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EXKLUSIV<br />

REPORT<br />

Am Bootsanleger steht<br />

der Gedenkstein vom<br />

22. Juli 2011. Jeden<br />

Tag legen Menschen<br />

Blumen nieder<br />

12 tina<br />

Vier Monate nach dem Attentat in Norwegen:<br />

Zurück nach UtØya – an den Ort<br />

des Schreckens<br />

tina-Redakteurin Sabine Klink begleitete den Mann,<br />

der am 22. Juli 20 Kindern das Leben rettete: Marcel Gle e<br />

Text: Sabine Klink Fotos: Melanie Dreysse<br />

Tiefer Nebel liegt an diesem Morgen<br />

über dem Tyrifjord. Weit und breit<br />

keine Menschenseele. Wir stehen<br />

am Ufer, Marcel Gle e (32) neben<br />

mir, und sehen auf Utøya. „Hier zu<br />

sein hilft mir, damit klarzukommen. Auch<br />

darüber zu sprechen hilft.“ So greifbar nah<br />

liegt die kleine Insel da, so idyllisch. So unheimlich.<br />

Der Gedenkstein vor uns lässt<br />

kein Verdrängen zu.<br />

Utøya ist die Insel, auf der im Sommer<br />

600 Kinder, Jugendliche und Betreuer ihre<br />

Ferien-Freizeit verbrachten. Lachten, Federball<br />

spielten, Musik hörten. Bis zum<br />

22. Juli. Als Anders Breivik 69 von ihnen<br />

mit Schusswa en hinrichtete.<br />

Marcel hat es gesehen, von diesem Ufer<br />

aus. Er hatte hier, auf dem Campingplatz<br />

Utvika, im Juli mit seiner Familie Urlaub gemacht.<br />

„Es war neblig wie heute“, sagt er.<br />

„Um 17 Uhr hörte ich Schüsse. Dann sahen<br />

wir zwei Kinder im Wasser. Aber wer denkt<br />

schon an etwas so Grausames? Hier in<br />

dieser friedlichen Gegend? Die machen<br />

ein Wettschwimmen, und es war der Startschuss“,<br />

dachte ich. Doch als die Kinder die<br />

500 Meter ans Ufer fast gescha t hatten,<br />

hörte Marcel ihre Rufe: „Shooting kids!“<br />

Kinder werden erschossen. „Dann habe ich<br />

nicht mehr gedacht, nur noch gehandelt.<br />

Sprang in ein Boot und fuhr rüber.“<br />

▲<br />

AKTUELL<br />

Marcel Gleffe<br />

spricht mit<br />

Sabine Klink<br />

über den<br />

schrecklichsten<br />

Tag seines<br />

Lebens<br />

tina 13<br />


AKTUELL<br />

Vier Monate ist das her. Links neben uns<br />

schaukeln zwei rote Boote am Anleger.<br />

Auch das, mit dem Marcel den Kindern<br />

entgegenfuhr. Wir steigen ein, Marcel<br />

schmeißt den Außenborder an, macht uns<br />

mit einem Lächeln Mut. Im Sekundentakt<br />

wird die Insel größer, Marcel steuert auf die<br />

rechte Uferseite zu, etwa 20 Meter davor<br />

fährt er den Motor runter: „Hier habe ich<br />

die Kinder rausgezogen. Erst schwammen<br />

sie panisch vor mir weg, dachten, ich wäre<br />

auch der Feind. Keiner wusste ja, dass es<br />

nur ein Mann war. Die ganze Zeit elen<br />

Schüsse. Ich rief ihnen zu, dass ich ihnen<br />

helfen wollte. Ein junger Mann, Per, traute<br />

mir, ich zog ihn ins Boot, dann rief er die<br />

anderen zu uns. Alle halfen sich gegenseitig.<br />

Das war unglaublich.“<br />

Als das Boot mit acht Menschen völlig<br />

überladen war, fuhr er die Kinder ans Festland,<br />

wo Marcels Eltern sie mit Decken<br />

versorgten. Viermal fuhr Marcel raus,<br />

20 Kinder rettete er, bis die Polizei eintraf.<br />

„Da! Siehst du die Steine? Hier war es am<br />

schlimmsten. Die Kinder sind vom Hügel<br />

runtergesprungen, hielten sich an Steinen<br />

fest, versteckten sich. Da hat er die meisten<br />

gekriegt. Überall lagen Kinder, tot auf den<br />

Steinplatten, im Wasser. Einige bewegten<br />

noch ihre Arme.“ Marcel atmet tief, zündet<br />

sich ein Zigarette an.<br />

„Hast du den Attentäter Breivik gesehen?“,<br />

frage ich. „Ja“, sagt er und zeigt auf eine<br />

Stelle zwischen Tannen. „Da stand er mit<br />

seinem Gewehr. Ich habe nur kurz hingeguckt.<br />

Sorgte dafür, dass die Kinder ihre<br />

Köpfe runternehmen. Denn er schoss die<br />

ganze Zeit, auch auf Kinder im Wasser.“<br />

Wir fahren um die Insel herum, bis zum<br />

Anleger. Betreten Utøya.<br />

Marcel Gleffe fährt noch einmal<br />

das Ufer von Utøya ab. Hier hat er<br />

Kinder aus dem Wasser gezogen.<br />

Und Kinder sterben sehen<br />

Alles verlassen, nichts abgesperrt, nichts<br />

geräumt. Der Hügel, umrankt von Tannen,<br />

die verwitterten Holzhäuser – wäre der<br />

Himmel blau, wäre es so malerisch wie in<br />

Astrid Lindgrens Bullerbü. Im Gras liegt ein<br />

Federball, unter einem Baum Snickers-<br />

Papier. Am Haupthaus hängt noch immer<br />

der Wochenplan. Für den 22. Juli um 17 Uhr<br />

steht: Seminararbeit. 18 Uhr: Volleyballturnier,<br />

Grillfest, Disco. Es kam anders.<br />

Vor dem Versammlungshaus „Hier<br />

ist Breivik rein, als Polizist verkleidet, hat<br />

die Jugendlichen zu sich gelockt und drauflosgeschossen.“<br />

Dann sind die Kinder, die<br />

es noch konnten, in alle Richtungen gelaufen.<br />

Durch den Wald, runter ans Wasser,<br />

haben sich versteckt. In Höhlen, Kellern,<br />

Verschlägen. Es ist spürbar: die Schreie, die<br />

Panik. In diesem Moment kommen ein<br />

Mann und zwei Frauen den Hügel hinauf.<br />

„Das ist Brede Johbraaten, der Mann vom<br />

Campingplatz“, sagt Marcel. Die Frauen<br />

sind kreidebleich, eine hält ein Bund Tulpen,<br />

die andere kommt mit gesenktem<br />

Die verlassene Insel – Marcel<br />

Gleffe spürt dem Geschehen vom<br />

22. Juli nach. Es hilft ihm,<br />

das Ganze zu verarbeiten<br />

Im Gras liegt<br />

ein Federball.<br />

Hier haben<br />

die Kinder<br />

fröhlich<br />

gespielt …<br />

Blick auf Marcel zu. Flüstert. Marcel antwortet<br />

leise. Als sie weiterziehen, erklärt er<br />

mir: „Ihre Tochter (15) hat das Massaker<br />

überlebt. Sie wollte wissen, ob ich sie gerettet<br />

habe. Aber ich glaube nicht.“ Die Frau<br />

will zu den Steinen, Blumen hinlegen, wo<br />

sich ihre Tochter versteckt hatte und ihre<br />

Freunde sterben sah.<br />

Als sie nach einer halben Stunde zurückkommen,<br />

gehen sie aufrechter. Sprechen,<br />

nicken uns zu. Auch wir bewegen uns jetzt<br />

freier. Als wir zurück am anderen Ufer sind,<br />

sagt Marcel: „Ich werde das hier nie vergessen.<br />

Aber ich mache mich nicht verrückt,<br />

blicke nach vorn. Auf das Gute.“ Marcel<br />

wurde mit vielen Auszeichnungen geehrt.<br />

Seit drei Jahren lebt er bei Oslo, arbeitet<br />

als Vorarbeiter beim Bau, liebt den Job und<br />

das Leben in Norwegen. Daran hat der<br />

22. Juli nichts geändert: „Meine Kollegen<br />

haben mir damals auf die Schulter geklopft.<br />

Dann war gut. Die Menschen hier gehen<br />

respektvoll miteinander um, das mag ich.“<br />

Marcels Traum: ein eigenes Boot, ein Haus<br />

in den Bergen und ein friedliches Leben. ■<br />

Am Ufer mit Blick auf<br />

Utøya – Sabine Klink<br />

zündet Lichter an, zum<br />

Gedenken der Opfer<br />

Noch immer hängt der Tagesplan<br />

vom 22. Juli: Um 18 Uhr sollte ein<br />

Volleyballturnier stattfi nden …<br />

Unvergesslich: das Massaker<br />

vom 22. 7. 2011 in Norwegen<br />

Der Attentäter tötete 77 Menschen<br />

ANDERS B. BREIVIK (32) zündete am 22. Juli 2011 eine<br />

Autobombe im Regierungsviertel Oslos, acht Menschen<br />

starben. Dann fuhr er zum von den Sozialdemokraten<br />

organsierten Ferien-Jugendlager auf Utøya und erschoss<br />

69 Menschen. Sein Motiv: Islam-Hass. Breivik wurde von<br />

Gerichtspsychiatern für unzurechnungsfähig erklärt.<br />

Stimmt das Gericht dem zu, wird Breivik für seine Taten<br />

nicht verurteilt, kommt aber auf unbestimmte Zeit in eine<br />

geschlossene psychiatrische Anstalt.<br />

14 tina tina 15<br />

Fotos: Getty Images

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