BOLD THE MAGAZINE No.05
BEGEISTERUNG INNIGES VERLANGEN | HOFFNUNG STIRBT ZULETZT | BELLA ITAL IA | TOCOTRONIC | FASHION SPECIAL | SPANISH AVIDNESS – BARCELONA | INNER DESIRE – PARIS | HUNDERTWASSER
BEGEISTERUNG
INNIGES VERLANGEN | HOFFNUNG STIRBT ZULETZT | BELLA ITAL IA | TOCOTRONIC | FASHION SPECIAL | SPANISH AVIDNESS – BARCELONA | INNER DESIRE – PARIS | HUNDERTWASSER
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Schwerpunkt | Begeisterung | Japaner in Paris<br />
<strong>BOLD</strong> <strong>THE</strong> <strong>MAGAZINE</strong> | 23<br />
„Es war einmal ein junger Japaner, den es<br />
nach Paris zog“, beginnt Taku Nishimura<br />
seinen Comic. Eriko Nakamura kam der<br />
Liebe wegen in die französische Hauptstadt.<br />
Ihre Freunde beneideten sie. Ach,<br />
Paris! La vie en rose, wo Pärchen Händchen<br />
haltend an der Seine entlangschlendern<br />
– die Stadt der Kunst, wo<br />
Renoir, Matisse, van Gogh und Picasso<br />
malten. Die Stadt, in der elegante<br />
Menschen erlesene Weine trinken und<br />
raffinierte Gerichte essen. Wie keine<br />
zweite Metropole weckt Paris bei Japanern<br />
rosa-rote Gefühle. Filme wie<br />
„Die fabelhafte Welt der Amélie“ oder<br />
„Midnight in Paris“ lösen tsuioko aus, eine<br />
starke Begeisterung.<br />
Doch was Nishimura und Nakamura<br />
dann erlebten, ähnelte kein bisschen<br />
den romantischen Vorstellungen. Sie<br />
wollten zum Eiffelturm und zum Louvre.<br />
Anstatt auf verliebte Flaneure trafen sie<br />
auf gehetzte, unhöfliche Menschen, die<br />
ihnen den Weg dorthin in dieser fremden<br />
Stadt nicht erklären wollten. Statt dessen<br />
warfen sie ihnen – für Japaner undenkbar<br />
– im Vorbeigehen aufgerauchte Zigarettenkippen<br />
und zusammengeknüllte<br />
Papierschnipsel vor die Füße. Nishimura<br />
wurde in einem Kaufhaus für einen Dieb<br />
gehalten, und Nakamura schüttelt sich<br />
noch heute bei der Erinnerung an ihren<br />
ersten Arztbesuch: „Ich musste mich<br />
vor ihm ausziehen,“ erzählt die schmale<br />
junge Frau, die in ihrer Heimat eine<br />
bekannte TV-Moderatorin war. „Es war<br />
mir soooo peinlich!“ Die beiden Japaner<br />
haben ihre Erlebnisse aufgeschrieben<br />
und veröffentlicht. Denn wie ihnen geht<br />
es vielen Landsleuten, wenn ihre Erwartung<br />
auf die Realität trifft. Einige werden<br />
sogar psychisch krank. Sie leiden am Pari<br />
shôkôgun, dem Paris-Syndrom. Hiroaki<br />
Ota, japanischer Psychiater in Paris, hat<br />
das Phänomen so benannt, nachdem<br />
er und andere Kollegen japanische<br />
Patienten mit zunächst unerklärlichen<br />
Symptomen wie Hitzewallungen, Kurzatmigkeit<br />
und Verfolgungswahn behandelt<br />
hatten. Manche von ihnen hatten<br />
sogar schwere Halluzinationen.<br />
Studien wurden über das Syndrom<br />
geschrieben, Bücher, die in der japanischen<br />
Buchhandlung in Paris fast immer<br />
ausverkauft sind, ein Film gedreht. Bis<br />
zu hundert depressive Japaner müssen<br />
jedes Jahr aus Paris nach Hause geflogen<br />
werden.<br />
„Wenn bei uns in Japan etwas nicht funktioniert,<br />
oder wenn uns etwas Unangenehmes<br />
widerfährt“, erklärt Nakamura,<br />
„dann halten wir das in erster Linie für<br />
unsere Schuld. Wir denken, dass wir etwas<br />
falsch gemacht haben.“ „Nââândé“ heißt<br />
das Taschenbuch, das sie vor kurzem<br />
bei einem französischen Verlag veröffentlichte.<br />
Der Titel bedeutet so viel wie<br />
„Oh nein, das darf doch nicht wahr<br />
sein!“ „Ich denke das auch heute noch<br />
oft, mehr als zehn Jahre nach meiner<br />
Ankunft. Inzwischen kann ich mich<br />
über viele Erlebnisse amüsieren, aber<br />
damals war ich schockiert.“ Nishimura<br />
hat seinen Manga-Comic mit „A nous<br />
deux, Paris“ überschrieben – eine Anspielung<br />
auf Eugène de Rastignac, der in<br />
Honoré de Balzacs Roman „Vater Goriot“ ..