22 | <strong>BOLD</strong> <strong>THE</strong> <strong>MAGAZINE</strong> Schwerpunkt | Begeisterung | Japaner in Paris Fotos: K. Finkenzeller, R. Nagy Eine Fahrt mit der Pariser Métro kann himmlisch sein, doch manchmal auch sehr irritierend.
Schwerpunkt | Begeisterung | Japaner in Paris <strong>BOLD</strong> <strong>THE</strong> <strong>MAGAZINE</strong> | 23 „Es war einmal ein junger Japaner, den es nach Paris zog“, beginnt Taku Nishimura seinen Comic. Eriko Nakamura kam der Liebe wegen in die französische Hauptstadt. Ihre Freunde beneideten sie. Ach, Paris! La vie en rose, wo Pärchen Händchen haltend an der Seine entlangschlendern – die Stadt der Kunst, wo Renoir, Matisse, van Gogh und Picasso malten. Die Stadt, in der elegante Menschen erlesene Weine trinken und raffinierte Gerichte essen. Wie keine zweite Metropole weckt Paris bei Japanern rosa-rote Gefühle. Filme wie „Die fabelhafte Welt der Amélie“ oder „Midnight in Paris“ lösen tsuioko aus, eine starke Begeisterung. Doch was Nishimura und Nakamura dann erlebten, ähnelte kein bisschen den romantischen Vorstellungen. Sie wollten zum Eiffelturm und zum Louvre. Anstatt auf verliebte Flaneure trafen sie auf gehetzte, unhöfliche Menschen, die ihnen den Weg dorthin in dieser fremden Stadt nicht erklären wollten. Statt dessen warfen sie ihnen – für Japaner undenkbar – im Vorbeigehen aufgerauchte Zigarettenkippen und zusammengeknüllte Papierschnipsel vor die Füße. Nishimura wurde in einem Kaufhaus für einen Dieb gehalten, und Nakamura schüttelt sich noch heute bei der Erinnerung an ihren ersten Arztbesuch: „Ich musste mich vor ihm ausziehen,“ erzählt die schmale junge Frau, die in ihrer Heimat eine bekannte TV-Moderatorin war. „Es war mir soooo peinlich!“ Die beiden Japaner haben ihre Erlebnisse aufgeschrieben und veröffentlicht. Denn wie ihnen geht es vielen Landsleuten, wenn ihre Erwartung auf die Realität trifft. Einige werden sogar psychisch krank. Sie leiden am Pari shôkôgun, dem Paris-Syndrom. Hiroaki Ota, japanischer Psychiater in Paris, hat das Phänomen so benannt, nachdem er und andere Kollegen japanische Patienten mit zunächst unerklärlichen Symptomen wie Hitzewallungen, Kurzatmigkeit und Verfolgungswahn behandelt hatten. Manche von ihnen hatten sogar schwere Halluzinationen. Studien wurden über das Syndrom geschrieben, Bücher, die in der japanischen Buchhandlung in Paris fast immer ausverkauft sind, ein Film gedreht. Bis zu hundert depressive Japaner müssen jedes Jahr aus Paris nach Hause geflogen werden. „Wenn bei uns in Japan etwas nicht funktioniert, oder wenn uns etwas Unangenehmes widerfährt“, erklärt Nakamura, „dann halten wir das in erster Linie für unsere Schuld. Wir denken, dass wir etwas falsch gemacht haben.“ „Nââândé“ heißt das Taschenbuch, das sie vor kurzem bei einem französischen Verlag veröffentlichte. Der Titel bedeutet so viel wie „Oh nein, das darf doch nicht wahr sein!“ „Ich denke das auch heute noch oft, mehr als zehn Jahre nach meiner Ankunft. Inzwischen kann ich mich über viele Erlebnisse amüsieren, aber damals war ich schockiert.“ Nishimura hat seinen Manga-Comic mit „A nous deux, Paris“ überschrieben – eine Anspielung auf Eugène de Rastignac, der in Honoré de Balzacs Roman „Vater Goriot“ ..