"Sprachen fallen nicht vom Himmel" (1) (Ein Kommentar ... - pro idioms

"Sprachen fallen nicht vom Himmel" (1) (Ein Kommentar ... - pro idioms "Sprachen fallen nicht vom Himmel" (1) (Ein Kommentar ... - pro idioms

23.09.2013 Aufrufe

"Sprachen fallen nicht vom Himmel" (1) (Ein Kommentar von Alexi Decurtins, Okt. 2012) Zwei sich ergänzende Beiträge Kurz nacheinander publizierte Bernard Cathomas, ehemals Generalsekretär der Lia Rumantscha, zwei Beiträge zur Rätoromanischen Sprachpolitik. Im Bündner Monatsblatt (1/2012) skizzierte er die nunmehr dreissigjährige Geschichte der Kunstsprache Rumantsch Grischun. Im zweiten Beitrag unter dem Titel "Sprachen fallen nicht vom Himmel" versucht er recht forsch zu zeigen, wie rätoromanische Sprachplanung sein muss und wie sie nicht anders sein kann und sein wird. Der Feststellung, dass "Sprachen nicht vom Himmel fallen", wird man zustimmen. Jedoch: Wenn es die Nutzer sind, die den Sprachwandel herbeiführen, d.h. die betroffenen Menschen selber, so dürfte ein bekannter italienischer Lexikograph nicht falsch liegen, wenn er schreibt: "Sprachen sind nicht naturgegeben, sondern das Ergebnis des Zusammenwirkens von kulturellem Erbe und sozial organisierter und gelebter Gemeinschaft" (2). Für gewöhnlich somit keine Kunst- oder Papiersprachen. Gewagte Vergleiche Zur Stütze seiner Aussage führt der Verfasser Beispiele von Übersetzern an, welche die Verschriftung der Sprache entscheidend geprägt haben. Einerseits Notker Labeo aus dem Kloster St. Gallen, um 1000 herum, mit Übersetzungen aus dem Lateinischen ins Althochdeutsche. Andererseits, 550 Jahre später, Jachem Bifrun, mit den ersten gedruckten Schriften ins Oberengadinische. Beider Texte seien heute nicht ohne weiteres für jedermann verständlich.

"<strong>Sprachen</strong> <strong>fallen</strong> <strong>nicht</strong> <strong>vom</strong> Himmel" (1)<br />

(<strong>Ein</strong> <strong>Kommentar</strong> von Alexi Decurtins, Okt.<br />

2012)<br />

Zwei sich ergänzende Beiträge<br />

Kurz nacheinander publizierte Bernard Cathomas,<br />

ehemals Generalsekretär der Lia Rumantscha, zwei<br />

Beiträge zur Rätoromanischen Sprachpolitik. Im<br />

Bündner Monatsblatt (1/2012) skizzierte er die<br />

nunmehr dreissigjährige Geschichte der<br />

Kunstsprache Rumantsch Grischun. Im zweiten<br />

Beitrag unter dem Titel "<strong>Sprachen</strong> <strong>fallen</strong> <strong>nicht</strong> <strong>vom</strong><br />

Himmel" versucht er recht forsch zu zeigen, wie<br />

rätoromanische Sprachplanung sein muss und wie<br />

sie <strong>nicht</strong> anders sein kann und sein wird.<br />

Der Feststellung, dass "<strong>Sprachen</strong> <strong>nicht</strong> <strong>vom</strong><br />

Himmel <strong>fallen</strong>", wird man zustimmen. Jedoch:<br />

Wenn es die Nutzer sind, die den Sprachwandel<br />

herbeiführen, d.h. die betroffenen Menschen<br />

selber, so dürfte ein bekannter italienischer<br />

Lexikograph <strong>nicht</strong> falsch liegen, wenn er schreibt:<br />

"<strong>Sprachen</strong> sind <strong>nicht</strong> naturgegeben, sondern das<br />

Ergebnis des Zusammenwirkens von kulturellem<br />

Erbe und sozial organisierter und gelebter<br />

Gemeinschaft" (2). Für gewöhnlich somit keine<br />

Kunst- oder Papiersprachen.<br />

Gewagte Vergleiche<br />

Zur Stütze seiner Aussage führt der Verfasser<br />

Beispiele von Übersetzern an, welche die<br />

Verschriftung der Sprache entscheidend geprägt<br />

haben. <strong>Ein</strong>erseits Notker Labeo aus dem Kloster<br />

St. Gallen, um 1000 herum, mit Übersetzungen<br />

aus dem Lateinischen ins Althochdeutsche.<br />

Andererseits, 550 Jahre später, Jachem Bifrun, mit<br />

den ersten gedruckten Schriften ins<br />

Oberengadinische. Beider Texte seien heute <strong>nicht</strong><br />

ohne weiteres für jedermann verständlich.


Die Vergleiche sind kühn. Sie betreffen im Falle<br />

Notkers wie Bifruns Sprachkundige, die dank<br />

ihren Fähigkeiten und ihrer Intuition der<br />

<strong>Sprachen</strong>twicklung einen besonderen Schub zu<br />

geben vermochten. Es ist aber offensichtlich, dass<br />

sie <strong>nicht</strong> unbebautes Land vorfanden, sondern dass<br />

ihrer Leistung eine lange Reifezeit der Sprache<br />

vorausging (3).<br />

Für die Erkundung, wie eine neue Schriftsprache<br />

entsteht und Form annimmt, taugen die Beispiele<br />

wenig und schon gar <strong>nicht</strong>, will man sie unter<br />

"Sprachplanung" einordnen.<br />

Cathomas geht von der zurechtgestutzten Meinung<br />

aus, dass auch "künstlich" geschaffene<br />

Ausgleichssprachen wie das Deutsche und<br />

Italienische zu grossen Literatur- und<br />

Staatssprachen geworden seien. Alte<br />

Kultursprachen als "künstlich" geschaffene<br />

Ausgleichssprachen zu qualifizieren, ist an sich<br />

schon eigenartig, sie mit einer<br />

Minderheitensprache besonderer Art zu<br />

vergleichen aber sicher fragwürdig.<br />

Caspar Decurtins` umstrittene Rolle<br />

Sprachplanung als eigene Disziplin etablierte sich<br />

um und seit 1970. Dieser jungen, ihrem Entstehen<br />

nach sozialpolitisch <strong>nicht</strong> immer zweckfreien<br />

Sprachbetrachtung, folgt Cathomas (4). Was ihr<br />

vorausging war, aus seinem Blickwinkel mit<br />

Bezug auf das Rätoromanische, die Geschichte<br />

von gelungenen und gescheiterten<br />

Sprachplanungs<strong>pro</strong>zessen (erste Schriften im16.-<br />

17. Jh.; zaghafte Anfänge der Literatur im 17./18.<br />

Jh., Gemeinde- und Gerichtstatuten, Schulbücher).<br />

Zweifellos eine statusfördernde Entwicklung,<br />

jedoch oft mit Rückschlägen befrachtet<br />

(<strong>Ein</strong>heitsbestrebungen, usw.).<br />

In diesem Auf und Ab weist der Verfasser vor allem<br />

der "Rolle von Caspar Decurtins" eine abwertende<br />

Note zu. Dessen monumentale Rätoromanische<br />

Chrestomathie trug wesentlich zum Prestige von


Sprache und Kultur bei. Die Arbeiten daran<br />

leiteten die "Rätoromanische Wiedergeburt" ein,<br />

die in ganz Romanischbünden für die Zeit<br />

zwischen der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts bis<br />

zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges tragend<br />

wurde (5).<br />

Als Politiker hat Decurtins 1887 durch sein<br />

<strong>Ein</strong>treten im Grossen Rat der Fusionssprache<br />

Bühlers (<strong>Ein</strong>heitssprache) an der Bündner<br />

Kantonsschule einen Riegel geschoben und dies<br />

auch begründet (6). Er stand mit Frédéric Mistral<br />

in brieflichem Kontakt und wusste um die<br />

Erwartungen und Schwierigkeiten des<br />

neo<strong>pro</strong>venzalischen Aufbruchs. Trotz grossen<br />

Anstrengungen und dem 1902 an Mistral<br />

vergebenen Nobelpreis für sein episches Werk<br />

"Mirèio/Mireille", gedieh dieser Neubeginn neben<br />

dem alles beherrschenden Französischen nur<br />

mässig und lief später in ein intellektuelles und<br />

akademisches Anliegen aus (7). Die bis heute<br />

ungelösten Probleme des Serbokroatischen und<br />

anderer Minderheitensprachen waren Decurtins<br />

ebenfalls bekannt.<br />

Mit seiner Skepsis gegenüber <strong>Ein</strong>heitsbestrebungen<br />

stand Decurtins <strong>nicht</strong> allein. Die Surselva mit<br />

Pater Baseli Carigiet, Redaktor Placi Condrau und<br />

der Lehrerkonferenz lehnten die Fusionssprache<br />

unisono ab (8). Im Engadin kam mit den<br />

Bemühungen von Zaccaria Pallioppi (Arbeiten zur<br />

Orthographie, Orthoepie/Aussprache,<br />

Morphologie der Verben, Lexikographie) eine<br />

sprachpflegerisch namhafte Bewegung auf. Die<br />

Engadiner haben sich mit wenigen Ausnahmen<br />

überhaupt <strong>nicht</strong> um die Fusionssprache<br />

gekümmert. Sogar Pallioppi bekämpfte diese bei<br />

jeder sich bietenden Gelegenheit.<br />

Durch die Schrift des Romanisten Heinrich Morf<br />

(Universitäten Bern, Zürich) erhielt die Front der<br />

Ablehnung in der Surselva wie im Engadin eine<br />

Bestätigung und Stütze von hoher Warte (8).<br />

"Es wäre geradezu eine Versündigung an der<br />

rätischen Jugend", schreibt Morf, "ihre Zeit durch


den Romonsch fusionau oder irgendeiner anders<br />

ausgeklügelten rätischen <strong>Ein</strong>heitsprache in<br />

Anspruch zu nehmen." Und weiter: "Das<br />

Gemeinfranzösische z.B. ist <strong>nicht</strong> so entstanden,<br />

dass ein normannischer Artikel vor ein<br />

burgundisches Substantiv gestellt und diesem ein<br />

wallonisches Adjektiv angefügt worden wäre, um<br />

ein von einem poitevinischen Adverb begleitetes,<br />

lateinisch aufgeputztes Verbum folgen zu lasssen.<br />

Das Gemeinfranzösische ist ein bestimmter<br />

Dialekt, dem die politischen, religiösen, sozialen,<br />

literarischen Verhältnisse, <strong>nicht</strong> aber der Wille der<br />

Grammatiker, das Übergewicht über die anderen<br />

Dialekte gegeben haben: der Dialekt der Isle de<br />

France mit ihrer alles an sich ziehenden Residenz<br />

Paris."<br />

Morf wurde entgegengehalten, er habe seine Schrift<br />

in Absprache mit dem Kulturpolitiker Decurtins<br />

und ihm zuliebe verfasst. Ihr und dem Verfasser<br />

mangle es daher an Unparteilichkeit (10). Geht<br />

man die Ausführungen durch, so wird man<br />

gewahr, dass Morf sich gründlich in das Konzept<br />

Bühlers vertiefte und die nachfolgenden Schritte<br />

und Änderungen des Projektes genau auflistete und<br />

bewertete.<br />

Bühler"s "Fusionssprache" und RG<br />

<strong>Ein</strong> direkter Vergleich des Schicksals von Bühlers<br />

Fusionssprache mit dem Projekt Rumantsch<br />

Grischun ist nur bedingt möglich und wohl auch<br />

<strong>nicht</strong> tunlich. Gewisse Züge (unausgereifte<br />

<strong>Ein</strong>schätzungen, wechselnde Strategien,<br />

Abrutschen ins Ideologische, Manipulationen noch<br />

und noch, Erfolge und Misserfolge) ähneln sich<br />

aber in starkem Masse.<br />

<strong>Ein</strong>mal das starre Dogma, dass eine<br />

Sprachgemeinschaft, möge sie so oder so<br />

beschaffen sein, <strong>nicht</strong> ohne eine gemeinsame<br />

überregionale Schriftsprache auskomme. Darum<br />

ist ein solches Medium vonnöten, koste es was es<br />

wolle; möglichst überzeugend auf dem Reissbrett


entworfen und schnellstmöglich freigegeben und<br />

verbreitet ohne Rücksicht auf die Volksmeinung<br />

oder auf eintretende Folgen.<br />

Wenn Bühlers Bemühungen Schiffbruch erlitten, so<br />

vor allem deshalb, weil er seine Fusionssprache<br />

ständig änderte und sie immer artifizieller<br />

ausgestaltete.<br />

Beim Ausbau des RG, bei welchem die lenkende<br />

und ordnende Hand des Verfassers H. Schmid seit<br />

1999 leider fehlt, zeichnen sich ähnliche<br />

Schräglagen ab. Meine jüngeren Kollegen bei der<br />

Ausarbeitung des Handbuchs des Rätoromanischen<br />

stellten schon zu Beginn fest, dass die<br />

Zusammensetzung von RG rund 60% surselvische<br />

Elemente aufweise. Die gegen RG eingestellten,<br />

aufmüpfigen Leute in der Surselva sollten sich<br />

also zufrieden geben. Doch damit <strong>nicht</strong> genug.<br />

Durch die praktische Anwendung und aufgrund der<br />

weitergehenden, den grössten gemeinsamen<br />

Nenner suchenden Standardisierung von RG, fällt<br />

dieses immer mehr auf ein surselvisches Glacis<br />

ab. Es ist <strong>nicht</strong> erstaunlich, dass die Engadiner mit<br />

ihrer alten Schrifttradition daran wenig Freude<br />

haben.<br />

Radikale Wende durch Statusplanung<br />

Dem Glaubensbekenntnis zu einer überregionalen<br />

Schriftsprache folgt konform die schiere<br />

Dringlichkeit, durch sie und über sie eine radikale<br />

Wende der romanischen Sprach- und<br />

Kulturbewegung anzuschieben. Am ehesten lässt<br />

sich das bewerkstelligen, indem man die<br />

Korpusplanung zugunsten einer Statusplanung<br />

hintanstellt (11).<br />

Schon lange vor der Gründung der Lia Rumantscha<br />

(1919) haben die Rätoromanen Korpusplanung<br />

betrieben. Sie haben gesammelt, archiviert, ediert,<br />

kommentiert. Dieser <strong>Ein</strong>satz hat ihnen<br />

Wörterbücher, Grammatiken, eine ansehnliche<br />

Literatur, romanische Rechtsquellen, Schulbücher,


Bibliographien, Sagen und Märchen,<br />

Liedersammlungen, Zeitschriften und<br />

ethnographische Studien von beachtlicher Qualität<br />

gebracht.<br />

Für einen Sekretär der LR ist es <strong>nicht</strong> leicht, im<br />

Gewirr der verschiedenen Idiome sich einen<br />

gangbaren Kommunikationsweg freizuschaufeln.<br />

Je nach ihrer idiomatischen Herkunft gelang dies<br />

den zuständigen Beauftragten bislang leidlich.<br />

Überfordert wurde die Institution LR erst, als<br />

man daran ging, die neue Ausrichtung der<br />

Sprachplanung Schritt für Schritt umzusetzen. Die<br />

Form des "Gemeinromanischen" (Koine) sollte<br />

<strong>nicht</strong> nur gefestigt, sondern auch über die<br />

verschiedensten Kanäle verbreitet werden. Sich<br />

neue Domänen ausloten und solche erschliessen<br />

und besetzen, war und ist ein wichtiges Anliegen<br />

der Sprachplaner.<br />

Kam hinzu, dass die LR ihre Strukturen aus<br />

finanziellen Gründen drastisch verschlanken<br />

musste, die praktische Arbeit dezentralisierte und<br />

delegierte und dadurch die eigentliche kulturelle<br />

Aufgabe vorort, namentlich an kritischen<br />

Brennpunkten des Geschehens einschränkte oder<br />

diese gar aus den Händen gab.<br />

Orientierung nach aussen und deren Folgen<br />

<strong>Ein</strong>e systematisch geförderte Orientierung nach<br />

aussen (Politik, Wirtschaft, Medien), ein<br />

Fortschreiten auf Augenhöhe mit den übrigen<br />

bündnerischen Sprachgruppen, förderte eine<br />

steigende Präsenz des Rätoromanischen in der<br />

Öffentlichkeit. Sie trug wohl auch zum<br />

wachsenden Selbstbewusstsein der Rätoromanen<br />

bei. Wie es sich aber zeigt, war die Wirkung<br />

weder nachhaltig noch ging sie in die Tiefe. Es<br />

fällt auf, dass man neuerdings immer mehr auf<br />

Hilfe von Leuten ausserhalb der romanischen<br />

Stammlande angewiesen ist, um das "Neuland" zu<br />

halten und zu sichern. Jakobs "Himmelsleiter",


der direkte Weg in himmlische Sphären, die schon<br />

G.A. Bühler vorschwebte, blieb ein Phantom.<br />

Das soll an einigen Fallbeispielen näher erläutert<br />

werden. In den 1980er Jahren wurden ernsthafte<br />

Anstrengungen unternommen, das Rätoromanische<br />

auch in die Armee einzubringen. <strong>Ein</strong>e<br />

Kommandosprache wurde festgelegt, verschiedene<br />

Leitschriften bereitgestellt und damit<br />

Füsiliereinheiten (Battaillon, Kompanie)<br />

anges<strong>pro</strong>chen. Mit der Begründung es mangle an<br />

Kaderleuten (Offiziere und Unteroffiziere) und am<br />

festen Willen, überhaupt solche <strong>Ein</strong>heiten zu<br />

bilden und zu halten, versandete das Ganze nach<br />

einem hoffnungsvollen Anfang. Kleinsprachen<br />

haben ihre Grenzen und es bringt <strong>nicht</strong>s, dies <strong>nicht</strong><br />

wahrhaben zu wollen und sie überall ins Spiel zu<br />

bringen.<br />

Das gleiche spielte sich bei der Belegung der<br />

Universitäten mit Romanischvorlesungen und mit<br />

verschiedenen Angeboten für Examina ab. Auch<br />

hier wird man sich institutionell und personell<br />

schon angesichts schrumpfender<br />

Studentenzahlen auf das Machbare beschränken<br />

müssen. Die LR hat offensichtlich unterschätzt,<br />

dass die Auflösung des Kantonalen<br />

Lehrerseminars, früher eine Kaderschmiede für<br />

romanisches Unterrichtspersonal, schlimme Folgen<br />

haben würde.<br />

Europäische Minderheiten im Aufbruch<br />

Der im Beitrag von Cathomas erwähnte Aufbruch<br />

von Sprach- und Minderheiten in Europa im<br />

letzten Viertel des 20. Jahrhunderts ist <strong>nicht</strong> zum<br />

Nennwert zu nehmen. Sieht man von Ausnahmen<br />

ab (etwa beim historisch und wirtschaftlich<br />

starken und während der Franco-Zeit<br />

unterdrückten Katalanischen oder beim<br />

wirtschaftlich boomenden Norwegen mit seinen<br />

zwei koexistierenden Schriftsprachen), so sind<br />

wirkliche Fortschritte eher spärlich auszumachen.<br />

Wo stehen heute andere Minderheitensprachen,


z.B. das Friaulische, das Zentralladinische im<br />

Südtirol, das Franko<strong>pro</strong>venzalische im Piemont,<br />

das Walserische am Alpensüdhang, wo das<br />

Bretonische und das Okzitanische<br />

(Provenzalische) in Frankreich? Wie verhält es<br />

sich tatsächlich mit der immer wieder zitierten<br />

und vorgeführten sorbischen Minderheit in<br />

Deutschland oder mit dem Status des<br />

Inselfriesischen?<br />

Günstige Voraussetzungen für das Überleben<br />

Allgemein werden dem Rätoromanischen im<br />

dreisprachigen Graubünden und in der föderativen<br />

Schweiz ansprechende Bedingungen für die<br />

Fortentwiklung und für das Überleben<br />

bescheinigt.<br />

Caspar Decurtins hat erkannt, wo, neben staatlicher<br />

Hilfe, der eigentliche Schlüssel dafür liegt. Das<br />

Rätoromanische sei gegenüber anderen<br />

europäischen Sprachminderheiten in den<br />

Gemeinden und Regionen verwurzelt und beziehe<br />

von dorther seine <strong>nicht</strong> zu unterschätzende<br />

Lebenskraft. Diese <strong>Ein</strong>sicht teilte er seinem<br />

Briefpartner Frédéric Mistral ausdrücklich mit<br />

(12).<br />

Auf der Suche nach einem Masterplan<br />

In den 1980er Jahren schlug Cathomas einen<br />

Sieben-Punkte- oder Masterplan vor. Dieser nimmt<br />

sich obenhin betrachtet gut aus. Natürlich ist er<br />

sich bewusst, dass kein noch so klug<br />

ausgeheckter und durchdachter Leitplan alle<br />

auftauchenden Schwierigkeiten abdecken oder<br />

lösen kann.<br />

Aufgrund der Erfahrungen wird man aber Abstriche<br />

daran machen dürfen. Wer kann den Romanen ein<br />

gesichertes Gebiet verbürgen, in dem die Sprache<br />

in der einheitlichen, nirgends ges<strong>pro</strong>chenen Form


von RG einen wirklichen Nutzen und wo letzteres<br />

neben den Idiomen eine klare Stellung hat oder<br />

haben wird? Wer vermag in diesen Schon- oder<br />

Kerngebieten eine solide wirtschaftliche<br />

Grundlage zu garantieren? Und so wie die Dinge<br />

liegen: Wer kann der romanischen Volksschule<br />

eine gemeinsame überregionale Schriftsprache<br />

aufzwingen oder sie ihr verordnen?<br />

"Die Schüler haben ein Grundrecht, <strong>nicht</strong> verbildet<br />

zu werden" befindet der deutsche<br />

Bundesverwaltungsrichter und Schulrechtsexperte<br />

Jörg Berkemann, der in einer frühen Vorphase<br />

sich mit massiven Kritiken von Eltern und<br />

Gemeinschaften an der neuen deutschen<br />

Schreibweise zu befassen hatte. Und weiter<br />

schreibt er: "Nur vernünftige<br />

`Gemeinwohlzwecke` könnten [in diesem Bereich]<br />

Grundrechtseingriffe legitimieren" (13). Wenn<br />

90% der romanischen Gemeinden heute eine<br />

idiomatisch geführte Grundschule wollen, muss<br />

man dieses `Gemeinwohlzweck` wohl <strong>nicht</strong> weit<br />

suchen.<br />

Bilinguität der Rätoromanen<br />

Bilinguität der Rätoromanen ist <strong>nicht</strong> erst heute eine<br />

Tatsache. Es gilt Wege zu finden, diese möglichst<br />

gut zu steuern und zu bewältigen. <strong>Ein</strong>e neue von<br />

oben verordnete Form des Rätoromanischen<br />

("Logik von oben") dürfte in diesen Bemühungen<br />

eher die Ladung zum Kippen bringen.<br />

Der unerwartete Erfolg von RG sei zum eigenen<br />

Stolperstein geworden, kommentierte Pieder<br />

Caminada irgendwo in der Südostschweiz (SO).<br />

Man kann es so sehen. Der hauptsächlich medial<br />

"aufgebauschte" und herbeigeredete Erfolg lässt<br />

sich aber auch anders einordnen. Ist es <strong>nicht</strong><br />

vielmehr so, dass RG, mit oder ohne Erfolg, sich<br />

selber und die tragenden Idiome mit in den<br />

Absturz zu reissen droht, wenn es <strong>nicht</strong> gelingt,<br />

das Ruder herumzudrehen, eine vernünftige<br />

Balance zu finden und in der Sprach- und


Kulturbewegung Prioritäten zu setzen welche die<br />

tatsächlichen Bedürfnissen der Sprachträger<br />

abbilden. Bei den oben dargestellten<br />

Verhältnissen von Idiomen und RG in der<br />

Grundschule dürfte eine vernünftige faktische<br />

und finanzielle "Justierung" der Waage kein allzu<br />

grosses Kopfzerbrechen verursachen.<br />

Schulterschluss mit den Medien<br />

Durch einen Schulterschluss mit den Medien<br />

(Bündner Zeitung/SO) gelang der LR eine starke<br />

Allianz. <strong>Ein</strong>e Win-win-Situation wie es so schön<br />

heisst. Die angestrebte `Unique Sells Proposition`<br />

ist "unique" (einmalig) vor allem in dem Sinn,<br />

dass sie erlaubt, manches bewusst zu sichten,<br />

auszugrenzen oder gar das zu verschweigen was<br />

<strong>nicht</strong> ins Konzept passt.<br />

Das Rätoromanische zum Dauerthema in den<br />

deutsch- und anderssprachigen Zeitungen machen<br />

zu wollen, birgt auch echte Gefahren und Tücken.<br />

Und diese zeigten sich mehrmals eindeutig. Etwa<br />

im Zusammenhang mit der romanischen<br />

Tageszeitung (La Quotidiana) und ihrer impliziten<br />

Verschränkung mit der Zusammensetzung und<br />

Finanzierung der ANR (Agentura da Novitads<br />

Rumantscha). Sie kam zum Ausdruck anlässlich<br />

der Verlegung des Bundesparlaments nach Flims<br />

(Herbst 2006) und den daraus entstehenden <strong>nicht</strong><br />

endenwollenden Diskussionen, namentlich jener<br />

mit dem Journalisten Urs Paul Engler von der<br />

"Weltwoche" (14), schliesslich in den<br />

Wortgefechten mit Direktor Andreas Wieland mit<br />

Bezug auf mangelnde Deutschkenntnisse von<br />

romanischen Lehrlingen. Von den heutigen<br />

Problemen der romanischen Schulen <strong>nicht</strong> zu<br />

reden! Sie zeigt sich auch darin, dass Mitteilungen<br />

über das Romanische in der Presse auffällig<br />

gleichgeschaltet daherkommen, ja in deutschen<br />

und romanischen (tw. <strong>vom</strong> gleichen Verlag<br />

betriebenen) Zeitungen, je nachdem, bewusst<br />

anders dargestellt oder gar unterdrückt werden.<br />

Wo hinaus wollen eigentlich englisch verfasste,


wirre Darstellungen über das Problem der<br />

Schulsprache im Val Müstair im amerikanischen<br />

"The Wallstreet Journal" (Samstag, 1. Sept. 2011)<br />

oder Kassandrarufe zur Rettung des<br />

Rätoromanischen durch RG im Zürcher<br />

Boulevardblatt "20 Minuten" <strong>vom</strong> 5. Oktober 2012<br />

(15) ?<br />

Zusammenfassend lässt sich sagen: Das andauernde<br />

Ausbreiten von Streitereien in den<br />

anderssprachigen Medien strapaziert die Bündner<br />

und Schweizer Nachbarn arg. Je länger je mehr<br />

werden sie Mühe haben, Verständnis dafür<br />

aufbringen.<br />

Die letzte Konsequenz dieser unheiligen Allianz<br />

ist augenfällig und vielleicht geradezu gewollt.<br />

Die Sprachplaner bemühen sich offen oder<br />

verschlüsselt, die anderssprachigen Bündner dafür<br />

zu gewinnen, die widerborstigen Romanen<br />

endlich zur Vernunft zu bringen. "Sollen die<br />

Romanen in sprachpolitischen Fragen allein<br />

entscheiden?" (16) Dieses Vorspiel kommt im<br />

Beitrag von Cathomas scheinheilig daher. Wahr<br />

ist, dass die "verquere" Idee schon lange in den<br />

Köpfen mancher Leute geisterte. Wird man es<br />

ihnen abnehmen, wenn sie sich heute fast<br />

gebetsmühlenartig davon distanzieren? Es ist und<br />

bleibt so "dass im besten Fall...die<br />

anderssprachigen Mitstimmenden der<br />

rätoromanischen Minderheit dazu verhelfen,<br />

Entscheide zu fällen, die über Partikularinteressen<br />

hinausgehen und langfristig für alle besser sind",<br />

oder wie es von juristischer Warte herab tönt:<br />

"Daran führt kein Weg vorbei!" (17). Die<br />

Warnungen von Romedi Arquint und Martin<br />

Candinas vor solchen <strong>nicht</strong> zu verantwortenden<br />

Vorschlägen und deren Folgen wird man<br />

gebührend zur Kenntnis nehmen.<br />

Vielis Traum anders gedeutet


Vielis Traum (vgl.VIELI, Regurdientschas 1963,39), den<br />

Cathomas am Schluss seines immer<br />

leidenschaftlicher werdenden Berichtes neu<br />

aufleben lässt, ist <strong>nicht</strong> so abwegig.<br />

Ramun Vieli unterrichtete an der Bündner<br />

Kantonsschule mit Erfolg Schüler aus dem ganzen<br />

Rhein- und Albula-Julia-Gebiet gemeinsam, also<br />

aus Mittelbünden und der Surselva. Er und sein<br />

Mentor, Gion Cahannes, haben es fertig gebracht,<br />

eine Schriftsprache zu formen, die klare Konturen<br />

hat. Frei jeglicher Träumerei sagt es Vieli am<br />

besten selber: "Die endgültige Festlegung einer<br />

einheitlichen Schriftsprache für das gesamte<br />

Rheingebiet dürfte nur noch eine Frage der Zeit<br />

sein. Ganz verfehlt wäre es aber, eine<br />

Verschmelzung dieser Schriftsprache mit<br />

derjenigen des Engadins anstreben zu wollen"<br />

(18).<br />

Bekanntlich ist seine Vision <strong>nicht</strong> ganz in Erfüllung<br />

gegangen. Und gerade in diesem Zusammenhang<br />

kann man der LR den Vorwurf <strong>nicht</strong> ersparen,<br />

dass sie das Ziel Vielis gutmeinend durchkreuzt<br />

hat, indem sie, zumal nach 1944, die<br />

Absetzbewegung Mittelbündens <strong>vom</strong><br />

Surselvischen kräftig förderte.<br />

Ramponierte Strukturen<br />

Am Schluss seiner Ausführungen muss der<br />

Verfasser eingestehen, dass rätoromanische<br />

Strukturen, die er eigenwillig und souverän<br />

gemanagt hat, ziemlich ramponiert dastehen.<br />

<strong>Ein</strong>mal die LR mit schmalen Finanzen, ohne klare<br />

Zielsetzung, sodann die regionalen Zentren, die<br />

tw. unter der gleichen Orientierungslosigkeit<br />

leiden und daher alles andere als innovativ in<br />

Erscheinung treten.<br />

In einem 2011 verfassten, unveröffentlichten<br />

Beitrag zeigt Martin Bundi, dass es <strong>nicht</strong> damit<br />

getan ist, bedenkliche Entwicklungen etwa im<br />

Schulwesen im Albulatal und im Schams zu<br />

"observieren", sondern aktiv einzuwirken und


Lösungen vorzuschlagen. Seine breit angelegte<br />

Auslegeordnung mit Bezug auf den Ist-Zustand der<br />

Bemühungen um das Rätoromanische könnte,<br />

zusammen mit anderen Vorschlägen, die<br />

Grundlage für eine umfassende Diskussion bilden,<br />

wie Sprach- und Kulturpolitik unter den<br />

Rätoromanen aber auch im Rahmen des Kantons<br />

und der Schweiz in den kommenden Dezennien<br />

aussehen könnte (19).<br />

Anmerkungen:<br />

1 B.CATHOMAS <strong>Sprachen</strong> <strong>fallen</strong> <strong>nicht</strong> <strong>vom</strong> Himmel. Zur<br />

Sprachplanung in der Rätoromania, in: Schriftenreihe des<br />

Arbeitskreises für interregionale Geschichte des mittleren<br />

Alpenraumes, Band 2/2012, 125 - 147. Hsg.: Gerhard<br />

Wanner/Georg Jäger; Abkz.: CATHOMAS 2012.<br />

2 N. ZINGARELLI Vocabolario della lingua italiana. Novissima<br />

edizione interamente riveduta, 1944; pref. "La lingua è opera di<br />

civiltà e non di natura".<br />

3 A. DECURTINS, Gedanken zum Thema "Das Engadin und seine<br />

(literarische) Schrifttradition", in: BM 1/2004, 51 ff. - Zu Bifrun<br />

vgl. Maria H.J. FERMIN, Le vocabularie de Bifrun dans sa<br />

traduction des quatre évangiles, p.11 "Bifrun, le notaire<br />

montagnard, doit être considéré comme un génie linguistique<br />

hautement doué".<br />

4 Auf sozialpolitische, mitunter "manipulierende" Strategien der<br />

Soziolinguistik nimmt eine Schrift der Bank Julius Bär & Co AG<br />

<strong>vom</strong> 3. Mai 1979 Bezug ("Aus dem Wochenbericht der Bank<br />

Julius Bär & Co AG", Tiposkript, 4 Seiten). - Vgl. auch<br />

R.C.CORAY, Rumantsch Grischun: Sprach- und Machtpolitik in<br />

Graubünden, in: Ann. 123/2010, 147-165.<br />

5 C. FRY, Caspar Decurtins (1855-1916), Il campiun della<br />

Renaschientscha Romontscha. Ed. LR (ohne Datum).<br />

6 C. DECURTINS, Rätoromanische Chrestomathie, Bd. 4/2, S. 974-76.<br />

7 Bettina BERTHER, Gl`interess dils Romontschs sper la mar per ils<br />

Romontschs sin las alps, in: Ann. 123/2010, 47, bes. 72 ff.<br />

8 G. DEPLAZES, Geschichte der sprachlichen Schulbücher im<br />

romanischen Rheingebiet. Arbeiten zur Psychologie, Pädagogik und<br />

Heilpädagogik, Bd.1,93 ff. - Vgl. G.Gadola, Pader Baseli Carigiet e<br />

siu temps (1811-1883), in: Ischi XLVI, 81 f., ibid. 119 ff.


9 H. MORF, Die sprachlichen <strong>Ein</strong>heitsbestrebungen in der rätischen<br />

Schweiz, Bern 1888, bes. S. 41 ff.<br />

10 Il Sursilvan, Nr. 51, 1887, <strong>vom</strong> 16.12. Excurs rhätoromonsch : "La<br />

partischaunadad en favur d`ina part litigonta ei lient trop<br />

transparenta dall`ançetta tochen la fin".<br />

11 CATHOMAS 2012, 125 f.,129 f.<br />

12 Vgl. N. 7.<br />

13 Der Spiegel, Nr. 44 <strong>vom</strong> 28.10. 96, S.71 f. Logik von oben. (Ist<br />

die Reform vor den Gerichten zu stoppen? Verfassungsrechtler<br />

sehen Chancen).<br />

14 Tages-Anzeiger <strong>vom</strong> Donnerstag, 24.Mai 2007, Analyse 11. D.<br />

FOPPA: Seldwyla auf Rätoromanisch. Zur Rassismus-Klage gegen<br />

Urs Paul Engler.<br />

15 .Zürcher Boulevard-Blatt `2o Minuten`<strong>vom</strong> Freitag, den 5.Oktober<br />

2012. "Kommt Hilfe zu spät? FREIBURG-. Vor 30 Jahren wurde<br />

für die rätoromanischen Dialekte [sic] eine gemeinsame<br />

Schriftsprache geschaffen. Damit sollte unsere vierte Landessprache<br />

gerettet werden.<br />

16 Cathomas 2012, 141 f.<br />

17 Südostschweiz, Donnerstag, den 24. Mai 2012. Region, 3. Denise<br />

Alig: Volksinitiative zu Romanischunterricht wird vorbereitet.<br />

18 R.Vieli: Das Ringen der Rätoromanen um ihre Muttersprache, Sep.<br />

"Rätia", Februar 1938,12. - Vgl. auch La Quotidiana, <strong>vom</strong> 21.<br />

Februar 2011,11, A.DECURTINS, Scola primara romontscha e<br />

rumantsch grischun.<br />

19 M. Bundi, "Zur Situation des Rätoromanischen in Graubünden"<br />

(Dezember 2011, Kopie, 17 Seiten).

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