindruckend. Auf der Fähre nach Japan war ich der<br />
einzige Europäer, da hat der Kapitän jede Ansage vom Russischen<br />
noch einmal ins Englische übersetzt. Nur für mich.<br />
Sind Sie auch in Deutschland schon einmal Zug gefahren?<br />
Oh ja, meine Frau ist Niederländerin und ist nahe der Grenze aufgewachsen,<br />
wir sind oft in Deutschland. Da fahre ich besonders<br />
gern die Strecke durchs Rheintal, über Bonn und Koblenz, vorbei<br />
an der Loreley. Ich weiß, der ICE von Köln nach Frankfurt ist<br />
schneller. Aber für diese Blicke aus dem Fenster nehme ich die<br />
Extrastunde gern in Kauf.<br />
Zumindest in Deutschland ist eine Bahnfahrt manchmal sogar<br />
teurer als ein Flug …<br />
Das stimmt nicht, wenn Sie Ihre Zugfahrt genau so weit im Voraus<br />
planen wie eine Flugreise. Wer sich zwei, drei Monate vorher festlegt<br />
und mit den Tagen etwas flexibel ist, kann auch in Europa sehr günstige<br />
Tickets finden. Die Deutsche Bahn bietet zum Beispiel Tickets von<br />
London aus in jede deutsche Stadt für 59 Euro an. Trotzdem fliegen die<br />
meisten Leute – dabei liegen Deutschland und England so nahe beieinander.<br />
Aber wer in ein Reisebüro geht, bekommt automatisch einen<br />
Flug angeboten, die Informationen zu Zugfahrten muss man sich selbst<br />
mühsam zusammensuchen. Darum habe ich meine Website gegründet:<br />
um den Menschen bei einer anderen Art des Reisens zu helfen.<br />
Auf Ihrer Website tragen Sie und andere Reisende kostenlos Informationen<br />
zu Fahrplänen, Ticketpreisen, Zugausstattung und<br />
Routen in aller Welt zusammen. Wie können Sie davon leben?<br />
Die Anzeigen auf der Seite bringen etwas Geld ein, außerdem habe<br />
ich in England bereits zwei Bücher veröffentlicht und werde hin und<br />
wieder als Gastredner eingeladen. Das reicht, um mir hin und wieder<br />
ein Bier zu kaufen und vor allem weitere Zugtickets.<br />
Welche Zugreisen planen Sie denn noch für die Zukunft?<br />
Sehr viele! Was ich schon seit einiger Zeit vorhabe, ist zum Beispiel<br />
die Fahrt von Peking nach Lhasa. Ich wollte immer schon nach Tibet,<br />
und das scheint der schönste Weg dorthin zu sein. Vermutlich fahre<br />
ich sogar mit dem Zug bis Peking, das habe ich vor einigen Jahren<br />
schon einmal gemacht. Auch eine sehr schöne Fahrt …<br />
Müssen Sie allein fahren, oder kommen Ihre Frau und die beiden<br />
Kinder gern mit?<br />
Zum Glück lieben wir alle das Zugfahren. Die Kinder, mein Sohn ist<br />
sechs und meine Tochter vier Jahre alt, finden vor allem Schlafwagen<br />
immer sehr aufregend. Im Auto würden meine Frau und ich unseren<br />
Kindern den Rücken zuwenden müssen, im Zug können wir bereits<br />
Zeit miteinander verbringen.<br />
Und was nehmen Sie mit, wenn Sie allein in den Zug steigen?<br />
Zwei Dinge habe ich immer im Gepäck: ein gutes Buch. Und einen<br />
Korkenzieher.
KARRIERE<br />
„Meine<br />
Brüste<br />
haben eine<br />
Karriere.<br />
Ich begleite<br />
sie nur.“<br />
PAMELA<br />
ANDERSON, 45<br />
PLAYMATE UND<br />
SCHAUSPIELERIN<br />
Dr. Dietrich Fischer (76) berät seit mehr als 25 Jahren Unternehmen in Personalfragen.<br />
Bei Selecteam ist er als studierter Flugzeugbauer unter anderem für Luftfahrtfirmen zuständig.<br />
Wer Jobs im Flugzeugbau sucht, hat derzeit die Wahl.<br />
Deshalb kann jeder genau den Bereich wählen, der<br />
ihn wirklich interessiert. Dafür muss man verschiedene<br />
Entscheidungen treffen – zum Beispiel, in<br />
welcher Umgebung man lieber arbeiten möchte: am<br />
Bildschirm? Dann ist man im Bereich Forschung und<br />
Entwicklung gut aufgehoben, vorausgesetzt man hat<br />
die richtigen methodischen Kenntnisse. Oder interessiert<br />
man sich eher für Teamarbeit in der Werkshalle?<br />
Dann ist Projektmanagement vielleicht der richtige<br />
Einstieg. Für diesen Bereich sind Fremdsprachen<br />
essenziell – gutes Englisch wird ohnehin vorausgesetzt.<br />
Die Luftfahrt ist sehr international, da leitet man<br />
manchmal Teams mit Leuten in Italien, Frankreich<br />
und Spanien. Am besten zeigt man seine interkulturellen<br />
Fähigkeiten, wenn man schon im Studium mal ein<br />
Jahr im Ausland gelebt hat, dort vielleicht sogar mit<br />
WIE HABEN SIE DAS GEMACHT?<br />
> Erstes Praktikum bei einem Start-up in Berlin 2009<br />
> Zweites Praktikum bei BMW in München 2010<br />
> Studium Wirtschaftsingenieur in Ilmenau 2005–2012<br />
Martin Kahl, 28, erforscht, was bei Auto unfällen<br />
passiert und wie man Schäden am besten beheben<br />
kann – als Projekt ingenieur bei BMW in München.<br />
Ich habe mich schon immer für Autos interessiert. Einen rein technischen Studiengang<br />
wie Maschinenbau konnte ich mir aber nie vorstellen, genauso wenig<br />
ein rein wirtschaftliches Studium. Ich wollte lieber eine Mischung, und da<br />
bin ich bei Wirtschaftsingenieurwesen fündig geworden: die perfekte Kombination<br />
aus technischem Wissen und wirtschaftlichem Verständnis. Ich habe<br />
in Ilmenau und Magdeburg studiert und dazwischen verschiedene Praktika<br />
gemacht, um herauszufinden, worauf ich mich spezialisieren möchte. Zum<br />
Beispiel war ich bei einem Start-up für Brennstoffzellen in Berlin, weil ich<br />
Energiegewinnung spannend finde. Für das Pflichtpraktikum bin ich aber direkt<br />
zu BMW gegangen. Ich habe mich ganz klassisch über die Homepage<br />
beworben, ohne Kontakte. Angefangen habe ich im Werk, aber dann habe ich<br />
durch andere Praktikanten das Forschungs- und Innovationszentrum kennen-<br />
HOCHSCHUL<br />
ANZEIGER 30<br />
HEADHUNTER-TALK<br />
einem Praktikum Erfahrung gesammelt hat. Außerdem<br />
muss man sich als Arbeitnehmer überlegen, bei<br />
welcher Art von Unternehmen man beschäftigt sein<br />
möchte. Heute läuft vieles in der Luftfahrt über sogenannte<br />
Dienstleister-Firmen, die für die großen Hersteller<br />
Entwicklungsarbeiten durchführen oder fertige<br />
Bestandteile zuliefern. Solche Unternehmen bieten<br />
einen leichten Einstieg. Aber es ist schwer, sich hier<br />
als Manager zu qualifizieren, wenn man immer nur<br />
Aufträge abarbeitet wie eine verlängerte Werkbank.<br />
Jemand, der sich für Führungspositionen interessiert,<br />
muss aufpassen, dass er dort nicht hängen bleibt. Außerdem<br />
sollte man ein Gefühl dafür entwickeln, in<br />
welche Rolle bzw. Position man menschlich passt. Es<br />
ist immer wieder verblüffend, wie stark die Einstellungsentscheidung<br />
durch die Chemie zwischen den<br />
Beteiligten bestimmt wird.<br />
gelernt. Das war so spannend, dass ich noch ein zweites, freiwilliges Praktikum<br />
gemacht habe. Meine Diplomarbeit zur Elektromobilität habe ich dann<br />
ebenfalls bei BMW geschrieben. Heute beschäftige ich mich mit Unfallschäden.<br />
Das heißt, ich entwickle mit verschiedenen Teams Lösungen, wie etwas<br />
besonders gut repariert werden könnte. Danach rechne ich die wirtschaftliche<br />
Seite durch. Lohnt sich die neue Lösung? Wie wird sie besonders günstig? So<br />
kann ich richtig einsetzen, was ich im Studium gelernt habe, nämlich eine<br />
Kombination aus Technik und Wirtschaft. Am spannendsten ist der Job dann,<br />
wenn wir Versuche durchführen, also uns Crashs live ansehen. Wie viel schon<br />
bei geringen Geschwindigkeiten kaputt geht, hätte ich früher nie gedacht.<br />
Da sieht man richtig, wozu meine Arbeit gebraucht wird.<br />
PROTOKOLL: FRANZISKA BULBAN<br />
ISTOCKPHOTO, PLAINPICTURE, PRIVAT; ILLUSTRATION: VOLKMAR KURKHAUS<br />
BEWERBUNGSCOACH<br />
Trotz diverser Praktika neben meinem Studium<br />
habe ich bisher keinen Job gefunden,<br />
der mich begeistert. Mache ich etwas falsch?<br />
Muss ich ganz von vorn anfangen?<br />
Viele Menschen stellen sich ihr Leben und ihren Beruf als eine Art Tunnel<br />
vor – man fängt an einem Ende an und kommt am anderen heraus, ganz linear.<br />
Aber so funktioniert das nicht. Das Leben ist eher ein Puzzle: Oft fehlen<br />
zur Zufriedenheit einzelne Bestandteile, deshalb ergibt das Bild im Moment<br />
noch keinen Sinn. Das heißt aber nicht, dass die bereits vorhandenen Teile<br />
falsch sind. Es hat ja einen Grund, dass man ein bestimmtes Studium gewählt<br />
oder bestimmte Praktika gemacht hat. Das Fachwissen und die Erfahrungen,<br />
im Guten wie im Schlechten, kann einem niemand mehr nehmen. Doch der<br />
Grund scheint auf einmal zu fehlen. „Ganz von vorn“ anfangen zu wollen,<br />
heißt oft: Ich muss mein Motiv wiederfinden. Was braucht man also, um das<br />
Ganze „rundzumachen“? Es geht bei der Jobwahl um essenzielle Dinge im<br />
Leben: Was treibt einen an, wofür steht man morgens überhaupt auf? Für<br />
Geld, für Lob vom Chef oder für das Gefühl, gebraucht zu werden? Natürlich<br />
gehören zum Job-Profil auch persönliche Wünsche zu Arbeitsplatzumgebung,<br />
Freizeitangeboten, in welcher Gegend man leben und eine Familie haben<br />
möchte. Ein Job bleibt aber ein Job, und im Idealfall ist es ein Traumjob.<br />
Wichtig ist, dass sich der Job einfügt in eine Lebensvorstellung. Spätestens<br />
mit dem Abschluss von Ausbildung oder Studium beginnt eine neue große<br />
Aufgabe: eine umfassende Lebensgestaltung. Je mutiger und selbstbewusster<br />
man die Regie im eigenen Film übernimmt, desto eher werden viele neue<br />
Bedürfnisse sichtbar. Und Jobs sind nur Bestandteile des Lebens, die dazu<br />
dienen sollten, individuelle Pläne zu verwirklichen.<br />
MARTINA REHBERG-RECHTENBACH<br />
ist Bewerbungscoach mit dem Schwerpunkt Akademikerberatung.<br />
In jeder Ausgabe klärt sie eine der vielen Fragen<br />
auf dem Weg zwischen Annonce und Vorstellungsgespräch.<br />
Noteshelf (iPad) Mit Noteshelf lässt sich das iPad als Kladde<br />
für handschriftliche Notizen und Zeichnungen nutzen. Die<br />
schlichtere Android-Alternative ist Handrite. www.fluidtouch.<br />
biz/noteshelf, play.google.com oder itunes.apple.com<br />
Formulas Lite (Android) Die englische Gratis-App enthält die<br />
wichtigsten Formeln aus Mathematik, Chemie und Physik plus<br />
einen Taschenrechner. Die Alternative für iPhone-Nutzer heißt:<br />
„MatheFormeln“. play.google.com oder itunes.apple.com<br />
BuchenLernen (iPhone, iPad) Die App führt in 42 Kapiteln in<br />
die Geheimnisse der doppelten Buchführung ein. Die ersten<br />
zwölf Kapitel kosten nichts. Wer angefixt ist, muss für den Rest<br />
9,99 Euro zahlen. itunes.apple.com<br />
HOCHSCHUL<br />
ANZEIGER 31<br />
BABYPAUSE<br />
SCHLECHT<br />
FÜR DIE<br />
KARRIERE<br />
Ein Jahr mit dem Baby zu Hause<br />
bleiben – klingt eigentlich nach einer<br />
guten Idee. Allerdings kam bei einer<br />
Umfrage des Familienministeriums<br />
heraus, dass vier von zehn Frauen<br />
ihre Elternzeit im Nachhinein bereuen.<br />
Zwischen Ende Januar und Mitte<br />
Februar wurden knapp 4.000 Mütter<br />
und Väter befragt. 38 Prozent der<br />
Frauen stellten negative Auswirkungen<br />
auf ihre anschließende<br />
Karriere fest, bei den Männern waren<br />
es 28 Prozent. Vor allem Teilzeitkräfte<br />
zeigten sich unzufrieden. Immerhin:<br />
Die generelle Vereinbarkeit<br />
von Beruf und Familie bewerteten die meisten positiv. Vier von fünf Befragten konnten<br />
problemlos Elternzeit in Anspruch nehmen; fast 80 Prozent gaben an, ihre Arbeitszeit<br />
in Absprache mit dem Vorgesetzten flexibel verändern zu können.
HOCHSCHUL<br />
ANZEIGER 32<br />
Als Dirk Modroks Plattenlabel pleiteging,<br />
musste eine neue Idee her. Auf diesem Foto<br />
kann man sie schweben sehen: T-Shirts<br />
mit von ihm designten Aufdrucken.<br />
FOTO: KATRIN BINNER<br />
aus Mainz<br />
Diese Geschichte handelt von Studienabbrechern, einer Frau mit<br />
Burn-out, einem erfolglosen Plattenlabel-Boss und zwei Beinahe-<br />
Millionären. Oder um es anders zu sagen: von fünf Menschen,<br />
die mit einer Sache gescheitert sind – um dann mit einer anderen<br />
glücklich zu werden. Eine Mutmachstory.<br />
Krankenpfleger, Plattenlabel-Boss, T-Shirt-Designer.<br />
Das Leben von Dirk Modrok war bislang keine<br />
gerade Straße, sondern eine mit Serpentinen und<br />
vielen Kurven. Rückblickend ergibt jedoch alles einen<br />
Sinn für ihn. Der Job als Krankenpfleger hat<br />
ihn gelehrt, dass er nicht bloß Dienstleister sein<br />
will – und für seine Arbeit angemessen bezahlt werden<br />
will. Und die sechs Jahre als Chef des Plattenlabels<br />
„My Favourite Toy“, dass man nur mit einer<br />
Sache erfolgreich sein kann, wenn man wirklich<br />
hinter ihr steht – und das Geschäftsmodell zeitgemäß<br />
ist. „Ab 2003 brachen meine CD-Verkäufe dramatisch<br />
ein, weil immer mehr Leute damit angefangen<br />
haben, Musik im Inter<strong>net</strong> herunterzuladen“,<br />
erzählt Dirk. Er musste finanzielle Engpässe mit<br />
privaten Ersparnissen überbrücken und konnte nur<br />
noch Musiker unter Vertrag nehmen, die hohe Einkünfte<br />
versprachen. „Plötzlich ging es nicht mehr<br />
darum, Bands zu unterstützen, die ich mag, sondern<br />
nur noch um Geld. Das ist der größte Fehler,<br />
den man machen kann, denn so verliert man den<br />
Spaß an seiner Arbeit.“ Anfangs hatte er nur kleine<br />
Plattenläden beliefert und an jeder CD gut verdient.<br />
Als er den Verkauf jedoch einem großen Vertrieb<br />
übergab, in der Hoffnung, größere Mengen<br />
abzusetzen, verdiente er kaum noch etwas pro CD.<br />
„Das war ein Fehler, denn wenn man nicht gerade<br />
einen Megaseller unter Vertrag hat, wird man so<br />
nicht reich“, erzählt Dirk. Frustriert musste er 2007<br />
sein Label aufgeben, und er fing an, T-Shirts für<br />
Bands und Firmen zu bedrucken. „So konnte ich<br />
mich über Wasser halten, war aber trotzdem unzu-<br />
SCHEITERN<br />
FÜR PROFIS<br />
HOCHSCHUL<br />
ANZEIGER 33<br />
PROTOKOLLE UND INTERVIEW: AILEEN TIEDEMANN<br />
frieden, weil ich nur für andere gearbeitet habe. Dabei<br />
wollte ich unbedingt etwas Eigenes machen.“<br />
Der Wendepunkt kam, als Dirk merkte, dass sich<br />
auch T-Shirts gut verkauften, die er mit eigenen<br />
Designs gestaltet hatte. Unter dem Namen ilovemixtapes<br />
hatte er sich bei DaWanda, dem Online-<br />
Portal für Selbstgemachtes, angemeldet und gleich<br />
am ersten Tag sechs Shirts verkauft. „Nach einem<br />
halben Jahr konnte ich von meinem Online-Shop<br />
leben“, so Dirk. „Das wäre mir ohne die Erfahrung<br />
mit meinem Plattenlabel nie gelungen, die wie eine<br />
Ausbildung für mich war. Wenn man sechs Jahre<br />
lang erlebt hat, wie es schlecht läuft, dann weiß<br />
man, welche Fehler man nicht noch mal machen<br />
darf.“ Kein privates Geld investieren, wenn es sich<br />
nicht mehr lohnt. Nicht mit Leuten zusammenarbeiten,<br />
denen man nicht vertraut. Und nur noch<br />
Ideen verwirklichen, hinter denen man wirklich<br />
steht. „Wenn man nur den kleinsten Zweifel an etwas<br />
hat, sollte man es sein lassen“, sagt Dirk, der<br />
heute gern die Kontrolle über alle Geschäftsbereiche<br />
behält. Er entwirft und bedruckt alle T-Shirts<br />
selbst, organisiert den Versand, ordert neue Stoffe<br />
und wirbt auf Messen für sein Label. „Es ist viel Arbeit,<br />
aber ich tue es gern, weil es um meine eigenen<br />
Ideen geht. Wenn man merkt, dass sie gut ankommen,<br />
dann ist das die beste Motivation überhaupt.“
FOTO: SANDRA STEIN<br />
Nach dem Abi wollte Stefanie Stecklina gern Krankenschwester<br />
werden, doch ihre Mutter hatte andere<br />
Pläne für sie. Als Akademikerin wünschte sie<br />
sich, dass ihre Tochter an der Uni studiert, was Stefanie<br />
dann auch tat. Sie schrieb sich für Jura ein,<br />
war eine gute Studentin, aber merkte schon bei ihrem<br />
ersten Praktikum, dass das Studium die falsche<br />
Entscheidung war. „Ich habe miterlebt, wie<br />
der Richter einen obdachlosen Angeklagten mit<br />
lauter Fremdwörtern bombardiert hat und wütend<br />
wurde, weil er ihm nicht geantwortet hat. Dabei hat<br />
der Mann ihn einfach nicht verstanden. Das fand<br />
ich unmenschlich.“ Je länger das Studium dauerte,<br />
desto weniger sah sie eine Perspektive für sich.<br />
Eine Freundin merkte, wie unglücklich Stefanie<br />
war, und riet ihr, es doch einmal mit einer Bewerbung<br />
als Krankenschwester zu probieren. Als sie<br />
kurz darauf am Diakonie-Krankenhaus Martha-<br />
Maria in Halle angenommen wurde, brach sie ihr<br />
Studium im sechsten Semester ab. „Ich hab gelernt,<br />
dass es besser ist, das zu tun, was man gern<br />
will. Egal was die anderen denken.“ Es sei ein gutes<br />
Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun und davon leben zu<br />
können. Geld sei nicht entscheidend. „Als ich zehn<br />
war, bin ich mit meiner Familie nach Gambia ausgewandert,<br />
wo sich meine Eltern dann getrennt haben.<br />
Es fehlte ständig an Geld. Ich weiß, wie es ist,<br />
wenn man ohne Strom lebt und nicht viel zu essen<br />
hat. Diese Erfahrung ist maßgebend dafür, dass ich<br />
im Leben auch mal zurückstecken kann.“ Heute<br />
steht sie gern morgens um 4.50 Uhr auf, um zur Arbeit<br />
zu gehen. „Der Job ist schwer, aber er baut<br />
auch auf“, meint Stefanie. „Ich mag es, wenn einem<br />
die Leute dankbar sind. Einfach mal eine Hand<br />
halten und jemandem über die Schulter streichen.<br />
Das macht mich glücklich.“<br />
HOCHSCHUL<br />
ANZEIGER 34<br />
aus Köln<br />
Scheitern? Das war lange Zeit keine Option für Tamara Wimalasena. Auf dem<br />
Gymnasium war sie eine hervorragende Schülerin, sodass sie nicht begreifen<br />
konnte, warum ihr das Theologiestudium einfach nicht gelingen wollte. „Egal<br />
wie sehr ich mich angestrengt habe: Ich habe ständig schlechte Noten bekommen“,<br />
erinnert sich die 28-Jährige. „Binnen zweier Jahre sollte ich Althebräisch<br />
und Altgriechisch lernen. Das war die totale Überforderung.“ Vor allem<br />
aber fehlte ihr eine Perspektive für die Zukunft. „Nach dem Abi wusste ich<br />
nicht, was ich werden wollte. Für Theologie habe ich mich entschieden, weil ich<br />
seelsorgerlich arbeiten wollte.“ Dieser Aspekt war jedoch nur ein kleiner Teil<br />
des Studiums an der Freien Theologischen Hochschule in Gießen, bei dem sich<br />
fast alles um Theorie und Sprachen drehte. Schon nach einem Jahr merkte Tamara,<br />
dass sie nicht mehr konnte, aber der Gedanke „Du hast das angefangen,<br />
jetzt musst du es zu Ende führen“ war stärker. Im vierten Semester hatte sie ein<br />
Burn-out und lag wie regungslos im Bett. „Das war der Punkt, an dem ich wusste,<br />
dass es so nicht weitergeht“, so Tamara. Sie schmiss das Studium. „Ich hatte<br />
kein Selbstvertrauen mehr und das Gefühl, im Vergleich zu meinen Freunden<br />
nichts erreicht zu haben.“ Ihre Rettung war ein freiwilliges soziales Jahr beim<br />
Roten Kreuz in ihrer Heimatstadt Köln. Sie gab dort Erste-Hilfe-Kurse für Kinder<br />
in Grundschulen und entwickelte zusammen mit einem Kollegen das Programm<br />
weiter. „Das war die kreative Betätigungsmöglichkeit, die mir immer<br />
gefehlt hatte“, meint Tamara. „Ich habe festgestellt, dass es anscheinend etwas<br />
gibt, was ich wirklich gut kann. Vielleicht könnte Unterrichten das sein, was<br />
ich kann und machen will.“ Und so entschied sie sich, ein Lehramtsstudium<br />
aufzunehmen, obwohl der Gedanke an die Uni sie quälte. „Es war, als würde ich<br />
den Himmel gegen die Hölle austauschen.“ Dass sie es trotzdem gewagt hat,<br />
hat sich ausgezahlt: Im Mai beginnt sie nach vier Jahren Regelstudienzeit ihr<br />
Referendariat an einer Schule.<br />
aus Halle<br />
FOTO: DANIEL WEISSER<br />
HOCHSCHUL<br />
ANZEIGER 35<br />
aus Berlin<br />
Wie oft sagt man: Man müsste mal, man könnte mal …? Yvonne<br />
Feller und Florian Flechsig haben es einfach getan. Sie haben<br />
versucht, innerhalb eines Jahres Millionär zu werden. Mit<br />
möglichst einfachen Mitteln und ohne großes Vorwissen. Im<br />
Wettstreit miteinander wie in einer Castingshow: Wer zuerst<br />
Millionär ist, hat gewonnen. Weil sie ein Thema für ihre Diplomarbeit<br />
in Visueller Kommunikation an der Universität der<br />
Künste in Berlin brauchten und weil sie sehen wollten, welche<br />
Chancen das Leben bereithält, wenn man sich einfach hineinstürzt.<br />
„An der Uni geht es ja nicht sehr spontan zu“, sagt<br />
Yvonne. „Da muss man immer erst ein Konzept machen und<br />
alles hinterfragen, bevor man mit einem Projekt beginnt. Wir<br />
hingegen fanden es toll, einfach mal etwas auszuprobieren,<br />
ohne groß darüber nachzudenken.“ Und so kam es, dass Florian<br />
mit Aktien handelte und als Eisbär Knut verkleidet in der<br />
Berliner U-Bahn mit Passagieren für Fotos posierte, während<br />
Yvonne ein T-Shirt-Label gründete und ein Charthit-Seminar<br />
besuchte, um zu lernen, wie man einen Top-Ten-Hit schreibt.<br />
„Das Ergebnis war, dass mein Song einmal im Hintergrund in<br />
der Sendung ‚Frauentausch‘ lief und ich keinen Cent damit verdient<br />
habe.“ Trotzdem habe es sich gelohnt: „Ich weiß, dass ich<br />
nicht zum Musikmachen geboren bin und nicht gern vor großem<br />
Publikum auftrete.“ Scheitern war ein Hauptbestandteil<br />
des Experimentes, an dessen Ende Yvonne und Florian zusammen<br />
nicht mehr als 3.000 Euro auf dem Konto, aber ihr Diplom<br />
in der Tasche hatten. Ihr Ziel hatten die beiden verfehlt, dafür<br />
ergab sich plötzlich eine ungeahnte Chance für die beiden.<br />
Eine Agentur fragte, ob sie nicht ein Buch über ihr Projekt<br />
schreiben wollten. Dieses erschien ein Jahr später unter dem<br />
Titel „Wir sind jung und brauchen das Geld“. Ihr „Protokoll des<br />
Scheiterns“ machte sie zwar nicht reich, zeigte ihnen aber vor<br />
allem eines: wie gut sie beide zusammenarbeiten können. Heute<br />
betreiben sie gemeinsam das „Büro des Präsidenten“, ein<br />
Büro für Kommunikationsdesign in Berlin. Sie zehren noch immer<br />
von ihrem Experiment. „In unserem Beruf müssen wir uns<br />
bei jedem Auftrag etwas Neuem stellen. Da hilft es, dass wir<br />
schon so viel ausprobiert und dabei auch einige Niederlagen<br />
erlebt haben.“<br />
FOTO: URBAN ZINTEL
K A T J A K A S T E N<br />
MONDMISSION<br />
MIT STAHL-<br />
SCHIMPANSEN<br />
Der Informatiker Daniel Kühn baut<br />
einen Roboter-Affen, der irgendwann<br />
mit einem Team von Astronauten<br />
in den Weltraum reisen soll.<br />
Ein Besuch am Kraterrand.<br />
FOTO: MICHAEL JUNGBLUT<br />
Der Schöpfer und sein Schoßtier:<br />
In einer künstlichen Mondlandschaft testet<br />
Daniel Kühn seinen Roboter namens iStruct.<br />
Auf einmal steht er vor dem Sofa des Besucherraumes und entschuldigt<br />
sich für die Verspätung. Breite Schultern, dunkelhaarig, mit festem Händedruck.<br />
Jeans, brauner Strickpulli und Turnschuhe. Das ist also Daniel<br />
Kühn, der 32-jährige Robotik-Forscher aus Bremen, der auf den ersten<br />
Blick so gar nicht dem Klischee des eigenbrötlerischen Computer-Nerds<br />
entspricht. Seit 2007 forscht er für das Robotics Innovation Center, das<br />
zum Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz gehört und<br />
das mit der European Space Agency (ESA) und dem Deutschen Zentrum für<br />
Luft- und Raumfahrt (DLR) zusammenarbeitet. Kühn ist Informatiker und<br />
Projektleiter. Mit seinem Team aus Mechatronikern, Bionikern, Konstrukteuren<br />
und Physikern entwickelt er einen Prototyp, einen Roboter namens<br />
iStruct, eine affenähnliche Maschine, die irgendwann mal über den Mond<br />
laufen soll. Wann? „Das dauert noch.“ Kühn ist einer, der vorsichtig ist,<br />
der genau überlegt, was er sagt. Einer, der sich nicht festnageln lassen will.<br />
Die Besucherecke mit ihrem blauem Teppichboden und der großen Yucca-<br />
Palme liegt im ersten Stock eines Rotklinkergebäudes im Firmenpark der<br />
Uni Bremen. Auf dem Ecktisch steht ein Schachspiel. Kühn setzt sich auf<br />
das Sofa.<br />
Was fasziniert Sie daran, mit Robotern zu arbeiten?<br />
Daniel Kühn: Es gibt keinen besseren Moment als den, wenn dein Roboter<br />
das erste Mal das Bein bewegt oder besser noch: durch den Raum läuft. Das<br />
ist einfach klasse.<br />
Aber das reicht doch wahrscheinlich nicht aus. Woran forschen Sie am<br />
Robotics Innovation Center genau?<br />
Wir entwerfen und programmieren Roboter, die sich in extremen Umgebungen<br />
wie im Weltall oder in der Tiefsee bewegen sollen. Also an Orten,<br />
die für den Menschen gefährlich werden können. Die Roboter sollen zum<br />
Beispiel im Weltraum knifflige Arbeiten ausführen, wie in eine Kraterspalte<br />
klettern und nach Wasser suchen. Sie sollen Gesteinsproben entnehmen<br />
oder Rohstoffe finden, die dann zur Erde zurücktransportiert werden. Ideal<br />
wäre es, wenn das Weltraumteam den Roboter von der Station auf der<br />
Mondoberfläche aus lenken, ihm Befehle geben könnte. Vorstellbar ist eine<br />
Mannschaft, die jeweils zur Hälfte aus Menschen und aus Robotern besteht.<br />
Mit so einem gemischten Team könnte man immense Kosten sparen.<br />
Sie nennen ihn den Weißen Raum. Mit einem Sicherheitsschlüssel öff<strong>net</strong><br />
Daniel Kühn die Tür zum Forschungslabor. Sein Arbeitsplatz ist ein hoher<br />
Raum mit fünf PCs. In der Mitte hängt iStruct in einer Vorrichtung. „In<br />
dieser Position können wir besser an ihm experimentieren“, sagt Kühn.<br />
Nur der Kopf des Roboters hat eine Verkleidung, sonst ist er nackt, man<br />
sieht die Platinen, die Kabel, Sensoren, die Wirbelsäulenkonstruktion, die<br />
ganze Elektronik, die in ihm steckt und die Kühn mit ausgetüftelt hat. Felix<br />
Bernhard stellt sich vor. Der 36-Jährige gehört seit zwei Jahren zum<br />
Unternehmen. Bernhard hat Bionik studiert, eine Wissenschaft, die sich<br />
damit beschäftigt, Prinzipien aus der Natur auf die Technik zu übertragen.<br />
Bernhard hat monatelang am iStruct-Fuß gesessen, hat Tierfilme und<br />
Bücher studiert, hat den menschlichen Fuß untersucht und dann einen mit<br />
zwei Zehen entwickelt, einen, der einen festen Kontakt zum Boden herstellt.<br />
Was kann Ihr Roboter besonders gut?<br />
iStruct ist ein vierbeiniges Laufsystem, das sich wie ein Schimpanse bewegt.<br />
Die Größenverhältnisse, also Wirbelsäule, Vorderarme, Beine sind<br />
identisch. Er wiegt 22 Kilogramm, so viel wie ein zierlicher Affe. Diese<br />
Konstruktion macht ihn in seinen Bewegungen unheimlich flexibel. Dieser<br />
Forschungsroboter hat viele Vorteile gegenüber starren Systemen. Erstens<br />
hat iStruct diese besonderen Füße, die mit je 49 Drucksensoren ausgestattet<br />
sind und mit denen er nicht so leicht rutscht. Dann haben wir ihn mit der<br />
aktiven Wirbelsäule ausgestattet, die er krümmen kann. Gute Voraussetzungen<br />
für Einsätze auf dem Mond mit steinigen Böden, Sand und Hängen.<br />
Aber um dort wirklich nützlich zu sein, müssten wir ihn noch weiter<br />
programmieren, sodass er nach Befehlen handelt, wie: „Gehe zu einem<br />
bestimmten Punkt!“, „Starte die Messreihe!“<br />
Sie sagen, so ein Roboter entsteht im Team. Wie kann ich mir das vorstellen?<br />
Wer hat das Sagen?<br />
Ich hatte schon die grundlegende Idee für den Roboter. Als ich dann einen<br />
Auftraggeber für iStruct gefunden habe, habe ich mir ein Team zusammengestellt.<br />
Die Konstrukteure kümmerten sich um das Design, bauten die<br />
einzelnen Bauteile des Roboters zusammen. Zeitgleich arbeitete das Softwareteam<br />
an den ersten Bewegungen, programmierte den Roboter also.<br />
Wir entwickeln die ganze Zeit Algorithmen, also Handlungsvorschriften,<br />
und simulieren am Computer. Als Projektleiter bin ich derjenige, der den<br />
Überblick behalten muss. Ich gebe die Richtung an. Im August will ich den<br />
Roboter dem Auftraggeber präsentieren.<br />
Dann erweckt Kühn iStruct zum Leben. Dafür tragen die Forscher den<br />
Roboter in den Nebenraum in eine fast 300 Quadratmeter große und neun<br />
Meter hohe Halle. Als Vorlage für die künstliche Mondkraterlandschaft<br />
dienten Aufnahmen der Apollo-16-Mission. Der Raum ist das Trainingsgelände<br />
für alle Roboter, die in Bremen entwickelt werden; hier entscheidet<br />
sich, wie gut sie sind, ob sie mit dem steinigen Boden, den scharfen Kanten<br />
klarkommen. Kühn setzt sich an seinen Computer. Er schaltet den Strom an,<br />
startet das System, sucht die Verbindung über das WLAN. iStructs Motoren<br />
brummen. Dann bewegt der Roboter die Füße. Zeit, ihn aus der Halterung<br />
zu befreien und auf den Rand der 45 Grad steilen Kraterlandschaft zu<br />
setzen. Der ist mit Regolith-Sand, dem Oberflächenmaterial des Mondes,<br />
das aus Stein und Staub besteht, aufgeschüttet. Noch sind seine Schritte<br />
unsicher, und Felix Bernhard muss ihn stützen. Doch dann, nach ein paar<br />
Mausklicks, bewegt sich der Roboter immer geschickter, wie ein Schimpanse<br />
im Knöchelgang, der so heißt, weil er sich mit den langen Armen<br />
auf die Rückseite der Fingerglieder stützt. Tier und Maschine ähneln sich<br />
verblüffend. Kühn lässt den iStruct immer schneller laufen. Der Test ist<br />
geglückt – an diesem Tag. Die Forscher sind zufrieden.<br />
Herr Kühn, warum sind Sie Roboter-Forscher geworden?<br />
Also, ich kann jetzt nicht mit einem Lieblingsroboter aus dem Kino dienen,<br />
den ich immer schon nachbauen wollte. Ich habe ganz brav sechs Jahre lang<br />
Informatik in Bremen studiert und programmieren gelernt. In der Zeit wurde<br />
der Schwerpunkt Robotik aufgebaut, den ich sofort gewählt habe. Technik<br />
hat mich zwar immer schon interessiert, und ich habe auch mal eine Alarmanlage<br />
selbst gebastelt, aber Roboter, die waren neu für mich und vielleicht<br />
deshalb so spannend. Im Robotik-Schwerpunkt habe ich dann viel über die<br />
technische Informatik, das heißt Hardwareprogrammierung, Elektronik und<br />
Steuerungsprinzipien, mitbekommen. Als ich mein Studium beendet hatte,<br />
habe ich dann hier nach dem Trainee-Programm gleich einen Job bekommen.<br />
Seitdem leite ich Projekte und baue Roboter.<br />
Am iStruct arbeiten ja auch Studierende mit. Was machen die genau?<br />
Sie unterstützen uns. In meiner Gruppe gibt es fünf Studierende, die sieben<br />
bis zehn Stunden die Woche mitarbeiten. Sie kommen aus der Bionik,<br />
dem Maschinenbau, der Mechatronik und der Informatik. Ich setzte sie<br />
nach Fachrichtung und Können ein. Die Studierenden konstruieren einfache<br />
Bauteile für den Roboter, reparieren defekte Komponenten, lesen<br />
Sensoren aus und schreiben Software für die Benutzeroberfläche. Es gibt<br />
hier aber auch ein betreutes studentisches Projekt, bei dem Zielsetzung und<br />
Anwendungsfall vorgegeben sind. Die Studierenden können sich dann ausprobieren<br />
und Teile vom Roboter und der Software im Team entwickeln.<br />
Und was wäre, wenn ein Studierender auf Sie zukommt, weil er einen<br />
eigenen Roboter bauen will?<br />
Ich würde ihn nach der Idee und dem Ziel fragen. Wie soll der Roboter<br />
genau aussehen? Wo will er den Roboter einsetzen? Aber bislang hat noch<br />
keiner gefragt.
21 FAKTEN ÜBER<br />
INGENIEURE<br />
Sie bauen Tennisschläger und Haubitzen. Und alle sagen, es gäbe viel zu wenige<br />
von ihnen. Willkommen in der Welt der Ingenieure. Von Raimund Witkop<br />
Wer hat’s erfunden? Wie aus dem Gefrickel neugieriger<br />
Ingenieure Weltkonzerne werden, verrät diese Liste:<br />
Bauknecht, Bosch, Braun, Linde, Sachs, Siemens – die Gründer<br />
waren allesamt Ingenieure, die aus ihren Erfindungen<br />
Unternehmen gemacht haben. Eine beispielhafte Biografie:<br />
Carl von Linde war eines von neun Kindern aus einem<br />
Pfarrhaus in Kempten/Allgäu. Der Pionier der Kältetechnik<br />
verdankte seinen Durchbruch dem Brauereiwesen,<br />
das dringend Kühlung brauchte. Heute ist die Linde AG<br />
ein Weltkonzern. (Auch bei Automarken steckt fast hinter<br />
jedem Namen der Ingenieur, mit dem es begann.)<br />
KEIN<br />
BISSCHEN<br />
SCHWÖR<br />
Der Spruch „Dem Ingeniör ist nichts zu<br />
schwör“ geht auf das „Ingenieurlied“<br />
(1871) von Heinrich Seidel zurück,<br />
einem dichtenden Maschinenbauer.<br />
Dort heißt es: „Dem Ingenieur ist nichts<br />
zu schwere / Er lacht und spricht: Wenn<br />
dieses nicht, so geht doch das!“ Die<br />
leicht spöttische Abwandlung „schwör“<br />
stammt von der Micky-Maus-Übersetzerin<br />
Erika Fuchs, die es zum Motto<br />
von Daniel Düsentrieb machte.<br />
Zahlenspiele Der Verein Deutscher<br />
Ingenieure (VDI) rech<strong>net</strong><br />
mit 1,62 Millionen ausgebildeten<br />
und beschäftigten Ingenieuren in<br />
Deutschland. Laut Statistik der Bundesagentur<br />
für Arbeit (BA) sind es nur<br />
700.000. Der wichtigste Grund, für<br />
den Berufsstand erfreulich: Viele Ingenieure<br />
steigen ins Management auf<br />
und werden vom VDI weiter gezählt,<br />
bei der BA aber anders verbucht.<br />
HOCHSCHUL<br />
ANZEIGER 38<br />
Fortschritt, ganz langsam<br />
Es klingt auf Anhieb beeindruckend:<br />
Im Vergleich zu<br />
2005 sind 30 Prozent mehr<br />
Frauen von Beruf Ingenieurin.<br />
Die Steigerung beruht<br />
aber auf einer niedrigen<br />
Basis, der Frauenanteil liegt<br />
inzwischen bei 16,5 Prozent.<br />
Da es unter den Absolventen<br />
schon seit Jahren mehr als<br />
20 Prozent sind, wird der<br />
weibliche Anteil weiter –<br />
jedoch langsam – steigen.<br />
Damit muss man rechnen: Fast die Hälfte aller Studienanfänger<br />
der Ingenieurwissenschaften an den<br />
Universitäten und ein Drittel der FH-Studienanfänger<br />
brechen ihr Studium ab. Häufigster Grund: Scheitern<br />
an der Mathematik.<br />
Ingenieure überall Die Ausbreitung und Verzweigung des<br />
Faches schreitet enorm voran. Das Statistische Bundesamt führt<br />
in den Ingenieurwissenschaften allein 50 Fächer; niemand hat<br />
sich bisher getraut, die Unterverästelungen zu zählen. Bekannt<br />
ist aber die Zahl der Studiengänge: Beim Bachelor hat sie sich<br />
seit 2005 verfünffacht. Im Sommersemester 2012 gab es 1.678<br />
Bachelor- und 1.264 Master-Studiengänge (Kompass der Hochschulrektorenkonferenz).<br />
EIN BOMBEN-JOB<br />
Das lateinische „ingenium“ bezeich<strong>net</strong> zugleich<br />
natürliche Begabung und Erfindungskraft. Die Ableitung<br />
„Ingenieur“ bezog sich vom Mittelalter bis ins<br />
18. Jahrhundert ausschließlich auf die Kriegstechnik,<br />
Ingenieure bauten Kanonen und Festungen. Die erste<br />
Ingenieurschule entstand 1736 in Wien.<br />
FOTOS: THINKSTOCK (2), ©DISNEY
Mein Ex bekommt das Dach der Welt Der britische<br />
Offizier und Geodät (Vermessungsingenieur)<br />
George Everest verdankt die Unsterblichkeit seines<br />
Namens der charmanten Idee seines Nachfolgers<br />
als Leiter der „Großen Trigonometrischen Vermessung“<br />
Indiens. Andrew Scott Waugh schlug vor, dem<br />
wackeren Everest zu Ehren den höchsten Berg der<br />
Welt nach ihm zu benennen. Beim zweithöchsten<br />
Berg waren die Briten weniger sentimental, er heißt<br />
bis heute – einfach nach Liste – „K2“.<br />
STUDIUM MIT SÄGE EINER DER JÜNGSTEN<br />
ZWEIGE HEISST HOLZTECHNIK (MASTER AN<br />
DER FH EBERSWALDE) UND WIRD SO ANGE-<br />
PRIESEN: AM ENDE HABE MAN DEN „WEG<br />
FREIGEB<strong>OH</strong>RT“, UM „SEIN EIGENES SPRUNG-<br />
BRETT FÜR EINE FÜHRUNGSPOSITION<br />
ZU SÄGEN“. WER BEHAUPTET, INGENIEURE<br />
HÄTTEN KEINEN HUMOR?<br />
Wir brauchen mehr Ingenieure! (Wirklich?) Beim heißen Thema Ingenieurmangel heißt<br />
es: aufgepasst mit Lesegewohnheiten. Der erste Satz der zur Hannover-Messe aktualisierten Branchen-<br />
Studie des VDI lautet 2013 so: „Die Situation auf dem Arbeitsmarkt für Ingenieure hat sich im letzten Jahr<br />
erstmals seit Jahren entspannt.“ Gemeint ist nicht etwa – wie es bei nahezu jeder anderen Berufsgruppe<br />
selbstverständlich wäre –, dass es genug Arbeitsplätze gibt. Sondern, dass der Fachkräftemangel sich<br />
endlich abgeschwächt habe. Das ist ein beliebtes Streitthema. VDI und Wirtschaft warnen Jahr für Jahr, das<br />
Fehlen von Fachkräften würde den einstigen „Exportweltmeister“ Deutschland weiter schwächen. Der VDI<br />
beruft sich auf die Arbeitsmarktstatistik: Im Februar 2013 gab es in den Ingenieurberufen 69.600 offene<br />
Stellen gegenüber 26.045 Arbeitslosen. Kritiker entgegnen, der industrienahe VDI wolle Unternehmen<br />
eine komfortable Position mit viel Auswahl und wenig Gehaltsdruck verschaffen. Eine heftig umstrittene<br />
Studie des Deutschen Institutes für Wirtschaftsforschung (DIW) zog 2011 einen Mangel in Zweifel und beschwor<br />
sogar eine Ingenieurschwemme herauf. Tatsache ist, dass ein Run auf Ingenieurfächer eingesetzt<br />
hat. Nach dem Tiefpunkt mit rund 33.000 Studienabschlüssen 2004 werden derzeit jährlich rund 50.000<br />
Abschlüsse gefeiert. 2011 gab es mit knapp 116.000 Studienanfängern einen absoluten Rekordwert,<br />
2012 waren es gut 106.000.<br />
Wer darf vorn sitzen? Eine alte Streitfrage lautet:<br />
Sind Ingenieure oder Kaufleute die besseren Auto-<br />
Manager? Ferdinand Piëch (Porsche, VW, Maschinenbau<br />
an der ETH Zürich) sagt gern: Ingenieur ist Pflicht,<br />
der Rest ergibt sich von selbst. Norbert Reit hofer (Maschinenbau<br />
und Fertigungs technik an der TU München)<br />
sagt dazu: „Trotzdem bin ich froh, beispielsweise<br />
mit Friedrich Eichiner einen Kaufmann als<br />
Finanzvorstand neben mir zu haben. Alles können<br />
auch Ingenieure nicht.“<br />
Gekommen, um zu bleiben<br />
Ingenieure bleiben gern, wo sie<br />
sind: Nur 4,3 Prozent haben in<br />
den letzten zwölf Monaten den<br />
Job gewechselt, gegenüber 5,1<br />
Prozent aller Akademiker und<br />
6 Prozent aller Erwerbstätigen.<br />
Show für den Pharao Als erster<br />
namentlich bekannter Ingenieur<br />
der Weltgeschichte (abgesehen<br />
von religiösen oder mythischen<br />
Erschaffer-Figuren) gilt Imhotep:<br />
Der Ägypter baute um 2700 v. Chr.<br />
die ersten Pyramiden und erwarb<br />
sich gottähnlichen Status.<br />
DIE SIEGER-FORMEL UM DIE INNOVATIONSFÄHIG-<br />
KEIT DER BUNDESLÄNDER VERGLEICHEN ZU KÖN-<br />
NEN, MULTIPLIZIEREN DIE STATISTIKER DIE ZAHL<br />
DER INGENIEURE MIT DEN AUSGABEN FÜR FOR-<br />
SCHUNG UND ENTWICKLUNG (JEWEILS BEZOGEN<br />
AUF DIE BEVÖLKERUNGSZAHL). IN DIESER RANGLIS-<br />
TE LIEGT BADEN-WÜRTTEMBERG WEIT VORN (239<br />
PROZENT, AUF DEN BUNDESDURCHSCHNITT 100<br />
NORMIERT), GEFOLGT VON HESSEN (157). SCHLUSS-<br />
LICHT IST SACHSEN-ANHALT (15 PROZENT). EXPER-<br />
TEN SEHEN BESORGT EINEN „BRAINDRAIN“ DER IN-<br />
GENIEURE IN DEN SÜDEN DEUTSCHLANDS.<br />
Her mit dem Geld<br />
Das höchste Einstiegseinkommen der Ingenieursfächer<br />
erzielen Elektrotechniker (Diplom<br />
FH): Sie bekommen rund ein Jahr nach dem<br />
Examen im Schnitt 42.650 Euro. Zum Vergleich:<br />
Der Durchschnitt aller Uni-Absolventen<br />
wird mit 25.600 Euro angegeben (darunter<br />
sind viele Teilzeitstellen, was bei Ingenieuren<br />
kaum vorkommt). Das standardisierte Brutto-<br />
Monatsgehalt aller Ingenieursfachrichtungen<br />
lag 2011 bei 4.380 Euro.<br />
Helikopter, Baujahr 1490 Der Grieche Archimedes („Heureka!“) hatte nicht nur bahnbrechende<br />
Erkenntnisse in der Badewanne, sondern war auch ein fähiger Ingenieur: Schraube, Winden,<br />
allerlei Kriegsgerät. Die Berufsbezeichnung „Ingenieur“ trug auch das Universalgenie Leonardo<br />
da Vinci, jedenfalls bewarb er sich mit seinen Künsten beim Entwickeln von Waffen am Hof der<br />
Sforza in Mailand. Berühmt sind seine vor 1490 entstandenen Entwurfsskizzen für Hubschrauber.<br />
HOCHSCHUL<br />
ANZEIGER 40<br />
FOTOS: THINKSTOCK (2), ISTOCKPHOTO, PORSCHE
ZUG UM ZUG<br />
Im Juli 1851 wurden in Payerbach bei Wien<br />
vier gewaltige Lokomotiven unter Dampf<br />
gesetzt – Höhepunkt eines Ingenieurwettbewerbs,<br />
um die erste echte Gebirgsstrecke<br />
(25 Promille Steigung) am Semmering zu<br />
bewältigen. Bei von Maffeis „Bavaria“<br />
in München hielten die Ketten des Antriebs<br />
nur einige Tage. Die „Seraing“ von<br />
Cockerill aus Belgien litt an undichten<br />
Dampfleitungen wegen der beweglichen<br />
Fahrgestelle, ebenso die „Neustadt“ aus<br />
der Wiener Neustadt. Die „Vindobona“ aus<br />
Wien schließlich war zu schwach und hatte<br />
zu kleine Räder. Alle wurden verschrottet.<br />
Der Ingenieur Wilhelm von Engerth konstruierte<br />
aus Elementen aller vier Teilnehmer<br />
eine praxis taugliche Berg-Lok.<br />
ALTER FINNE! DIE MIT ABSTAND<br />
HÖCHSTE „INGENIEURDICHTE“ IN EU-<br />
ROPA HAT FINNLAND: DORT KOMMEN<br />
63,4 INGENIEURE AUF 1.000 ERWERBS-<br />
TÄTIGE. DEUTSCHLAND HAT 33,7 (OBE-<br />
RES MITTELFELD), ITALIEN NUR 17,4.<br />
Fahrstuhl in die Chefetage 140.000 (8,7 Prozent) der Ingenieure haben eine Position<br />
im Management. 40 Prozent der Vor stände in DAX-Unternehmen besitzen einen<br />
technisch-naturwissenschaftlichen Abschluss.<br />
Boing, bumm, tschack<br />
Man kann nur erahnen,<br />
wie viele künftige Ingenieurskarrieren<br />
seit 1903<br />
durch einen Besuch des<br />
Deutschen Museums<br />
in München bei Kindern<br />
angestoßen wurden. Die<br />
Idee, dass auf Knopfdruck<br />
etwas Technisches ins<br />
Rollen, Surren und Rotieren<br />
kommt, geht auf den<br />
Gründer Oskar von Miller<br />
zurück, ebenso wie ein Kalauer,<br />
der jeden Besucher<br />
empfängt: „In diesem<br />
Haus darf jeder machen,<br />
was ich will.“<br />
HOCHSCHUL<br />
ANZEIGER 42<br />
NEW<br />
BALLS,<br />
PLEASE<br />
Magdeburg und Chemnitz haben als<br />
eigenen Studiengang den Sportingenieur<br />
erfunden: Hier lernt man, Bälle, Schläger<br />
und anderes Gerät sinnreich zu konstruieren.<br />
Falls nötig, kann der Sport-Ing.<br />
auch Schutzpanzer entwerfen.<br />
FOTOS: THINKSTOCK (2), ISTOCKPHOTO, MERCEDES
DIE BESTEN RECRUITING-EVENTS<br />
von Anfang Juni bis Ende Juli<br />
Düsseldorf<br />
JURACON<br />
Bei der Düsseldorfer Ausgabe der<br />
JURAcon handelt es sich um ein<br />
exklusives Einzelgesprächs-Event.<br />
Qualifizierte Studierende, Referendare<br />
und Volljuristen werden nach<br />
voriger Online-Anmeldung zum<br />
festen Gesprächstermin mit teilnehmenden<br />
Kanzleien eingeladen.<br />
Wann: 18.07.2013, 10 bis 17 Uhr<br />
Wo: Maritim Hotel Düsseldorf<br />
Mehr: www.iqb.de<br />
Bonn<br />
WOMEN & WORK<br />
Die Karrieremesse Women &<br />
Work richtet sich speziell an<br />
Frauen. Vor Ort sind Unternehmen,<br />
die weibliche Verstärkung<br />
suchen. Außerdem vermitteln das<br />
Kongress-Programm und zahlreiche<br />
Vorträge, was Frauen tun<br />
müssen, um erfolgreich zu sein.<br />
Wann: 08.06.2013,<br />
9 bis 17.30 Uhr<br />
Wo: Plenargebäude<br />
des Bundeshauses in Bonn<br />
Mehr: www.womenandwork.de<br />
KÖLN<br />
Freiburg<br />
WORK GREEN<br />
Work Green widmet sich ausschließlich<br />
dem Sektor erneuerbare Energien und<br />
Umwelttechnologien. Da die Messe von<br />
Studierenden des Zentrums für Erneuerbare<br />
Energien an der Albert-Ludwigs-<br />
Universität Freiburg ins Leben gerufen<br />
wurde, herrscht studentisches Flair.<br />
Wann: 11.07.2013, 10 bis 18 Uhr<br />
Wo: Messezelt auf dem Campus der<br />
Universität Freiburg<br />
Mehr: www.workgreen.eu<br />
DÜSSELDORF<br />
BREMEN<br />
FRANKFURT<br />
STUTTGART<br />
HAMBURG<br />
HANNOVER<br />
HOCHSCHUL<br />
ANZEIGER 44<br />
NÜRNBERG<br />
MÜNCHEN<br />
LEIPZIG<br />
Hamburg<br />
ABSOLVENTENKONGRESS<br />
NORDDEUTSCHLAND<br />
Junge Akademiker, die es nach Norddeutschland<br />
zieht, bekommen hier nicht nur Ratschläge in Sachen<br />
Bewerbung und Karriereplanung, sondern treffen<br />
auch auf regionale Unternehmen – dieses Jahr sogar<br />
zwei Tage lang.<br />
Wann: 19. bis 20.06.2013, 10 bis 16 Uhr<br />
Wo: Handelskammer Hamburg<br />
Mehr: www.absolventenkongress.de/<br />
absolventenkongress-norddeutschland<br />
BERLIN<br />
Online<br />
IT-JOBMESSE<br />
Für die von JobLeads organisierte IT-Jobmesse<br />
muss man nicht mal das Haus verlassen: Bei der<br />
virtuellen Karriere-Messe für die IT-Branche werden<br />
am heimischen PC Firmenpräsentationen verfolgt,<br />
in Live-Chats tritt man direkt in Kontakt mit<br />
Personalern. Vorherige Anmeldung notwendig.<br />
Wann: 12. und 13.06.2013, 10.15 bis 16 Uhr<br />
Wo: im Inter<strong>net</strong><br />
Mehr: www.it-jobmesse.de<br />
München<br />
INTERSOLAR EUROPE<br />
Auf der weltweit größten Fachmesse für Solarwirtschaft<br />
präsentieren mehr als 1.500 Aussteller aus rund<br />
50 Ländern Produkte, Lösungen und Dienstleistungen.<br />
Das angeschlossene Job- und Karriereforum bietet<br />
Informationen zum Ein- und Aufstieg in der Branche.<br />
Wann: 19. bis 21.06.2013, Mittwoch und Donnerstag<br />
9 bis 18 Uhr, Freitag 9 bis 17 Uhr<br />
Wo: Messe München<br />
Mehr: www.intersolar.de<br />
ILLUSTRATION: JINDRICH NOVOTNY
Marie-Sophie Hindermann, 22<br />
VORNAME, NAME<br />
studiert Medizin im 2. Semester<br />
BERUF<br />
Uni Tübingen<br />
ORT<br />
NIE MEHR EINEN INTERNATIONALEN WETTKAMPF TURNEN<br />
MEIN ENTSCHLUSS<br />
Mein letzter Turnwettkampf war der DTB-Pokal in Stuttgart.<br />
Schon im Voraus habe ich mir ausgemalt, wie ich jeden Augenblick<br />
meiner Übungen und die ganze Atmosphäre aufsaugen<br />
und genießen werde. Aber dann war ich leider so fix und<br />
fertig von der Anatomieklausur, die ich am selben Vormittag<br />
noch für mein Medizinstudium schreiben musste, dass ich<br />
das Drumherum gar nicht aufnehmen konnte. Erst im Finale,<br />
bei meiner allerletzten akrobatischen Bahn am Boden, ist mir<br />
klar geworden: Das ist das letzte Mal, dass du bei einem internationalen<br />
Wettkampf anläufst und die Leute klatschen. Bei<br />
der Abschlusspose sind mir die Tränen in die Augen geschossen.<br />
Das war schön und traurig zugleich.<br />
Als alles vorbei war, habe ich gespürt, wie erleichtert ich<br />
plötzlich war: Seit 2008 hatte ich eine Verletzung nach der anderen.<br />
Trotzdem war für mich immer klar, dass ich nach meinen<br />
ersten Olympischen Spielen in Peking auf jeden Fall noch<br />
bis London weitermache. Aber dann habe ich mich Ende 2011<br />
so schwer an der Schulter verletzt, dass ich nicht teilnehmen<br />
konnte. Bereit, meine Turnkarriere zu beenden, war ich aber<br />
noch immer nicht. Ich wollte nicht mit einer negativen Einstellung<br />
zum Turnen aufhören. In der Reha hatte ich dann sehr viel<br />
Zeit, über mich nachzudenken. Mir ist bewusst geworden, dass<br />
ich eigentlich alles erreicht habe, was ich mit meinem Körper<br />
erreichen konnte: Teilnahme an den Olympischen Spielen<br />
2008, ein fünfter Platz bei den Weltmeisterschaften am Stufenbarren<br />
2007. Nachdem mir das klar war, konnte ich unver-<br />
HOCHSCHUL<br />
ANZEIGER 46<br />
krampfter mit dem Turnen umgehen und guten Gewissens meiner<br />
Mutter und meiner Trainerin sagen, dass ich aufhöre. Wir<br />
haben alle zusammen ein bisschen geheult, aber sie haben verstanden,<br />
dass ich mit dem Turnen nicht mehr glücklich bin und<br />
es Zeit für einen neuen Lebensabschnitt ist.<br />
Seit Oktober studiere ich nun Medizin in Tübingen. Ich<br />
mag es, mal wieder mit meinem Kopf zu arbeiten, was zu lernen,<br />
von dem ich noch keine Ahnung habe.<br />
Natürlich ist auch das Medizinstudium anstrengend –<br />
ich bin eine, die keine halben Sachen macht, ich will gut sein<br />
in dem, was ich tue – aber durch das Turnen habe ich gelernt,<br />
mit Stresssituationen umzugehen. Außerdem kann ich mir<br />
die Zeit beim Lernen selbst einteilen. Das genieße ich. Bisher<br />
waren meine Wochen mit 30 bis 35 Stunden Training ja ziemlich<br />
geregelt. Jetzt kann ich einfach mal joggen gehen, wenn<br />
ich will, oder kochen oder Tennis spielen.<br />
Ganz aufgehört zu turnen, habe ich allerdings doch<br />
nicht: Ich habe meinem früheren Verein, dem MTV Stuttgart,<br />
versprochen, ihn in der Bundesligamannschaft zu unterstützen.<br />
Anders als beim Fußball hat man da aber nur wenige<br />
Wettkämpfe, und das Niveau ist vergleichsweise niedrig.<br />
Wenn ich dann ab und zu trainiere und die anderen sehe, denke<br />
ich mir: Ich möchte nichts missen, aber es ist cool, dass ich<br />
jetzt sagen kann: Auch mit steifem Hals kann der Tag schön<br />
werden. Ich muss mich nicht mehr überwinden und zum<br />
Training gehen. Protokoll: Gabriele Meister<br />
FOTOS: MICHAEL WEBER, ISTOCKPHOTO, FRIZZI KURKHAUS
Simpson, Tochter<br />
Dahinter steckt<br />
immer ein kluger Kopf.<br />
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