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Zur Umsetzung der EMRK in der Schweiz - Hydepark

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He<strong>in</strong>z Aemisegger, <strong>Zur</strong> <strong>Umsetzung</strong> <strong>der</strong> <strong>EMRK</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>in</strong>: Jusletter 20. Juli 2009<br />

Inhallsü bersieht<br />

1 E<strong>in</strong>leitung<br />

2. Die Anwendung <strong>der</strong> <strong>EMRK</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong><br />

2.1 Vorrang des Völkerrechts<br />

2.2 Die Rechtsweggarantie<br />

2.2.1 Inhalt<br />

2.2.2 Übergangsrechl für kantonale Ausführungsvorschrilten<br />

2.3 Vertahren vor Bundesgericht<br />

2.3.1 E<strong>in</strong>heitsbeschwerden und subsidiäre Verfassungsbeschwerde<br />

2.3.2 Revision im Falle <strong>der</strong>Verletzung <strong>der</strong> <strong>EMRK</strong><br />

2.3.3 Vorausselzungen <strong>der</strong> Beschwerde ans Bundesgericht- Beschränkung von<br />

Vorbr<strong>in</strong>gen und Prüfungsmöglichkeilen<br />

2.3.3.1 Früheres Recht (OG)<br />

2.3.3.2 Bundesgerichtsgesetz<br />

2.23.3 Bedeulung für die Garantien <strong>der</strong> <strong>EMRK</strong><br />

2.3.4 Gegenstandslosigkeit des Verfahrens- aktuelles praktisches Rechtsschutz<strong>in</strong>leresse<br />

2.3.4.1 Rechtsprechung des Bundesgerichts<br />

2.3.42 Krilik- Folgerung<br />

3. Erschöpfung des <strong>in</strong>nerstaatlichen Rechtswegs als Zulässigkeitsvorausselzung <strong>der</strong><br />

Beschwerde an den EGMR<br />

3.1 Inhall und Bedeutung von Art. 35 Abs. 1<strong>EMRK</strong><br />

3.2 Nichle<strong>in</strong>tretensentscheide <strong>der</strong> Konvenlionsstaaten<br />

3.2.1 Qualifizierte Rüge- und Begründungspflicht (Art. 106 Abs. 2BGG)<br />

3.2.2 Sachverhalt (Art. 97 Abs. 1und Art. 105 Abs. 1und 2BGG)<br />

3.2.3 Obiler dicta <strong>in</strong> nationalen Nichle<strong>in</strong>trelensentscheiden<br />

3.3 Beispiele<br />

3.3.1 Erweilerung des Sireitgegenstandes duch den EGMR<br />

3.3.2 Begründungspflichi<br />

3.3.3 Erweiterung des Sachverhalts durch den EGMR<br />

3.4 Folgerung<br />

4. Beispiele aus <strong>der</strong> Rechtsprechung des Bundesgerichts<br />

4.1 Öffentlichkeitspr<strong>in</strong>zip<br />

4.1.1 Allgeme<strong>in</strong>es<br />

4.12Öffentliche Gerichlsverhandlungen<br />

4.1.3Öffentlich zugängliche Gerichtsurteile<br />

4.2 Fairness im Verfahren<br />

4.2.1 Unvore<strong>in</strong>genommenheit des Richters<br />

4.2.1.1 Verbotene Doppelfunklion<br />

4.2.1.2 Befangener Oberrichter wegen «Auffor<strong>der</strong>ung zum Rückzug <strong>der</strong><br />

Berufung»<br />

4.2.1.3 Ablehnung von Richlern wegen «Fe<strong>in</strong>dschaft» gegenüber dem Anwalt<br />

des Beschwerde1ührers (Art. 30 Abs. 1BV und Art. 6Zift. 1<strong>EMRK</strong>)<br />

4.2.2 Haftprüfungsverfahren<br />

42.3 Anspruch auf öffentliche Verhandlung<br />

4.2.4 Rechtliches Gehör<br />

4.2.5 Beschleunigungsgebot- Feststellung von dessen Verletzung im <strong>in</strong>nerstaatlichen<br />

Vertahren<br />

4.2.5.1 Fall McHugo<br />

4.2.5.2 Fall Munari<br />

4.2.6 Miranda-Rechle<br />

4.3 Zugang zum Gericht- Terrorismus<br />

4.4 Freiheit <strong>der</strong> Me<strong>in</strong>ungsäusserung (Art. 16 BV, Art. 10 <strong>EMRK</strong>)<br />

4.4.1 Fall Hertel<br />

4.4.2 Fall Vere<strong>in</strong> gegen Tierfabriken (VgT)<br />

4.4.3 Fall Stoll<br />

4.4.4 Fall Foglia<br />

4.5 Umweltrecht<br />

4.6 Namensrecht<br />

4.7 Demonslralionsverbol<br />

1. E<strong>in</strong>leitung<br />

[Rz 1] In den letzten drei Jahrzehnten war <strong>der</strong> E<strong>in</strong>fluss <strong>der</strong><br />

Europäischen Menschenrechtskonvention' auf Rechtspraxis<br />

und Rechtsalltag <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> sehr gross. 2 Die <strong>Schweiz</strong> hat<br />

die <strong>EMRK</strong> im Jahre 1974 ratifiziert. Das Bundesgericht hat die<br />

dar<strong>in</strong> verankerten Grundsätze hierauf ohne Verzug angewen­<br />

det. Der <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> bei <strong>der</strong> <strong>Umsetzung</strong> des Völkerrechts<br />

praktizierte Monismus" hat sich dabei positiv ausgewirkt." Der<br />

damit verbundene Vorrang des Völkerrechts gegenüber dem<br />

Landesrecht spielt bei <strong>der</strong> Durchsetzung von Menschenrech­<br />

ten, wie sie die <strong>EMRK</strong> schützt, e<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>s grosse Rolle. 5<br />

In diesem Zusammenhang ist auf den nachstehend e<strong>in</strong>ge­<br />

hen<strong>der</strong> behandelten Rechtsbehelf <strong>der</strong> Revision 6 gemäss<br />

Art. 122 BGG7 h<strong>in</strong>zuweisen, welcher das Bundesgericht <strong>in</strong><br />

bestimmten Fällen verpflichtet, den Vorschriften <strong>der</strong> <strong>EMRK</strong><br />

zum Durchbruch zu verhelfen. Das Bundesgericht hat die<br />

Grundrechlsgarantien des Bundes und <strong>der</strong> Kantone <strong>in</strong> sei­<br />

ner Rechtsprechung fortwährend aufe<strong>in</strong>an<strong>der</strong> abgestimmt,<br />

konkretisiert und fortentwickelt. Ausgelöst durch verfas­<br />

sungsrechtliche Beschwerden e<strong>in</strong>zelner Rechtssuchen<strong>der</strong><br />

(Individualbeschwerden) hat es dabei immer wie<strong>der</strong> auch un­<br />

geschriebene Verfassungsrechte geschaffen, welche später<br />

regelmässig formell <strong>in</strong> die Bundesverfassung aufgenommen<br />

wurden." In diese Rechtsprechung hat es die Garantien <strong>der</strong><br />

I Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze <strong>der</strong> Menschenrechte<br />

und Grundfreiheiten, Europäische Menschenrechtskonvention, <strong>EMRK</strong>, SR<br />

0.101.<br />

2 HEINZ AEMISEGGER, <strong>Zur</strong> <strong>Umsetzung</strong> von Justizreform und Bundesgerichtsgesetz<br />

im Lichte <strong>der</strong> <strong>EMRK</strong>, <strong>in</strong>: Stephan Breitenmoser/Bernhard Ehrenzellerl<br />

Marco Sassoli/Walter Slolfel/Beatrice Wagner Pleilfer, Menschenrechte,<br />

Demokratie und Rechtsstaat, Liber amicorum Luzius Wildhaber, Zürichl<br />

SI. Gallen 2007, S. 3 If.; HEINZ ÄEMISEGGER, Die Bedeutung des US-amerikanischen<br />

Rechts bzw. <strong>der</strong> Rechlskullur des common law <strong>in</strong> <strong>der</strong> Praxis<br />

schweizerischer Gerichte - am Beispiel des Bundesgerichts, AJP 2008<br />

18 ff.<br />

J BGE 125 11 417 E. 4a mit H<strong>in</strong>weisen; NICOLAS MICHEL, L'impregnation du<br />

droit etatique par I'ordre juridique <strong>in</strong>ternational. <strong>in</strong>: Daniel Thürer / Jean<br />

FranQois Aubert / Jörg Paul Müller (Hrsg.), Verfassungsrecht <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>,<br />

Zürich 2001, § 4 N. 12 und 151.; Ivo HANGARTNER, <strong>in</strong>: Bernhard Ehrenzeller<br />

/ Philippe Mastronardi / Ra<strong>in</strong>er J. <strong>Schweiz</strong>er / Klaus A. Vallen<strong>der</strong> (Hrsg.),<br />

Die <strong>Schweiz</strong>erische Bundesverfassung, (nachfolgend zitiert als St. Galler<br />

Kommentar), 2. Auflage 2008, zu Art. 5 N. 45 ff.: PASCAL MAHON, <strong>in</strong>:<br />

Jean-FranQois Auberl / Pascal Mahon, Petil commentaire de la Constilution<br />

fe<strong>der</strong>al de la Confe<strong>der</strong>ation suisse du 18 avril1999, Neuchätel2003, zu<br />

Art. 5 N. 17 If.<br />

• GEROLD STEINMANN, Rechtsprechung des <strong>Schweiz</strong>erischen Bundesgerichis<br />

zur Europäischen Menschenrechtskonvention, <strong>in</strong>: The History of the Supreme<br />

Courts of Europe and Ihe Developmenl of Human Rights, Debrecen<br />

1999, S. 494.<br />

, BGE 125 I1 417 E. 4d S. 425; BGE 99 Ib 39, 44 = Pr 62 Nr. 106 (Urteil vom<br />

2. März 1973); vgl. h<strong>in</strong>ten Zilf. 2.1.<br />

, Vgl. BGE 124 11 480.<br />

, Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht, BGG, SR<br />

173.110; vgl. h<strong>in</strong>ten Ziff. 2.3.2.<br />

• Persönliche Freiheit (Art. 7 und 10 BV, BGE 89 I 92 E. 3 S. 9B); Eigen­<br />

5. Schlussbemerkung tumsgarantie (Art. 26 BV; BGE 88 I 248 E. 3 S. 255); Geme<strong>in</strong>deautonomie<br />

(Art. 50 BV; BGE 93 1427 E. 3c S. 433 f.); Me<strong>in</strong>ungsfreiheit (Art. 16 BV;<br />

2


He<strong>in</strong>z Aemisegger, <strong>Zur</strong> <strong>Umsetzung</strong> <strong>der</strong> <strong>EMRK</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>in</strong>: Jusletter 20. Juli 2009<br />

<strong>EMRK</strong> mit e<strong>in</strong>bezogen und ihnen dabei Verfassungsrang bei­<br />

gemessen. 9 Dadurch erhielten sie grosse Durchschlagskraft'o<br />

und bee<strong>in</strong>flussten Rechtssetzung und Rechtsanwendung<br />

stark. Die <strong>EMRK</strong>-Normen wurden entwe<strong>der</strong> richtungswei­<br />

send bei <strong>der</strong> Auslegung <strong>in</strong>nerstaatlichen Verfassungsrechts<br />

berücksichtigt o<strong>der</strong> direkt als Urteilsgrundlage beigezogen.<br />

Häufig weist das Bundesgericht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Urteilen darauf<br />

h<strong>in</strong>, die angerufenen <strong>EMRK</strong>-Garantien wiesen die gleiche<br />

o<strong>der</strong> ke<strong>in</strong>e weitergehende Tragweite auf wie die gleichzeitig<br />

als verletzt gerügten <strong>in</strong>nerstaatlichen Verfassungsgarantien<br />

und entscheidet die Sache hierauf primär <strong>in</strong> Anwendung von<br />

schweizerischem Bundesverfassungsrecht." Die Pr<strong>in</strong>zipien<br />

des «fair trial» gemäss Art. 6 Zift. 1 <strong>EMRK</strong> und Art. 29 Abs. 1<br />

BV wendet es als allgeme<strong>in</strong>e Verfahrensgrundsätze generell<br />

und nicht nur <strong>in</strong> zivil- und strafrechtlichen Verfahren an."<br />

[Rz 2] Die <strong>Umsetzung</strong> <strong>der</strong> <strong>EMRK</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> darf zweifel­<br />

los als «Erfolgsgeschichte» bezeichnet werden. Dabei s<strong>in</strong>d<br />

die rechtsanwendenden Organe des Bundes und <strong>der</strong> Kanto­<br />

ne aber immer wie<strong>der</strong> auf mitunter heftige Kritik und Wi<strong>der</strong>­<br />

stände gestossen.<br />

[Rz 3] Persönlich habe ich dies deutlich zu spüren bekommen,<br />

nachdem ich als damaliger Vizepräsident des Obergerichts<br />

des Kantons Schaffhausen die «Weisung des Obergerichts<br />

über die Rechtsstellung des Beschuldigten im Strafprozess<br />

vom 6. Dezember 1977,) erarbeitet hatte, <strong>in</strong> welcher die ent­<br />

sprechenden Grundsätze <strong>der</strong> <strong>EMRK</strong> für den Schaffhauser<br />

Strafprozess, namentlich für das Haftprüfungsverfahren prä­<br />

zisiert wurden. Das führte zu heftigen Reaktionen, nament­<br />

lich <strong>der</strong> Strafverfolgungsbehörden und zu Diskussionen im<br />

Kantonsrat.<br />

[Rz 4] Auf Bundesebene liess das Urteil des Europäischen<br />

Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 29. April<br />

1988 LS. Belilos zum Richtererfor<strong>der</strong>nis (amende adm<strong>in</strong>ist­<br />

rative, VD) die auslegende Erklärung <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> zu Art. 6<br />

BGE 87 1114 E. 2 S. 117); Sprachenfreiheit (Art. 18 BV; BGE 91 1480 E.<br />

111 S. 485 1.); Versammlungsfreiheit (Ar\. 22 BV; BGE 96 I 219 <strong>in</strong>sbes. S.<br />

223 f\. E. 4): Abstimmungsfreiheit (Art. 34 BV: BGE 121 1138 E. 3 S. 142<br />

mit zahlreichen H<strong>in</strong>weisen); Nothilfe (Art. 12 BV; BGE 1211367; 12211193<br />

E. 2c/dd S. 198); Willkürverbol und Gleichbehandlungsgebot (Yvo HAN­<br />

GARTNER, St. Galler Kommentar [Fn. 41. zu Art. 5 BV N. 2; RAINER J. SCHWEI­<br />

ZER, St. Galler Kommentar (Fn. 41. zu Art. 8 BV N. 18; BGE 127 I 202 E 3a<br />

S. 205; 116 la 323 [Verhältnismässigkeitl; JORG PAUL MÜLLER, Kommentar<br />

zur Bundesverfassung <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>erischen Eidgenossenschalt vom 29.<br />

Mai 1874, E<strong>in</strong>leitung zu den Grundrechten N. 33).<br />

9 ARTHUR HAEflIGER/fRANK SCHÜRMANN, Die Europäische Menschenrechlskonvention<br />

und die <strong>Schweiz</strong>, 2. Auflage, Bern 1999, S. 36 fl.<br />

'0 BGE 101 Ja 67; 102 la 381; 104 la 91 E.4; 1051a 127 E. 3a; 122111406 E.2;<br />

124 111 2; WALlER KÄlIN, Das Verfahren <strong>der</strong> staatsrechtlichen Beschwerde,<br />

2. Auflage, Bern 1994, S. 48 mit H<strong>in</strong>weisen. Gleiches gilt für die von <strong>der</strong><br />

<strong>Schweiz</strong> ratifizierten Zusatzprotokolle, KÄLIN, a.a.O., S. 48 Anm. 64.<br />

11 Vgl BGE 133 11 E. 5.2 S. 3; 131 131 E. 2.1.2.1 S. 34 f.: je mit H<strong>in</strong>weisen.<br />

12 BGE 133 1100 E. 4.6 S. 104 (1A.56/2006 vom 11. Januar 2007); vgl. auch<br />

Urteil1C_40712007 und lC_409/2007 vom 31. Januar 2008.<br />

3<br />

Zitt. 1 <strong>EMRK</strong>13 h<strong>in</strong>fällig werden. Dies erregte im ganzen Land<br />

grosses Aufsehen. Im Parlament reichte Stän<strong>der</strong>at Danioth<br />

am 6. Juni 1988 e<strong>in</strong> Postulat e<strong>in</strong>, welches be<strong>in</strong>ahe zu e<strong>in</strong>er<br />

eigentlichen «<strong>EMRK</strong>-Krise» geführt hätte. Der Vorstoss wur­<br />

de äusserst knapp mit 15 gegen 16 Stimmen mit dem Stich­<br />

entscheid des Präsidenten abgelehnt. 14 In <strong>der</strong> Debatte wur­<br />

de vor «fremden Richtern» gewarnt und es kam die grosse<br />

Empf<strong>in</strong>dsamkeit <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> gegenüber den Urteilen aus<br />

Strassburg zum Ausdruck. Inzwischen s<strong>in</strong>d die auslegenden<br />

Erklärungen und Vorbehalte <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> zur <strong>EMRK</strong> alle for­<br />

mell aufgehoben worden.'5<br />

[Rz 5] Diese Vorkommnisse mögen e<strong>in</strong>en Grund dafür lie­<br />

fern, dass das Bundesgericht häufig dazu neigt, se<strong>in</strong>e Urteile<br />

primär auf konventionskonform ausgelegtes <strong>in</strong>nerstaatliches<br />

Verfassungsrecht abzustützen. Die politische Akzeptanz <strong>in</strong>­<br />

nerstaatlichen Rechts ist <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> auch heute noch<br />

deutlich grösser als dies beim Völkerrecht zutrittt.<br />

2. Die Anwendung <strong>der</strong> <strong>EMRK</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>Schweiz</strong><br />

2.1 Vorrang des Völkerrechts<br />

[Rz 6] Seit vielen Jahren misst das Bundesgericht den Grund­<br />

rechten <strong>der</strong> <strong>EMRK</strong> Verfassungsrang '6 zu. Neu wird das Völ­<br />

kerrecht bei den Beschwerdegründen <strong>in</strong> Art. 95 lit. b BGG als<br />

eigenständige Rechtsquelle ausdrücklich aufgeführt.<br />

[Rz 7] Völkerrechtliche Vorschriften mit «self-execut<strong>in</strong>g»­<br />

Charakter b<strong>in</strong>den nicht nur den Gesetzgeber, son<strong>der</strong>n die<br />

Staatsorgane aller staatlichen Ebenen. E<strong>in</strong>e solche unmit­<br />

telbar anwendbare staatsvertragliche Norm liegt vor, wenn<br />

sie <strong>in</strong>haltlich h<strong>in</strong>reichend bestimmt und klar ist, um im E<strong>in</strong>­<br />

zelfall Grundlage e<strong>in</strong>es Entscheides bilden zu können. 17 Im<br />

IJ AS 1974 2148; Botschaft des Bundesrates über die Konvention zum Schutze<br />

<strong>der</strong> Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. März 1974, BBI 1974<br />

1931.<br />

14 CLAUDIA WEISS. Die <strong>Schweiz</strong> und die Europäische Menschenrechtskonvenlion,<br />

die Haltung des Parlaments 1969-1995, Basler Schriften zur europäischen<br />

Integralion Nr. 20, Europa<strong>in</strong>stitut <strong>der</strong> Universität Basel 1996.<br />

S. 30 fl.; JON A. FANZUN. <strong>Schweiz</strong>erische Menschenrechtspolilik seit dem<br />

Zweiten Weltkrieg: Vom Son<strong>der</strong>-zum Normalfall, Beiträge <strong>der</strong> ETH, Zentrum<br />

für Internationale Studien, Nr. 35. April 2002, S. 20 11.; <strong>der</strong>selbe,<br />

<strong>Schweiz</strong>erische Menschenrechtspolitik seit dem zweiten Weltkrieg - e<strong>in</strong><br />

Überblick, JusleIter vom 7. Februar 2004, S. 11.<br />

.1 Bundesbeschluss vom 8. März 2000 über den Rückzug <strong>der</strong> Vorbehalte und<br />

Auslegenden Erklärungen <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> zu Art. 6 Zill. 1 <strong>EMRK</strong>, AS 2002<br />

1142<br />

16 BGE 1011a 67; 102 la 379,381 E. 2; 104 la 88,91 t.E. 4: 1051a 127, 130 E.<br />

3a; 122111401, 406 E. 2. WALlER KÄLlN, Das Verfahren <strong>der</strong> staatsrechtlichen<br />

Beschwerde, 2. A. Bern1994, S. 48 mit H<strong>in</strong>weisen. Gleiches gilt für die von<br />

<strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> ratifizierten Zusatzprotokolle, KÄLlN, S. 48 Anm. 64.<br />

.7 BGE 126 I 240; zum <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> geltenden Pr<strong>in</strong>zip des Monismus vgl.<br />

BGE 125 11 417, 420 E. 4a mit H<strong>in</strong>weisen; DANIEL WUGER, Anwendbarkeit<br />

und Justiziabilität völkerrechtlicher Normen im schweizerischen Recht:


He<strong>in</strong>z Aemisegger, <strong>Zur</strong> <strong>Umsetzung</strong> <strong>der</strong> <strong>EMRK</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>in</strong>: Juslet1er 20. Juli 2009<br />

Konfliktsfall geht somit das Völkerrecht dem Landesrecht<br />

pr<strong>in</strong>zipiell vor.'8 Für <strong>EMRK</strong>-Grundrechte und Grundrechtsga­<br />

rantien des Internationalen Pakts über die bürgerlichen und<br />

politischen Rechte,g gilt dies zudem auf Grund von Art. 35<br />

Abs. 1 und 2 BV.20 Bei <strong>der</strong> Lösung von Konflikten zwischen<br />

Völkerrecht und <strong>in</strong>nerstaatlichem Recht hat das Bundesge­<br />

richt allerd<strong>in</strong>gs Art. 190 BV zu beachten, wonach Bundesge­<br />

setze und Völkerrecht für das Bundesgericht und die an<strong>der</strong>en<br />

rechtsanwendenden Behörden massgebend s<strong>in</strong>d. Zu dieser<br />

Vorschrift 2 ' hat das Bundesgericht e<strong>in</strong>e Rechtsprechung ent­<br />

wickelt, die dem grundsätzlichen Vorrang des Völkerrechts<br />

zunehmend mehr Gewicht e<strong>in</strong>räumt." Ar!. 190 BV enthält<br />

grundsätzlich «nur» e<strong>in</strong> Anwendungsgebot und ke<strong>in</strong> Prü­<br />

fungsverbot!3 Das Bundesgericht ist bestrebt, allfällige Kon­<br />

flikte durch e<strong>in</strong>e völkerrechtskonforme Auslegung des Lan­<br />

desrechts zu vermeiden. Die Grundrechte <strong>der</strong> <strong>EMRK</strong>24 gehen<br />

dem <strong>in</strong>ländischen Recht vor. Insoweit besteht <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong><br />

auch gegenüber Bundesgesetzen e<strong>in</strong>e Verfassungsgerichtsbarkeit<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Form <strong>der</strong> konkreten Normenkontrolle. 25<br />

Das zeigt beson<strong>der</strong>s die Regelung <strong>der</strong> Revision <strong>in</strong> Art. 122<br />

BGG.28 S<strong>in</strong>d die Revisionsvoraussetzungen erfüllt, so muss<br />

die <strong>EMRK</strong>-Regelung trotz e<strong>in</strong>er allfälligen entgegenstehen­<br />

den bundesrechtlichen Vorschrift angewendet werden, was<br />

Grundlagen, Methoden und Kriterien, Diss. Bern 2004; PATRICK EOGAR HOl­<br />

ZER, Die Ermilliung <strong>der</strong> <strong>in</strong>nerstaatlichen Anwendbarkeit völkerrechtlicher<br />

Vertragsbestimmungen, Diss. Bem 1997; MARKUS LANTER, Ausschöpfung<br />

des <strong>in</strong>nerstaatlichen lnslanzenzuges (Art. 35 Zifl. 1 <strong>EMRK</strong>) Die Rechtslage<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> nach <strong>der</strong> Reform <strong>der</strong> Bundesrechtspflege, Diss. Zürich<br />

2008 S. 52 I. und S. 93 tf.; N. MICHfl (fn. 3), § 4 N. 12 und 151.; Y. HANGART­<br />

NER (fn. 3), Art. 5 N. 44 11.; AUBERT/MAHoN (fn. 3), Ar!. 5 N 17 ff.; vgl. auch<br />

die Ar!. 140 Abs. 11it. b, 141 Abs. 11it. dZifl. 2und Ar!. 190 BV (BBI2000,<br />

2990. AS 2002 3147 fl).<br />

'. Vgl. <strong>in</strong> diesem Zusammenhang Art. 5 Abs. 4 BV.<br />

'9 UNO-Pakt 11, SR 0.103.2,<br />

20 Vgt. BGE 12511417, 425 E. 4d; Botschaft 2001 BB12001, 4320.<br />

" Früher mit etwas an<strong>der</strong>er Formulierung <strong>in</strong> Art. 113 Abs, 3 aBV enthalten,<br />

12 BGE 111 V201; 1171V 124, 128 E. 4b; 1181b 277, 281 E, 3b; 122 11234,239<br />

E. 4e; 125 11 417, 424 f.E, 4d; ANoREAs AUER/GIORGIO MALINVERNI/MICHEL HOT­<br />

TfLlER, Droit conslitutionnel suisse, Bern 2006, 2. Aufl., Band 11 N 1279­<br />

1281; AUBERT/MAHON (Fn. 3) Art. 5N20.<br />

13 BGE 12911 249. 263 E, 5.4; 12511 417. HÄFELIN/HALLER/KELLER, <strong>Schweiz</strong>erisches<br />

Bundesstaatsrecht, 7. Aufl. 2008 N. 1917 fl.; WALTER HALLER, Kommentar<br />

zur Bundesverfassung <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>erischen Eidgenossenschaft,<br />

Bern 1995, Art, 113 aBV N205 fl.<br />

2' BGE 125 11417 E. 4d S. 424 fl.(lA,178/1998 vom 26, Juli 1999).; Nichtzulassungsentscheid<br />

des EGMR Kaplan gegen <strong>Schweiz</strong> vom 12. April 2001<br />

(VPB 65,141); vgl. auch Urteil des EGMR L<strong>in</strong>nekogel gegen <strong>Schweiz</strong> vom<br />

1. März 2005 § 31 fl. (VPB 69.138); LANTER (Fn.17), S. 103 fl.; Botschaft<br />

vom 28. februar 2001 zurTotalrevision <strong>der</strong> Bundesrechlspflege, BBI2001<br />

4320; Gleiches gilt für die Grundrechte des UNO-Pakt 11 (SR 0,103.2),<br />

2\ Vgl. Ar!. 190 BV; Parlamentarische Initiative He<strong>in</strong>er Stu<strong>der</strong>, Verfassungsgerichtsbarkeit,<br />

Erwägungen <strong>der</strong> Rechtskommission, AB N2009 Beilagen<br />

Aprilsession 3 fl., 4; BGE 125 11417 E. 4d S. 424 11. (lA,178/1998 vom 26.<br />

Juli 1999).<br />

26 Vgl. h<strong>in</strong>ten Zifl. 2,3,2; vgl. auch Art. 139a OG,<br />

4<br />

den Vorrangcharakter <strong>der</strong> <strong>EMRK</strong>-Grundrechtsgarantien<br />

deutlich machf.27<br />

2.2 Die Rechtsweggarantie<br />

2.2.1 Inhalt<br />

[Rz 8] Die <strong>in</strong> Art. 29a BV verankerte Rechtsweggarantie 28<br />

bildet e<strong>in</strong>en wesentlichen Bestandteil <strong>der</strong> Juslizreform vom<br />

12. März 2000. Für Streitigkeiten betreffend «civiI rights» und<br />

strafrechtliche Anklagen verlangt Art. 6 Zifl. 1 <strong>EMRK</strong> schon<br />

seit vielen Jahren den Zugang zum Richter. Bee<strong>in</strong>flussst<br />

von dieser Bestimmung gibt Art. 29a BV bei Rechtsstreitig­<br />

keiten je<strong>der</strong> Person e<strong>in</strong>en Anspruch auf Beurteilung durch<br />

e<strong>in</strong>e richterliche Behörde. Bund und Kantone können durch<br />

Geselz die richterliche Beurteilung <strong>in</strong> Ausnahmefällen aus­<br />

schliessen. Als Verfahrensgrundrecht vermittelt die Rechts­<br />

weggarantie e<strong>in</strong>en qualifiZierten Rechtsschutz <strong>in</strong> Bezug auf<br />

Sachverhalts- und Rechtsfragen durch unabhängige Gerich­<br />

le. 29 Dieser Rechtsschutz ist grundsätzlich primär durch die<br />

richterlichen Vor<strong>in</strong>stanzen des Bundesgerichts sicherzustel­<br />

len. 30 In diesem S<strong>in</strong>ne schreibt das Bundesgerichtsgesetz<br />

den Kantonen die E<strong>in</strong>setzung oberer kantonaler Gerichte 3 '<br />

als kantonale Vor<strong>in</strong>stanzen des Bundesgerichts vor (Art. 75<br />

Abs. 1 und 2, Art. 80 Abs. 2, Art. 86 Abs 2 BGG).<br />

[Rz 9] Der Anwendungsbereich von Art. 29a BV32 ist grund­<br />

sätzlich umfassend. 33 Er erstreckt sich auf alle Rechtsgebiete<br />

und bezieht neben dem Straf-, und Zivilrecht auch das öffent­<br />

liche Recht mit e<strong>in</strong>. 34 Insoweit geht Art. 29a BV somit weiter<br />

als die Rechtsweggarantie <strong>der</strong> <strong>EMRK</strong>. Für den Ausschluss<br />

<strong>der</strong> Rechtsweggaranlie verlangt Art. 29a BV e<strong>in</strong> Gesetz im<br />

formellen S<strong>in</strong>n. 35 Hauptkriterium für die Schaffung solcher<br />

21 VgL auch HELEN KELLER. Rezeplion des Völkerrechts. E<strong>in</strong>e rechlsvergleichende<br />

Studie zur Praxis des U.S, Supreme Court. des Gerichtshofes <strong>der</strong><br />

Europäischen Geme<strong>in</strong>schaften und des <strong>Schweiz</strong>erischen Bundesgerichts<br />

<strong>in</strong> ausgewählten Bereichen, Berl<strong>in</strong> 2003,<br />

28 Vgl. MICHEL HOTTElIER, Les garanties de procedure, <strong>in</strong>: Thürer/Aubert/Müller<br />

(fn. 3), § 51 S. 809 ff; ANoREAs KLEY, <strong>in</strong>: St. Galler Kommentar (fn. 3), zu<br />

Art. 29a BV-Justizreform, S, 413 fl.; MAHoN (fn. 3), zu Art. 29a BV-Justizreform,<br />

S. 274 ff.<br />

29 Für weitere Erläuterungen vgl. KLEY, St. Galler Kommentar (fn, 3), zu<br />

Art. 29a BV N. 6; MAHON (Fn. 3), zu Art. 29a BV-Juslizrelorm, N. 5.<br />

3D KLEY, St. Galler Kommentar (Fn. 3), zu Art. 29a BV N. 7 fl., MAHoN (fn, 3),<br />

zu Art, 29a BV-Juslizreform, N, 5.<br />

3' BGE 134 1199 E. 1,2.1 S, 201 I. (lC_451/2007 vom 17. März 2008); BGE<br />

134 I 125 E. 35 S 134 I. mit H<strong>in</strong>weisen (1C_158/2007 vom 31 März<br />

2008); Urteile lB_156/2007 vom 23, August 2007 E. 3,3; 2C_491/2007<br />

vom 30. April 2008 E. 1.3; vgl. auch BGE 123 11 231 E. 7 und 8 S. 23611.<br />

(lA:148/1997 vom 29. Mai 1997),<br />

32 Bundesverfassung <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>erischen Eidgenossenschall vom 18. Apnl<br />

1999, SR 101.<br />

33 LANTER (fn. 17), S. 117; MAHON (fn. 3), zu Art. 29a BV-Juslizreform, N. 4 I.<br />

3' KLEY, SI. Galler Kommentar (Fn. 3), zu Art. 29a BV, N. 14,<br />

3\ MAHON (Fn. 3), zu Art. 29a BV-Justizreform, N. 6; MICHEL HOTTElIER, Les garanties<br />

de procedure, <strong>in</strong>: Thürer/Aubert/Müller (Fn, 3), § 51 N. 23.


He<strong>in</strong>z Aemisegger, <strong>Zur</strong> <strong>Umsetzung</strong> <strong>der</strong> <strong>EMRK</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>in</strong>: Juslel1er 20. Juli 2009<br />

Ausnahmen bildet die Justiziabilität e<strong>in</strong>er Streitigkeit über<br />

Rechte und Pflichten von Privaten. 3B An<strong>der</strong>s als Art. 29a BV<br />

lässt die Rechtsweggarantie von Art. 6 Ziff. 1 <strong>EMRK</strong> ke<strong>in</strong>e<br />

Ausnahmen zu. Sie geht <strong>in</strong> dieser H<strong>in</strong>sicht somit weiter als<br />

die Rechtsweggarantie <strong>der</strong> Bundesverfassung. 37<br />

2.2.2 Übergangsrecht für kantonale Ausführungsvorschriften<br />

[Rz 10] Art. 130 BGG hält die Kantone dazu an, Ausfüh­<br />

rungsbestimmungen zu erlassen, die zur Gewährleistung<br />

<strong>der</strong> Rechtsweggarantie erfor<strong>der</strong>lich s<strong>in</strong>d. Überdies haben<br />

sie Ausführungsrecht zu schaffen über die Zuständigkeit,<br />

die Organisation und das Verfahren <strong>der</strong> Vor<strong>in</strong>stanzen des<br />

Bundesgerichts im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> Art. 80 Abs. 2, 75 Abs. 2, 111<br />

Abs. 2, 86 Abs. 2 und 3 sowie Art. 88 Abs. 2 BGG.3B Für das<br />

öffentliche Recht 39 hatten sie dafür zwei Jahre Zeit, d.h. bis<br />

Ende 2008 (Art. 130 Abs. 3 BGG). Im Bereich des Straf- 40 und<br />

Zivilrechts haben sie Zeit bis zum Inkrafttreten <strong>der</strong> Schwei­<br />

zerischen Strafprozessordnung 41 bzw. <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>erischen<br />

Zivilprozessordnung,42 wobei <strong>der</strong> Bundesrat diese Frist ge­<br />

gebenenfalls verlängern kann.<br />

[Rz 11] Zudem dürfen die Kantone die Ziele <strong>der</strong> Rechtsweg­<br />

garantie und des BGG nicht unterlaufen, <strong>in</strong>dem sie zwischen<br />

dem Erlass dieser Ausführungsvorschriften und dem Ablauf<br />

<strong>der</strong> <strong>in</strong> Art. 130 BGG vorgesehenen Übergangsfristen dem<br />

S<strong>in</strong>n und Geist <strong>der</strong> Rechtsweggarantie und des BGG wi<strong>der</strong>­<br />

sprechende Verfahrensregelungen e<strong>in</strong>führen (sogenanntes<br />

«disharmonisierendes» kantonales Recht). Diese Recht­<br />

sprechung galt im öffentlichen Recht grundsätzlich schon <strong>in</strong><br />

Bezug auf Art. 98a OG43 bzw. das Steuerharmonisierungsge­<br />

setz. 44 Nach dem Ablauf <strong>der</strong> Übergangsfristen von Art. 130<br />

BGG müssen letzt<strong>in</strong>stanzliehe kantonale Rechtsmittelent­<br />

scheide im S<strong>in</strong>ne von Art. 86 Abs. 2 BGG grundsätzlich<br />

36 BBI 1997 I 524; M,CHEL HOTTELIER. Les garanties de procedure, <strong>in</strong>: Thürer/<br />

AubertlMüller (Fn. 3). § 51 N. 21; KlEY, SI. Galler Kommentar (Fn. 3). zu<br />

Art. 29a BV N. 1811.; MAHON (Fn. 3), zu Art. 29a BV-Juslizreform. N. 6.<br />

3) LANTER (Fn. 17), S. 124.<br />

38 Vgl BGE 133 IV 267 E. 3.3 S. 270; Urteil 2C_49512007 vom 27. März<br />

2008.<br />

3' Vgl BGE 134 I 199 (§IC_45/2007 vom 17.2.2008); 133 IV 267 E. 3.3 S.<br />

270 (18_156/2007 vom 23. August 2007); Urteile 2C_ 495/2007 vom 27.<br />

März 2008 E.l.l; 1C_183/2008 vom 23. Mai 2008 E. 11; 2C_271/2008 vom<br />

27.November 2008 E.3.2.3.<br />

" BGE 1351111 E. 1.2 S. 4 (4A_299/2008 vom 28. Oktober 2008); BGE 135<br />

I 6(Urteil 68_573/2008 und 6B_707/2008 vom 22. Dezember 2009).<br />

41 Strafprozessordnung. StPO, BBI 2007 6977 I1<br />

•, Zivilprozessordnung, ZPO, BBI 2009 21 If<br />

'3 Bundesgesetz über die Bundesrechtspflege vom 16. Dezember 1943, Bundesrechtspllegegesetz,<br />

OG, AS 1992 288.<br />

44 BGE 1341125 E. 3.5 S. 134 I1 mit H<strong>in</strong>weisen (IC_158/2007vom 31. März<br />

2008); vgl auch UrteillC_183/2008 vom 23. Mai 2008, E. 1.1.3; BGE 124<br />

I 101 E. 4 S. 106; 123 11 231 E. 7 S. 236 f Diese Praxis l<strong>in</strong>det <strong>in</strong> analoger<br />

Weise auch auf Art. 80 Abs. 2 LV.m. Art. 130 Abs. 1 BGG Anwendung (UrteillB_26412007<br />

vom 20.Juni 2008; 8GE 135 I 6(6B_57312008 vom 22.<br />

Dezember 2008).<br />

5<br />

von e<strong>in</strong>em oberen kantonalen Gericht gefällt werden. Das<br />

gilt auch für die kommunalen und kantonalen Stimmrechts­<br />

angelegenheiten (Art. 88 Abs. 2 BGG).45 Gegen das «Dis­<br />

harmonisierungsverbot» verstösst es nach Auffassung des<br />

Bundesgerichts auch, wenn e<strong>in</strong>e mit dem Bundesgerichts­<br />

gesetz übere<strong>in</strong>stimmende Praxis so geän<strong>der</strong>t wird, dass sie<br />

hernach nicht mehr dem BGG entspricht" B Diese Grundsät­<br />

ze s<strong>in</strong>d s<strong>in</strong>ngemäss auch im Zivil- und Strafrecht anwendbar.<br />

Der bundesrechtlich verlangte gerichtliche Rechtsschutz gilt<br />

nach Ablauf <strong>der</strong> gesetzlichen Übergangsfristen selbst dann,<br />

wenn entsprechendes kantonales Ausführungsrecht fehlt. 47<br />

[Rz 12] Art. 31 Abs. 4 BV for<strong>der</strong>t ferner den gerichtlichen<br />

Rechtsschutz bei Freiheitsentzug.<br />

2.3 Verfahren vor Bundesgericht<br />

[Rz 13] Im Folgenden wird kurz auf die Rechtsmittel im Verfahren<br />

vor Bundesgericht h<strong>in</strong>gewiesen und die Revision bun­<br />

desgerichtlicher Urteile behandelt, die - soweit nötig - im<br />

Nachgang zur Verurteilung <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> durch den EGMR<br />

wegen Verletzung <strong>der</strong> <strong>EMRK</strong> vorzunehmen ist. Dabei <strong>in</strong>te­<br />

ressiert namentlich die Frage, <strong>in</strong>wieweit bundesgerichtliche<br />

Revisionsurteile <strong>der</strong> Kontrolle durch den EGMR unterliegen<br />

und welchen E<strong>in</strong>fluss die Rechtsprechung des EGMR <strong>in</strong><br />

diesem Bereich auf das bundesgerichtliche Revisionsver­<br />

fahren ausübt. Das Bundesgerichtsgesetz kennt zahlreiche<br />

Formvorschriften, die bei <strong>der</strong> Beschwerdeführung vor Bun­<br />

desgericht e<strong>in</strong>zuhalten s<strong>in</strong>d. Die Wichtigsten werden kurz<br />

dargestellt und ansatzweise mit den <strong>in</strong> Art. 35 <strong>EMRK</strong> gere­<br />

gelten Zulässigkeitsvoraussetzungen <strong>der</strong> Beschwerde an<br />

den EGMR verglichen. Schliesslich werden die Auswirkun­<br />

gen <strong>der</strong> Rechtsprechung des EGMR auf Abschreibungsver­<br />

fügungen des Bundesgerichts erörtert, die bei Streitigkeiten<br />

ergehen, welche während des bundesgerichtlichen Verfah­<br />

rens gegenstandslos werden. In solchen Fällen verzichtet<br />

das Bundesgericht häufig auf die materielle Behandlung <strong>der</strong><br />

vorgebrachten Rügen, was nicht unumstritten ist.<br />

'1 Urteile lC_183/2008 vom 23. Mai 2008 E. 1.t.5; lP.33812006 und<br />

lP.582/2006 vom 12. Februar 2007, E. 3.10; ZBI 108/2007 S. 313;<br />

lC_18512007 vom 6. November 2007 E. 1.2 mit H<strong>in</strong>weisen; vgl. BGE 12311<br />

231 E. 7 S. 236 zu Art. 98a OG.<br />

'6 BGE 135 I 6 (Urteil 6B_57312008 und 6B_707l2008 vom 22. Dezember<br />

2008); Urteil lB_264/2007 vom 20. Juni 2007 E. 3: Die kantonale Gerichlspraxis<br />

liess früher e<strong>in</strong>e Beschwerde ans Kantonsgericht zu (nämlich<br />

<strong>in</strong> analoger Anwendung von § 147 Abs. 3 iv'm. § 5 Abs. 2 lil. eStPO/BL;<br />

vgl auch Urteil des Bundesgerichles lP.675/2005 vom 14. Februar 2006).<br />

Nach Inkrattlreten des BGG ist diese Praxis vom Kantonsgericht jedoch<br />

unter Bezugnahme auf die Übergangsfrist von Art. 130 Abs. 1 BGG geän<strong>der</strong>t<br />

und e<strong>in</strong>e direkte erst<strong>in</strong>stanzliehe Anfechtbarkeit beim Verfahrensgericht<br />

ohne Weiterzugsmöglichkeit mit e<strong>in</strong>em kantonalen Rechtsmitlei vorgesehen<br />

worden.<br />

" BGE 135 11 94 E. 6 S.102 11. (2C_25/2009 vom 5. Februar 2009); Urteile<br />

lC_467 und 529/2008 vom 12. März 2009 E. 1.3; lC_540/2008 vom 26.<br />

März 2009 E. 1.2.4; lC_183/2008 vom 23. Mai 2008 E. 1.1.5; vgl BGE 123<br />

11231 E. 7S. 236zu Arl. 98a OG.


He<strong>in</strong>z Aemisegger, <strong>Zur</strong> <strong>Umsetzung</strong> <strong>der</strong> <strong>EMRK</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>in</strong>: Juslel1er 20. Juli 2009<br />

2.3.1 E<strong>in</strong>heitsbeschwerden und subsidiäre Verfas­<br />

sungsbeschwerde<br />

[Rz 14] Das Bundesgerichtsgesetz sieht drei ordentliche<br />

Rechtsmittel ans Bundesgericht vor, nämlich die Beschwer­<br />

de <strong>in</strong> Zivilsachen: B die Beschwerde <strong>in</strong> Strafsachen: 9 und<br />

die Beschwerde <strong>in</strong> öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. 50<br />

Diese drei sog. E<strong>in</strong>heitsbeschwerden werden ergänzt durch<br />

die subsidiäre Verfassungsbeschwerde gegen letzt<strong>in</strong>stanzli­<br />

che kantonale Entscheide. 51 Dadurch konnte unter an<strong>der</strong>em<br />

sichergestellt werden, dass <strong>der</strong> Beschwerdeweg an den Eu­<br />

ropäischen Gerichtshof für Menschenrechte <strong>in</strong> Strassburg<br />

immer über e<strong>in</strong> Gericht des Bundes führtY Urteile letzter<br />

kantonaler Instanzen können somit nicht direkt nach Strass­<br />

burg «weitergezogen» werden. Sie s<strong>in</strong>d vielmehr vorerst mit<br />

e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> drei E<strong>in</strong>heitsbeschwerden und, soweit diese nicht<br />

zulässig s<strong>in</strong>d, mit <strong>der</strong> subsidiären Verfassungsbeschwerde<br />

beim Bundesgericht anzufechten.<br />

[Rz 15] Im Zivilrecht steht die subsidiäre Verfassungsbe­<br />

schwerde offen, wenn <strong>in</strong> vermögensrechtlichen Angelegen­<br />

heiten die <strong>in</strong> Art. 74 BGG enthaltene Streitwertgrenze nicht<br />

erreicht wird und ke<strong>in</strong>e Rechtsfrage von grundsätzlicher Be­<br />

deutung vorlieg!." Bei <strong>der</strong> strafrechtlichen E<strong>in</strong>heitsbeschwer­<br />

de wurde auf die E<strong>in</strong>führung e<strong>in</strong>es «M<strong>in</strong>deststreitwerts» ver­<br />

zichte!.'"' Das hat zur Folge, dass mit <strong>der</strong> wegen Verletzung<br />

von Bundes- o<strong>der</strong> Völkerrecht erhobenen Beschwerde <strong>in</strong><br />

Strafsachen une<strong>in</strong>geschränkt auch <strong>EMRK</strong>-Rügen vorge­<br />

bracht werden können. Im öffentlichen Recht führt <strong>der</strong> Aus­<br />

schluss <strong>der</strong> E<strong>in</strong>heitsbeschwerde häufig dazu, dass das Bun­<br />

desverwaltungsgericht letzt<strong>in</strong>stanzlich entscheide!. Se<strong>in</strong>e<br />

Urteile unterliegen <strong>in</strong> diesem Fall auch <strong>in</strong> <strong>EMRK</strong>-relevanten<br />

Fragen ke<strong>in</strong>er Anfechtungsmöglichkeit beim Bundesgericht.<br />

In Bezug auf die <strong>in</strong> Art. 85 BGG bei <strong>der</strong> Staatshaftung und<br />

den öffentlich-rechtlichen Arbeitsverhältnissen vorgesehe­<br />

nen Streitwertgrenzen gilt h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> letzt<strong>in</strong>stanzlichen<br />

kantonalen Entscheide das für die zivilrechtliche Beschwer­<br />

de Ausgeführte.<br />

[Rz 16] Mit den drei genannten E<strong>in</strong>heitsbeschwerden kann<br />

namentlich die Verletzung von Bundesrecht und Völkerrecht<br />

beanstandet werden. 55 Dazu gehört auch die Rüge <strong>der</strong> Ver­<br />

letzung <strong>der</strong> <strong>EMRK</strong>.56<br />

2.3.2 Revision im Falle <strong>der</strong> Verletzung <strong>der</strong> <strong>EMRK</strong><br />

[Rz 17] Gemäss Art. 122 BGG kann die Revision<br />

.8 Art. 72 11. BGG.<br />

'9 Art. 78 ff. 8GG.<br />

50 Art. 82 ff. BGG.<br />

" Art. 113 11. BGG.<br />

" Bundesgericht, Bundesverwaltungsgericht o<strong>der</strong> Bundesstrafgericht.<br />

53 Art. 74 Abs. 2 Iit. a BGG.<br />

" Botschalt BGG, BBI2001 43141.,4498.<br />

55 Art. 95 lil. aund b BGG.<br />

56 Botschaft BGG, B812001 4314, 4335.<br />

6<br />

bundesgerichtlicher Urteile verlangt werden, wenn <strong>der</strong> Euro­<br />

päische Gerichtshof für Menschenrechte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em endgülti­<br />

gen Urteil festgestellt hat, dass die <strong>EMRK</strong> o<strong>der</strong> die Protokolle<br />

dazu verletzt worden s<strong>in</strong>d (li!. a), e<strong>in</strong>e Entschädigung nicht<br />

geeignet ist, die Folgen <strong>der</strong> Verletzung auszugleichen (li!. b)<br />

und die Revision notwendig ist, um die Verletzung zu beseiti­<br />

gen (li!. cl. H<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> Revision schweizerischer Urteile,<br />

welche die <strong>EMRK</strong> verletzen, führt das Bundesgerichtsgesetz<br />

im Wesentlichen die bisherige Regelung des OG57 weiter.<br />

Das Revisionsgesuch ist beim Bundesgericht <strong>in</strong>nert 90 Ta­<br />

gen, seit das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte<br />

nach Art. 44 <strong>EMRK</strong> endgültig ist, e<strong>in</strong>zureichen. 5B<br />

Legitimiert ist, wer im Verfahren, das zum konventionswidri­<br />

gen Entscheid geführt hat, ParteisteIlung hatte und deshalb<br />

an <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>aufnahme e<strong>in</strong> schutzwürdiges Interesse gel­<br />

tend machen kann. Der Revisionsentscheid und se<strong>in</strong>e Aus­<br />

wirkungen auf e<strong>in</strong>en allfälligen vor<strong>in</strong>stanzlichen Entscheid<br />

s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Art. 128 BGG geordne!.59<br />

[Rz 18] Die Revision von Entscheiden des Bundesverwal­<br />

tungsgerichts und des Bundesstrafgerichts erfolgt nach<br />

den gleichen Grundsätzen, wie sie für das Bundesgericht<br />

gelten. Bo<br />

[Rz 19J Nach Ar!. 46 Abs. 1 <strong>EMRK</strong> übernehmen die Vertrags­<br />

staaten die Pflicht, <strong>in</strong> den sie betreffenden Fällen das Urteil<br />

des Gerichtshofs zu befolgen. Wird e<strong>in</strong>e Individualbeschwer­<br />

de vom EGMR gutgeheissen, s<strong>in</strong>d sie gehalten, soweit mög­<br />

lich für e<strong>in</strong>e vollkommene Wie<strong>der</strong>gutmachung zu sorgen. Die<br />

Urteile des Gerichtshofs haben <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel re<strong>in</strong> deklaratori­<br />

sche Wirkung; es kann damit we<strong>der</strong> <strong>der</strong> konventionswidrige<br />

<strong>in</strong>nerstaatliche Entscheid, <strong>der</strong> Gegenstand <strong>der</strong> Beschwerde<br />

gebildet hat, noch e<strong>in</strong> allenfalls diesem zugrunde liegendes<br />

nationales Gesetz aufgehoben werden.<br />

[Rz 20] Die Art <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>herstellung des konventionskon­<br />

formen Zustands bleibt im Wesentlichen Sache des e<strong>in</strong>zel­<br />

nen Staates. Aus <strong>der</strong> Konvention selber ergibt sich ke<strong>in</strong>e<br />

Verpflichtung, das <strong>in</strong>nerstaatliche Verfahren wie<strong>der</strong> aufzu­<br />

nehmen. Gestattet das <strong>in</strong>nerstaatliche Recht nur e<strong>in</strong>e un­<br />

vollkommene Wie<strong>der</strong>gutmachung, spricht <strong>der</strong> Gerichtshof<br />

<strong>der</strong> verletzten Partei, soweit ihm dies notwendig ersche<strong>in</strong>t,<br />

völkerrechtlichen Gepflogenheiten im zwischenstaatlichen<br />

Verkehr entsprechend, e<strong>in</strong>e «gerechte Entschädigung»<br />

(Art. 41 <strong>EMRK</strong>) zu. Er macht heute von dieser Möglichkeit<br />

meist direkt Gebrauch, ohne die Frage <strong>der</strong> «restitutio <strong>in</strong> <strong>in</strong>­<br />

tegrum.. noch näher zu prüfen. Gestützt auf Art. 122 BGG<br />

5/ Vgl. Art. 139a OG; Urteil des Bundesgerichts 2A.23212000 vom 2. März<br />

2001 i.S. Amann E. 1 und 2, EuGRZ 2001 S. 319 11.<br />

58 Ar!. 124 Abs. 1 lit. c BGG.<br />

" Vgl. Urteil 5F_612008 vom 18. Juli 2008 (Arl. 8 <strong>EMRK</strong>. Adoption. Wie<strong>der</strong>herstellung<br />

des K<strong>in</strong>desverhältnisses zur leiblichen Mutter).<br />

60 Vgl. Art. 45 VGG (Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesverwaltungsgericht,<br />

Verwaltungsgerichtsgesetz, SR 173.32) und Ar!. 31 SGG<br />

(Bundesgesetz vom 4. Oktober 2002 über das Bundesstrafgerichl, Straf·<br />

gerichtsgesetz, SR 173.71).


He<strong>in</strong>z Aemisegger, <strong>Zur</strong> <strong>Umsetzung</strong> <strong>der</strong> <strong>EMRK</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>in</strong>: Jusle1ter 20. Juli 2009<br />

kann das Bundesgericht umgekehrt e<strong>in</strong> Urteil revidieren,<br />

wenn die Wie<strong>der</strong>gutmachung <strong>der</strong> festgestellten Konventi­<br />

onsverletzung nicht an<strong>der</strong>weitig möglich ist. Das trifft etwa<br />

zu, wenn e<strong>in</strong> strafrechtlicher Schuldvorwurf auch nur implizit<br />

fortbesteht, o<strong>der</strong> wenn <strong>der</strong> konventionswidrige Zustand trotz<br />

<strong>der</strong> Feststellung e<strong>in</strong>er Konventionsverletzung durch den Ge­<br />

richtshof andauert. In diesen Fällen ist die Revision des bun­<br />

desgerichtlichen Urteils möglich, falls sie geeignet ersche<strong>in</strong>t,<br />

über die f<strong>in</strong>anzielle Abgeltung h<strong>in</strong>aus fortbestehende, kon­<br />

krete nachteilige Auswirkungen <strong>der</strong> Konventionsverletzung<br />

des ursprünglichen Verfahrens zu beseitigen. 61<br />

[Rz 21] Es ist grundsätzlich nicht Sache des EGMR, zu prü­<br />

fen, ob <strong>der</strong> von ihm verurteilte Staat se<strong>in</strong> Urteil korrekt umge­<br />

setzt hat. Hierfür ist vielmehr das M<strong>in</strong>isterkomitee zuständig<br />

(Art. 46 Abs. 2 <strong>EMRK</strong>). <strong>Zur</strong> Beurteilung neuer Tatsachen, die<br />

sich beim Vollzug se<strong>in</strong>es Urteils, namentlich im Rahmen ei­<br />

nes Revisionsverfahrens ergeben haben, ist <strong>der</strong> Gerichtshof<br />

dagegen befugt (Art. 35 Abs. 2 lit. b <strong>EMRK</strong>). Weigert sich e<strong>in</strong><br />

Vertragsstaat, e<strong>in</strong> solches Wie<strong>der</strong>aufnahmeverfahren zu er­<br />

öffnen, so liegt ke<strong>in</strong>e solche neue Tatsache vor, weil sich die<br />

Situation des Beschwerdeführers <strong>in</strong> diesem Fall nach dem<br />

Urteil des EGMR nicht verän<strong>der</strong>t hat. 62<br />

[Rz 22] In e<strong>in</strong>em Urteil vom 4. Oktober 2007 63 weicht <strong>der</strong><br />

EGMR von den obgenannten Grundsätzen ab. Es betrifft<br />

e<strong>in</strong>en Fall, <strong>in</strong> welchem <strong>der</strong> Vere<strong>in</strong> gegen Tierfabriken (VgT)<br />

e<strong>in</strong>en Fernsehspot gegen «tierquälerische Nutztierhaltung»<br />

im Rahmen des Werbefernsehens ausstrahlen lassen wollte,<br />

was ihm verweigert wurde. Das Bundesgericht lehnte e<strong>in</strong>e<br />

dagegen gerichtete Beschwerde mit Urteil vom 20. August<br />

1997 ab. 64 Der EGMR erblickte dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Verletzung von<br />

Art. 10 <strong>EMRK</strong> (Urteil vom 28. Juni 2001).65 Der VgT verlangte<br />

hierauf vom Bundesgericht die Revision se<strong>in</strong>es Urteils vom<br />

20. August 1997, was dieses mit Urteil vom 29. April 2002<br />

ablehnte. 66 E<strong>in</strong>e Revision ist nach Auffassung des Bundes­<br />

gerichts nur zulässig, falls sie geeignet und erfor<strong>der</strong>lich er­<br />

sche<strong>in</strong>t, über die f<strong>in</strong>anzielle Abgeltung h<strong>in</strong>aus fortbestehen­<br />

de, konkrete nachteilige Auswirkungen zu beseitigen, und<br />

ke<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Möglichkeit <strong>der</strong> Heilung besteht. Beides sei<br />

61 Vgl. zum Ganzen: Urteil des EGMR Amann gegen <strong>Schweiz</strong> vom 16. Februar<br />

2000; Urteile des Bundesgerichts 2A.23212000 vom 2. März 2001 i.S.<br />

Amann (Revision Art. 139a OG), E. 1 und 2, EuGRZ 2001 S. 319 If. und<br />

2A.526/2002 vom 29. April 2002 i.S. Vere<strong>in</strong> gegen Tierfabriken, je mit<br />

zahlreichen H<strong>in</strong>weisen aul Judikatur und Literatur.<br />

62 MAYA HERTIG RANDAll, XAVIER·BAPTISTE RUEOIN, L'execulion des arrets de la<br />

Cour europeenne des droits de I'homme ä la lumiere de I'arret Vere<strong>in</strong> gegen<br />

Tierlabriken <strong>Schweiz</strong> (VgT) c. Suisse du 4 octobre 2007 <strong>in</strong>: AJP 2008<br />

S. 651 11. S. 656.<br />

63 Urteil des EGMR Vere<strong>in</strong> gegen TierfalJriken (VgT) gegen <strong>Schweiz</strong> vom 4.<br />

Oktober 2007 betreffend BGE 123 11 402 (2A.330/1996 vom 20. August<br />

1997)<br />

6' BGE 123 II 402 (2A.330/1996 vom 20. August 1997).<br />

65 Urteil des EGMR Vere<strong>in</strong> gegen TierfalJriken (VgT) gegen <strong>Schweiz</strong> vom 28.<br />

Juni 2001, Recueil CourEDH 2001-V1, VPB 65.129.<br />

66 Urteil 2A.526/2001 vom 29. April 2002.<br />

7<br />

nicht geltend gemacht worden. Der Spot, dessen Ausstrah­<br />

lung <strong>der</strong> VgT heute verlange, sei geän<strong>der</strong>t worden. Überdies<br />

fehle dem Bundesgericht die Kompetenz, e<strong>in</strong>e öffentlich­<br />

rechtliche Anweisung zur Ausstrahlung zu erlassen. Hierfür<br />

sei <strong>der</strong> zivilprozessuale Weg zu beschreiten. Der VgT wandte<br />

sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Folge erneut an den EGMR. Dieser relativierte<br />

mit Urteil vom 4. Oktober 2007 den Grundsatz, wonach die<br />

Überwachung des Vollzugs se<strong>in</strong>es Urteils vom 28. Juni 2001<br />

dem M<strong>in</strong>isterrat vorbehalten ist. Zudem setzte er sich über<br />

das Pr<strong>in</strong>zip h<strong>in</strong>weg, wonach die Vertragsstaaten nicht zur<br />

Revision e<strong>in</strong>es nationalen Urteils gezwungen werden kön­<br />

nen. Das Bundesgericht hat das Revisionsbegehren des Ver­<br />

e<strong>in</strong>s gegen Tierfabriken mit den vorn erwähnten Argumenten<br />

sowie mit <strong>der</strong> Begründung abgewiesen, er habe nicht klar<br />

genug dargelegt, was für e<strong>in</strong>e Än<strong>der</strong>ung des früheren bun­<br />

desgerichtlichen Urteils vom 20. August 1997 verlangt werde<br />

und zudem habe er nicht h<strong>in</strong>reichend dargetan, <strong>in</strong>wiefern er<br />

noch e<strong>in</strong> Interesse an <strong>der</strong> Ausstrahlung des umstrittenen TV­<br />

Spots habe. 67 Der EGMR wertete die Weigerung des Bun­<br />

desgerichts, e<strong>in</strong> Wie<strong>der</strong>aufnahmeverfahren zu eröffnen, im<br />

Urteil vom 4. Oktober 2007 mit fünf gegen 2 Stimmen als<br />

erneute Verletzung von Art. 10 <strong>EMRK</strong>.66In <strong>der</strong> Folge verlang­<br />

te die <strong>Schweiz</strong> gestützt auf Art. 43 <strong>EMRK</strong>, die Beurteilung<br />

des Falles durch die Grosse Kammer des EGMR. Dieses<br />

Begehren wurde am 31. März 2008 gutgeheissen. Das Ur­<br />

teil <strong>der</strong> Grossen Kammer des Gerichtshof erg<strong>in</strong>g am 30. Juni<br />

2009 und führte mit elf gegen sechs Stimmen zu e<strong>in</strong>er Be­<br />

stätigung des EGMR-Urteils vom 4. Oktober 2007. Mit Blick<br />

auf die grosse Bedeutung, welche dem effizienten Vollzug<br />

<strong>der</strong> Urteile des EGMR im System <strong>der</strong> <strong>EMRK</strong> zukomme, habe<br />

die <strong>Schweiz</strong> die Pflicht gehabt, das EGMR-Urteil vom 28.<br />

Juni 2001 sowohl bezüglich <strong>der</strong> dar<strong>in</strong> enthaltenen Schluss­<br />

folgerungen als auch bezüglich des dar<strong>in</strong> enthaltenen S<strong>in</strong>ns<br />

nach Treu und Glauben zu vollziehen. Da im Revisionsurteil<br />

des Bundesgerichts vom 29. April 2002 neue Motive für die<br />

Aufrechterhaltung des Ausstrahlungsverbots des umstritte­<br />

nen Spots fehlten, hätten die schweizerischen Behörden die<br />

Pflicht, die Ausstrahlung des Spots zu erlauben, ohne dies<br />

von weiteren Voraussetzungen (Weiterbestehen e<strong>in</strong>es Inte­<br />

resses an e<strong>in</strong>er öffentlichen Diskussion usw.) abhängig zu<br />

machen. In formeller H<strong>in</strong>sicht hat die Grosse Kammer das<br />

Erfor<strong>der</strong>nis <strong>der</strong> Erschöpfung des <strong>in</strong>nerstaatlichen Instanzen­<br />

zugs im S<strong>in</strong>ne von Art. 35 Ziff. 1 <strong>EMRK</strong> mit fünfzehn gegen<br />

zwei Stimmen bejaht. Sie tat dies unter Verweisung auf das<br />

Kammerurteil vom 4. Oktober 2007 und somit mit dem H<strong>in</strong>­<br />

weis, das Bundesgericht habe sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Urteil vom 29.<br />

April 2002 - wenn auch nur kurz - materiell mit <strong>der</strong> Sache<br />

67 Urteil 2A.52612001 vom 29. April 2002.<br />

68 Urteil des EGMR Vere<strong>in</strong> gegen Tierfabriken (VgT) gegen <strong>Schweiz</strong> vom 4.<br />

Oktober 2007, vgl. auch die von <strong>der</strong> Richter<strong>in</strong> Jäger angeführle M<strong>in</strong><strong>der</strong>·<br />

heilsme<strong>in</strong>ung; MAYA HERTIG RANDAll, XAVIER-BAPTISTE RUEDIN, L'execution des<br />

arrets de la Cour europeenne des droits de I'homme ala lumiere de I'arret<br />

Vere<strong>in</strong> gegen Tier1abriken <strong>Schweiz</strong> (VgT) c. Suisse du 4 octobre 2007 <strong>in</strong>:<br />

AJP 2008 S. 651 11


He<strong>in</strong>z Aemisegger, <strong>Zur</strong> <strong>Umsetzung</strong> <strong>der</strong> <strong>EMRK</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>in</strong>: Jusletter 20. Juli 2009<br />

2.3.3.2 Bundesgerichlsgeselz<br />

[Rz 26] An dieser Rechtsprechung orientiert sich das Bun­<br />

desgericht auch bei <strong>der</strong> Anwendung des Bundesgerichtsge­<br />

setzes, <strong>in</strong> welchem diese Fragen neu e<strong>in</strong>heitlich und zusam­<br />

mengefasst geregelt s<strong>in</strong>d:<br />

[Rz 27] In den Art. 100 (Beschwerde gegen Entscheide)"<br />

und 101 BGG (Beschwerde gegen Erlasse)'" LV.m. Art. 44 ff.<br />

BGG s<strong>in</strong>d die Vorschriften zur Beschwerdefrist <strong>in</strong> Bezug auf<br />

die drei E<strong>in</strong>heitsbeschwerden und die subsidiäre Verlas­<br />

sungsbeschwerde 77 enthalten.<br />

[Rz 28] Die formellen Anfor<strong>der</strong>ungen an die Rechtsschriften<br />

s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Art. 42 BGG festgehalten, wobei Art. 42 Abs. 5 und<br />

6 Verbesserungsmöglichkeiten vorsieht. 78 Wird die Verlet­<br />

zung von Grundrechten und <strong>in</strong>terkantonalem Recht geltend<br />

gemacht, so ist das (qualifizierte) Rügepr<strong>in</strong>zip zu beachten<br />

und e<strong>in</strong>e substanziierte Begründung vorzubr<strong>in</strong>gen (Art. 106<br />

Abs. 2 BGG). Die Beschwerdeschrift hat e<strong>in</strong> Rechtsbegehren<br />

zu enthalten. 79 Das Bundesgericht prüft nur rechtsgenügend<br />

vorgebrachte, klar erhobene und, soweit möglich, belegte<br />

Rügen. Der Beschwerdeführer muss sich mit dem angefoch­<br />

tenen Entscheid <strong>in</strong> <strong>der</strong> Beschwerdeschrift detailliert ause<strong>in</strong>­<br />

an<strong>der</strong>setzen. Appellatorische Kritik und blosse Verweisungen<br />

auf an<strong>der</strong>e Unterlagen s<strong>in</strong>d unzulässig. 80<br />

[Rz 29] Die Feststellung des Sachverhalts kann gemäss<br />

Art. 97 Abs. 1 BGG nur gerügt werden, wenn sie offensicht­<br />

lich unrichtig (willkürlich) ist o<strong>der</strong> auf e<strong>in</strong>er Rechtsverletzung<br />

im S<strong>in</strong>ne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung<br />

des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend<br />

ist. Das Bundesgericht legt nach Art. 105 Abs. 1 BGG se<strong>in</strong>em<br />

Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vor<strong>in</strong>stanz festge­<br />

" Urteil5A_33/2008 vom 26.Februar 2008 E. 2.3; 5A_'44/2007 vom 18. Oktober<br />

2007 E. 1; 5A_352/2007 vom 7. September 2007 E. 2.1; 4A_83/2008<br />

vom 11. April 2008.<br />

76 Urteile 2C_561/2007 vom 6. November 2008 E. 1.3; 2C_53/2008 vom 22.<br />

August 2008 E. 2.3.<br />

77 Vgl. die Verweisung <strong>in</strong> Art. 117 BGG auf Art. 100 BGG.<br />

78 BGE 134 11 244 E. 2 S. 245 fl. (lC_380/2007 vom 19. Mai 2008); 134 11<br />

45 E. 2 S. 46 H. (2C_622/2007 vom 14. Dezember 2007); 133 11 396 E.<br />

2.2 S. 399 (2C_224/2007 vom 10. September 2007); 133 11 249 E. 1.4.2<br />

S. 254 (lC_3/2007 vom 20. Juni 2007); BGE 133 IV 286 E. 1.4 S. 287<br />

(6B_178/2007 vom 23. Juli 2007); 133 111 439 E. 2.2.2.1 S. 442 und E.<br />

3.2 S. 444 (4A_68/2007 vom 4. Juni 2007); 133 111 545 E. 2.2 S. 550<br />

(4A_12/2007 vom 3. Juli 2007); BGE 133 IV 286 E. 1.4 S. 287 (6B_178/2007<br />

vom 23. Juli 2007).<br />

79 BGE 13311409 (lC_86/2007 vom 31. Oktober 2007 LS. Geme<strong>in</strong>de Sool/<br />

GL); UrleiI1C_6/2007 vom 22.August 2007 E. 2.9; vgl. BGE 13311370 (lA<br />

237/2006 vom 7. September 2007) sowie Urteile 1A.108/2004 vom 17. November<br />

2004 und 1A.85/2006 vom 26. Januar 2007; vgl. ferner BGE 133111<br />

489 E. 3.1 (4A_102/2007 vom 9. Juli 2007).<br />

80 BGE 133 11 249 E. 1.4.1 und 1.4.2 S. 254 (lC_3/2007 vom 20. Juni 2007);<br />

133 11 396 E. 3.1 und 3.2 S. 399 I. (2C_224/2007 vom 10. September<br />

2007, subsidiäre Verfassungsbeschwerde); 133 11 249 E. 1.4.2 S. 254<br />

(lC_3/2007 vom 20. Juni 2007); 133 111 393 E. 6 S. 397 (5A_52/2007<br />

vom 22. Mai 2007); 133 IV 286 E. 1.4 S. 287 I. (6B_178/2007 vom 23 Juli<br />

2007); 133 11/545 E. 2.2 S. 550 (4A_12/2007 vom 3. Juli 2007).<br />

9<br />

stellt hat. Es kann die vor<strong>in</strong>stanzliche Sachverhaltsfeststel­<br />

lung von Amtes wegen berichtigen o<strong>der</strong> ergänzen, wenn sie<br />

offensichtlich unrichtig ist o<strong>der</strong> auf e<strong>in</strong>er Rechtsverletzung im<br />

S<strong>in</strong>ne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).81<br />

[Rz 30) Neue Tatsachen und Beweismittel dürfen gemäss<br />

Art. 99 Abs. 1 BGG nur soweit vorgebracht werden, als erst<br />

<strong>der</strong> Entscheid <strong>der</strong> Vor<strong>in</strong>stanz dazu Anlass gab. Neue Begeh­<br />

ren s<strong>in</strong>d unzulässig (Art. 99 Abs. 2 BGG).82<br />

2.2.3.3Bedeutung für die Garantien <strong>der</strong> <strong>EMRK</strong><br />

[Rz 31] Diese Formvorschriften s<strong>in</strong>d grundsätzlich auch bei<br />

<strong>der</strong> Geltendmachung von <strong>EMRK</strong>-Garantien vor Bundesge­<br />

richt zu beachten. 83 Wie nachstehend unter liffer 3 dargelegt<br />

wird, fühlt sich <strong>der</strong> EGMR <strong>in</strong> <strong>der</strong> Praxis bei <strong>der</strong> Anwendung<br />

von Art. 35 Abs. 1 <strong>EMRK</strong> nicht immer an diese Schranken<br />

des schweizerischen Prozessrechts gebunden.<br />

2.3.4 Gegenstandslosigkeit des Verfahrens - aktuelles<br />

praktisches Rechtsschutz<strong>in</strong>teresse<br />

2.3.4.1 Rechtsprechung des Bundesgerichts<br />

[Rz 32] Wird e<strong>in</strong>e Streitsache im Verlaufe des bundesgericht­<br />

lichen Verfahrens gegenstandslos, so wird sie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel<br />

vom Instruklionsrichter als E<strong>in</strong>zelrichter durch Abschreibung<br />

erledigt (Art. 32 Abs. 2 BGG).84 Voraussetzung ist dabei, dass<br />

" BGE 133 11249 E 12.2 S 252 und E. 1.43 S. 254 I. (lC_3/2007 vom 20.<br />

Juni 2007); 133 111545 E. 2.3 S. 550 (4A_12/2007 vom 3. Juli 2007); 133<br />

111462 E. 2.4 S. 466 I. (4A_61/2007 vom 13. Juni 2007); 133111393 E. 7S.<br />

39711. (5A_52/2007 vom 22. Mai 2007).<br />

82 BGE 134 V 223 E. 2 S. 226 f. (9C_568/2007 vom 14. März 2008, Verjährungse<strong>in</strong>rede);<br />

BGE 133 IV 342 (6B_324/2007 vom 5. Oktober 2007, e<strong>in</strong><br />

nach dem kantonal letzt<strong>in</strong>stanzlichen Strafurteil ergehendes Geständnis<br />

ist vor Bundesgericht unbeachtlich, ev. Wie<strong>der</strong>aufnahme des Verfahrens<br />

im S<strong>in</strong>ne von Art. 385 SIGB); 133 111 393 E. 3 S. 395 (5A_52/2007 vom 22.<br />

Mai 2007); 133 111462 E. 2.4 S. 466 f. (4A_61/2007 vom 13. Juni 2007);<br />

vgl. auch Urteil des EGMR Glor gegen <strong>Schweiz</strong> vom 30. April 2009 betrellend<br />

das Urteil des Bundesgerichts 2A.590/2003 vom 9. März 2004 (Befreiung<br />

vom Wehrpflichtersatz; <strong>der</strong> EGMR wirft dar<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> e<strong>in</strong>e<br />

Verletzung von Art. 14 LV.m. Art. 8 <strong>EMRK</strong> vor, unter an<strong>der</strong>em weil das<br />

Bundesgericht sich geweigert hat, im Rahmen e<strong>in</strong>es Revisionsverfahrens<br />

nach Art. 122 BGG dem "neuen" Begehren auf Ausstrahlung e<strong>in</strong>es Fernsehspots<br />

stattzugeben, welcher gegenüber <strong>der</strong> ursprünglichen Fassung<br />

geän<strong>der</strong>t wurde.<br />

83 Zu Art. 106 Abs. 2 BGG vgl. BGE 134 11244 E. 21 und 2.2 S 245 I. mil<br />

H<strong>in</strong>weisen (lC_380/2007 vom 19. Mai 2008). Im Anwendungsbereich<br />

von Art. 106 Abs. 2 BGG wird die Praxis zum Rügepr<strong>in</strong>zip gemäss Art. 90<br />

Abs. 11it. bOG weiter geführt (vgl. dazu BGE 130 1258 E. 1.3 S. 2611.; 129<br />

1113 E. 2.1 S. 120): BGE 13311249 E. 1.4.2 S. 254. Das gilt auch für Sachverhaltsbeanstandungen<br />

BGE 133 11249 E 1.2.2 S. 252 (1C_3/2007 vom<br />

20 Juni 2007); UrteillC_262/2007 vom 31. Januar 2008 E. 3. Es gilt die<br />

Rüge· und Begründungspflicht von Art. 106 Abs. 2 BGG BGE 133 11249 E<br />

1.4.3 S. 255 (1C_3/2007 vom 20. Juni 2007).<br />

.. Ist e<strong>in</strong>e Beschwerde vor Bundesgericht gegenstandslos geworden und mit<br />

Blick auf die vorstehenden Ausführungen nicht materiell zu behandeln, so<br />

ist nach Art. 71 BGG (ergänzendes Recht) <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit Art. 72 BZP<br />

über die Prozesskoslen (Gerichts- und Parteikosten) mit summarischer<br />

Begründung aufgrund <strong>der</strong> Sachlage vor E<strong>in</strong>lfllt des Erledigungsgrundes


He<strong>in</strong>z Aemisegger, <strong>Zur</strong> <strong>Umsetzung</strong> <strong>der</strong> <strong>EMRK</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>in</strong>: Jusletter 20. Juli 2009<br />

3. Erschöpfung des <strong>in</strong>nerstaatlichen<br />

Rechtswegs als Zulässigkeitsvor­<br />

aussetzung <strong>der</strong> Beschwerde an den<br />

EGMR<br />

3.1 Inhalt und Bedeutung von Art. 35 Abs. 1<br />

<strong>EMRK</strong><br />

[Rz 39] Der EGMR kann sich nach Art. 35 Abs. 1 <strong>EMRK</strong> mit<br />

e<strong>in</strong>er Angelegenheit erst nach Erschöpfung aller <strong>in</strong>nerstaatli­<br />

chen Rechtsbehelfe befassen. Der Beschwerdeführer muss<br />

die <strong>EMRK</strong>-relevanten Rügen den <strong>in</strong>nerstaatlichen Behörden<br />

verfahrensrechtlich korrekt vortragen. Dem e<strong>in</strong>zelnen Staat<br />

soll ermöglicht werden, e<strong>in</strong>er behaupteten Konventionsver­<br />

letzung mit eigenen Mitteln zu begegnen. 9B Der Menschen­<br />

rechtsschutz sollte nicht auf die <strong>in</strong>ternationale Ebene verla­<br />

gert werden. 9 " Es ist grundsätzlich den e<strong>in</strong>zelnen Staaten<br />

überlassen, das Verfahren zu regeln, <strong>in</strong> welchem die <strong>EMRK</strong>­<br />

Garantien <strong>in</strong>nerstaatlich geltend gemacht werden können.<br />

Voraussetzung ist e<strong>in</strong>zig, dass es für die Rechtssuchenden<br />

zumutbar ist, die <strong>in</strong>nerstaatlichen Verfahrensgrundsätze e<strong>in</strong>­<br />

zuhalten.'oo Der EGMR betont daher immer wie<strong>der</strong>, dass für<br />

ihn die materielle Verwirklichung <strong>der</strong> <strong>EMRK</strong>-Garantien <strong>in</strong> den<br />

47 europäischen Mitgliedstaaten <strong>der</strong> Konvention entschei­<br />

dend sei. Wie die nachfolgenden Ausführungen zeigen, wählt<br />

er bei <strong>der</strong> <strong>Umsetzung</strong> <strong>der</strong> genannten Grundsätze jedoch ei­<br />

nen betont pragmatischen, eigenständigen Weg. Zwar wen­<br />

det er sich zu Recht dagegen, dass <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>zelnen Län<strong>der</strong>n<br />

zu hohe formelle Hürden für den Zugang zum Rechtsschutz<br />

aufgebaut werden. Er will auf diese Weise verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n, dass<br />

die Mitgliedstaaten durch übertriebene formelle Prozessvo­<br />

raussetzungen und Überprüfungsbeschränkungen sowie<br />

durch überspitzten Formalismus im nationalen Verfahren<br />

die <strong>EMRK</strong>-Garantien unterlaufen. Grundsätzlich ist es aber<br />

auch nach Auffassung des EGMR Sache <strong>der</strong> Konventions­<br />

staaten, die <strong>in</strong>nerstaatlichen formellen Anfor<strong>der</strong>ungen an<br />

das Beschwer<strong>der</strong>echt zu bestimmen. Ihre Rechtsetzungs­<br />

und Rechtsanwendungsorgane dürfen dabei das Beschwer­<br />

<strong>der</strong>echt lediglich nicht aushöhlen und auf diese Weise die<br />

Gewährleistung des Rechtsschutzes durch den EGMR ver­<br />

unmöglichen.'ol In <strong>der</strong> Praxis räumt <strong>der</strong> Gerichtshof jedoch<br />

dem <strong>in</strong>nerstaatlichen Prozessrecht bisweilen nicht den ihm<br />

zustehenden Stellenwert e<strong>in</strong>, auch wenn es für die Rechts­<br />

suchenden zumutbar ist, die entsprechenden Verfahrensvor­<br />

schriften e<strong>in</strong>zuhalten.<br />

[Rz 40] Entsprechend <strong>der</strong> <strong>in</strong>nerstaatlichen Ausgestaltung des<br />

.. HAEfLIGERISCHÜRMANN (FN. 9), S. 401; lANTER (Fn. 9), S. 59 f.<br />

99 lANTER (Fn. 9), S. 38.<br />

100 lANTER (Fn. 17), S. 213.<br />

101 Urteil des EGMR Anker! gegen <strong>Schweiz</strong> vom 23. Oktober 1996 § 34 LV.rn §<br />

21 betreffend das Urteil des Bundesgerichts 4P.183/1990 E.E. 2b; lANTER<br />

(Fn. 17), S. 671.<br />

11<br />

Rechtsschutzes kam <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> bisher <strong>in</strong> letzter Instanz,<br />

abgesehen von wenigen Ausnahmen,'02 e<strong>in</strong> Rechtsmittel ans<br />

Bundesgericht <strong>in</strong> Frage. In Bezug auf Entscheide letzter kan­<br />

tonaler Instanzen ist dies mit Blick auf die subsidiäre Verfas­<br />

sungsbeschwerde unverän<strong>der</strong>t geblieben. Demgegenüber<br />

können nicht alle Entscheide <strong>der</strong> beiden auf Bundesebene<br />

neu geschaffenen Gerichte (Bundesstrafgericht und Bun­<br />

desverwaltungsgericht) ans Bundesgericht weitergezogen<br />

werden. Soweit diese beiden unter<strong>in</strong>stanzlichen Gerichte<br />

des Bundes letzt<strong>in</strong>stanzlich entscheiden, können ihre Urteile<br />

<strong>in</strong> <strong>EMRK</strong>-relevanten Punkten direkt beim Europäischen Ge­<br />

richtshof für Menschenrechte angefochten werden.<br />

3.2 Nichte<strong>in</strong>tretensentscheide <strong>der</strong> Konventi­<br />

onsstaaten<br />

[Rz 41] Tritt die letzte <strong>in</strong>nerstaatliche Instanz aus formellen<br />

Gründen auf e<strong>in</strong> Rechtsmittel nicht e<strong>in</strong>, so gilt <strong>der</strong> Rechts­<br />

weg im S<strong>in</strong>ne von Art. 35 <strong>EMRK</strong> grundsätzlich nicht als er­<br />

schöpft. Das ist etwa <strong>der</strong> Fall bei Nichte<strong>in</strong>tretensentscheiden<br />

des Bundesgerichts wegen Nichtbeachtung <strong>der</strong> Rechtsmit­<br />

telfrist (Art. 100 i.V.m Art. 44 ff. BGG), <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>en Be­<br />

gründungspflicht (Art. 42 Abs. 2 BGG) sowie <strong>der</strong> namentlich<br />

auf die Grundrechte zugeschnittenen beson<strong>der</strong>en Rüge- und<br />

Begründungspflicht nach Art. 106 Abs. 2 BGG.<br />

3.2.1 Qualifizierte Rüge- und Begründungspflicht<br />

(Art. 106 Abs. 2 BGG)<br />

[Rz 42] Die E<strong>in</strong>tretensvoraussetzung von Art. 35 Ziff. 1 <strong>EMRK</strong><br />

ist erfüllt, wenn das Bundesgericht o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e letzte<br />

nationale Instanz e<strong>in</strong> <strong>EMRK</strong>-Grundrecht von Amtes wegen<br />

geprüft hat. Zudem ist es für die materielle Behandlung ei­<br />

ner Streitsache durch den EGMR nicht nötig. dass sich<br />

Rechtssuchende im <strong>in</strong>nerstaatlichen Verfahren formell auf<br />

die konkreten Vorschriften <strong>der</strong> <strong>EMRK</strong> berufen haben. Viel­<br />

mehr genügt es, wenn diese Rügen im nationalen Verfahren<br />

im Wesentlichen s<strong>in</strong>ngemäss erhoben worden s<strong>in</strong>d. 103 Der<br />

EGMR schreibt, die Rüge müsse «au mo<strong>in</strong>s en substance,<br />

dans les formes et delais prescrits par le droit <strong>in</strong>terne, devant<br />

les juridictions nationales competentes» geltend gemacht<br />

worden se<strong>in</strong>. Er fügt aber sogleich - und <strong>in</strong> gewisser Wei­<br />

se wi<strong>der</strong>sprüchlich - an, die s<strong>in</strong>ngemässe Anrufung e<strong>in</strong>er<br />

<strong>EMRK</strong>-Garantie im nationalen Verfahren genüge für das E<strong>in</strong>­<br />

treten im Strassburger Verfahren. Er wendet das Erfor<strong>der</strong>nis<br />

<strong>der</strong> Erschöpfung des <strong>in</strong>nerstaatlichen Instanzenzugs mit ei­<br />

ner gewissen Souplesse an.'04 S<strong>in</strong>d diese Voraussetzungen<br />

102 MARK E. VILLIGER, (Fn. 73), S. 87 N. 129.<br />

103 MARK E. VILLIGER (Fn. 73), S. 89 N. 134 1.; vgl. z.B. Urteil des EGMR Glor gegen<br />

<strong>Schweiz</strong> vom 30. April 2009 § 55 betrel1end das Urteil des Bundesgerichts<br />

2A.590/2003 vom 9. März 2004 (Befreiung vom Wehrpflichtersatz).<br />

104 Vgl. HAEfLIGERISCHÜRMANN (FN. 9), S. 406 1.; Urteil des EGMR Ankerl gegen<br />

<strong>Schweiz</strong> vom 23. Oktober 1996 § 34 i.V.rn § 21 betreffend das Urteil<br />

des Bundesgerichts 4P.18311990 E.E. 2b; Urteil des EGMR Glor gegen<br />

<strong>Schweiz</strong> vom 30. April 2009 § 55 betrel1end das Urteil des Bundesgerichts


He<strong>in</strong>z Aemisegger, <strong>Zur</strong> <strong>Umsetzung</strong> <strong>der</strong> <strong>EMRK</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>in</strong>: Jusletter 20. Juli 2009<br />

erfüllt, erachtet <strong>der</strong> EGMR den nationale Rechtsweg im<br />

S<strong>in</strong>ne von Art. 35 lift. 1 <strong>EMRK</strong> als wirksam erschöpft. Wie<br />

vorn unter liffer 2.3.3 ausgeführt, genügt diese Rügeform im<br />

Lichte von Art. 106 Abs. 2 BGG für das bundesgerichtliche<br />

Verfahren grundsätzlich jedoch nicht. An<strong>der</strong>s verhält es sich<br />

beim Verfahren vor Bundesverwaltungsgericht. 105<br />

[Rz 43] Damit übt <strong>der</strong> EGMR h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> E<strong>in</strong>tretensvor­<br />

aussetzungen <strong>der</strong> Rüge- und Begründungspflicht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />

Verfahren fal/bezogen e<strong>in</strong>e grosszügigere E<strong>in</strong>tretens-Praxis<br />

als das Bundesgericht im bundesgerichtlichen Verfahren ge­<br />

stützt auf Art. 106 Abs. 2 BGG.<br />

[Rz 44] In <strong>der</strong> Praxis liess es das Bundesgericht namentlich<br />

im Bereich <strong>der</strong> persönlichen Freiheit im Straf- und Strafpro­<br />

zessrecht trotz <strong>der</strong> für Grundrechtsverletzungen geltenden<br />

qualifizierten Rüge- und Begründungspflicht von Art. 90<br />

Abs. 1 lit. b OG häufig genügen, dass die entsprechenden<br />

Rügen s<strong>in</strong>ngemäss vorgebracht wurden. Diese Rechtsprechung<br />

wird auch <strong>in</strong> Anwendung des heutigen Art. 106 Abs. 2<br />

BGG fortgesetzt. 106 Teilweise dürfte dieses pragmatische<br />

Vorgehen auf den E<strong>in</strong>fluss <strong>der</strong> obgenannten Rechtsprechung<br />

des EGMR zurückzuführen se<strong>in</strong>. Es trägt jedenfalls <strong>in</strong><br />

konstruktiver Weise dazu bei, die grundsätzlich bestehende<br />

Diskrepanz zwischen den <strong>in</strong>nerstaatlich geltenden strengen<br />

Vorschriften betreffend die Rüge- und Begründungspflicht<br />

und <strong>der</strong> grosszügigen E<strong>in</strong>tretenspraxis des EGMR erheblich<br />

abzuschwächen.<br />

3.2.2 Sachverhalt (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 1 und<br />

2 BGG)<br />

[Rz 45) Der EGMR legt se<strong>in</strong>em Urteil häufig e<strong>in</strong>en vom «an­<br />

gefochtenen» letzt<strong>in</strong>stanzlichen nationalen Entscheid ab­<br />

weichenden Sachverhalt zugrunde. Der so ergänzte Sach­<br />

verhalt enthält oft Fakten, die im nationalen Verfahren mit<br />

Blick auf <strong>in</strong>nerstaatliche Verfahrensregeln nicht rechtsgültig<br />

vorgebracht worden s<strong>in</strong>d, nicht geprüft werden durften o<strong>der</strong><br />

2A.59012003 vom 9. März 2004 (Befreiung vom Wehrpflichtersatz). Im<br />

Urteil des EGMR Car/san gegen <strong>Schweiz</strong> vom 6. November 2008 §§ 45­<br />

50 betreffend das Urteil des Bundesgerichts 5P.199/2006 vom 13. Juli<br />

2006 hat <strong>der</strong> Gerichlshof feslgehalten, <strong>der</strong> durch e<strong>in</strong>en Anwalt vertretene<br />

amerikanische Beschwerdeführer, <strong>der</strong> selbst Jurist sei, habe zwar die<br />

Rüge <strong>der</strong> Verletzung von Art. 8 <strong>EMRK</strong> im <strong>in</strong>nerstaatlichen Verfahren nicht<br />

ausdrücklich erhoben. Er habe diese <strong>EMRK</strong>-Garantie jedoch vor Bundesgericht<br />

s<strong>in</strong>ngemäss angerufen und damit die Voraussetzung <strong>der</strong> Erschöplung<br />

des <strong>in</strong>nerstaallichen Instanzenzuges erlüllt (Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung<br />

über die Rückführung e<strong>in</strong>es K<strong>in</strong>des nach dem Haager Übere<strong>in</strong>kommen<br />

vom 25. Oktober 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte <strong>in</strong>ternationaler<br />

K<strong>in</strong>desentführung (HEntfÜ; SR 0.211.230.02).<br />

105 CHRISTOPH Au ER <strong>in</strong>: Auer/Müller/Sch<strong>in</strong>dler, Kommentar zum Bundesgesetz<br />

über das Verwaltungsverfahren (VwVG), Zürich/SI. Gallen 2008 zu Art. 12<br />

N. 12 S. 195.<br />

106 BGE 122 V47 E. 4a S. 58;120 la 31 E. 4b S. 40; 120 la 247 E. 2a S. 250; 118<br />

la 64 E.3b S. 75; 1061V 85 E. 2b S. 88; 1B_89/2008 vom 28. April 2008 E.<br />

3.2; lBJ2/2007 vom 16 Mai 2007 E. 2; 6P.17212006 vom 28. Dezember<br />

2006 E. 2; 1P.63/2003 vom 8. Mai 2003 E. 2.<br />

12<br />

sich erst nach dem letzt<strong>in</strong>stanzlichen nationalen Entscheid<br />

ereignet haben.'O?<br />

3.2.3 Obiter dicta <strong>in</strong> nationalen Nichte<strong>in</strong>tretensent­<br />

scheiden<br />

[Rz 46) Bisweilen fügt das Bundesgericht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Begründung<br />

se<strong>in</strong>es Nichte<strong>in</strong>tretensentscheides im S<strong>in</strong>ne von obiter dicta<br />

materielle Begründungselemente an, um se<strong>in</strong> Urteil für die<br />

Parteien plausibler zu machen. Dies nimmt <strong>der</strong> EGMR mitun­<br />

ter zum Anlass, sich <strong>in</strong>soweit (trotz des nationalen Nichte<strong>in</strong>­<br />

tretensentscheides) bezogen auf diese obiter dicta materiell<br />

mit <strong>der</strong> Sache zu befassen. !OB Das ist unter dem Gesichts­<br />

punkt von Art. 35 liff. 1 <strong>EMRK</strong> fragwürdig und für den natio­<br />

nalen Richter unbefriedigend. Er steht vor <strong>der</strong> Wahl, solche<br />

obiter dicta konsequent wegzulassen o<strong>der</strong> sich <strong>in</strong> Missach­<br />

tung <strong>in</strong>nerstaatlicher Formvorschriften mit e<strong>in</strong>er Sache materiell<br />

ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>zusetzen, wenn er e<strong>in</strong>e <strong>EMRK</strong>-Verletzung<br />

erkennt. Jedenfalls sollten Urteilsmotive dieser Art sehr sorgfältig<br />

abgefasst werden.<br />

3.3 Beispiele<br />

3.3.1 Erweiterung des Streitgegenstandes duch den<br />

EGMR<br />

[Rz 47] Brian Eyre McHugo hat vor Bundesgericht geltend<br />

gemacht, die vom luger Obergericht festgestellte Verletzung<br />

des Beschleunigungsgebots verbiete es gemäss Art. 6 lift. 1<br />

<strong>EMRK</strong>, ihm die Verfahrenskosten aufzuerlegen und e<strong>in</strong>e Ent­<br />

schädigung zu verweigern. Die blosse Feststellung, es sei im<br />

Strafverfahren Art. 6 lift. 1 <strong>EMRK</strong> verletzt worden, hat er vom<br />

Bundesgericht angesichts <strong>der</strong> vom Obergericht festgestell­<br />

ten Verletzung des Beschleunigungsgebots nicht verlangt.<br />

Das Bundesgericht entschied, die angefochtene Kosten- und<br />

Entschädigungsregelung verletze die Unschuldsvermutung<br />

im S<strong>in</strong>ne von Art. 6 liff. 2 <strong>EMRK</strong> nicht. Daran än<strong>der</strong>e auch<br />

die festgestellte Verletzung des Beschleunigungsgebots<br />

nichts. Der EGMR hat die Auffassung des Bundesgerichts<br />

h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> im bundesgerichtlichen Verfahren alle<strong>in</strong><br />

streitigen Problematik <strong>der</strong> Unschuldsvermutung geteilt, die<br />

Beschwerde aber unter dem Titel <strong>der</strong> Verfahrensdauer ent­<br />

gegengenommen, obwohl diese für sich alle<strong>in</strong> nicht Streitgegenstand<br />

des bundesgerichtlichen Verfahrens war und dazu<br />

vor Bundesgericht auch ke<strong>in</strong> entsprechen<strong>der</strong> Antrag gestellt<br />

wurde. In <strong>der</strong> Folge hat <strong>der</strong> EGMR die <strong>Schweiz</strong> wegen Verletzung<br />

von Art. 6 liff 1 <strong>EMRK</strong> (Nichte<strong>in</strong>haltung des «delai<br />

raisonnable,,) verurteilt. 109<br />

'07 s. Beispiele <strong>in</strong> Zifl. 3.3.<br />

108 HAEfliGER/SCHURMANN (fN. 9), S. 408; Urteil des EGMR Huber Julta gegen<br />

Scnweiz vom 23. Oklober 1990 ; Urteil des EGMR Vere<strong>in</strong> gegen Tierfabriken<br />

(VgT) gegen Scnweizvom 4. Oktober 2007; LANTER (fn. 17). S. 215.<br />

109 Urteil des EGMR McHuga gegen <strong>Schweiz</strong> vom 21. September 2006 betreffend<br />

das Urteil des BundesgerichIs 1P.14211999 vom 24. Juni 1999; Zulassungsenlscheid<br />

des EGMR McHugo gegen <strong>Schweiz</strong> vom 12. Mai 2005


He<strong>in</strong>z Aemisegger, <strong>Zur</strong> <strong>Umsetzung</strong> <strong>der</strong> <strong>EMRK</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>in</strong>: Jusletter 20. Juli 2009<br />

3.3.2 Begründungspflicht<br />

[Rz 48] Ähnlich liegt <strong>der</strong> Fall Kaiser."° Hier waren die Haft·<br />

gründe unbestrittenermassen gegeben. Die Beschwerde·<br />

führer<strong>in</strong> machte e<strong>in</strong>zig geltend, die Haftanordnung sei ver­<br />

spätet erfolgt, weshalb sie freigelassen werden müsse. Der<br />

Haftrichter hat vor Bundesgericht e<strong>in</strong>geräumt, die richterliche<br />

Haftprüfung sei zwar e<strong>in</strong>deutig zu spät erfolgt. Dies führe<br />

jedoch nicht zur sofortigen Haftentlassung, da die gesetz­<br />

lichen Haftgründe gegeben seien. Die Beschwerdeführer<strong>in</strong><br />

setzte sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> staatsrechtlichen Beschwerde damit nicht<br />

ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>, son<strong>der</strong>n behauptete lediglich, die Missachtung<br />

<strong>der</strong> Frist müsse zur sofortigen Haftentlassung führen. Das<br />

Bundesgericht hielt diese Begründung im Lichte von Art. 90<br />

Abs. 1 lit. b OG für ungenügend, trat deshalb auf die Be­<br />

schwerde nicht e<strong>in</strong>, fügte aber ausdrücklich bei, <strong>der</strong> ange­<br />

fochtene Haftentscheid sei offensichtlich verspätet. Im vorn<br />

erwähnten Urteil vom 15. März 2007 hielt <strong>der</strong> EGMR auch<br />

bei dieser Konstellation fest, die <strong>Schweiz</strong> habe Art. 5 Ziff. 3<br />

<strong>EMRK</strong> verletzt. Nachdem offensichtlich klar war, dass die<br />

richterliche Überprüfung <strong>der</strong> Haftgründe für die Inhaftnahme<br />

im S<strong>in</strong>ne von Art. 31 Abs. 3 BV und Art. 5 Ziff. 3 <strong>EMRK</strong> ver­<br />

spätet erfolgt war, hätte das Bundesgericht <strong>in</strong> diesem Punkt<br />

die Beschwerde wohl materiell behandeln und gutheissen<br />

müssen. Damit wäre die Verurteilung <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> durch den<br />

EGMR verh<strong>in</strong><strong>der</strong>t worden.<br />

[Rz 49] Als Gegenbeispiel sei auf das Urteil Hilpert h<strong>in</strong>gewiesen,<br />

<strong>in</strong> welchem <strong>der</strong> EGMR die Aufassung des Bundesgerichts<br />

geteilt hat, <strong>der</strong> Beschwerdeführer habe se<strong>in</strong>e Rüge<br />

nicht h<strong>in</strong>reichend begründet.'"<br />

3.3.3 Erweiterung des Sachverhalts durch den EGMR<br />

[Rz 50] Im Fall Boultif gegen die <strong>Schweiz</strong> g<strong>in</strong>g es um die Ver­<br />

weigerung <strong>der</strong> Erneuerung <strong>der</strong> Aufenthaltsbewilligung wegen<br />

Raubüberfall betreffend e<strong>in</strong>en mit e<strong>in</strong>er <strong>Schweiz</strong>er<strong>in</strong> verheira­<br />

teten Algerier. Das <strong>in</strong> Bezug auf die Sachverhaltsfeststellung<br />

für das Bundesgericht grundsätzlich verb<strong>in</strong>dliche Urteil des<br />

Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich erg<strong>in</strong>g am 16. Juni<br />

1999. Das Bundesgericht entschied am 3. November 1999<br />

und <strong>der</strong> EGMR-Entscheid erfolgte am 2. August 2001. In<br />

diesem Erkenntnis berücksichtigte und würdigte <strong>der</strong> EGMR<br />

(VPB 70.113) betreUend das Urteil des Bundesgerichts lP.142/1999 vom<br />

24. Juni 1999.<br />

110 Urteil des EGMR Kaiser gegen <strong>Schweiz</strong> vom 15. März 2007 (<strong>in</strong> Pra 96/2007<br />

S. 744) betreUend das Urteil des Bundesgerichis 1P.68812003 vom 5. Dezember<br />

2003 (Celest<strong>in</strong>e Kaiser, Haft, Strafuntersuchung wegen Menschenhandels<br />

und För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Prostitution); vgl. auch Urteil des EGMR<br />

Car/son gegen <strong>Schweiz</strong> vom 6. November 2008 §§ 45·50 betreffend das<br />

Urteil des Bundesgerichts 5P.19912006 vom 13. Juli 2006.<br />

11' Nichtzulassungsentscheid des EGMR Hi/per/ gegen <strong>Schweiz</strong> vom 29. November<br />

2001 betreUend das Urteil des Bundesgerichts 4P.11212000 vom<br />

6. Juni 2000; vgl. auch Urteil des EGMR Car/san gegen <strong>Schweiz</strong> vom 6. November<br />

2008 § 98 betreffend das Urteil des Bundesgerichts 5P.199/2006<br />

vom 13. Juli 2006; LANTER (Fn. 17), S. 214.<br />

13<br />

das (Wohl-) Verhalten des Beschwerdeführers bis zum 28.<br />

Februar 2000." 2<br />

[Rz 51] Im Fall Munari hat das Bundesgericht <strong>in</strong> Guthei­<br />

ssung e<strong>in</strong>er Beschwerde am 20. Juni 2001 e<strong>in</strong>e Verletzung<br />

des Beschleunigungsgebots festgestellt und die kantonalen<br />

Behörden angehalten, das Strafverfahren umgehend abzu­<br />

sch/iessen. Die kantonalen Behörden haben das Verfahren<br />

trotzdem weiter verzögert. Diese weitere unzulässige Verzögerung<br />

wurde vom EGMR <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Urteil vom 12. Juli 2005<br />

mit zum Anlass genommen, die <strong>Schweiz</strong> wegen Verletzung<br />

von Art. 6 Ziff. 1 <strong>EMRK</strong> zu verurteilen, obwohl <strong>der</strong> <strong>in</strong>nerstaat­<br />

liche Instanzenzug diesbezüglich nicht erschöpft war. Die<br />

Untätigkeit <strong>der</strong> Tess<strong>in</strong>er Behörden hätte mit Rechtsverweige­<br />

rungs- und Rechtsverzögerungsbeschwerde (Art. 94 BGG)<br />

beim Bundesgericht beanstandet werden können."3<br />

3.4 Folgerung<br />

[Rz 52] Diese Darlegungen zeigen, dass h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong><br />

Rechtsprechung des EGMR betreffend das <strong>in</strong> Art. 35 Ziff. 1<br />

<strong>EMRK</strong> enthaltene E<strong>in</strong>tretenserfor<strong>der</strong>nis <strong>der</strong> Erschöpfung des<br />

<strong>in</strong>nerstaatlichen Instanzenzugs Unklarheit und Rechtsunsi­<br />

cherheit besteht. Die künftige Praxis des EGMR ist <strong>in</strong> vielen<br />

Punkten nicht o<strong>der</strong> nur sehr schwer voraussehbar. Ebenso<br />

hat sich ergeben, dass zwischen dem Erfor<strong>der</strong>nis von Art. 35<br />

Ziff. 1 <strong>EMRK</strong> und dem nationalen Verfahrensrecht e<strong>in</strong> sehr<br />

enger Zusammenhang besteht. Das bewirkt, dass sich die­<br />

se Rechtsunsicherheit auf das nationale Verfahren überträgt<br />

und sowohl für die Rechtssuchenden als auch für die rechtsanwendenden<br />

Behörden Probleme schafft. Der Hauptgrund<br />

tür diese Situation liegt dar<strong>in</strong>, dass <strong>der</strong> EGMR <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

Rechtsprechung kasuistisch vorgeht, auf E<strong>in</strong>zelfallgerechtig­<br />

keit bedacht ist und für ihn die Regelbildung aus Gründen<br />

des Subsidiaritätspr<strong>in</strong>zips und <strong>der</strong> Souveränität <strong>der</strong> Konven­<br />

tionsstaaten nicht im Vor<strong>der</strong>grund steht. E<strong>in</strong>e Verbesserung<br />

dieses Zustandes setzt das Zusammenwirken aller Beteiligten<br />

voraus, wie dies Lanter zutreffend verlangt.'14 Dazu ge­<br />

hören auch die Rechtssuchenden und <strong>der</strong>en Vertreter, die<br />

112 Urteil des EGMR Boullil gegen <strong>Schweiz</strong> vom 2. August 2001 §§ 25 und 51<br />

belreffend das Urleil des Bundesgerichts 2A.388/1999 vom 3. November<br />

1999, vgl. auch Revisionsurteil, Abweisung, 2A.363/2001 vom 6. November<br />

2001; (Verletzung von Arl. 8 <strong>EMRK</strong>); Urteil des EGMR Vere<strong>in</strong> gegen<br />

Tier/abriken (VgT) gegen <strong>Schweiz</strong> vom 30. Juni 2009, Grosse Kammer<br />

betreffend das Urleil des EGMR Vere<strong>in</strong> gegen Tier/abriken (VgT) gegen<br />

<strong>Schweiz</strong> vom 4. Oktober 2007 und BGE 123 11402 (2A.330/1996 vom 20.<br />

August 1997) § 64; G/or gegen <strong>Schweiz</strong> vom 30. April 2009 bel reifend das<br />

Urteil des Bundesgerichts 2A.590/2003 vom 9. März 2004 (Befreiung vom<br />

Wehrpflichtersatz) § 42, § 48 und § 55 sowie Kaiser gegen <strong>Schweiz</strong> vom<br />

15. März 2007 (Pra 96/2007 S. 744) betreffend das Urteil des Bundesgerichts<br />

1P.688/2003 vom 5. Dezember 2003. Vgl. ferner MARK E. VllLiGER,<br />

(Fn. 73), S. 89, N134 f. und N138 mit H<strong>in</strong>weisen.<br />

113 Urteil des EGMR Munari gegen <strong>Schweiz</strong> vom 12. Juli 2005 (VPB 69.137)<br />

betreffend das Urteil des Bundesgerichts 1P. 315/2001 vom 20. Juni<br />

2001.<br />

114 LANTER (Fn. 17), S. 83.


He<strong>in</strong>z Aemisegger, <strong>Zur</strong> <strong>Umsetzung</strong> <strong>der</strong> <strong>EMRK</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>in</strong>: Jusleller 20. Juli 2009<br />

durch e<strong>in</strong>e sorgfältige Geltendmachung <strong>der</strong> <strong>in</strong> Frage kom­<br />

menden <strong>EMRK</strong>-Garantien im <strong>in</strong>nerstaatlichen Verfahren viel<br />

zur korrekten Erschöpfung des <strong>in</strong>nerstaatlichen Instanzen­<br />

zugs beitragen können. Für den EGMR bedeutet das, dass<br />

er sich bei <strong>der</strong> Anwendung des E<strong>in</strong>tretenserfor<strong>der</strong>nisses<br />

<strong>der</strong> Erschöpfung des <strong>in</strong>nerstaatlichen Instanzenzugs mehr<br />

<strong>Zur</strong>ückhaltung auferlegen und dem <strong>in</strong>nerstaatlichen Verfah­<br />

rensrecht mehr Rechnung tragen sollte. Umgekehrt ist es<br />

wohl angezeigt, dass das Bundesgericht namentlich bei den<br />

Anfor<strong>der</strong>ungen an die Begründungs- und Rügepflicht <strong>in</strong> EM­<br />

RK-Fällen bisweilen etwas grosszügiger verfährt und dabei<br />

an se<strong>in</strong>e Praxis, s<strong>in</strong>ngemäss erhobene Rügen genügen zu<br />

lassen, anknüpft. Auch beim Erfor<strong>der</strong>nis des Rechtsschutz<strong>in</strong>­<br />

teresses sowie bei <strong>der</strong> Sachverhaltsfeststellung ist mitunter<br />

fallweise e<strong>in</strong> etwas weniger strenges Vorgehen ratsam. Für<br />

die nationalen Instanzen stellt sich somit die Frage, <strong>in</strong>wieweit<br />

sie die formellen Anfor<strong>der</strong>ungen an das Beschwer<strong>der</strong>echt<br />

<strong>in</strong> völkerrechtskonformer Interpretation <strong>der</strong> entsprechenden<br />

<strong>in</strong>nerstaatlichen Prozessbestimmungen ähnlich grosszügig<br />

handhaben sollen wie <strong>der</strong> EGMR. Für die <strong>Schweiz</strong> ist ver­<br />

tieft zu überlegen, ob <strong>in</strong> <strong>EMRK</strong>-Fällen mit Blick auf e<strong>in</strong>en<br />

allfälligen ..Weiterzug.. an den EGMR das <strong>in</strong>nerstaatlich <strong>in</strong><br />

Art. 111 BGG verankerte Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> E<strong>in</strong>heit des Verfahrens<br />

ausgeprägter als bisher analog angewendet werden könnte.<br />

Solche Bemühungen würden jedenfalls zu e<strong>in</strong>er besseren<br />

<strong>Umsetzung</strong> <strong>der</strong> <strong>EMRK</strong> beitragen. Überdies würden damit un­<br />

nötige Verurteilungen durch den EGMR, an denen niemand<br />

<strong>in</strong>teressiert se<strong>in</strong> kann, vermieden.<br />

4. Beispiele aus <strong>der</strong> Rechtsprechung<br />

des Bundesgerichts<br />

[Rz 53] Die folgenden Beispiele aus <strong>der</strong> Rechtsprechung des<br />

Bundesgerichts und des EGMR beziehen sich auf e<strong>in</strong>zelne<br />

Garantien <strong>der</strong> <strong>EMRK</strong>, wobei die Art. 5 Ziff. 3 und 4 <strong>EMRK</strong><br />

(Recht auf Freiheit und Sicherheit), Art. 6 Ziff. 1 und 2 <strong>EMRK</strong><br />

(Recht auf e<strong>in</strong> faires Verfahren), Art. 8 <strong>EMRK</strong> (Recht auf Ach­<br />

tung des Privat- und Familienlebens) und 10 <strong>EMRK</strong> (Freiheit<br />

<strong>der</strong> Me<strong>in</strong>ungsäusserung) im Vor<strong>der</strong>grund stehen.<br />

4.1 Öffentlichkeitspr<strong>in</strong>zip<br />

4.1.1 Allgeme<strong>in</strong>es<br />

[Rz 54] In se<strong>in</strong>er Rechtsprechung zum Öffentlichkeitspr<strong>in</strong>­<br />

zip sucht das Bundesgericht e<strong>in</strong>en Ausgleich zwischen den<br />

gegenläufigen Interessen von allgeme<strong>in</strong>em Publikum und<br />

den Medien e<strong>in</strong>erseits und den Prozessbeteiligten an<strong>der</strong>er­<br />

seits. Dabei stösst das Öffentlichkeitspr<strong>in</strong>zip jedenfalls dort<br />

an Grenzen, wo Verfahrensbeteiligten und Dritten durch<br />

unzulässige und unverhältnismässige Bee<strong>in</strong>trächtigung <strong>der</strong><br />

Privatsphäre Schaden zugefügt wird (Art. 13 BV, 8 und 10<br />

<strong>EMRK</strong> und Art. 28 ff. ZGB) und wo die verfahrensrechtli­<br />

che und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Folge auch die materiellrechtliche Situation<br />

14<br />

ungerechtfertigt bee<strong>in</strong>trächtigt wird. Führen etwa im Straf­<br />

prozess Medienberichte zu unzulässigen Vorverurteilungen<br />

(Unschuldsvermutung, Art. 32 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 2<br />

<strong>EMRK</strong>), so ist dies mitunter bei <strong>der</strong> Strafzumessung straf­<br />

m<strong>in</strong><strong>der</strong>nd zu berücksichtigen. Die Gerichte dürfen es jedoch<br />

nicht dabei bewenden lassen, son<strong>der</strong>n müssen Gefährdun­<br />

gen <strong>der</strong> Garantie <strong>der</strong> Unschuldsvermutung aktiv bekämpfen.<br />

In diesem S<strong>in</strong>ne können sie den Medien gegenüber geeigne­<br />

te Massnahmen ergreifen (Ermahnungen zur Respektierung<br />

<strong>der</strong> Unschuldsvermutung, Anonymisierung von Personen<br />

und Sachverhaltsdarstellungen, Sperrfrist für die Bericht­<br />

erstattung, ausnahmsweiser teilweiser Ausschluss von <strong>der</strong><br />

Verhandlung usw.). Sie dürfen das Öffentlichkeitspr<strong>in</strong>zip von<br />

Art. 30 Abs. 3 BV dadurch jedoch nicht unterlaufen." 5 Nach<br />

diesem Justizverfassungsgrundsatz s<strong>in</strong>d GeriChtsverhand­<br />

lung und Urteilsverkündung öffentlich, wobei das Gesetz<br />

Ausnahmen vorsehen kann.<br />

[Rz 55) Für den Bereich <strong>der</strong> Rechtsprechung hat <strong>der</strong> Bun­<br />

desgesetzgeber gestützt auf Art. 30 Abs. 3 BV spezielle Re­<br />

gelungen aufgestellt. Zu erwähnen s<strong>in</strong>d etwa die Art. 27, 28<br />

und 59 BGG sowie verschiedene Vorschriften des SGG,116<br />

des VGGlI7 und des BGA,118.119 Auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>erischen<br />

Strafprozessordnung l2O und <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>erischen Zivilpro­<br />

zessordnung l2 ! s<strong>in</strong>d wichtige Vorschriften zum Öffentlich­<br />

keitspr<strong>in</strong>zip vorgesehen. 122<br />

[Rz 56] Zu erwähnen ist <strong>in</strong> diesem Zusammenhang auch<br />

die Kommunikations- und Me<strong>in</strong>ungsfreiheit (Art. 16 Abs. 1<br />

und 2 BV), die Informationsfreiheit (Art. 16 Abs. 3 BV), die<br />

115 Zum Ganzen BGE 12B IV 97 E. 3b S. 104; 113 la 309; Urteil des Obergerichts<br />

des Kanlons Schaffhausen vom 24.10.2003, ZBI2005 210 ff.; HEINz<br />

AEMISEGGER <strong>in</strong>: Pierre Tschannen (Hrsg.), Neue Bundesrechtspllege, Berner<br />

Tage für die juristische Praxis, BTJP 2006, Bero 2007 (zit. Aemisegger,<br />

Öffentlichkeitspr<strong>in</strong>zip), S. 378 1.; URS SAXER, Vom Öllentlichkeilspr<strong>in</strong>zip<br />

zur Justizkommunikation, - Rechtsstaatliche Determ<strong>in</strong>anten e<strong>in</strong>er verstärkten<br />

Öffentlichkeitsarbeit <strong>der</strong> Gerichte, ZSR 2006 I S. 459 fl., 468 1..<br />

473 11.: FRANZ ZELLER. Medien und Hauptverhandlung. Menschenrechtliche<br />

Leitplanken, <strong>in</strong>: Justice-Jusliz-Giuslizia 2006 Rz. 20, 43 ff .. 50, 53 fl.<br />

68 fl.; AtlDREAs AUER/GIORGIO MALINVERNI/MICHEL HOTTElIER, OroH constitutionnel<br />

suisse, Bero 2006, 2. Aufl" Band 11 Rz. 1290; HANs PETER WAllER, Gedanken<br />

zum Richteramt, ZBJV 1991 S. 611 fl., 6301.; GEDRG MÜLLER. Justiz,<br />

Politik und Medien <strong>in</strong>: Mensch und Staat, Festschrift für Thomas Fle<strong>in</strong>er,<br />

Freiburg 2003, S. 54511.,555.<br />

116 Vgl. die Art. 25 SGG und 30 SGG LV.m. den Art. 24 und 178 BSIP.<br />

111 Vgl. die Art. 40 rr. VGG.<br />

111 Bundesgesetz vom 26. Juni 1998 über die Archivierung (Archivierungsge­<br />

setz, BGA), SR 152.1.<br />

119 AEMISEGGER, Öffentlichkeitspr<strong>in</strong>zip (Fn. 115) 411 fl.<br />

120 <strong>Schweiz</strong>erische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung<br />

SIPO), BBI 20076977 fl., vgl. z.B. Art. 69 lf., Art. 73 Ir. und Arl<br />

84 ft. SIPO; Botschaft zur Vere<strong>in</strong>heitlichung des Slrafprozessrechls, BBI<br />

2006108511.; vgl. z.B. Art. 67, 33611. und 412 r. E-StPO.<br />

121 <strong>Schweiz</strong>erische Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008 (Zivilprozessordnung,<br />

ZPO), BBI 2009 21 fl., vgl. z.B. Art. 54 ZPO; Botschaft<br />

zur <strong>Schweiz</strong>erischen Zivilprozessordnung (ZPO) BBI 2006 7221 fl.; vgl.<br />

Art. 52 E-ZPO.<br />

121 AfMISfGGER, Öffenllichkeitspr<strong>in</strong>zip (Fn. 115), S. 414 ff.


He<strong>in</strong>z Aemisegger, <strong>Zur</strong> <strong>Umsetzung</strong> <strong>der</strong> <strong>EMRK</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>in</strong>: Jusletter 20. Juli 2009<br />

Medienfreiheit (Art. 17 BV), die Wissenschaftsfreiheit (Art. 20<br />

BV) sowie die Kunstfreiheit (Art. 21 BV). All diese Regelun­<br />

gen s<strong>in</strong>d stark von den Art. 6 Ziff. 1 <strong>EMRK</strong> und Art. 14 UNO­<br />

Pakt 11'23 bee<strong>in</strong>flusst.'2' Auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Rechtsanwendung spielt<br />

namentlich Art. 6 Ziff. 1 <strong>EMRK</strong> e<strong>in</strong>e grosse Rolle.<br />

4.1.2 Öffentliche Gerichtsverhandlungen<br />

[Rz 57) Gerichtsverhandlungen s<strong>in</strong>d nach Art. 30 Abs. 3 BV<br />

öffentlich abzuhalten. Dieser Verfassungsgrundsatz ist von<br />

den parallelen Garantien <strong>der</strong> <strong>EMRK</strong> (Art. 6 Ziff. 1) und des<br />

Uno-Pakts 1I (Art. 14 Ziff. 1) bee<strong>in</strong>flusst und erweist sich teil­<br />

weise als Nachvollzug dieser völkerrechtlichen Bestimmun­<br />

gen. Träger des Anspruchs auf öffentliche Gerichtsverhand­<br />

lung s<strong>in</strong>d neben den Verfahrensbeteiligten auch die Medien<br />

sowie das öffentliche Publikum schlechth<strong>in</strong>. Sie tragen dazu<br />

bei, die Kontrolle <strong>der</strong> Justiz im demokratischen Rechtsstaat<br />

sicherzustellen. 125<br />

4.1.3 Öffentlich zugängliche Gerichtsurteite<br />

[Rz 58) Wegen <strong>der</strong> grossen Bedeutung <strong>der</strong> Präjudizien kommt<br />

dem Öffentlichkeitspr<strong>in</strong>zip e<strong>in</strong>e wichtige Funktion ZU.'26 Das<br />

Bundesgericht veröffentlicht seit dem 1. Januar 2007 sämtli­<br />

che vertahrensabschliessenden Entscheide anonymisiert im<br />

Internet. Rubra und Dispositive aller Urteile werden grund­<br />

sätzlich unanonymisiert öffentlich aufgelegt. Auf diese Wei­<br />

se wird das <strong>in</strong> Art. 30 Abs. 3 BV und <strong>in</strong> Art. 6 Ziff. 1 <strong>EMRK</strong><br />

verankerte Gebot <strong>der</strong> öffentlichen Urteilsverkündung erfüllt.<br />

Die öffentliche Urteilsverkündung im Anschluss an e<strong>in</strong>e öf­<br />

fentliche Beratung (Art. 60 Abs. 2 BGG) f<strong>in</strong>det nur noch <strong>in</strong><br />

wenigen Fällen statt, weil die öffentliche Beratung im S<strong>in</strong>ne<br />

<strong>der</strong> Art. 58 ff. BGG zur Ausnahme geworden ist. Die Leitent­<br />

scheide werden zudem <strong>in</strong> <strong>der</strong> amtlichen Sammlung <strong>der</strong> «Ent­<br />

scheidungen des <strong>Schweiz</strong>erischen Bundesgerichts» publi­<br />

ziert, was ihre Qualität als Grundsatzpräjudizien markiert. 127<br />

Dieses Vorgehen basiert namentlich auf Art. 30 Abs. 3 BV,<br />

123 Internationaler Pakl vom 16. Dezember 1966 über bürgerliche und politische<br />

Rechte, SR 0.103.2, tür die <strong>Schweiz</strong> <strong>in</strong> Krafl seit 18.September1992<br />

(AS 1993 750).<br />

12' AEMISEGGER, Öffentlichkeitspr<strong>in</strong>zip (Fn. 115), S, 379.<br />

125 Vgl. zum Ganzen Urteil2C_462/2008 vom 20. März 2009 (Praxisän<strong>der</strong>ung<br />

im Steuerrecht: bundesgerichtliche Sitzungen grundsäztlich öffentlich);<br />

BGE 124 IV 234 E, 3b; 121130 E, 5d; 1171a 387; Urteil des EGMR Hurter<br />

gegen Scnweizvom 15, Dezember 2005 betreffend das Urteil 2P.178/1998<br />

vom 26. Februar 1999; GEROLD STEINMANN, SI. Galler Kommentar (Fn, 3), zu<br />

Art. 30 BV N. 37; ANOREAS AUER/G'ORGIO MAlirIVERNI/M'CHEL HOTTfUER, Droil<br />

constitutionnel suisse, Bero 2006, 2. Aufl., Band 11 Rz. 1288; vgl, überdies<br />

h<strong>in</strong>ten Zill. 4,2.3.<br />

'26 Vgl. ÄEMISEGGER, Öffentlichkeilspr<strong>in</strong>zip (Fn. 115), S. 378 f.<br />

121 Gemäss Art. 59 Reglement vom 20. November 2006 für das Bundesgericht<br />

(BGerR, SR 173.110,131) werden «alle Entscheide <strong>der</strong> Amllichen Sammlung»<br />

sowie "alle End- und Teilenischeide sowie die vom Abteilungspräsidenten<br />

bezeichneten Vor- und Zwischenentscheide» veröffentlicht, wobei<br />

das Ableilungspräsidium die geeigneten Massnahmen (<strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel Anonymisierung)<br />

zum Persönlichkeilsschutz <strong>der</strong> Parteien trifft.<br />

15<br />

Art. 6 Ziff. 1 <strong>EMRK</strong>, Art. 27 Abs. 1 und Art. 59 Abs. 3 BGG<br />

sowie Art. 59 BGerR.'28<br />

4.2 Fairness im Verfahren<br />

4.2.1 Unvore<strong>in</strong>genommenheit des Richters<br />

4.2.1.1 Verbotene Doppelfunktion<br />

[Rz 59) Unter dem E<strong>in</strong>fluss des EGMR hat das Bundesge­<br />

richt verschiedentlich <strong>in</strong> Fällen, <strong>in</strong> denen e<strong>in</strong> kantonaler Rich­<br />

ter entwe<strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Sache <strong>in</strong> unterschiedlichen Verfahren<br />

o<strong>der</strong> <strong>in</strong> vom anwendbaren Verfahrensrecht klar getrennten<br />

Verfahrensabschnitten befasst war, e<strong>in</strong>gegriffen und die<br />

Doppelfunktion für verfassungs- (Art. 30 Abs. 1, Art. 31<br />

Abs. 3 und 4 BV) und konventionswidrig (Art. 5 Ziff. 3 und 4,<br />

Art. 6 Ziff. 1 <strong>EMRK</strong>) erklärt. So wurde etwa die Personalunion<br />

von Untersuchungs- und Sachrichter, von Anklagekammer­<br />

und Sachrichter sowie von Haftrichter und Anklagevertreter<br />

unterbunden.'29<br />

4.2.1.2 Befangener Oberrichter wegen «Auffor<strong>der</strong>ung<br />

zum Rückzug <strong>der</strong> Berufung»<br />

[Rz 60] In e<strong>in</strong>em Strafprozess wurde e<strong>in</strong> Oberrichter wegen<br />

Befangenheit bzw. Ansche<strong>in</strong>s <strong>der</strong> Befangenheit abgelehnt,<br />

weil er vor <strong>der</strong> Berufungsverhandlung mit dem Rechtsvertre­<br />

ter des Beschwerdeführers Kontakt aufnahm und ihm mit­<br />

teilte, er werde gestützt auf die Akten wohl den Antrag auf<br />

Abweisung <strong>der</strong> Berufung stellen. Das Bundesgericht hiess<br />

die Beschwerde gestützt auf Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff.<br />

1 <strong>EMRK</strong> gut. Dabei fiel entscheidend <strong>in</strong>s Gewicht, dass die<br />

Initiative vom Referenten des Obergerichts ausg<strong>in</strong>g.<br />

[Rz 61) Auch wenn <strong>der</strong> Rechtsvertreter angesichts se<strong>in</strong>er<br />

Kenntnisse des gerichtlichen Verfahrens die verfahrensrecht­<br />

liche Bedeutung <strong>der</strong> Mitteilung des Referenten an sich richtig<br />

e<strong>in</strong>zuschätzen wisse, erwecke dessen Vorgehen für die Par­<br />

tei den E<strong>in</strong>druck, dass das Gericht sie nicht hören, ihre Beru­<br />

fungssache gar nicht prüfen wolle, Es h<strong>in</strong>terlasse e<strong>in</strong> Gefühl<br />

<strong>der</strong> Verunsicherung, ob die Berufung nun zurückzuziehen sei<br />

o<strong>der</strong> an ihr festgehalten werden könne und die Berufungsver­<br />

handlung durchgeführt werden solle. Das Vertrauen <strong>in</strong> das<br />

Justizverfahren könne bee<strong>in</strong>trächtigt werden, wenn im Vorfeld<br />

<strong>der</strong> Verhandlung seitens des Gerichts <strong>in</strong> provisorischer<br />

Weise die Aussichtslosigkeit signalisiert werde.'30<br />

4.2.1.3 Ablehnung von Richtern wegen «Fe<strong>in</strong>dschaft»<br />

gegenüber dem Anwalt des Beschwerdeführers<br />

(Art. 30 Abs. 1 SV und Art. 6 Ziff. 1 <strong>EMRK</strong>)<br />

[Rz 62) Liegen bezüglich des Verhältnisses zwischen e<strong>in</strong>em<br />

'2' Vgl. zum Ganzen AEMISEGGER, Öllentlichkeilspr<strong>in</strong>zip (Fn. 115). S. 402 ff.<br />

129 Vgl. BGE 1311113 E. 3.5 S. 117 If. und 131136 If.. wo die Rechtsprechung<br />

des Bundesgerichts und des EGMR zu diesen Fragen autgearbeitet worden<br />

ist.<br />

130 BGE 134 I 238 E. 2.6 S. 247 (IB_242/2007 vom 28.ApriI2008).


He<strong>in</strong>z Aemisegger, <strong>Zur</strong> <strong>Umsetzung</strong> <strong>der</strong> <strong>EMRK</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>in</strong>: Jusletler 20. Juli 2009<br />

haftrichterlichen Entscheid dürfen mit Blick auf Art. 5 liff. 4<br />

<strong>EMRK</strong> nicht mehr als e<strong>in</strong>ige Tage bis wenige Wochen lie­<br />

gen. E<strong>in</strong>e Verletzung des Beschleunigungsgebots haben das<br />

Bundesgericht und <strong>der</strong> Gerichtshof für Menschenrechte bei<br />

e<strong>in</strong>er Dauer von 31, 41 bzw. 46 Tagen bejaht, wenn die Haft­<br />

prüfung ke<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>en Probleme aufwarf. In an<strong>der</strong>en Fäl­<br />

len hat das Bundesgericht angesichts beson<strong>der</strong>er Umstände<br />

Haftprüfungsverfahren von rund vier, fünf bzw. sieben Wo­<br />

chen als grundrechtskonform bezeichnet. Der Anspruch auf<br />

e<strong>in</strong>en Entscheid «<strong>in</strong>nerhalb kurzer Frist» wird nach Ansicht<br />

des Bundesgerichts dann nicht verletzt, wenn <strong>der</strong> Behörde<br />

aufgrund <strong>der</strong> Umstände des Falles e<strong>in</strong> früherer Entscheid<br />

vernünftigerweise nicht möglich war. Der EGMR erachtet<br />

Entscheidungsfristen von mehr als fünf Wochen jedenfalls<br />

als zu lang.'3B<br />

4.2.3 Anspruch auf öffentliche Verhandlung<br />

[Rz 69] Nach Art. 6 liff. 1 <strong>EMRK</strong> ist <strong>in</strong> Streitigkeiten über<br />

"zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen» e<strong>in</strong>e (münd­<br />

liche) öffentliche Verhandlung durchzuführen, sofern die<br />

Parteien nicht ausdrücklich o<strong>der</strong> stillschweigend darauf<br />

verzichten.'39 Von Art. 6 liff. 1 <strong>EMRK</strong> werden nicht nur zivil­<br />

rechtliche Streitigkeiten im eigentlichen S<strong>in</strong>ne erfasst, son­<br />

<strong>der</strong>n auch Verwaltungsakte hoheitlich handeln<strong>der</strong> Behörden,<br />

die massgeblich <strong>in</strong> private Rechtspositionen e<strong>in</strong>greifen. 140 lu<br />

den livilansprüchen gehören nach <strong>der</strong> Rechtsprechung des<br />

EGMR auch Ansprüche mit öffentlich-rechtlichem Charak­<br />

ter wie etwa sozialversicherungsrechtliche Ansprüche und<br />

nachbarrechtliche Abwehransprüche im Bau-, Planungs- und<br />

Umweltrecht. l4l Weil die Parteien auch stillschweigend auf<br />

ihren Anspruch auf e<strong>in</strong>e mündliche öffentliche Verhandlung<br />

verzichten können, haben sie <strong>in</strong> jenen Verfahren, für die das<br />

anwendbare Prozessrecht e<strong>in</strong>e solche nicht zw<strong>in</strong>gend vor­<br />

schreibt, rechtzeitig e<strong>in</strong>en dah<strong>in</strong>gehenden Verfahrensantrag<br />

zu stellen. Unterlassen sie dies, wird angenommen, sie hät­<br />

ten auf ihren Anspruch aus Art. 6 liff. 1 <strong>EMRK</strong> verzichtet.'42<br />

[Rz 70] Wenn das Bundesgericht <strong>in</strong> solchen Verfahren als<br />

e<strong>in</strong>ziges Gericht tätig war, führte es bisweilen e<strong>in</strong>e öffentliche<br />

Verhandlung durch, um den <strong>in</strong> Art. 6 liff. 1 <strong>EMRK</strong> veranker­<br />

ten Grundsätzen zu genügen. Gleich verfuhr es ab und zu,<br />

um Versäumnisse unter<strong>in</strong>stanzlicher Gerichte nachzuho­<br />

len. 143 In <strong>der</strong> Regel beauftragt es jedoch unter<strong>in</strong>stanzliehe<br />

138 Urteil des EGMR Fuchser gegen <strong>Schweiz</strong> vom 13. Juli 2006; Urteil des<br />

Bundesgerichts 1B_115/2007 vom 12. Juli 2007 E. 2.3 mit H<strong>in</strong>weisen.<br />

139 Urteil des EGMR Schlumpf gegen <strong>Schweiz</strong> vom 8. Januar 2009; Urteil des<br />

EGMR Hurter gegen <strong>Schweiz</strong> vom 15. Dezember 2005 betreffend das Urteil<br />

2P.178/1998 vom 26. Februar 1999.<br />

14' BGE 134 1331 E. 2 und 3 S. 332 11. mit H<strong>in</strong>weisen.<br />

141 BGE 127 I 44 E. 2c S. 45 1.; 128 I 59 E. 2 a/bb S. 61; Haflrichter: Urteil<br />

1B_55/2007 vom 2. Mai 2007.<br />

14' BGE 134 I 331 E 2.3 S. 333 mit H<strong>in</strong>weisen.<br />

143 AEMISEGGER, Öffentlichkeitspr<strong>in</strong>zip (Fn. 115), S. 380 ff. und 385 ff.<br />

17<br />

Gerichte mit dieser Aufgabe. t44 E<strong>in</strong>e Heilung dieses Mangels<br />

durch e<strong>in</strong>e öffentliche Parteiverhandlung im Verfahren vor<br />

Bundesgericht ist meist schon mit Blick auf dessen engere<br />

Kognition ausgeschlossen.<br />

4.2.4 Rechtliches Gehör<br />

[Rz 71] Das Recht auf e<strong>in</strong> faires Verfahren umfasst gemäss<br />

Art. 6 liff. 1 <strong>EMRK</strong> das Recht <strong>der</strong> Parteien, von jedem Akten­<br />

stück und je<strong>der</strong> dem Gericht e<strong>in</strong>gereichten Stellungnahme<br />

Kenntnis zu nehmen und sich dazu äussern zu können, so­<br />

fern sie dies für erfor<strong>der</strong>lich hallen.'45 Dabei ist es unerheb­<br />

lich, ob e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>gabe neue Tatsachen o<strong>der</strong> Argumente enthält<br />

und ob sie das Gericht tatsächlich zu bee<strong>in</strong>flussen vermag.'46<br />

Nur unter ganz beson<strong>der</strong>en, ausserordentlichen Umständen<br />

lässt es <strong>der</strong> EGMR zu, dass e<strong>in</strong> Schriftstück den Parteien<br />

vor <strong>der</strong> Urteilsfällung nicht zugestellt wird. Er (la Cour) nennt<br />

dabei die folgenden Voraussetzungen: "que la non-commu­<br />

nication d'une piece de la procedure et f'impossibilite pour le<br />

requerant de la discuter n'avait pas porte atte<strong>in</strong>te a I'equite<br />

de la procedure, dans la mesure ou elle a juge que cette fa­<br />

culte n'aurait eu aucune <strong>in</strong>cidence sur I'issue du litige et ou<br />

la solution juridique retenue ne pretait guere adiscussion.»147<br />

Bee<strong>in</strong>flusst von dieser Strassburger Rechtsprechung wendet<br />

das Bundesgericht heute die Grundsätze des «fair trial» ge­<br />

mäss Art. 6 liff. 1 <strong>EMRK</strong> und Art. 29 Abs. 1 BV als allgemei­<br />

ne Verfahrensgrundsätze allgeme<strong>in</strong> und nicht nur <strong>in</strong> zivil- und<br />

strafrechtlichen Verfahren an. t4B<br />

[Rz 72] Der EGMR umschreibt die Anfor<strong>der</strong>ungen an das<br />

Vorgehen <strong>der</strong> Gerichte zur Sicherstellung des rechtlichen<br />

Gehörs unterschiedlich. Im Urteil Ressegatti begründet er<br />

die Verletzung von Art. 6 liff. 1 <strong>EMRK</strong> durch die <strong>Schweiz</strong><br />

damit, <strong>der</strong> Beschwerdeführer sei zu Unrecht nicht e<strong>in</strong>gela­<br />

den worden, sich zu den Bemerkungen <strong>der</strong> Vor<strong>in</strong>stanz, e<strong>in</strong>er<br />

Verwaltungsbehörde o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Gegenpartei zu äussern.'49 Im<br />

Entscheid Spang verlangt <strong>der</strong> EGMR dagegen nur, die Ver­<br />

fahrensparteien müssten die Möglichkeit haben, sich zu den<br />

AusfÜhrungen des Bundesamtes vernehmen zu lassen.'5o In<br />

144 BGE 134 1331 E. 3.1 S. 3351. mit H<strong>in</strong>weisen.<br />

14\ Urteil des EGMR Ni<strong>der</strong>öst-Huber gegen <strong>Schweiz</strong> vom 18. Februar 1997,<br />

Recueil CourEDH 1997-1 S. 101 fl. § 24, mit H<strong>in</strong>weis auf die Urteile Lobo<br />

Machado c. Portugal und Vermeufen c. Belgique vom 20. Februar 1996,<br />

Recueil CourEDH 1996-1 S. 206 § 31 und S. 234 § 33.<br />

146 BGE 133 I 100 E. 4 (lA.56/2006 vom 11. Januar 2007); 133 198 E. 2.2<br />

(1A.10/2006 vom 14. Dezember 2006); 132 142 (lA.92/2005 vom 22. November<br />

2005); Urleil des EGMR Ni<strong>der</strong>öst-Huber, a.a.O. (Fn. 145) §§ 27<br />

und 29; vgl. aus jüngster Zeit Urteile EGMR Ressegatti gegen <strong>Schweiz</strong> vom<br />

13. Juli 2006 §§ 30-33 und Spang gegen <strong>Schweiz</strong> vom 11. Oktober 2005<br />

§§ 32 1., letzteres publ. <strong>in</strong> Plädoyer 612005 S. 82.<br />

147 Urteil des EGMR Asnar gegen France vom 18. Oktober 2007 § 26 mit<br />

H<strong>in</strong>weisen.<br />

146 BGE 133 1100 E. 4.6 (1A.56/2006 vom 11. Januar 2007); vgl. auch Urteil<br />

1C_407/2007 und 1C_409/2007 vom 31. Januar 2008.<br />

149 Urteil des EGMR Ressegatli gegen SChweiz vom 13. Juli 2006 § 30.<br />

15' Urteil des EGMR Spang gegen <strong>Schweiz</strong> vom 11. Oktober 2005 §§ 32 1.,


He<strong>in</strong>z Aemisegger, <strong>Zur</strong> <strong>Umsetzung</strong> <strong>der</strong> <strong>EMRK</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>in</strong>: Jusletler 20. Juli 2009<br />

den Urteilen Gör;: gegen die Türkei und Milatova gegen Tsche­<br />

chien 151 sche<strong>in</strong>t <strong>der</strong> Gerichtshof <strong>in</strong> absoluter Weise nicht nur<br />

die Zustellung sämtlicher e<strong>in</strong>gegangener Vernehmlassungen<br />

von Ämtern, Gegenparteien usw. an alle Verfahrenspartei­<br />

en zu verlangen, son<strong>der</strong>n zusätzlich den ausdrücklichen<br />

H<strong>in</strong>weis, die betreffenden Parteien hätten nun Gelegenheit,<br />

dazu Stellung zu nehmen, wenn sie dies für nötig erachte­<br />

ten. Die Erfahrung zeigt, dass dies namentlich bei Anwälten<br />

oft Druck erzeugt, e<strong>in</strong>e weitere Stellungnahme e<strong>in</strong>zureichen,<br />

selbst wenn dazu ke<strong>in</strong>e Veranlassung besteht. Dadurch wird<br />

das Verfahren oft unnötig verlängert und die E<strong>in</strong>haltung des<br />

ebenfalls zum fairen Verfahren gehörenden Anspruchs auf<br />

Beurteilung <strong>in</strong>nert angemessener Frist erschwert.<br />

[Rz 73] Das Bundesgericht führt nach Art. 102 Abs. 3 BGG<br />

nur ausnahmsweise e<strong>in</strong>en zweiten Schriftenwechsel durch.<br />

Ausser <strong>in</strong> beson<strong>der</strong>en Fällen (z.B. bei Haftbeschwerden,<br />

letztes Wort des Inhaftierten) verzichtet es regelmässig auch<br />

darauf, neue E<strong>in</strong>gaben den Verfahrensbeteiligten mit e<strong>in</strong>er<br />

förmlichen E<strong>in</strong>ladung zur Vernehmlassung zuzustellen. Viel­<br />

mehr übermittelt es solche Schriftstücke den Parteien ohne<br />

ausdrücklichen H<strong>in</strong>weis auf allfällige weitere Äusserungs­<br />

möglichkeiten zur (biossen) Kenntnisnahme <strong>in</strong> <strong>der</strong> Me<strong>in</strong>ung,<br />

diese könnten - soweit sie es für erfor<strong>der</strong>lich halten - unauf­<br />

gefor<strong>der</strong>t nochmals Stellung nehmen. Geschieht dies nicht<br />

umgehend, wird Verzicht auf die Replik angenommen, wobei<br />

das Bundesgericht während e<strong>in</strong>er angemessenen Zeit zu­<br />

wartet, bevor es das Urteil fällt.,52 E<strong>in</strong>e weitere Möglichkeit,<br />

das Verfahren beför<strong>der</strong>lich abzuschliessen, besteht dar<strong>in</strong>,<br />

<strong>der</strong> im Prozess unterliegenden Partei das letzte Wort e<strong>in</strong>zu­<br />

räumen. 153 Die genannten Probleme treten grundsätzlich nur<br />

auf, wenn die Sachverhaltsermitllung nicht mündlich, son­<br />

<strong>der</strong>n schriftlich erfolgt.<br />

4.2.5 Beschleunigungsgebot - Feststellung von dessen<br />

Verletzung im Innerstaatlichen Verfahren<br />

[Rz 74] Zum fairen Verfahren gehört die Erledigung e<strong>in</strong>es<br />

Verfahrens <strong>in</strong>nert angemessener bzw. kurzer Frist (Art. 29<br />

Abs. 1 und Art. 31 I. BV, Art. 5 Ziff. 3 und 4 <strong>EMRK</strong>).'54 Erfolgt<br />

die Feststellung <strong>der</strong> Verletzung dieses Anspruchs und damit<br />

<strong>der</strong> <strong>EMRK</strong> <strong>in</strong> den Erwägungen e<strong>in</strong>es kantonalen o<strong>der</strong> bun­<br />

desgerichtlichen Urteils, so schliesst dies e<strong>in</strong>e Verurteilung<br />

<strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> durch dem EGMR wegen Verletzung <strong>der</strong> ent­<br />

sprechenden <strong>EMRK</strong>-Vorschriften <strong>in</strong> <strong>der</strong> Praxis nicht aus.'55<br />

pub I. <strong>in</strong>: Plädoyer 6/2005 S. 82.<br />

," Siehe BGE 131 147.<br />

'51 UrteiI1C_153/2007 vom 6. Dezember 2007 E. 2 (Geme<strong>in</strong>de Wetzikon).<br />

'53 UrteiI1C_153!2007 vom 6. Dezember 2007 E. 2.2 (Geme<strong>in</strong>de Wetzikon).<br />

'5' Vgl. z.B. BGE 132 121 11. E. 4.1 S. 271.; 124 1139; UrteiI1B_175/2008 vom<br />

5. August 2008 E. 4.<br />

'55 Urteil des EGMR McHugo gegen <strong>Schweiz</strong> vom 21. September 2006 (VPB<br />

70.113) betreffend das Urteil des Bundesgerichts 1P.142/1999 vom 24.<br />

Juni 1999; Urteil des EGMR Munari gegen <strong>Schweiz</strong> vom 12. Juli 2005<br />

(VPB 69.137) betreffend das Urteil des Bundesgerichts 1P. 315/2001 vom<br />

18<br />

S<strong>in</strong>nvollerweise sollte jedoch e<strong>in</strong>e solche <strong>EMRK</strong>-Widrigkeit<br />

im eigenen Land rechtskräftig behoben und sanktioniert wer­<br />

den können.'56<br />

4.2.5.1 Fall McHugo<br />

[Rz 75] Im Fall McHugo'57 stellte das Zuger Obergericht <strong>in</strong> sei­<br />

nem Strafurteil <strong>in</strong> klarer Weise e<strong>in</strong>e Verletzung des Beschleu­<br />

nigungsgebots fest. In <strong>der</strong> Folge focht <strong>der</strong> Beschwerdeführer<br />

dieses kantonale Urteil beim Bundesgericht an und rügte die<br />

kantonale Regelung <strong>der</strong> Kosten und Entschädigungsfragen.<br />

Um e<strong>in</strong>e Verurteilung durch den EGMR zu verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n, hätte<br />

das Bundesgericht die Verletzung von Art. 6 Zifl. 1 <strong>EMRK</strong><br />

möglicherweise <strong>in</strong> Erweiterung des Streitgegenstandes von<br />

Amtes wegen im Dispositiv feststellen, diesen Umstand bei<br />

den Kostenfolgen ausdrücklich berücksichtigen und e<strong>in</strong>e Ge­<br />

nugtuung'56 zusprechen müssen, obwohl dies so nicht bean­<br />

tragt war. Nach Art. 107 Abs. 1 BGG darf das Bundesgericht<br />

zwar nicht über die Begehren <strong>der</strong> Parteien h<strong>in</strong>ausgehen. E<strong>in</strong><br />

reformatorischer Entscheid zur Herstellung des verfassungs­<br />

und konventionskonformen Zustands ist jedoch nach Art. 107<br />

Abs.2 BGG grundsätzlich zulässig.<br />

4.2.5.2Fall Munari<br />

[Rz 76] Im Fall Munari'59 hat das Bundesgericht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Straf­<br />

verfahren e<strong>in</strong>e Verletzung von Art. 6 Zifl. 1 <strong>EMRK</strong> festgestellt,<br />

weil e<strong>in</strong>e Behandlungsdauer von fast zehn Jahren für e<strong>in</strong>en<br />

nicht beson<strong>der</strong>s komplexen Fall den Anfor<strong>der</strong>ungen an e<strong>in</strong>e<br />

angemessene Verfahrensdauer nicht genügt. Es hat den Fall<br />

zur umgehenden Behandlung an die zuständige Tess<strong>in</strong>er<br />

Strafverfolgungsbehörde zurückgewiesen. Diese wurde erst<br />

nach Ablauf von rund e<strong>in</strong>e<strong>in</strong>halb Jahren im gebotenen S<strong>in</strong>n<br />

tätig. E<strong>in</strong> während dieser Zeit vom Beschwerdeführer beim<br />

Bundesgericht e<strong>in</strong>gereichtes Erläuterungsgesuch zum bun­<br />

desgerichtlichen Urteil blieb erfolglos. Das Bundesgericht<br />

hätte die später erfolgte Verurteilung durch den EGMR wohl<br />

nur verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n können, wenn es das Erläuterungsgesuch als<br />

Beschwerde wegen Rechtsverweigerung o<strong>der</strong> Rechtsverzö­<br />

gerung (vgl. den heutigen Art. 94 BGG) aufgefasst und e<strong>in</strong>en<br />

materiellen Entscheid sowohl <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sache als auch h<strong>in</strong>sicht­<br />

lich <strong>der</strong> Feststellung <strong>der</strong> <strong>EMRK</strong>-Verletzung und <strong>der</strong>en Folgen<br />

erlassen hätte.'60<br />

20 Juni 2001; vgl. Urteil des Bundesgerichts 1B_165/2009 vom 30. Juni<br />

2009.<br />

156 Vgl. vorn Zift. 3.1.<br />

'57 Vgl. Fn. 156 und vorne Zilt. 3.3.1.<br />

'58 Gerechte Entschädigung im S<strong>in</strong>ne von Arl. 41 <strong>EMRK</strong>.<br />

'58 Vgl. Fn. 156 und vorne Zilt. 3.3.3.<br />

"0 BGE 102 Ib 231 E. 2b S. 238; MADELEINE CAMPRUBI, Kommentar zum Bundesgesetz<br />

über das Verwaltungsverfahren, Zürich/SI. Gallen 2008 zu Art. 61<br />

N. 9 S. 722.


He<strong>in</strong>z Aemisegger, <strong>Zur</strong> <strong>Umsetzung</strong> <strong>der</strong> <strong>EMRK</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>, In: Jusletter 20. Juli 2009<br />

4.2.6 Miranda-Rechte'61<br />

[Rz 77] Nach Art. 31 Abs. 2 BV hat jede Person, <strong>der</strong> die Frei­<br />

heit entzogen wird, Anspruch darauf, unverzüglich und <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er ihr verständlichen Sprache über die Gründe des Frei­<br />

heitsentzugs und über ihre Rechte unterrichtet zu werden.<br />

Sie muss die Möglichkeit erhalten, ihre Rechte geltend zu<br />

machen und namentlich die nächsten Angehörigen benach­<br />

richtigen zu lassen. Überdies steht ihr das Recht auf rasche<br />

richterliche Beurteilung <strong>der</strong> Haft zu (Art. 31 Abs. 3 BV). Be­<br />

züglich <strong>der</strong> Aufklärungspflicht ist nach Auffassung des Bun­<br />

desgerichts von e<strong>in</strong>er eigenständigen Garantie auszugehen.<br />

Soweit die festgenommene Person davor bewahrt werden<br />

soll, sich selber zu belasten, diente die Information über das<br />

Aussageverweigerungsrecht <strong>der</strong> Gewährleistung <strong>der</strong> Vertei­<br />

digungsrechte. Aufgrund des formellrechtlichen Charakters<br />

dieser Verfahrensgarantie s<strong>in</strong>d Aussagen, die <strong>in</strong> Unkenntnis<br />

des Schweigerechtes gemacht werden, grundsätzlich nicht<br />

verwertbar. In Abwägung <strong>der</strong> entgegenstehenden Interessen<br />

können E<strong>in</strong>vernahmen jedoch ausnahmsweise trotz unterlassener<br />

Unterrichtung über das Aussageverweigerungsrecht<br />

verwertet werden. Je schwerer die zu beurteilende<br />

Straftat ist, umso eher überwiegt das öffentliche Interesse an<br />

<strong>der</strong> Wahrheitsf<strong>in</strong>dung das private Interesse des Angeklagten<br />

daran, dass <strong>der</strong> fragliche Beweis unverwertet bleibt.'62 Mit zu<br />

berücksichtigen ist dabei auch, ob das rechtswidrig erlangte<br />

Beweismittel an sich zulässig und auf gesetzmässigem Weg<br />

erreichbar gewesen wäre.'63<br />

4.3 Zugang zum Gericht - Terrorismus<br />

[Rz 78] Mit Urteil vom 26. Juli 1999'64 entschied das Bun­<br />

desgericht, die E<strong>in</strong>ziehung von Schriften <strong>der</strong> Kurdischen Arbeiterpartei<br />

PKK (Terrororganisation), die zur Durchsetzung<br />

ihrer Anliegen generell die Gewalt propagieren und auf <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> lebende Emigranten Druck erzeugen sollten,<br />

sei unter den gegebenen Umständen verhältnismässig. Es<br />

g<strong>in</strong>g davon aus, die E<strong>in</strong>ziehung von Propagandamaterial aus<br />

Gründen <strong>der</strong> <strong>in</strong>neren und äusseren Sicherheit berühre zivil­<br />

rechtliche Ansprüche und Verpflichtungen im S<strong>in</strong>ne Von Art. 6<br />

Ziff. 1 <strong>EMRK</strong>. Deshalb hat es direkt gestützt auf diese Norm<br />

des Völkerrechts entgegen Art. 98 lit. a OG (heute: Art. 86<br />

Abs. 1 BGG) und <strong>in</strong> restriktiver Auslegung von Art. 100 Abs. 1<br />

lit. a OG (heute: Art. 83 lit. a BGG) die Beurteilung durch ei­<br />

161 MARTIN PHILIPP WySS, Miranda Warn<strong>in</strong>gs im schweizerischen Verfassungs­<br />

recht, recht 19(2001), H. 4 S. 132 11.; ANoREAs DorlATscH/ClAuolNE CAVEGN,<br />

Der Anspruch auf e<strong>in</strong>en Anwalt zu Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> Straluntersuchung, Forumpoenale,<br />

2(2009). H. 2 S. 10411.<br />

162 BGE 1301126 E. 3.3 S. 133; BGE 109 la 244 E. 2b S. 246; 120 la 314 E. 2c<br />

S. 320; HAUSERISCHWER1IHARTMAllN (Fn. 133), § 60 N 6.<br />

163 BGE 96 I 437 E. 3b S. 440 I. 1301126 E. 3.2, S. 133.<br />

16< BGE 125 11 417 (lA. 178/1998 vom 26. Juli 1999); Nichlzulassungsentscheid<br />

des EGMR Kaplan gegen <strong>Schweiz</strong> vom 12. April2001 (VPB 65.141);<br />

vgl. auch Urteil des EGMR L<strong>in</strong>nekogel gegen <strong>Schweiz</strong> vom 1. März 2005 §<br />

31 11. (VPB 69.138); LANTER (Fn. 17), S. 103 fl.<br />

19<br />

nen Richter für notwendig erachtet und die Verwaltungsge­<br />

richtsbeschwerde ans Bundesgericht zulässig erklärt.<br />

[Rz 79] Am 15. Oktober 1999 beschloss <strong>der</strong> Sicherheitsrat<br />

gestützt auf Art. 41 <strong>der</strong> Charta <strong>der</strong> Vere<strong>in</strong>ten Nationen mit <strong>der</strong><br />

Resolution 1267(1999) Sanktionen gegenüber den Taliban.<br />

Am 19. Dezember 2000 wurde das Sanktionenregime mit <strong>der</strong><br />

Resolution 1333(2000) um B<strong>in</strong> Laden und die Gruppierung<br />

«AI Qa'ida» erweitert. Der Sicherheitsrat ersuchte das von<br />

ihm geschaffene Sanktionskomitee, e<strong>in</strong>e Liste <strong>der</strong> Personen<br />

und E<strong>in</strong>richtungen zu führen, die mit Usama B<strong>in</strong> Laden und<br />

<strong>der</strong> Organisation «AI Oa'ida» verbunden s<strong>in</strong>d. Am 8. März<br />

2001 veröffentlichte <strong>der</strong> Sanktionsausschuss e<strong>in</strong>e erste kon­<br />

solidierte Liste <strong>der</strong> aufgrund <strong>der</strong> Resolutionen 1267(1999) und<br />

1333(2000) betroffenen Personen und ergänzte diese später<br />

wie<strong>der</strong>holt.'65 Nach dem Beitritt <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> zur UNO wurde<br />

das Embargogesetz'66 erlassen, welches <strong>der</strong> Durchsetzung<br />

von UNO- und OSZE-Sanktionen mit Hilfe von Zwangsmass­<br />

nahmen dient und welches die Grundlage bildet für die Talibanverordnung<br />

des Bundesrates vom 2. Oktober 2000.'67<br />

Diese sieht die Sperrung von Gel<strong>der</strong>n und wirtschaftlichen<br />

Ressourcen bestimmter auf <strong>der</strong> erwähnten konsolidierten<br />

Liste bef<strong>in</strong>dlicher natürlicher und juristischer Personen vor<br />

und verbietet diesen die E<strong>in</strong>reise <strong>in</strong> und die Durchreise durch<br />

die <strong>Schweiz</strong>.<br />

[Rz 80] E<strong>in</strong>e auf dieser Liste des Sanktionsausschusses<br />

verzeichnete Person, die <strong>in</strong> den Anhang 2 <strong>der</strong> Talibanver­<br />

ordnung des Bundesrates aufgenommen wurde, verlangte<br />

die Streichung dieses E<strong>in</strong>trags. Dies wurde ihr vom Staats­<br />

sekretariat für Wirtschaft (SECO) und anschliessend am 14.<br />

November 2007 auch vom Bundesgericht verweigert.'68 Das<br />

Bundesgericht g<strong>in</strong>g davon aus, gemäss <strong>der</strong> Charta <strong>der</strong> Vere<strong>in</strong>ten<br />

Nationen vom 26. Juni 1945'69 seien die Beschlüsse<br />

des Sicherheitsrates für die Mitgliedstaaten und damit auch<br />

für die <strong>Schweiz</strong> verb<strong>in</strong>dlich. Es sei ihm deshalb verwehrt,<br />

den Beschwerdeführer selbständig aus Anhang 2 TalibanV<br />

zu streichen. Das Bundesgericht nahm <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Urteil zu­<br />

stimmend Bezug auf zwei Urteile des Gerichtshofs erster<br />

Instanz <strong>der</strong> Europäischen Geme<strong>in</strong>schaften, <strong>in</strong> welchen sich<br />

dieser für unzuständig erklärt, die vom Sicherheitsrat gegen<br />

die Taliban und AI-Oa'ida getroffenen Sanktionen auf ihre<br />

Rechtmässigkeit zu überprüfen, zumal ke<strong>in</strong>e Verletzung von<br />

ius cogens zur Diskussion stehe. 17O<br />

[Rz 81] An<strong>der</strong>s entschied <strong>der</strong> <strong>in</strong> diesen beiden Fällen hierauf<br />

angerufene Gerichtshof <strong>der</strong> Europäischen Geme<strong>in</strong>schaf­<br />

ten (EuGH, Grosse Kammer) im Grundsatzurteil Kadi und<br />

16' EuGRZ 2008 S. 482.<br />

166 Bundesgesetz vom 22. März 2002 über die Durchsetzung von <strong>in</strong>ternationalen<br />

Sanktionen, Embargogesetz, EmbG, SR 946.231.<br />

167 TalibanV, SR 946.203.<br />

168 BGE 133 11 450 (lA.45/2007 vom 14. November 2007).<br />

16' SR 0.120.<br />

170 BGE 133 11 450 E. 5.4 S. 458.


He<strong>in</strong>z Aemisegger, <strong>Zur</strong> <strong>Umsetzung</strong> <strong>der</strong> <strong>EMRK</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>in</strong>: Juslel1er 20. Juli 2009<br />

AI Barakaat vom 3. September 2008.'71 Er stellte die Teil­<br />

Nichtigkeit <strong>der</strong> VO (EG)Nr.881/2002 des EU-Rates fest und<br />

setzte e<strong>in</strong>e Frist zur Abhilfe von höchstens drei Monaten.<br />

Mit <strong>der</strong> streitigen Verordnung setzte die Europäische Ge­<br />

me<strong>in</strong>schaft die erwähnten Resolutionen des Sicherheitsra­<br />

tes um. Der Umstand, dass jede Person o<strong>der</strong> Organisation<br />

unmittelbar beim Sanktionsausschuss des Sicherheitsrats<br />

die Streichung von <strong>der</strong> konsolidierten Liste verlangen könne,<br />

führe nicht zu e<strong>in</strong>er generellen Nichtjustiziabilität im Rahmen<br />

<strong>der</strong> <strong>in</strong>ternen Rechtsordnung <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>schaft, da dieses<br />

Delist<strong>in</strong>g-Verfahren offensichtlich nicht die Garantien e<strong>in</strong>es<br />

gerichtlichen Rechtsschutzes biete. Der EuGH geht davon<br />

aus, dass er sich mit diesem Urteil grundsätzlich auf <strong>der</strong> L<strong>in</strong>ie<br />

des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR)<br />

bef<strong>in</strong>de.'72 Er konzentriert sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Urteil auf die formel­<br />

len Gesichtspunkte des Rechtsschutzes. 173 Für die Rechts­<br />

suchenden wäre jedoch <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e wichtig, dass sie <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em rechtsstaatlichen Delist<strong>in</strong>g-Verfahren ihre materielle<br />

Unschuld geltend machen könnten.<br />

[Rz 82] In künftigen Fällen dieser Art wird das Bundesge­<br />

richt bei dieser Sachlage prüfen müssen, ob es an se<strong>in</strong>er<br />

vorn geschil<strong>der</strong>ten Rechtsprechung fest halten kann. Se<strong>in</strong><br />

vorn erwähntes Urteil vom 14. November 2007 wird gegen­<br />

wärtig vom EGMR auf die Vere<strong>in</strong>barkeit mit <strong>der</strong> <strong>EMRK</strong> h<strong>in</strong><br />

überprüft.<br />

4.4 Freiheit <strong>der</strong> Me<strong>in</strong>ungsäusserung (Art. 16<br />

SV, Art. 10 <strong>EMRK</strong>)<br />

[Rz 83] E<strong>in</strong>schränkungen <strong>der</strong> Me<strong>in</strong>ungsäusserungsfreiheit<br />

durch den Staat dürfen nur gestützt auf e<strong>in</strong>e gesetzliche<br />

Grundlage erfolgen. Sie müssen durch e<strong>in</strong> öffentliches Inte­<br />

resse o<strong>der</strong> durch den Schutz von Grundrechten Dritter ge­<br />

rechtfertigt und verhältnismässig se<strong>in</strong> (Art. 36 LV.m. Art. 16<br />

BV). Diese Voraussetzungen müssen auch nach Art. 10<br />

<strong>EMRK</strong> erfüllt se<strong>in</strong>. Nach Art. 10Ziff. 2 <strong>EMRK</strong> muss <strong>der</strong> E<strong>in</strong>griff<br />

<strong>in</strong> die Me<strong>in</strong>ungsäusserungsfreiheit vom Gesetz vorgesehen<br />

se<strong>in</strong> und e<strong>in</strong>en legitimen Zweck verfolgen. Überdies muss er<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er demokratischen Gesellschaft notwendig se<strong>in</strong>. Wie<br />

die folgenden Beispiele zeigen, bietet das letztgenannte Er­<br />

for<strong>der</strong>nis für die <strong>Schweiz</strong> am meisten Probleme.<br />

4.4.1 Fall Hertel<br />

[Rz 84] Hans Ulrich Hertel publizierte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Fachzeitschrift<br />

e<strong>in</strong>en Artikel mit dem Titel «Vergleichende Untersuchun­<br />

gen über die Bee<strong>in</strong>flussung des Menschen durch konven­<br />

tionell und im Mikrowellenofen aufbereitete Nahrung». Das<br />

171 Urteil des EuGH vom 3. Seplember 2008 C-402/05 und C-415/05 Yass<strong>in</strong><br />

Abdullah Kadi und AI Barakaat International Foundalion, <strong>in</strong>: EuGRZ 2008 S.<br />

480 ff.<br />

m EuGRZ 2008 S. 50t<br />

173 -Grundrechte gelten auch bei Uno-Sanktionen», NZZ vom 4. September<br />

2008 S. 3.<br />

20<br />

Handelsgericht des Kantons Bern hiess mit Urteil vom 19.<br />

März 1993 e<strong>in</strong>e Klage des Fachverbandes für Elektroappara­<br />

te gut und verbot Hertel unter Strafandrohung e<strong>in</strong>erseits «die<br />

Behauptung aufzustellen, im Mikrowellenherd zubereitete<br />

Speisen seien gesundheitsschädlich und führten zu Verände­<br />

rungen im Blut ihrer Konsumenten, welche auf e<strong>in</strong>e krankhaf­<br />

te Störung h<strong>in</strong>weisen und e<strong>in</strong> Bild zeigten, das für den Beg<strong>in</strong>n<br />

e<strong>in</strong>es kanzerogenen Prozesses gelten könnte», und an<strong>der</strong>er­<br />

seits «<strong>in</strong> Publikationen o<strong>der</strong> öffentlichen Vorträgen über Mik­<br />

rowellenherde die Abbildung e<strong>in</strong>es Sensemannes o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>es<br />

ähnlichen Todessymboles zu verwenden». Die dagegen er­<br />

hobene Berufung Hertels wies das Bundesgericht mit Urteil<br />

vom 25. Februar 1994 ab, soweit es darauf e<strong>in</strong>trat.'74 In <strong>der</strong><br />

Folge kam <strong>der</strong> EGMR zum Schluss die bundesgerichtliche<br />

Beurteilung des Falles verletze Art. 10 <strong>EMRK</strong>. An <strong>der</strong> gesetz­<br />

lichen Grundlage im UWG'75 (Art. 2 und Art. 3 UWG) und am<br />

Erfor<strong>der</strong>nis <strong>der</strong> Verfolgung e<strong>in</strong>es legitimen Zwecks bestand<br />

ke<strong>in</strong> Zweifel. H<strong>in</strong>gegen hielt <strong>der</strong> EGMR den E<strong>in</strong>griff nicht für<br />

notwendig <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er demokratischen Gesellschaft. Für den<br />

Gerichtshof ist die Me<strong>in</strong>ungsäusserungsfreiheit e<strong>in</strong>es <strong>der</strong><br />

entscheidenden Fundamente e<strong>in</strong>er demokratischen Gesell­<br />

schaft und e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> wichtigsten Voraussetzungen für Ent­<br />

faltung und Fortschritt des Menschen. Ihre E<strong>in</strong>schränkung<br />

setzt e<strong>in</strong> dr<strong>in</strong>gendes gesellschaftliches Bedürfnis voraus.<br />

Für die Beurteilung <strong>der</strong> Frage, ob e<strong>in</strong> solches Bedürfnis ge­<br />

geben ist, verfügen die Vertragsstaaten über e<strong>in</strong>en grossen<br />

Ermessensspielraum. Diesen hat das Bundesgericht im Fall<br />

Hertel nach Auffassung des EGMR nicht e<strong>in</strong>gehalten. Er hielt<br />

dafür, es gehe <strong>in</strong> diesem Fall nicht um re<strong>in</strong> wirtschaftliche Äu­<br />

sserungen, son<strong>der</strong>n um die Teilnahme an e<strong>in</strong>er allgeme<strong>in</strong>en<br />

Diskussion über öffentliche Gesundheits<strong>in</strong>teressen. Der Be­<br />

schwerdeführer sei we<strong>der</strong> an <strong>der</strong> Herausgabe <strong>der</strong> Zeitschrift<br />

noch an <strong>der</strong> graphischen Gestaltung des Artikels beteiligt<br />

gewesen. Der E<strong>in</strong>fluss <strong>der</strong> Publikation <strong>in</strong> <strong>der</strong> betreffenden<br />

Zeitschrift sei e<strong>in</strong> beschränkter. Die getroffene Massnahme<br />

müsse unter diesen Umständen nicht zuletzt mit Blick auf die<br />

dem Beschwerdeführer gegenüber angedrohten Geld- und<br />

Freiheitsstrafen als unverhältnismässig und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er demo­<br />

kratischen Gesellschaft nicht notwendig angesehen werden.<br />

Das Urteil stellt e<strong>in</strong> wichtiges PräjUdiz dar, das <strong>der</strong> EGMR<br />

auch <strong>in</strong> neueren Urteilen noch zitiert. 176<br />

[Rz 85) In e<strong>in</strong>em <strong>in</strong> <strong>der</strong> Folge getroffenen Nichtzulassungs­<br />

entscheid vom 17. Januar 2002 hielt <strong>der</strong> EGMR dagegen das<br />

Hertel gegenüber ausgesprochene Verbot als mit Art. 10<br />

17' Urtei14C299/1993 vom 25. Februar 1994.<br />

17\ Bundesgesetz vom 19. Dezember 1986 gegen den unlauleren Wettbewerb,<br />

SR 241.<br />

176 Vgl. z.B. Urteil des EGMR Stolt gegen <strong>Schweiz</strong> vom 10. Dezember 2007 §<br />

101 und Urteil des EGMR Vere<strong>in</strong> genen Tiertabriken (VgT) gegen SchweiZ<br />

vom 4. Oktober 2007 § 61; Urteil des EGMR Vere<strong>in</strong> gegen Tierfabriken<br />

(VgT) gegen <strong>Schweiz</strong> vom 30. Juni 2009, §§ 30, 52, 56. 62 (Grosse Kam·<br />

mer betreffend das Urteil des EGMR Vere<strong>in</strong> gegen Tiertabriken [VgT] ge·<br />

gen <strong>Schweiz</strong> vom 4. Oktober 2007 und BGE 12311402, 2A.330/1996 vom<br />

20. August 1997).


He<strong>in</strong>z Aemisegger, <strong>Zur</strong> <strong>Umsetzung</strong> <strong>der</strong> <strong>EMRK</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>in</strong>: Jusletter 20. Juli 2009<br />

<strong>EMRK</strong> vere<strong>in</strong>bar, <strong>der</strong> Bevölkerung unter Verwendung des<br />

Todes-Symbols des Sensemanns zu erklären, die Schäd­<br />

lichkeit des Mikrowellenofens sei wissenschaftlich bewie­<br />

sen, ohne sich auf den umstrittenen Charakter <strong>der</strong> Frage zu<br />

beziehen. 177<br />

4.4.2 Fall Vere<strong>in</strong> gegen Tierfabriken (VgT)<br />

[Rz 86) Der Fall wurde vorn unter Ziffer 2.3.2 im Zusammen·<br />

hang mit <strong>der</strong> Revision bereits behandelt. Der VgT wollte im<br />

Januar 1994 e<strong>in</strong>en Fernsehspot ausstrahlen lassen, <strong>der</strong> auf<br />

die «tierquälerische Nutztierhaltung» aufmerksam machen<br />

und für e<strong>in</strong>e Reduktion des Fleischkonsums werben sollte.<br />

Dies wurde ihm gestützt auf Art. 18 Abs. 5 des Radio- und<br />

Fernsehgesetzes,'7. das politische Werbung ausdrücklich<br />

untersagt, verboten. Das Bundesgericht schützte dieses Ver­<br />

bot mit Urteil vom 20. August 1997.'79 Der EGMR hielt die<br />

Gründe für den E<strong>in</strong>griff <strong>in</strong> die Me<strong>in</strong>ungsäusserungsfreiheit<br />

für unzureichend und das Ausstrahlungsverbot des Spots für<br />

unverhältnismässig.'·o<br />

[Rz 87] Auch bei diesem e<strong>in</strong>stimmig gefällten Urteil des<br />

EGMR handelt es sich um e<strong>in</strong> Grundsatzurteil, dem nach<br />

wie vor grosse Bedeutung zukommt.'·' Das Bundesgericht<br />

än<strong>der</strong>te <strong>in</strong> <strong>der</strong> Folge denn auch se<strong>in</strong>e bisherige, im Ur­<br />

teil VgT vom 20. August 1997'·2 bestätigte und vom EGMR<br />

beanstandete Praxis <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Urteil vom 26. Januar 2005<br />

betreffend das <strong>Schweiz</strong>er Fernsehen DRS (SF DRS).'83 Im<br />

November und Dezember 2003 strahlte SF DRS im Rah­<br />

men e<strong>in</strong>er breit angelegten Kampagne <strong>der</strong> «Allianz gegen<br />

Werbeverbote» verschiedene Werbespots aus. Gegen den<br />

«Stopp-Werbeverbote»·Spol gelangten die Stiftung für Konsumentenschutz<br />

und e<strong>in</strong>e Privatperson an die Unabhängige<br />

Beschwerde<strong>in</strong>stanz für Radio und Fernsehen. Diese verne<strong>in</strong>­<br />

te unter Bezugnahme auf das VgT-Urteil des EGMR vom 28.<br />

Juni 2001, dass <strong>der</strong> beanstandete Spot gegen Programmbestimmungen<br />

und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e das Verbot <strong>der</strong> politischen<br />

Werbung am Fernsehen (Art. 18 Abs. 5 RTVG) verstosse.<br />

Das Bundesgericht erklärt im genannten Urteil vom 26. Janu·<br />

ar 2005, es sei bisher davon ausgegangen, dass das Verbot<br />

von Art. 18 Abs. 5 RTVG zum Schutz des politischen Prozesses<br />

und zur Wahrung e<strong>in</strong>es möglichst chancengleichen<br />

Wettstreits <strong>der</strong> Informationen, Me<strong>in</strong>ungen und Ideen generell<br />

gelte; nur so lasse sich vermeiden, dass sich gewisse Un­<br />

177 Nichtzulassungsentscheid des EGM RHertel V/rich gegen <strong>Schweiz</strong> vom 17.<br />

Januar 2002.<br />

"" Bundesgesetz vom 21. Juni 1991 über Radio und Fernsehen, RTVG, heule:<br />

Bundesgesetz vom 24. März 2006 über Radio und Fernsehen SR 784.40.<br />

"9 BGE 12311402 (2A.330/1996 vom 20. August 1997).<br />

110 Urteil des EGMR Vere<strong>in</strong> gegen Tierlabriken (VgT) gegen <strong>Schweiz</strong> vom 28.<br />

Juni 2001.<br />

", Vgl. Urleil des EGMR TV Vesl AS & Rogaland Pens/onis/parti gegen Nor·<br />

wegen vom 11. Dezember 2008.<br />

112 BGE 12311402 (2A.330/1996 vom 20. August 1997).<br />

"' Urteil 2A.303/2004 vom 26. Januar 2005.<br />

21<br />

ternehmen, Verbände, Parteien o<strong>der</strong> Personen <strong>in</strong> den das<br />

Publikum nachhaltiger als an<strong>der</strong>e Kommunikationsmittel be­<br />

e<strong>in</strong>flussenden elektronischen Medien e<strong>in</strong>en Publizitätsvorteil<br />

verschaffen und e<strong>in</strong>en massgeblichen E<strong>in</strong>fluss auf die politische<br />

Me<strong>in</strong>ungsbildung gew<strong>in</strong>nen könnten. Zwar sei e<strong>in</strong> Verbot<br />

politischer Werbung zum Schutz <strong>der</strong> Unabhängigkeit <strong>der</strong><br />

Veranstalter und des demokratischen Me<strong>in</strong>ungsbildungsprozesses<br />

nicht grundsätzlich konventionswidrig (EGMR-Urteil<br />

LS. VgT vom 28. Juni 2001, Ziff. 59-62), doch müsse sich<br />

<strong>der</strong> damit verbundene E<strong>in</strong>griff <strong>in</strong> die Me<strong>in</strong>ungsäusserungsfreiheit<br />

des Betroffenen zusätzlich jeweils im E<strong>in</strong>zelfall als<br />

verhällnismässig und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er demokratischen Gesellschaft<br />

notwendig erweisen (EGMR-Urteil LS. VgT vom 28. Juni<br />

2001, Ziff. 63-79). Die Beschränkung habe im konkreten Fall<br />

e<strong>in</strong>em «dr<strong>in</strong>genden sozialen Bedürfnis» zu entsprechen und<br />

auf «relevanten und ausreichenden» Gründen zu beruhen<br />

(EGMR-Urteil LS. VgT vom 28. Juni 2001, Ziff. 75).'64 Bis zu<br />

e<strong>in</strong>er Neuregelung durch den Gesetzgeber sei das Verbot<br />

auf das im S<strong>in</strong>ne des erwähnten VgT-Entscheides des EGMR<br />

Erfor<strong>der</strong>liche zu beschränken. Der umstrittene Spot verletze<br />

vor diesem H<strong>in</strong>tergrund Art. 18 Abs. 5 RTVG nicht '65<br />

4.4.3 Fall Stoll<br />

[Rz 88] Der Journalist Mart<strong>in</strong> Stoll wurde im Kanton Zürich<br />

wegen Veröffentlichung amtlicher geheimer Verhandlungen<br />

zu e<strong>in</strong>er Busse von 800 Franken verurteilt. Er hatte 1997 <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> «SonntagsZeitung» Auszüge aus e<strong>in</strong>em vertraulichen<br />

Papier des damaligen <strong>Schweiz</strong>er USA-Botschafters Carlo<br />

Jagmetti betreffend die Lösung des Streits um die nachrich­<br />

tenlosen jüdischen Vermögen publiziert. Das Bundesgericht<br />

hat die Verurteilung bestätigt.'·· Nach e<strong>in</strong>em mit vier zu drei<br />

Stimmen gefällten Urteil e<strong>in</strong>er Kammer des EGMR vom 25.<br />

April 2006 hat diese Verurteilung das Recht auf freie Me<strong>in</strong>ungsäusserung<br />

verletzt.'·7 Die von <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> angerufene<br />

Grosse Kammer des EGMR hielt dafür, die Vertraulichkeit diplomatischer<br />

Noten sei zwar äusserst wichtig aber dennoch<br />

nicht um jeden Preis zu schützen. Im vorliegenden Fall habe<br />

die Veröffentlichung des Berichts des Botschafters jedoch<br />

mit Blick auf den heiklen Zeitpunkt des Ersche<strong>in</strong>ens <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Presse den Interessen <strong>der</strong> schweizerischen Behörden grossen<br />

Schaden zufügen können. Mart<strong>in</strong> Stoll habe den Artikel<br />

nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Absicht verfasst, die Öffentlichkeit zu <strong>in</strong>formieren.<br />

Vielmehr habe er aus dem Bericht des Botschafters unnö­<br />

tigerweise e<strong>in</strong> Skandalobjekt gemacht. Der Journalist habe<br />

wissen müssen, dass se<strong>in</strong> Artikel geeignet gewesen sei, beim<br />

Leser den falschen E<strong>in</strong>druck zu erwecken, <strong>der</strong> Botschafter<br />

verfolge antisemitische Ziele. Das habe zweifellos zur kurz<br />

nach <strong>der</strong> Publikation erfolgten Demission des Botschafters<br />

"' Urteil 2A.303/2004 vom 26. Januar 2005 E. 3.1.<br />

'" Urleil 2A.30312004 vom 26. Januar 2005 E 4.<br />

186 BGE 126 IV 236 (65.425/2000 vom 5. Dezember 2000); EuGRZ 2001 S.<br />

416.<br />

187 Urteil des EGMR Sto/l gegen <strong>Schweiz</strong> vom 25. April 2006.


He<strong>in</strong>z Aemisegger, <strong>Zur</strong> <strong>Umsetzung</strong> <strong>der</strong> <strong>EMRK</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>in</strong>: Jusletter 20. Juli 2009<br />

beigetragen. Vor diesem H<strong>in</strong>tergrund hätten die schweizeri­<br />

schen Behörden den Ermessenspielraum von Art. 10 <strong>EMRK</strong><br />

nicht überschritten, <strong>in</strong>dem sie dem Journalisten e<strong>in</strong>e relativ<br />

tiefe Busse von 800 Franken auferlegt haben. '88<br />

4.4.4 Fall Foglia<br />

[Rz 89J Der Anwalt Aldo Foglia vertrat <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Strafverfahren<br />

mehrere von e<strong>in</strong>er Bank geschädigte Kunden, In dieser Funk­<br />

tion hat er sich gegenüber <strong>der</strong> Justiz geäussert. Diese hat die<br />

Auftritte des Anwalts <strong>in</strong> <strong>der</strong> Öffentlichkeit als unzulässige pa­<br />

rallel zum Strafprozess geführte Medienkampagne gewertet.<br />

Die Diszipl<strong>in</strong>arkommission des Tess<strong>in</strong>er Anwaltsverbandes<br />

auferlegte ihm deshalb e<strong>in</strong>e Busse von 1500 Franken, Dieser<br />

Entscheid wurde vom Bundesgericht geschützt.'89 Der<br />

EGMR erblickte dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Verletzung von Art. 10 <strong>EMRK</strong>, Se<strong>in</strong>es<br />

Erachtens erfolgten die Äusserungen Foglias <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

bereits mediatisierten Kontext. Sie seien we<strong>der</strong> übertrieben<br />

noch kränkend gewesen. Für die von Journalisten verfassten<br />

Presseartikel sei er nicht verantwortlich. Die Anwaltskritik an<br />

<strong>der</strong> Justiz habe gewisse Grenzen zu beachten. Diese sei­<br />

en im vorliegenden Fall nicht überschritten worden. Zwar sei<br />

die auferlegte Busse bescheiden. Sie habe aber doch e<strong>in</strong>en<br />

symbolischen Charakter und stelle e<strong>in</strong>e unverhältnismässige<br />

Sanktion dar.<br />

4.5 Umweltrecht<br />

[Rz 90] Verschiedene Rechtssuchende wandten sich an den<br />

Bundesrat, die Bundesversammlung und an das Bundesamt<br />

für Umwelt BAFU und verlangten, es seien <strong>in</strong>nert angemes­<br />

sener Frist auf Vollzugs- und allenfalls Gesetzgebungsebene<br />

die nötigen Massnahmen zu ergreifen, welche die E<strong>in</strong>haltung<br />

<strong>der</strong> Immissionsgrenzwerte betreffend Fe<strong>in</strong>staub (PM10),<br />

Ozon (03) sowie Stickoxiden (NO.) ermöglichten o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>en<br />

genügenden erheblichen Beitrag dazu leisteten, dass ihre<br />

Gesundheit und ihr Wohlbef<strong>in</strong>den gemäss dem durch das<br />

geltende Luftre<strong>in</strong>halterecht gesetzten Standard geschützt<br />

werde. Dabei verlangten sie unter an<strong>der</strong>em konkrete Mass­<br />

nahmen. Zu erwähnen ist etwa die Pfticht, bei sämtlichen Dieselfahrzeugen<br />

bis spätestens Ende 2007 Dieselpartikelfilter<br />

und De-NO -Katalysatoren vorzuschreiben, Die abschlägig<br />

x<br />

lautenden Briefe des BAFU wurden ans Bundesverwaltungsgericht<br />

weitergezogen. Dieses kam zum Schluss, das BAFU<br />

habe sich mit den Gesuchen zu Recht nicht materiell befasst<br />

und die Beschwerdeführenden hätten ke<strong>in</strong>en Anspruch auf<br />

e<strong>in</strong>e wirksame Beschwerde nach Art. 13 <strong>EMRK</strong>. In ihren<br />

Beschwerden <strong>in</strong> öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ans<br />

Bundesgericht verlangten sie, das Verfahren sei an die Vor<strong>in</strong>stanz<br />

o<strong>der</strong> an e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e verwaltungsunabhängige Ins­<br />

tanz im S<strong>in</strong>ne von Art. 13 <strong>EMRK</strong> zur materiellen Behandlung<br />

188 Urteil des EGMR Sto/l gegen <strong>Schweiz</strong> vom 10. Dezember 2007 (Grosse<br />

Kammer).<br />

'" Urteil 4P.36/2004 vom 7. Mai 2004.<br />

22<br />

zu überweisen. Die Beschwerdeführer leiteten aus Art. 10<br />

Abs. 2 BV und Art. 8 <strong>EMRK</strong> e<strong>in</strong>en Anspruch auf staatlichen<br />

Schutz vor übermässigen Schadstoffen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Luft ab und<br />

beriefen sich dabei auf die Immissionsgrenzwerte <strong>der</strong> Luftre<strong>in</strong>halte-Verordnung<br />

des Bundes vom 16. Dezember 1985 '90<br />

sowie Art. 11 Abs. 3 USG.'91 Das Bundesgericht ist auf die<br />

Beschwerde gestützt auf Art. 42 Abs, 2 BGG nicht e<strong>in</strong>getre­<br />

ten. Der angefochtene Entscheid beruhe auf zwei vone<strong>in</strong>an­<br />

<strong>der</strong> unabhängigen Begründungen (Zuständigkeit des BAFU;<br />

ParteisteIlung und Anspruch auf e<strong>in</strong>e wirksame Beschwerde<br />

im S<strong>in</strong>ne von Art. 13 <strong>EMRK</strong>). Weil nur e<strong>in</strong>e davon angefochten<br />

worden sei, erfülle sie die <strong>in</strong> Art. 42 Abs. 2 BGG enthaltenen<br />

formellen Anfor<strong>der</strong>ungen nicht.'92<br />

[Rz 91] E<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Person verlangte beim Regierungsrat<br />

des Kantons Aargau unter Berufung auf e<strong>in</strong>en «Anspruch auf<br />

gesunde Luft» Schutz vor übermässigen E<strong>in</strong>wirkungen. Sie<br />

berief sich auf das Umweltrecht des Bundes, die polizeiliche<br />

Generalklausel sowie den Anspruch auf Schutz des Privatund<br />

Familienlebens nach Art. 8 <strong>EMRK</strong>. Konkret verlangte<br />

sie unter an<strong>der</strong>em, es sei <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es Jahres alles vor­<br />

zukehren, um die E<strong>in</strong>haltung <strong>der</strong> Immissionsgrenzwerte be­<br />

treffend Fe<strong>in</strong>staub (PM10), Ozon (03) und Stickoxiden (NO,)<br />

durch Emissionsbegrenzungen sicherzustellen. Der Regie­<br />

rungsrat des Kantons Aargau trat auf die Begehren nicht e<strong>in</strong><br />

und das Verwaltungsgericht des Kantons Aargau bestätigte<br />

den regierungsrätlichen Entscheid. Das hierauf angerufene<br />

Bundesgericht wies die Beschwerde ab, soweit es darauf<br />

e<strong>in</strong>trat.'93<br />

[Rz 92] Im Zusammenhang mit dem Bau und Betrieb von<br />

Anlagen, welche zu unerwünschten Immissionen führen<br />

können, anerkennt das Bundesgericht zwar die für die Be­<br />

schwerdeberechtigung notwendige Beziehungsnähe, wenn<br />

die E<strong>in</strong>sprecher von den Immissionen betroffen werden. S<strong>in</strong>d<br />

solche Bee<strong>in</strong>trächtigungen zu erwarten, än<strong>der</strong>t auch <strong>der</strong> Um­<br />

stand, dass e<strong>in</strong>e grosse Anzahl von Personen betroffen ist,<br />

nichts an <strong>der</strong> E<strong>in</strong>sprache- und Beschwerdebefugnis.'94 Die<br />

190 SR 814.318.142.1.<br />

191 SR 814.01.<br />

19' Urtei11C_108/2008 vom 3. März 2009.<br />

193 Urteil1C_437/2007 vom 3. März 2009.<br />

'" So hat das Bundesgericht schon erkannt. dass bei grossflächigen Immissionen<br />

e<strong>in</strong> sehr weiter Kreis Betrolfener zur Beschwerdeführung legitimiert<br />

se<strong>in</strong> kann (z.B. Anwohner e<strong>in</strong>es Flughafens: BGE 124 1I 293 E. 3a<br />

S. 303 1.; 104 Ib 307 E. 3b S. 318; e<strong>in</strong>er Schiessanlage: BGE 133 11181<br />

E. 3.2.2 S. 188 mit H<strong>in</strong>weisen; e<strong>in</strong>es Fabrikgebäudes für die Verarbeitung<br />

genlechnisch verän<strong>der</strong>ter Mikroorganismen: BGE 120 Ib 379 E. 4c S. 387<br />

mit weiteren H<strong>in</strong>weisen; s. auch BGE 121 11176 E. 2b S. 178). In dicht besiedelten<br />

Gebieten kann somit grundsätzlich sehr vielen Personen die Beschwerdelegilimation<br />

zukommen, ohne dass von e<strong>in</strong>er unzulässigen Popularbeschwerde<br />

gesprochen werden müssle (BGE 121 11176 E. 2b S. 178;<br />

120 Ib 379 E. 4c S. 387; 110 Ib 99 E. le S. 102; je mit weiteren H<strong>in</strong>weisen).<br />

Bei <strong>der</strong> Festsetzung <strong>der</strong> Immissionsgrenzwerte müssen auch die Wirkungen<br />

<strong>der</strong> Immissionen auf Personen mit erhöhter Empf<strong>in</strong>dlichkeit. wie<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong>, Kranke, Belagle und Schwangere berüeksichligf werden (Art. 13<br />

Abs. 2 USG).


He<strong>in</strong>z Aemisegger, <strong>Zur</strong> <strong>Umsetzung</strong> <strong>der</strong> <strong>EMRK</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>in</strong>: Jusletter 20. Juli 2009<br />

Rechtsuchenden haben jedoch nach <strong>der</strong> Rechtsprechung<br />

des Bundesgerichts <strong>in</strong> tatsächlicher und rechtlicher H<strong>in</strong>sicht<br />

darzulegen, dass die gesetzlichen Legilimationsvorausset­<br />

zungen vorliegen, soweit diese nicht ohne Weiteres ersicht­<br />

lich s<strong>in</strong>d (Mitwirkungspflicht). Im vorliegenden Verfahren<br />

beklage - so das Bundesgericht - die Beschwerdeführer<strong>in</strong><br />

zahlreiche gesundheitliche Bee<strong>in</strong>trächtigungen, <strong>in</strong>sbeson­<br />

<strong>der</strong>e ihres Sohnes, welche sie auf die Überschreitung <strong>der</strong><br />

Immissionsgrenzwerte für verschiedene Luftschadstoffe zu­<br />

rückführe. Als e<strong>in</strong>zigen Beleg dafür bef<strong>in</strong>de sich <strong>in</strong> den Ak­<br />

ten e<strong>in</strong> Schreiben e<strong>in</strong>es K<strong>in</strong><strong>der</strong>arztes, <strong>der</strong> bestätige, dass er<br />

den Sohn <strong>der</strong> Beschwerdeführer<strong>in</strong> wegen chronischen Hus­<br />

tens, <strong>der</strong> seit November 2005 andauerte, behandelt habe.<br />

In diesem Schreiben wird weiter ausgeführt: «Es ist bekannt<br />

und entspricht me<strong>in</strong>er langjährigen Erfahrung als K<strong>in</strong><strong>der</strong>arzt,<br />

dass die hohe Schadstoffbelastung <strong>der</strong> Luft (<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />

Fe<strong>in</strong>staub) mit vermehrten chronischen Atemwegserkran­<br />

kungen e<strong>in</strong>hergeht. Diese s<strong>in</strong>d oft schwierig zu behandelr,l,<br />

beson<strong>der</strong>s bei Kle<strong>in</strong>k<strong>in</strong><strong>der</strong>n, da die gängigen Hustenmittel<br />

schlecht wirken, und auch je nach Alter gar nicht angewen­<br />

det werden können. [....] Seit dem Umzug von <strong>der</strong> Zürcher<br />

Badenerstrasse aufs Land ist es dem Sohn T. '" besser<br />

gegangen. Sicher lohnt es sich, dafür zu sorgen, dass die<br />

Luft auch im schönen Aargau noch besser wird.» Damit wird<br />

nach Auffassung des Bundesgerichts nicht h<strong>in</strong>reichend dar­<br />

gelegt, dass die Beschwerdeführer<strong>in</strong> bzw. ihr Sohn von <strong>der</strong><br />

Überschreitung gewisser Immissionsgrenzwerte objektiv<br />

betrachtet stärker betroffen sei als die übrige Bevölkerung.<br />

Auch die Berufung auf Art. 8 und 13 <strong>EMRK</strong> führte zu ke<strong>in</strong>em<br />

an<strong>der</strong>en Ergebnis. Der Strassburger Gerichtshof (EGMR)<br />

habe zwar <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Rechtsprechung aus <strong>der</strong> <strong>in</strong> Art. 8 <strong>EMRK</strong><br />

enthaltenen Garantie des Schutzes des Privatlebens e<strong>in</strong>en<br />

Anspruch auf Schutz vor schädlichen Immissionen abgeleitet<br />

und <strong>in</strong> diesem Zusammenhang auch gewisse Schutzpflich­<br />

ten des Staates bejaht. Indessen wird auch im Verfahren vor<br />

dem EGMR verlangt, dass e<strong>in</strong> Beschwerdeführer <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en<br />

Rechten konkret e<strong>in</strong>geschränkt werde, um als Opfer e<strong>in</strong>er<br />

<strong>EMRK</strong>-Verletzung zu gelten. Negative Umweltauswirkungen<br />

müssten <strong>in</strong> die Privatsphäre h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>reichen und sich dort mit<br />

e<strong>in</strong>em bestimmten Schweregrad auswirken. Zwischen Schä­<br />

digungswirkung und Privatsphäre muss e<strong>in</strong> enger Zusam­<br />

menhang bestehen.'95 Auf diese Weise soll auch vor dem<br />

EGMR die Popularbeschwerde ausgeschlossen werden.'96<br />

4.6 Namensrecht<br />

[Rz 93] Nach Art. 160 Abs. 1 ZGB'91 ist <strong>der</strong> Name des Ehe­<br />

mannes <strong>der</strong> Familienname <strong>der</strong> Ehegatten. Die Braut kann je­<br />

doch gegenüber dem Zivilstandsbeamten erklären, sie wolle<br />

"5 Vgl. SIEGWART/BüHLER, Europa-fenster URP zum Thema luflre<strong>in</strong>hallung <strong>in</strong>:<br />

URP 2006 S. 428 f.<br />

'" Urleil1C_437/2007 vom 3. März 2009; vgl. VrLLlGER, (Fn. 73), Rz. 152 und<br />

175.<br />

'" <strong>Schweiz</strong>erisches Zivilgesetzbuch vom 10 Dezember 1907, SR 210.<br />

23<br />

ihren bisherigen Namen dem Familiennamen voranstellen<br />

(Art. 160 Abs. 2 ZGB). Ferner erlaubt Art. 30 Abs. 2 ZGB<br />

den Brautleuten, sich im vere<strong>in</strong>fachten Namensän<strong>der</strong>ungs­<br />

verfahren die Führung des Namens <strong>der</strong> Frau als Familien­<br />

namen bewilligen zu lassen. Das Recht des Mannes, im Fall<br />

<strong>der</strong> Wahl des Namens <strong>der</strong> Frau als Familienname se<strong>in</strong>en<br />

bisherigen Namen voranzustellen, ist im ZGB nicht vorgese­<br />

hen. Trotzdem hat <strong>der</strong> Bundesrat dieses Recht unter Bezug­<br />

nahme auf Art. 30 Abs. 2 ZGB <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zivilstandsverordnung<br />

verankert.'98 Dies geschah im Nachgang zu e<strong>in</strong>em Urteil<br />

des EGMR Burghartz gegen die <strong>Schweiz</strong> vom 22. Februar<br />

1994,'99 welches auf e<strong>in</strong>em Urteil des Bundesgerichts vom 8.<br />

Juni 1989 LS. Burghartz und Schny<strong>der</strong> gegen Kanton Basel­<br />

Stadt basiert. 2 °O Dar<strong>in</strong> entschied das Bundesgericht, <strong>der</strong> Ehe­<br />

mann habe nicht das Recht, se<strong>in</strong>en früheren Namen analog<br />

zu Art. 160 Abs. 2 ZGB voranzustellen, wenn <strong>der</strong> bisherige<br />

Name <strong>der</strong> Ehefrau als Familienname bestimmt werde. Der<br />

EGMR erblickte <strong>in</strong> diesem bundesgerichtlichen Urteil e<strong>in</strong>e<br />

Verletzung <strong>der</strong> Art. 8 <strong>EMRK</strong> (Recht auf Achtung des Privat­<br />

und Familienlebens) i.v.m Art. 14 <strong>EMRK</strong> (Diskrim<strong>in</strong>ierungs­<br />

verbot). E<strong>in</strong>e Revision des Namensrechts des ZGB, welche<br />

aufgrund e<strong>in</strong>er parlamentarischen Initiative von Nationalrät<strong>in</strong><br />

Suzette Sandoz (94.434) ausgearbeitet worden war, lehnte<br />

das Parlament am 22. Juni 2001 ab. Am 19. Juni 2003 reichte<br />

Nationalrät<strong>in</strong> Susanne Leutenegger Oberholzer e<strong>in</strong>e weitere<br />

parlamentarische Initiative e<strong>in</strong>, welche verlangt, das ZGB so<br />

zu än<strong>der</strong>n, dass die Gleichstellung <strong>der</strong> Ehegatten im Bereich<br />

<strong>der</strong> Namens- und Bürgerrechtsregelung gewährleistet ist. Am<br />

22. August 2008 verabschiedete die Rechtskommission des<br />

Nationalrats e<strong>in</strong>en Entwurf zur Än<strong>der</strong>ung des Namens- und<br />

Bürgerrechts. Er geht vom Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> Unverän<strong>der</strong>lichkeit des<br />

Geburtsnamens aus. Die Brautleute können jedoch erklären,<br />

dass sie e<strong>in</strong>en geme<strong>in</strong>samen Familiennamen tragen wollen,<br />

nämlich den Ledigennamen <strong>der</strong> Braut o<strong>der</strong> des Bräutigams<br />

(Art. 160 des Entwurfs). Nach Art. 161 des Entwurfs behält<br />

je<strong>der</strong> Ehegatte se<strong>in</strong> Kantons- und Geme<strong>in</strong>debürgerrecht. 201<br />

[Rz 94] In <strong>der</strong> Frühjahrssession 2009 nahm <strong>der</strong> Nationalrat<br />

am 11. März 2009 e<strong>in</strong>en Antrag <strong>der</strong> Kommissionsm<strong>in</strong><strong>der</strong>heit<br />

an, welcher die Rückweisung <strong>der</strong> Vorlage an die Rechts­<br />

kommission verlangte, «mit dem Auftrag, ausschliesslich die<br />

durch das <strong>EMRK</strong>-Urteil vom 22. Februar 1994 (Burghartz ge­<br />

gen <strong>Schweiz</strong>) absolut notwendigen Schritte vorzuschlagen».<br />

Wie die nachfolgenden Ausführungen zeigen, ist es fraglich,<br />

ob das genügt, um das schweizerische Namensrecht mit den<br />

Anfor<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> <strong>EMRK</strong> <strong>in</strong> E<strong>in</strong>klang zu br<strong>in</strong>gen.<br />

[Rz 95] Der EGMR bezeichnet die För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong><br />

198 Art. 12 Abs. 1 <strong>der</strong> Zivilstandsverordnung vom 28. April 2004, ZStV, SR<br />

211.112.2.<br />

'11 Serie A, Bd. 280 B; VPB 1994 Nr. 121 S. 768<br />

200 BGE 11511193, 5C.8/1989 vom 8. Juni 1989.<br />

201 BBI2009 403 ff. (Bericht <strong>der</strong> Kommission für Rechtslragen des National·<br />

rates); BBI 2009 423 If. (Entwurf <strong>der</strong> Kommission lür Rechtsfragen des<br />

Nationalrates zur Än<strong>der</strong>ung des ZGB).


He<strong>in</strong>z Aemisegger, <strong>Zur</strong> <strong>Umsetzung</strong> <strong>der</strong> <strong>EMRK</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>in</strong>: Jusletter 20, Juli 2009<br />

Gleichbehandlung von Mann und Frau als e<strong>in</strong> wesentliches<br />

Ziel <strong>der</strong> Mitgliedstaaten des Europarates. In diesen Län<strong>der</strong>n<br />

bestehe e<strong>in</strong> Konsens zugunsten <strong>der</strong> Gleichberechtigung <strong>der</strong><br />

Ehefrau bei <strong>der</strong> Namenswahl. In diesem S<strong>in</strong>ne hat <strong>der</strong> EGMR<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Urteil Unal Tekeli gegen Türkei vom 16. November<br />

2004 entschieden, die Vorschrift des türkischen ZGB, wo­<br />

nach die Ehefrau den Namen des Mannes erhalte, diesem<br />

aber ihren voranstellen dürfe, verletze das ihr zukommende<br />

Recht, auch nach <strong>der</strong> Heirat ausschliesslich ihren Namen zu<br />

führen, wie dies dem Mann zugestanden werde. Der EGMR<br />

warf <strong>in</strong> diesem Zusammenhang dem türkischen Kassationshof<br />

e<strong>in</strong>stimmig vor, mit se<strong>in</strong>em Urteil vom 6. Juni 1995 Art. 14<br />

i'v'm Art 8 <strong>EMRK</strong> verletzt zu haben. Die E<strong>in</strong>heit <strong>der</strong> Fami­<br />

lie muss nach Auffassung des Gerichtshofes nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

geme<strong>in</strong>samen Namen zum Ausdruck kommen. Können sich<br />

die Ehegatten nicht für e<strong>in</strong>en geme<strong>in</strong>samen Familienamen<br />

entscheiden, so darf ke<strong>in</strong>em von ihnen <strong>der</strong> Name des an­<br />

<strong>der</strong>n aufgezwungen werden. Genau dies geschieht jedoch <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> nach den Vorschriften von Art. 30 Abs. 2 i'v'm.<br />

Art. 160 Abs. 1 ZGB, wenn sich die Brautleute nicht auf ei­<br />

nen geme<strong>in</strong>samen Familiennamen e<strong>in</strong>igen können. Die Wahl<br />

des Namens <strong>der</strong> Frau als Familienname setzt e<strong>in</strong> von beiden<br />

unterzeichnetes Gesuch voraus. Ohne e<strong>in</strong> solches muss die<br />

Frau gemäss Art. 160 ZGB den Namen des Mannes als Fa­<br />

miliennamen tragen und zwar auch wenn dies nicht ihrem<br />

Willen entspricht,202<br />

4.7 Demonstrationsverbot<br />

[Rz 96] Spontane friedliche Kundgebungen als unmittelba­<br />

re Reaktion auf e<strong>in</strong> unvorhersehbares Ereignis dürfen nach<br />

<strong>der</strong> Rechtsprechung des Bundesgerichts meldepflichtig er­<br />

klärt werden, aber nur, soweit e<strong>in</strong>e entsprechende Meldung<br />

zeitlich möglich ist,203 In diesem S<strong>in</strong>ne hat <strong>der</strong> EGMR die<br />

Auflösung e<strong>in</strong>er friedlichen Demonstration als unmittelbare<br />

Antwort auf e<strong>in</strong> politisches Ereignis e<strong>in</strong>zig wegen fehlen<strong>der</strong><br />

vorgängiger Ankündigung als Verstoss gegen Art. 11 <strong>EMRK</strong><br />

gewertet. 204<br />

5. Schlussbemerkung<br />

[Rz 97] Wie die vorstehenden Ausführungen zeigen, hat<br />

die <strong>EMRK</strong> die Rechtsprechung und auch die Rechtsetzung<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> <strong>in</strong>sgesamt <strong>in</strong> den verschiedensten Rechts­<br />

bereichen <strong>in</strong> hohem Masse bee<strong>in</strong>flusst und geprägt. Sie ist<br />

im schweizerischen Rechtsalltag sehr gut verankert. Das<br />

Bundesgericht hat sie auf die gleiche Stufe gesetzt und mit<br />

dem gleichen Gewicht angewendet wie das <strong>in</strong>nerstaatliche<br />

202 Vgl. CVRll HEGNAUER, Vom Treten an Ort beim Namensrecht, Der Nationalrat<br />

und die Europäische Menschenrechlskonvention, NZZ vom 14. April 2009<br />

(NI. 85) S, 11.<br />

203 Urteil1C_140/2008 vom 17, März 2009 E, 7,2,<br />

20' Urteil des EGMR 8ulka und Milbeleiligle gegen Ungarn vom 17. Oktober<br />

2007 § 31 If.<br />

24<br />

Verfassungs recht. Es hat damit e<strong>in</strong>en wichtigen Beitrag zur<br />

Verwirklichung <strong>der</strong> Zielsetzungen <strong>der</strong> <strong>EMRK</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong><br />

geleistet.<br />

[Rz 98] E<strong>in</strong>e bessere Abstimmung des schweizerischen Pro­<br />

zessrechts auf das Verfahren vor dem EGMR ist <strong>in</strong>dessen<br />

notwendig, Zwar sollte <strong>der</strong> EGMR <strong>in</strong> Zukunft dem schweizeri­<br />

schen Verfahrensrecht e<strong>in</strong>en höheren Stellenwert e<strong>in</strong>räumen<br />

als er dies <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit <strong>in</strong> vielen Fällen getan hat.<br />

In Bezug auf das <strong>in</strong> Art. 35 Zifl. 1 <strong>EMRK</strong> enthaltene Erfor­<br />

<strong>der</strong>nis <strong>der</strong> Erschöpfung des <strong>in</strong>nerstaatlichen Instanzenzugs<br />

besteht mit Blick auf die Rechtsprechung des EGMR Rechts­<br />

unsicherheit, die sich auch auf das <strong>in</strong>nerstaatliche Verfah­<br />

rensrecht auswirkt. Diese Rechtsunsicherheit sollte im Zu­<br />

sammenwirken von allen beteiligten Instanzen beseitigt o<strong>der</strong><br />

zum<strong>in</strong>dest verr<strong>in</strong>gert werden. Dazu können auch die Rechts­<br />

suchenden durch e<strong>in</strong>e sorgfältige <strong>in</strong>nerstaatliche Beschwer­<br />

deführung e<strong>in</strong>en Beitrag leisten. Um e<strong>in</strong>e unerwünschte<br />

Verengung des Rechtsschutzes vor den letzten nationalen<br />

Instanzen im Verhältnis zu den Rügemöglichkeiten vor dem<br />

EGMR zu vermeiden, sche<strong>in</strong>t es unter an<strong>der</strong>em prüfenswert,<br />

den nationalen Behörden - unabhängig von <strong>in</strong>nerstaatlichen<br />

Formerfor<strong>der</strong>nissen - vermehrt die Prüfung von Rügen zu<br />

ermöglichen, welche <strong>der</strong> EGMR <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Verfahren behan­<br />

delt. Es müssen jedenfalls Lösungen gesucht werden, um<br />

die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Praxis häufig relevante Disharmonie zwischen <strong>der</strong><br />

verfahrensrechtlichen Praxis des EGMR und dem schweize­<br />

rischen Prozessrecht zu beseitigen,<br />

[Rz 99] Die vorstehenden Ausführungen bezwecken, Proble­<br />

me, welche sich aus <strong>der</strong> Rechtsprechung des EGMR für die<br />

Mitgliedstaaten <strong>der</strong> <strong>EMRK</strong>, namentlich für die <strong>Schweiz</strong> erge­<br />

ben, offen zu legen und dazu anzuregen, dafür Lösungen zu<br />

suchen, Entsprechend dem im Verhältnis zwischen nationa­<br />

lem Recht und Völkerrecht geltenden Subsidiaritätspr<strong>in</strong>zip ist<br />

es primär Aufgabe <strong>der</strong> Mitgliedstaaten und nicht des EGMR,<br />

die <strong>EMRK</strong> umzusetzen. Idealziel muss die korrekte Anwen­<br />

dung <strong>der</strong> <strong>EMRK</strong> und damit die Vermeidung unnötiger Verur­<br />

teilungen <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> durch den Strassburger Gerichtshof<br />

se<strong>in</strong>. Die Tatsache, dass nur <strong>in</strong> 70 von den seit 1974 rund<br />

4000 registrierten <strong>Schweiz</strong>er Fällen <strong>in</strong> «Strassburg» Verlet­<br />

zungen <strong>der</strong> <strong>EMRK</strong> festgestellt wurden, und dass die Bilanz<br />

an<strong>der</strong>er Län<strong>der</strong> wesentlich schlechter ausfällt, än<strong>der</strong>t nichts<br />

an <strong>der</strong> Bedeutung <strong>der</strong> genannten Zielsetzung.<br />

Dr. iur, He<strong>in</strong>z Aemisegger, Bundesrichter, Lausanne Die dar­<br />

gelegten Ausführungen geben ausschliesslich die persönli­<br />

che Ansicht des Verfassers wie<strong>der</strong>. Sie bildeten die Grund­<br />

lage für Vorträge an den beiden folgenden Veranstaltungen:<br />

Tagung des Instituts für Rechtswissenschaft und Rechtspra­<br />

xis <strong>der</strong> Universität St. Gallen vom Freitag, 5, Juni 2009 <strong>in</strong><br />

Bern zum Thema «<strong>EMRK</strong> und die <strong>Schweiz</strong>» sowie Anwalts­<br />

kongress vom 11, -13. Juni 2009 <strong>in</strong> Luzern.

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