Zur Umsetzung der EMRK in der Schweiz - Hydepark
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He<strong>in</strong>z Aemisegger, <strong>Zur</strong> <strong>Umsetzung</strong> <strong>der</strong> <strong>EMRK</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>in</strong>: Jusletter 20. Juli 2009<br />
erfüllt, erachtet <strong>der</strong> EGMR den nationale Rechtsweg im<br />
S<strong>in</strong>ne von Art. 35 lift. 1 <strong>EMRK</strong> als wirksam erschöpft. Wie<br />
vorn unter liffer 2.3.3 ausgeführt, genügt diese Rügeform im<br />
Lichte von Art. 106 Abs. 2 BGG für das bundesgerichtliche<br />
Verfahren grundsätzlich jedoch nicht. An<strong>der</strong>s verhält es sich<br />
beim Verfahren vor Bundesverwaltungsgericht. 105<br />
[Rz 43] Damit übt <strong>der</strong> EGMR h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> E<strong>in</strong>tretensvor<br />
aussetzungen <strong>der</strong> Rüge- und Begründungspflicht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />
Verfahren fal/bezogen e<strong>in</strong>e grosszügigere E<strong>in</strong>tretens-Praxis<br />
als das Bundesgericht im bundesgerichtlichen Verfahren ge<br />
stützt auf Art. 106 Abs. 2 BGG.<br />
[Rz 44] In <strong>der</strong> Praxis liess es das Bundesgericht namentlich<br />
im Bereich <strong>der</strong> persönlichen Freiheit im Straf- und Strafpro<br />
zessrecht trotz <strong>der</strong> für Grundrechtsverletzungen geltenden<br />
qualifizierten Rüge- und Begründungspflicht von Art. 90<br />
Abs. 1 lit. b OG häufig genügen, dass die entsprechenden<br />
Rügen s<strong>in</strong>ngemäss vorgebracht wurden. Diese Rechtsprechung<br />
wird auch <strong>in</strong> Anwendung des heutigen Art. 106 Abs. 2<br />
BGG fortgesetzt. 106 Teilweise dürfte dieses pragmatische<br />
Vorgehen auf den E<strong>in</strong>fluss <strong>der</strong> obgenannten Rechtsprechung<br />
des EGMR zurückzuführen se<strong>in</strong>. Es trägt jedenfalls <strong>in</strong><br />
konstruktiver Weise dazu bei, die grundsätzlich bestehende<br />
Diskrepanz zwischen den <strong>in</strong>nerstaatlich geltenden strengen<br />
Vorschriften betreffend die Rüge- und Begründungspflicht<br />
und <strong>der</strong> grosszügigen E<strong>in</strong>tretenspraxis des EGMR erheblich<br />
abzuschwächen.<br />
3.2.2 Sachverhalt (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 1 und<br />
2 BGG)<br />
[Rz 45) Der EGMR legt se<strong>in</strong>em Urteil häufig e<strong>in</strong>en vom «an<br />
gefochtenen» letzt<strong>in</strong>stanzlichen nationalen Entscheid ab<br />
weichenden Sachverhalt zugrunde. Der so ergänzte Sach<br />
verhalt enthält oft Fakten, die im nationalen Verfahren mit<br />
Blick auf <strong>in</strong>nerstaatliche Verfahrensregeln nicht rechtsgültig<br />
vorgebracht worden s<strong>in</strong>d, nicht geprüft werden durften o<strong>der</strong><br />
2A.59012003 vom 9. März 2004 (Befreiung vom Wehrpflichtersatz). Im<br />
Urteil des EGMR Car/san gegen <strong>Schweiz</strong> vom 6. November 2008 §§ 45<br />
50 betreffend das Urteil des Bundesgerichts 5P.199/2006 vom 13. Juli<br />
2006 hat <strong>der</strong> Gerichlshof feslgehalten, <strong>der</strong> durch e<strong>in</strong>en Anwalt vertretene<br />
amerikanische Beschwerdeführer, <strong>der</strong> selbst Jurist sei, habe zwar die<br />
Rüge <strong>der</strong> Verletzung von Art. 8 <strong>EMRK</strong> im <strong>in</strong>nerstaatlichen Verfahren nicht<br />
ausdrücklich erhoben. Er habe diese <strong>EMRK</strong>-Garantie jedoch vor Bundesgericht<br />
s<strong>in</strong>ngemäss angerufen und damit die Voraussetzung <strong>der</strong> Erschöplung<br />
des <strong>in</strong>nerstaallichen Instanzenzuges erlüllt (Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung<br />
über die Rückführung e<strong>in</strong>es K<strong>in</strong>des nach dem Haager Übere<strong>in</strong>kommen<br />
vom 25. Oktober 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte <strong>in</strong>ternationaler<br />
K<strong>in</strong>desentführung (HEntfÜ; SR 0.211.230.02).<br />
105 CHRISTOPH Au ER <strong>in</strong>: Auer/Müller/Sch<strong>in</strong>dler, Kommentar zum Bundesgesetz<br />
über das Verwaltungsverfahren (VwVG), Zürich/SI. Gallen 2008 zu Art. 12<br />
N. 12 S. 195.<br />
106 BGE 122 V47 E. 4a S. 58;120 la 31 E. 4b S. 40; 120 la 247 E. 2a S. 250; 118<br />
la 64 E.3b S. 75; 1061V 85 E. 2b S. 88; 1B_89/2008 vom 28. April 2008 E.<br />
3.2; lBJ2/2007 vom 16 Mai 2007 E. 2; 6P.17212006 vom 28. Dezember<br />
2006 E. 2; 1P.63/2003 vom 8. Mai 2003 E. 2.<br />
12<br />
sich erst nach dem letzt<strong>in</strong>stanzlichen nationalen Entscheid<br />
ereignet haben.'O?<br />
3.2.3 Obiter dicta <strong>in</strong> nationalen Nichte<strong>in</strong>tretensent<br />
scheiden<br />
[Rz 46) Bisweilen fügt das Bundesgericht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Begründung<br />
se<strong>in</strong>es Nichte<strong>in</strong>tretensentscheides im S<strong>in</strong>ne von obiter dicta<br />
materielle Begründungselemente an, um se<strong>in</strong> Urteil für die<br />
Parteien plausibler zu machen. Dies nimmt <strong>der</strong> EGMR mitun<br />
ter zum Anlass, sich <strong>in</strong>soweit (trotz des nationalen Nichte<strong>in</strong><br />
tretensentscheides) bezogen auf diese obiter dicta materiell<br />
mit <strong>der</strong> Sache zu befassen. !OB Das ist unter dem Gesichts<br />
punkt von Art. 35 liff. 1 <strong>EMRK</strong> fragwürdig und für den natio<br />
nalen Richter unbefriedigend. Er steht vor <strong>der</strong> Wahl, solche<br />
obiter dicta konsequent wegzulassen o<strong>der</strong> sich <strong>in</strong> Missach<br />
tung <strong>in</strong>nerstaatlicher Formvorschriften mit e<strong>in</strong>er Sache materiell<br />
ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>zusetzen, wenn er e<strong>in</strong>e <strong>EMRK</strong>-Verletzung<br />
erkennt. Jedenfalls sollten Urteilsmotive dieser Art sehr sorgfältig<br />
abgefasst werden.<br />
3.3 Beispiele<br />
3.3.1 Erweiterung des Streitgegenstandes duch den<br />
EGMR<br />
[Rz 47] Brian Eyre McHugo hat vor Bundesgericht geltend<br />
gemacht, die vom luger Obergericht festgestellte Verletzung<br />
des Beschleunigungsgebots verbiete es gemäss Art. 6 lift. 1<br />
<strong>EMRK</strong>, ihm die Verfahrenskosten aufzuerlegen und e<strong>in</strong>e Ent<br />
schädigung zu verweigern. Die blosse Feststellung, es sei im<br />
Strafverfahren Art. 6 lift. 1 <strong>EMRK</strong> verletzt worden, hat er vom<br />
Bundesgericht angesichts <strong>der</strong> vom Obergericht festgestell<br />
ten Verletzung des Beschleunigungsgebots nicht verlangt.<br />
Das Bundesgericht entschied, die angefochtene Kosten- und<br />
Entschädigungsregelung verletze die Unschuldsvermutung<br />
im S<strong>in</strong>ne von Art. 6 liff. 2 <strong>EMRK</strong> nicht. Daran än<strong>der</strong>e auch<br />
die festgestellte Verletzung des Beschleunigungsgebots<br />
nichts. Der EGMR hat die Auffassung des Bundesgerichts<br />
h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> im bundesgerichtlichen Verfahren alle<strong>in</strong><br />
streitigen Problematik <strong>der</strong> Unschuldsvermutung geteilt, die<br />
Beschwerde aber unter dem Titel <strong>der</strong> Verfahrensdauer ent<br />
gegengenommen, obwohl diese für sich alle<strong>in</strong> nicht Streitgegenstand<br />
des bundesgerichtlichen Verfahrens war und dazu<br />
vor Bundesgericht auch ke<strong>in</strong> entsprechen<strong>der</strong> Antrag gestellt<br />
wurde. In <strong>der</strong> Folge hat <strong>der</strong> EGMR die <strong>Schweiz</strong> wegen Verletzung<br />
von Art. 6 liff 1 <strong>EMRK</strong> (Nichte<strong>in</strong>haltung des «delai<br />
raisonnable,,) verurteilt. 109<br />
'07 s. Beispiele <strong>in</strong> Zifl. 3.3.<br />
108 HAEfliGER/SCHURMANN (fN. 9), S. 408; Urteil des EGMR Huber Julta gegen<br />
Scnweiz vom 23. Oklober 1990 ; Urteil des EGMR Vere<strong>in</strong> gegen Tierfabriken<br />
(VgT) gegen Scnweizvom 4. Oktober 2007; LANTER (fn. 17). S. 215.<br />
109 Urteil des EGMR McHuga gegen <strong>Schweiz</strong> vom 21. September 2006 betreffend<br />
das Urteil des BundesgerichIs 1P.14211999 vom 24. Juni 1999; Zulassungsenlscheid<br />
des EGMR McHugo gegen <strong>Schweiz</strong> vom 12. Mai 2005