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Märtyrer des Versuchs einer Erneuerung

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Mahmud Mohammed Taha:<br />

<strong>Märtyrer</strong> <strong>des</strong> <strong>Versuchs</strong> <strong>einer</strong> <strong>Erneuerung</strong> <strong>des</strong> islamischen<br />

Denkens im Sudan<br />

Taha Ibrahim<br />

Es ist nicht möglich, Tiefe, Reichweite und Bedeutung <strong>des</strong> Denkens von<br />

Mahmud Mohammed Taha zu erfassen, ohne sich im Detail mit den<br />

historischen Wurzeln <strong>des</strong> Kampfes vertraut zu machen, der schon in den<br />

allerersten Anfängen um den heiligen Text <strong>des</strong> Islam, den Koran, entbrannt<br />

ist.<br />

Unmittelbar nach dem Tode <strong>des</strong> Propheten Mohammed, der seinem Volk<br />

das Buch und die Sunna hinterlassen hatte, begannen die Muslime, sich<br />

um das Verständnis dieser Hinterlassenschaft zu bemühen. Ihr<br />

Ausgangspunkt dabei war, daß dies die heilige göttliche Botschaft sei, die<br />

Mohammed offenbart wurde mit dem Auftrag, diese Botschaft in der<br />

arabischen Sprache zu verkünden: "Siehe, wir haben es (das Buch)<br />

herabgesandt als einen arabischen Koran" (Sure 12 "Joseph", Vers 2).<br />

"Und demgemäß sandten wir ihn als eine Vorschrift in arabischer Sprache<br />

nieder" (Sure 13 "Der Donner", Vers 37). "Also haben wir dir einen<br />

arabischen Koran geoffenbart" (Sure 42 "Die Beratung", Vers 5). "Die<br />

Sprache <strong>des</strong>sen, den sie meinen, ist eine fremde, aber dies ist die klare<br />

arabische Sprache" (Sure 16 "Die Bienen", Vers 105).<br />

Das Arabische war jedoch zu der Zeit, als mit dem Tode <strong>des</strong> Propheten die<br />

Kette der Offenbarungen abgerissen war, eine Sprache, die aus<br />

ausschließlich mündlicher Überlieferung lebte, d.h. die Dichtung stellte ihr<br />

einziges literarisches und künstlerisches Erbe dar. Es gab keine<br />

festgelegten sprachlichen Regeln, keine schriftliche Fixierung der<br />

Wortbedeutungen und der Syntax. Deshalb waren diejenigen, die sich mit<br />

der Wissenschaft von Koran und Sunna befaßten, vor allem anderen erst<br />

einmal darum bemüht, die arabische Sprache zu kodifizieren, d.h. die<br />

Bedeutung und den Gebrauch ihrer Begriffe festzustellen und ihre<br />

sprachlichen Regeln zu entdecken. Die Sprachwissenschaft machte also<br />

den Vorreiter für die Wissenschaft von der Auslegung <strong>des</strong> Korans, oder,<br />

anders ausgedrückt, die Auslegung <strong>des</strong> Korans und der Sunna entwickelte<br />

sich im Schatten der Sprachwissenschaft.<br />

Im Verständnis der Sprachforscher war der Koran der genaueste und<br />

authentischste Bezugstext für die arabische Sprache, und so wurde der<br />

Koran behandelt wie ein Sprachbuch, d.h. als Ausgangstext für die<br />

Festsetzung von Normen und grammatischen Regeln für das Arabische.<br />

Naturgemäß nahm man auch die arabische Dichtung zur Hilfe, um die<br />

Normen und Grundsätze, die man aus der Sprache <strong>des</strong> Koran gewonnen<br />

hatte, zu bestätigen, oder um die Bedeutung der Ausdrücke und die Syntax


und die im Koran vorhandene Sprachkunst genauer zu bestimmen.<br />

Im Laufe ihrer Forschungen bezogen die Sprachwissenschaftler<br />

darüberhinaus auch die überlieferten Berichte in ihre Untersuchungen mit<br />

ein und untersuchten sie nach den grammatischen Regeln und<br />

Wortbedeutungen und der Satzbildung, um sie nach ihrer Richtigkeit zu<br />

überprüfen und Falsches auszusieben, und daraus entstand die<br />

Wissenschaft von der Überlieferung und den Überlieferern.<br />

Insofern nun eines der Hauptmerkmale der Sprache - und das gilt für jede<br />

Sprache - ihre Konventionalität ist, machte sich die Forschung daran,<br />

herauszufinden, was als Konvention Geltung hatte, sowohl im Hinblick auf<br />

die grammatischen Regeln als auch hinsichtlich der Bedeutungen und der<br />

sprachlichen Form. Und so stellten die Sprachforscher die Normen auf,<br />

nach denen die Regeln festzusetzen waren, und zwar nahmen sie als<br />

Grundlage die Folgerichtigkeit der Chronisten und die Kongruenz der<br />

Berichte hinsichtlich der grammatischen Regeln und hinsichtlich der<br />

Bedeutung der gebrauchten Ausdrücke. Konnte man z.B. aufgrund der<br />

Folgerichtigkeit, die sich in den Berichten der Chronisten fand, feststellen,<br />

daß das Satzsubjekt stets im Nominativ steht und das Satzobjekt im<br />

Akkusativ, dann stand dies als Norm und Regel der arabischen Sprache<br />

fest und war für alle Zeiten gültig. Dafür mußte aber eben geklärt sein, daß<br />

sich die überwiegende Mehrheit tatsächlich an diese Regel gehalten hat.<br />

Wenn aber eine bestimmte Form nur bei einem einzigen Chronisten<br />

auftauchte, mußte von allen Seiten her untersucht werden, welche<br />

Glaubwürdigkeit der betreffende Chronist besaß. Daraus entstand die<br />

"Wissenschaft von der Überprüfung der Überlieferer".<br />

Hier ist zu bemerken, daß gegen diese Methode zur Auffindung und<br />

Festlegung von grammatischen Regeln im Allgemeinen nichts<br />

einzuwenden ist, daß aber, sobald man sie auf den Bereich <strong>des</strong> Denkens<br />

überträgt, die Sache gefährlich wird, da man die Gültigkeit eines<br />

Gedankens nicht danach bewerten darf, in welcher Häufigkeit er auftritt.<br />

Zwar ist gültige Praxis, festzustellen, von wem der Text stammt, den wir<br />

vor Augen haben, aber dies kann für uns kein Maßstab dafür sein, ob wir<br />

diesem eine Verbindlichkeit für alle Zeiten und alle Orte der Erde<br />

zusprechen, während es hinsichtlich der sprachlichen Form durchaus<br />

möglich ist, zu sagen, daß die daraus abgeleiteten grammatischen Regeln<br />

verbindlich sind für alle Zeiten und Orte, wo es Menschen gibt, die sich<br />

der arabischen Sprache bedienen.<br />

Die Dogmatiker jedoch, die sich mit der wissenschaftlichen Erforschung<br />

der Grundlagen <strong>des</strong> Glaubens beschäftigten und dabei den<br />

Sprachwissenschaftlern folgten, übernahmen diese linguistischen Normen<br />

und wandten sie auf die Gedanken <strong>des</strong> Korans an. D.h. sie erklärten, daß<br />

die Frage, inwieweit ein Text oder eine Bestimmung Gültigkeit habe an<br />

allen Orten und für alle Zeiten, sich entscheiden ließe anhand der<br />

Häufigkeit, in der der Text oder das Urteil bei den Überlieferern auftrete,<br />

und diese Regel wandten sie auch auf den koranischen Text und die darin<br />

enthaltenen Vorschriften an.


Damit gelangten sie zu dem gefährlichsten Dogma, das je in der<br />

Geschichte <strong>des</strong> arabisch-islamischen Denkens aufgestellt worden ist,<br />

nämlich, daß eine Textstelle an allen Orten und für alle Zeiten gültig sei,<br />

wenn ihr Vorkommen "eindeutig belegt und erhärtet worden ist". Und es<br />

war selbstverständlich, daß man den Text <strong>des</strong> Korans für eindeutig belegt<br />

und übereinstimmend überliefert, und entsprechend seine Weisungen als<br />

für alle Zeiten und an allen Orten gültig erklärte. Der Forschung bleibe<br />

demnach nichts weiter zu tun übrig, als die Bedeutungen und die<br />

sprachlichen Formen <strong>des</strong> Korans eindeutig zu bestimmen.<br />

Hingegen blieb für die vom Propheten überlieferten Aussprüche (Hadith)<br />

die Möglichkeit bestehen, die Dauer und Häufigkeit der einzelnen<br />

Überlieferungen zu überprüfen. So entstand die "Wissenschaft vom<br />

Hadith", in der man aber ebenfalls sklavisch den von den Sprachforschern<br />

aufgestellten Regeln folgte und diese buchstabengetreu auf die<br />

Bestimmung und Deutung der Aussprüche <strong>des</strong> Propheten anwandte.<br />

Dabei ist klar, daß die islamischen Dogmatiker den gewaltigen und<br />

grundlegenden Unterschied mißachteten, der zwischen zwei Arten von<br />

Logik besteht: der Logik der Sprachwissenschaft, die zu befolgen ist bei<br />

der Festlegung von Sprachnormen und Begründung von grammatischen<br />

Regeln - und der Logik im philosophischen Sinne, die auf das Denken<br />

anzuwenden ist, wenn man einen bestimmten Gedanken zu erfassen und zu<br />

bewerten sucht. Allerdings kam diese Unterordnung der gedanklichen<br />

unter die grammatische Logik nicht von ungefähr. Sie entsprach den<br />

Interessen der sich im islamischen Herrschaftsbereich etablierenden<br />

Mächte, die fester Regeln zur Legitimierung ihrer Herrschaft bedurften und<br />

infolge<strong>des</strong>sen darauf drängten, das Tor für Auseinandersetzungen, worin<br />

die Grundlagen ihrer Herrschaft und ihrer Befugnis zur Gesetzgebung und<br />

ihrer Befehlsgewalt in Frage gestellt wurden, zu verschließen .<br />

Deshalb beschränkten sich in der Folgezeit die Dogmatiker darauf, die<br />

Normen für die Festsetzung der grammatischen Regeln auf das koranische<br />

Denken und die Bestimmungen <strong>des</strong> Koran zu übertragen. So übernahmen<br />

sie danach z.B. auch den von den Sprach- und Literaturwissenschaftlern<br />

entwickelten Begriff der Ausnahmeregelung. Dieser Begriff beruhte auf<br />

der Entdeckung, daß die Dichter sich gelegentlich gezwungen sehen, eine<br />

überlieferte poetische Regel zu durchbrechen, sei es hinsichtlich <strong>des</strong><br />

Sprachduktus oder sei es hinsichtlich <strong>des</strong> Reimes, ohne daß dies die<br />

Vollkommenheit <strong>des</strong> Gedichts beeinträchtigte. Daraus leiteten sie die<br />

"Regel von der Notwendigkeit" ab, wonach es dem Dichter gestattet ist,<br />

innerhalb enger Grenzen und nur aus zwingenden Gründen, die sich aus<br />

den Erfordernissen <strong>des</strong> Gedichts selbst ergeben, eine bestimmte Regel zu<br />

übertreten. Wollte der Dichter jedoch diese Übertretung verallgem<strong>einer</strong>n,<br />

so würde er damit seine Dichtung entwerten.<br />

Diese Bestimmung übernahmen die Dogmatiker nun für die Praxis <strong>des</strong><br />

Glaubens und stellten die Regel auf, daß die Notwendigkeit ein Verbot<br />

außer Kraft setzen kann. Aber sie zogen den Möglichkeiten, eine solche<br />

Notwendigkeit geltend zu machen, darin den Sprachwissenschaftlern<br />

folgend, derart enge Grenzen, daß sie den Weg versperrten für ein Denken,


das darauf ausgerichtet ist, in <strong>einer</strong> veränderten geschichtlichen Lage die<br />

Normen früherer Epochen den neuen Gegebenheiten entweder anzupassen<br />

oder sie notfalls ganz außer Acht zu lassen, womit es zu <strong>einer</strong> neuen<br />

"Regel der Notwendigkeit" gekommen wäre mit <strong>einer</strong> neuen Grundlage,<br />

nämlich dem Bewußtsein vom Wandel <strong>des</strong> Lebens und der Gesellschaft.<br />

Ein letztes Beispiel: Die Sprachwissenschaftler haben den Gebrauch<br />

bestimmter Ausdrücke, die sich nicht von einem arabischen Ursprung<br />

herleiten ließen, für zulässig erklärt, wenn sie häufig gebraucht wurden und<br />

allgemein verbreitet waren. Sie haben es dann für notwendig erachtet,<br />

nachzuforschen, wann und bei welcher Gelegenheit der eine oder andere<br />

Ausdruck in die arabische Sprache eingedrungen ist und den Anlaß dafür<br />

untersucht. Sie taten dies, um die genaue Bedeutung <strong>des</strong> Ausdrucks zu<br />

bestimmen, und keineswegs aus interpretatorischen Gründen. Denn die<br />

Sprache ist ein Mittel der Verständigung, d.h. der Angesprochene soll<br />

möglichst genau das verstehen, was ihm der Sprecher mitteilen will, indem<br />

er einen bestimmten Ausdruck gebraucht.<br />

Die islamischen Dogmatiker übertrugen dieses linguistische Verfahren auf<br />

den Koran und trennten so das koranische Denken von seinem<br />

geschichtlichen und gesellschaftlichen Kontext, von dem es lebt, und von<br />

der Methode, durch die es geprägt ist, nämlich der Methode, der Bewegung<br />

der Gesellschaft und deren Veränderung Rechnung zu tragen. Durch die<br />

Übertragung aller Normen und Grundlagen und Regeln für Grammatik und<br />

Semantik auf die Interpretation <strong>des</strong> Koran haben die Dogmatiker eine<br />

außerordentlich gefährliche Wissenschaftsrichtung geschaffen, die das<br />

arabisch-muslimische Bewußtsein bis heute gefangen hält: die<br />

Wissenschaft von den Grundlagen der Dogmatik . Was die Sache so<br />

besonders gefährlich macht, ist, daß sich im allgemeinen Bewußtsein der<br />

Muslime diese Wissenschaft inzwischen mit dem Heiligen Text so eng<br />

verknüpft hat, daß ein Einspruch dagegen oder eine Abweichung davon als<br />

Ketzerei und damit als to<strong>des</strong>würdiges Verbrechen gilt.<br />

So erstarrte der Heilige Text zu einem tauben Stein oder einem<br />

unverrückbaren Fels, und das Dogma von der buchstäblichen Gültigkeit<br />

<strong>des</strong> Textes und s<strong>einer</strong> Anwendbarkeit für alle Zeiten und an allen Orten<br />

wurde darauf gegründet, daß er "eindeutig belegt und erhärtet" sei, ohne<br />

Rücksicht darauf, ob zwischen dem Text <strong>einer</strong>seits und den aktuellen<br />

Problemen und der neuen Lage andererseits ein Spannungsverhältnis<br />

besteht, ja ohne Rücksicht darauf, ob der Text in s<strong>einer</strong> wörtlichen<br />

Auslegung eine Lösung bietet für die aktuellen Probleme und eine Antwort<br />

auf die neue Lage, oder ob dies nicht vielmehr zu deren Verwicklung und<br />

Verschärfung beiträgt.<br />

Grundlage hierfür ist die Methode, vom Buchstaben <strong>des</strong> Textes<br />

auszugehen, die formal sprachlogische Methode, im Gegensatz zur<br />

Methode, die sich um die Erfassung <strong>des</strong> Inhalts bemüht und sich der<br />

gedanklich-inhaltlichen Logik bedient. Der bekannte Dogmatiker Ibn<br />

Hasm hat die Grundregel der Dogmatik in folgenden Worten dargestellt:<br />

"Was zum Zeitpunkt, als der Prophet starb (der Segen Gottes sei mit ihm<br />

und sein Friede) erlaubt war, bleibt erlaubt bis in alle Ewigkeit, und was


zum Zeitpunkt, als der Prophet starb (der Segen Gottes sei mit ihm und<br />

sein Friede) verboten war, kann bis in alle Ewigkeit nicht erlaubt sein."<br />

(Aus: "Umfassender Abriß der Glaubensgrundsätze" von Ibn Hasm Al-<br />

Andalûsi).<br />

Die Wissenschaft von den Grundlagen der Dogmatik entwickelte sich vor<br />

dem Hintergrund <strong>einer</strong> tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderung, die<br />

sich im arabisch-islamischen Staatsgebiet vollzogen hatte: Einfache<br />

arabische Hirtenstämme hatten ein Feudalreich geschaffen mit blühendem<br />

Handel, das zentral regiert wurde von einem religiösen Oberhaupt (Imam).<br />

Damit tat sich eine weite Kluft auf zwischen den verst<strong>einer</strong>ten Texten und<br />

der spannungsgeladenen neuen Situation. Dies führte zu zahlreichen<br />

Versuchen, eine Antwort darauf zu geben, und so entstanden die<br />

verschiedensten Sekten, Schulen und philosophischen Richtungen, die sich<br />

darum bemühten, eine Lösung für die Probleme der Zeit zu finden, ohne<br />

sich dem gefährlichen Vorwurf der Ketzerei auszusetzen.<br />

Zu den Sekten oder religiösen Bewegungen, die sich damals innerhalb <strong>des</strong><br />

Islam neu bildeten, gehörten vor allem auch die sufischen Bruderschaften ,<br />

auf die wir uns in unserer Darstellung im Folgenden beschränken wollen,<br />

da aus ihrer Mitte Mahmud Mohammed Taha hervorgegangen ist.<br />

Festzuhalten ist jedoch ganz allgemein, daß alle Gruppen, die eine Lösung<br />

für die anstehenden Probleme suchten, nicht deren Verbindung erkannten<br />

mit dem Problem der Erstarrung <strong>des</strong> Textes, da sie denselben unbefragt aus<br />

den Händen der Dogmatiker übernahmen.<br />

Nach der sufischen Lehre von der Gotteserkenntnis belehrt Gott das<br />

Menschengeschlecht und erleuchtet es hinsichtlich <strong>des</strong> Guten und <strong>des</strong><br />

Bösen, und Gott begnadet einen Menschen mit der Gabe der Erleuchtung<br />

in dem Maße, wie <strong>des</strong>sen Frömmigkeit wächst, denn er hat gesprochen:<br />

"Und fürchtet Gott, denn Gott ist es, der euch lehrt, und Gott weiß alle<br />

Dinge." (Sure 2 "Die Kuh", Vers 282, Ende). Wer den Weg der göttlichen<br />

Erkenntnis sucht, ist nach Auffassung der Sufis dazu verurteilt, sich zu<br />

verirren, wenn er keinen Scheich (religiösen Führer) hat, der ihm auf<br />

diesem Weg vorausgegangen ist im Vertrauen auf seinen Glauben.<br />

Bei den Sufis ist das Prophetentum und die Botschaft ein Maßstab für den<br />

Grad der Frömmigkeit, d.h. diese hat beim Propheten eine Stufe erreicht,<br />

wo er sein Wissen von Gott selbst empfängt, ohne Vermittler und ohne<br />

Scheich. Und so verkündet der Prophet dieses Wissen als Offenbarung, die<br />

er von seinem Herrn empfangen hat. Theoretisch steht die Möglichkeit,<br />

sein Wissen unmittelbar vom Herrn zu empfangen, jedem Menschen offen,<br />

aber nur eine kleine Minderheit von Menschen kann einen solchen Grad<br />

der Vollkommenheit erreichen. Wenn ein Sufi mit Hilfe seines Scheichs<br />

den Weg der Frömmigkeit beschritten und, <strong>des</strong>sen Vorbild folgend, die<br />

Erkenntnisstufe <strong>des</strong> Scheichs erreicht hat, kann er diesen an Frömmigkeit<br />

übertreffen und so die Stufe der Heiligkeit erlangen, aufgrund derer es ihm<br />

möglich wird, sein Wissen von Gott selbst zu empfangen. Das heißt, der<br />

Mensch, der bis dahin seinem Scheich gefolgt ist, verwandelt sich in einen<br />

vollkommenen Menschen, der keinen Vermittler braucht, denn an diesem<br />

Punkt lüftet sich der Schleier zwischen ihm und seinem Schöpfer, und so


kann er die Absicht Gottes erkennen und das, was dieser mit s<strong>einer</strong><br />

Schöpfung vorhat.<br />

Wenn ein geoffenbarter heiliger Text vorliegt, und ein Schriftgelehrter<br />

kommt und behauptet, dieser hätte die Bedeutung, die sich aus der<br />

Bedeutung s<strong>einer</strong> Vokabeln erschließen läßt, wird ihm der Heilige<br />

antworten, ihm sei der Sinn <strong>des</strong> Textes von <strong>des</strong>sen Urheber selbst<br />

anvertraut worden, das heißt von Gott, der den Text geoffenbart hat. So hat<br />

jeder geoffenbarte Text für die Sufis eine äußerliche Bedeutung, die man<br />

durch die sprachliche Analyse erschließen kann, aber er hat auch einen<br />

verborgenen göttlichen Sinn, der nur den Heiligen zugänglich ist und den<br />

nur diese vermitteln können. Auf diese Weise fanden die Sufis eine<br />

Möglichkeit, das Problem der Erstarrung der Texte zu umgehen, ohne<br />

unmittelbar mit den Dogmatikern in Konflikt zu geraten. Wenn also ein<br />

neues Problem auftauchte, für das der Text wegen s<strong>einer</strong> Erstarrung keine<br />

Lösungsmöglichkeit bot, verkündete der Heilige den tieferen Sinn, der die<br />

Spannung zwischen dem Text und der neuen Realität auflöst, und in der<br />

Mehrzahl der Fälle stand diese Lösung in völligem Widerspruch zu den<br />

von den Dogmatikern vertretenen Interpretationen.<br />

Mahmud Mohammed Taha folgte von Anfang an dem Weg der Sufis, da er<br />

erkannt hatte, daß sich in dem von den Dogmatikern angebotenen<br />

Analysen keine Erklärungen oder Lösungsmöglichkeiten für die Probleme<br />

der Muslime im XX.Jahrhundert finden ließen. Es waren andere<br />

Denkrichtungen aufgetreten, die, wie der Liberalismus und der<br />

Sozialismus, ihre Lösungen für die Wirtschaftsprobleme anboten, und es<br />

waren Bedingungen entstanden, unter denen die Befreiung der Frau zur<br />

Notwendigkeit wurde und für sie die Möglichkeit verlangten, außer Haus<br />

und zur Arbeit gehen zu können. Es waren politische Herrschaftsformen<br />

entstanden wie die freiheitliche Demokratie, die eine neue Antwort gaben<br />

auf das Problem der politischen Macht, und das menschliche Bewußtsein<br />

hatte einen Stand erreicht, wo es sich mit den meisten Vorschriften der<br />

muslimischen Dogmatiker nicht mehr abfinden konnte. Das betraf vor<br />

allem die Fragen von Krieg und Frieden, die Rechte der Nicht-Muslime<br />

und der Minderheiten, die internationalen Beziehungen und die<br />

Menschenrechte und Grundfreiheiten, wie sie in den internationalen<br />

Abkommen festgelegt sind.<br />

Mahmud war der Überzeugung, daß der Sufi-Weg der vorbildliche Weg<br />

sei, auf dem man die Erstarrung der Texte überwinden könne. Bestärkt<br />

wurde er im Glauben an diese Möglichkeit durch die Tatsache, daß die<br />

überwiegende Mehrheit der sudanesischen Muslime den Islam auf dem<br />

sufischen Weg der Toleranz kennengelernt und angenommen haben,<br />

weshalb ihm der Sudan ein fruchtbarer Boden zu sein schien, der<br />

aufgeschlossen ist für das Neue und damit für das, was Mahmud als<br />

zeitgemäße Lösungen für die heutigen Probleme erkannte.<br />

Wie es der sufische Weg vorschreibt, wählte sich Mahmud einen Scheich,<br />

der ihn auf den rechten Pfad leiten sollte, und zwar wählte er sich dazu den<br />

Propheten Mohammed selbst, womit er sich und die ihm anvertrauten<br />

Schüler darauf verpflichtete, <strong>des</strong>sen Vorbild nachzufolgen. Über mehrere


Jahre lebte Mahmud in der Zurückgezogenheit und bemühte sich, den Weg<br />

der Frömmigkeit seines Scheichs, <strong>des</strong> Propheten Mohammed, zu gehen, in<br />

der Hoffnung, Gott möge ihn erleuchten und ihm einen neuen Sinn der<br />

heiligen Texte erschließen, der das Heil enthält, womit sich den Problemen<br />

<strong>des</strong> Menschengeschlechts begegnen ließe. Es gelang Mahmud in der Tat,<br />

zu <strong>einer</strong> originellen, wenn auch verwickelten, Lösung zu finden, um dem<br />

Sinn der erstarrten Texte beizukommen.<br />

Ich glaube, Mahmud hielt es nicht für zweckdienlich, zu verkünden, daß er<br />

die Stufe der Heiligkeit erreicht habe, weil er von Hause aus Ingenieur war,<br />

der die modernen Naturwissenschaften an einem modernen Institut studiert<br />

hatte, während er zugleich Zeuge wurde, wie der Fundamentalismus<br />

entstand und an Einfluß gewann, der die Wissenschaft von den Grundlagen<br />

der Dogmatik zum obersten Maßstab für die Fragen <strong>des</strong> Glaubens und der<br />

Rechtsprechung erhob. Das machte es ihm äußerst schwer, zu erklären, daß<br />

sich ihm mit Hilfe seines Schöpfers ein neuer Sinn der Texte erschlossen<br />

habe., und so bemühte er sich nach allen Kräften, eine Lösung zu finden,<br />

die es ihm ermöglichte, sich den heiligen Texten auf dem Weg der Sufis zu<br />

nähern, ohne besagten Schritt zu tun. Er fand, was er suchte, durch<br />

Hinweise aus der Sufi-Literatur, insbesondere in den Werken <strong>des</strong><br />

andalusisch-arabischen Mystikers Ibn Arabi (1165-1240), die, ausgehend<br />

von den Widersprüchen im koranischen Text, die Aussage <strong>des</strong> Korans<br />

bekräftigten, daß die Festen im Wissen - und fest im Wissen ist nur der<br />

Fromme - die wahre Bedeutung <strong>des</strong> Korans erkennen.<br />

Mahmud war aufgefallen, daß die mekkanischen Suren, d.h. die Suren, die<br />

Mohammed vor der Hidschra, der Auswanderung nach Medina,<br />

geoffenbart worden waren, in ihrer Problemstellung und -lösung sich von<br />

den medinensischen Suren tiefgreifend unterscheiden. Ganz allgemein, so<br />

stellte er fest, geht es in den mekkanischen Suren darum, die göttliche<br />

Botschaft zu verbreiten vermittelst der Überzeugungskraft <strong>des</strong> Wortes,<br />

durch einen vom Geist der Toleranz geprägten Dialog, gegründet auf dem<br />

Respekt vor dem Anderen und der Ächtung von Gewalt. Diese Tugenden<br />

werden aber in eben den Versen verkündet, von denen die Dogmatiker<br />

behaupten, daß sie von späteren Versen abrogiert (aufgehoben) worden<br />

seien. Der Unterschied zwischen den mekkanischen und den<br />

medinensischen Suren erschien Mahmud als so gewaltig, daß er zu der<br />

Überzeugung gelangte, der Islam enthalte in seinem heiligen Buch zwei<br />

Botschaften in <strong>einer</strong>, die beide "eindeutig belegt und erhärtet" seien.<br />

Damit schien sich ihm eine außergewöhnliche Möglichkeit aufzutun, die<br />

Dogmatiker mit ihrer eigenen Waffe zu schlagen, der Waffe <strong>des</strong> Textes<br />

und s<strong>einer</strong> sprachlichen Auslegung, ohne daß er dabei hätte aufdecken<br />

müssen, daß er zu diesem neuen Verständnis <strong>des</strong> Textes auf dem Weg der<br />

Gotteserkenntnis gelangt sei. So blieb sein Ausgangspunkt der der Sufis,<br />

die Lösung dagegen war orthodox, d.h. dem heiligen Text verpflichtet.<br />

Mahmud stellte seine Thesen vor in seinem Buch: "Die zweite Botschaft<br />

<strong>des</strong> Islam", worin er darlegte, daß im Islam zwei Botschaften enthalten<br />

seien. Die erste Botschaft sei den Zeitgenossen <strong>des</strong> Propheten verkündet<br />

worden unter Berücksichtigung ihres Bewußtseinsstan<strong>des</strong>, ihrer<br />

Bedürfnisse und ihrer Fähigkeiten. Die zweite Botschaft, die im heiligen


Buch enthalten ist, richte sich an spätere Generationen, d.h. die Generation<br />

unserer Zeit, da sie deren Bewußtseinsstand widerspiegelt, Antwort gibt<br />

auf deren Probleme und deren Fähigkeiten berücksichtigt.<br />

Auf diese Weise entwarf Mahmud ein weitgehend umfassen<strong>des</strong><br />

islamisches Weltbild, das dem traditionellen Weltbild der Orthodoxie<br />

diametral entgegengesetzt war, sich aber dennoch voll und ganz auf die<br />

heiligen Texte stützen konnte. Es war ein Weltbild, das alles in allem den<br />

Islam als zeitgemäße, menschliche und fortschrittliche Religion darstellt,<br />

eine Religion, die die Gleichberechtigung der Menschen fordert, die den<br />

Krieg verurteilt und zum Frieden aufruft. Hier soll anhand von ein paar<br />

Grundproblemen das Weltbild Mahmuds und die Methode s<strong>einer</strong> Schule<br />

dargestellt, und, anhand der Art und Weise, wie die Fundamentalisten diese<br />

Probleme behandeln, der Gegensatz aufgezeigt werden, in dem beide<br />

Schulen zueinander stehen.<br />

Erstes Problem: Der Umgang mit den Anderen, das heißt mit den Nicht-<br />

Muslimen. Mahmud stellte fest, daß nach Ansicht der Dogmatiker dieses<br />

Problem in den (dem Zeitpunkt der Offenbarung nach) letzten Suren,<br />

vielleicht sogar der allerletzten Sure geregelt sei, derjenigen mit dem Titel<br />

"Die Reue" (Sure 9). Nach ihrer Auffasung wären durch diese, eben<br />

<strong>des</strong>halb, weil sie die letzte sei, alle in vorhergehenden Suren enthaltenen<br />

Bestimmungen abrogiert (widerrufen) worden. Besagte Sure stellt zwei<br />

Prinzipien auf, wovon das eine die Götzendiener betrifft, d.h. diejenigen,<br />

die kein heiliges Buch der Offenbarung besitzen. Auf sie bezüglich heißt es<br />

in der Sure "Die Reue" im Vers 5: "Sind aber die heiligen Monate<br />

verflossen, so erschlagt die Götzendiener, wo ihr sie findet, und packt sie<br />

und belagert sie und lauert ihnen überall auf. Wenn sie sich jedoch<br />

bekehren und das Gebet verrichten und die Armensteuer zahlen, so laßt sie<br />

ihres Weges ziehen! Gott ist verzeihend und barmherzig."<br />

Bezüglich der Inhaber der geoffenbarten Schriften, der Juden und der<br />

Christen, heißt es hingegen in dieser Sure im Vers 29: "Kämpft wider jene<br />

von denen, welchen die Schrift gegeben ward, die nicht an Gott glauben<br />

und an den Jüngsten Tag, und die nicht verbieten, was Gott und sein<br />

Gesandter verboten haben, und nicht bekennen das Bekenntnis der<br />

Wahrheit, bis sie demütig die Kopfsteuer zahlen." Das bedeutet, daß für die<br />

Götzendiener zwei Möglichkeiten zur Wahl stehen, entweder die<br />

Bekehrung zum Islam oder der Tod, wogegen die Inhaber der Schrift<br />

zwischen drei Möglichkeiten wählen können: der Bekehrung zum Islam,<br />

der Kopfsteuer oder dem Schwert.<br />

Nach Ansicht von Mahmud gehören diese Bestimmungen zur ersten<br />

Botschaft <strong>des</strong> Islam. Dagegen gelten gemäß der zweiten Botschaft, die für<br />

unsere Zeit bestimmt ist, folgende Verse:<br />

Der Vers 29 aus der Sure "Die Höhle" (Sure 18): "Und sprich: Die<br />

Wahrheit ist von eurem Herrn, und wer will, der glaube, und wer will, der<br />

glaube nicht."<br />

Der Vers 99 aus der Sure "Jonas" (Sure 10): "Und wenn dein Herr gewollt<br />

hätte, so würden alle auf der Erde insgesamt gläubig werden. Willst du<br />

etwa die Leute zwingen, gläubig zu werden?"


Der Vers 34 aus der Sure "Die Anbetung" (Sure 41): "Und nicht gleich ist<br />

das Gute und das Böse. Wehre das Böse ab mit dem Besseren, und siehe,<br />

der, zwischen dem und dir Feindschaft war, wird dir sein wie ein herzlicher<br />

Freund."<br />

Der Vers 126 der Sure "Die Bienen" (Sure 16): "Lade ein zum Weg <strong>des</strong><br />

Herrn mit Weisheit und schöner Ermahnung und streite mit ihnen in bester<br />

Weise. Siehe, dein Herr weiß am besten, wer von seinem Wege abgeirrt ist,<br />

und er kennet am besten die Rechtgeleiteten."<br />

Was nun die Probleme der Wirtschaft anbelangt, so ist die Textstelle, die<br />

das Maximum <strong>des</strong>sen festlegt, was vom Geld eines Muslims einbehalten<br />

werden darf, und deren wörtliche Befolgung die Fundamentalisten fordern,<br />

nach Ansicht Mahmuds mit den Pflichten und Erfordernissen eines<br />

modernen Staates nicht zu vereinbaren, ja es sei zu bezweifeln, ob der<br />

Staat überhaupt das Recht hat, den einzelnen Muslim dazu zu zwingen,<br />

dieses Geld zu bezahlen, denn im islamischen Verständnis handelt es sich<br />

hier um eine religiöse Pflicht, nämlich um die Armenabgabe (Zakat).<br />

Folgendermaßen lautet die betreffende Bestimmung <strong>des</strong> Koran: "Von ihren<br />

Gütern nimm Almosen, mit welchen du sie reinigest und sühnest. Und bete<br />

über sie!" (Sure 9 "Die Reue", Vers 103). Aufgrund der Aussprüche <strong>des</strong><br />

Propheten ist dann die Höhe dieses Almosens zur "Reinigung" <strong>des</strong> Besitzes<br />

von der Sünde der Begehrlichkeit, die "Zakat", festgelegt worden, und<br />

zwar stimmten die meisten überlieferten Aussprüche darin überein, daß die<br />

Abgabe etwa 2,5% <strong>des</strong> Vermögens betragen solle, das man ein Jahr lang in<br />

Besitz gehabt hat. Eine solche Regelung ist angemessen für eine Zeit, wo<br />

das Vieh, das Saatgut und die Bodenschätze den Hauptanteil der<br />

vorhandenen Vermögen ausmachten.<br />

Die Ironie der Geschichte wollte es, daß es den Fundamentalisten 1984<br />

gelang, den sudane-sischen Staatschef Numeiri davon zu überzeugen, daß<br />

er alle Arten der modernen Steuern, die 65% <strong>des</strong> Staatseinkommens<br />

ausmachten, abschaffen und durch die Armensteuer ersetzen müsse. Und in<br />

Null Komma Nichts war die Staatskasse leer, sodaß nicht einmal mehr die<br />

Beamtengehälter ausgezahlt werden konnten. Das geschah in einem<br />

Entwicklungsland und in einem Staat, der verantwortlich war für die<br />

Besoldung der bewaffneten Streitkräfte, der Beamten, <strong>des</strong><br />

Staatssicherheitsdienstes und für die Aufrechterhaltung der Infrastruktur.<br />

Mahmud Mohammed Taha hatte schon in den fünfziger Jahren auf dieses<br />

Problem hingewiesen und dazu erklärt, daß der Vers, der die Bestimmung<br />

über die Armensteuer (Zakat) enthält, zur ersten Botschaft <strong>des</strong> Islam<br />

gehöre, d.h. eine Zeit betrifft, in der der Staat seine Ausgaben durch<br />

Kriegsbeute, Grundsteuer und Kopfsteuer bestreiten konnte.<br />

Dagegen lautet der Vers der zweiten Botschaft, den es in der heutigen Zeit<br />

zu befolgen gilt: "Sie werden dich fragen, was man spenden soll. Sprich:<br />

Den Überschuß." (Sure 2 "Die Kuh", Vers 219). Mit dem Überschuß ist all<br />

das gemeint, was über die Grundbedürfnisse <strong>des</strong> Menschen hinausgeht.<br />

Auf diesen Text stützte sich Mahmud, als er sagte, daß die zweite<br />

Botschaft <strong>des</strong> Islam hinsichtlich der Wirtschaftsordnung eine sozialistische<br />

Botschaft sei.


Eines der wichtigsten Probleme, das Mahmud aufgriff, war das der Frau<br />

und die Rolle, die ihr in der Gesellschaft von den Fundamentalisten<br />

zugewiesen wird, indem sie behaupten, die diesbezüglichen Textstellen<br />

seien für alle Ewigkeit gültig und insofern zu jeder Zeit und an jedem Ort<br />

anzuwenden. Hier ein paar Beispiele für solche Bestimmungen.<br />

Ausgangspunkt der Fundamentalisten ist der Ausspruch <strong>des</strong> Propheten:<br />

"Den Frauen mangelt es an Verstand und Religion." Deshalb gilt: "Die<br />

Männer stehen über den Frauen aufgrund <strong>des</strong>sen, was Gott den einen vor<br />

den anderen gewährt hat, und weil sie mit ihrem Geld für diese sorgen. "<br />

(Sure 4 "Die Weiber", Vers 34). Ein weiteres Zeugnis über die Frau findet<br />

sich im von Ibn Masud überlieferten Ausspruch <strong>des</strong> Propheten: "Die Frau<br />

ist voller Schwäche, und wenn sie aus dem Haus geht, macht sich der<br />

Teufel an sie heran. Sie ist der Gnade Gottes am nächsten, wenn sie im<br />

Innersten <strong>des</strong> Hauses verweilt."<br />

Deshalb ist für die Fundamentalisten das Haus der Ort, an den die Frau<br />

hingehört, und so hat sie kein Recht auf Arbeit außer Hauses und kein<br />

Recht überhaupt, die Wohnung zu verlassen. "Und sitzet still in euren<br />

Häusern und putzt euch nicht heraus wie in den früheren Zeiten der<br />

Unwissenheit." (Sure 33 "Die Verbündeten", Vers 33). Der Frau ist auch<br />

auferlegt, einen Schleier oder ein verhüllen<strong>des</strong> Tuch zu tragen: "Du, o<br />

Prophet, sprich zu deinen Frauen, zu deinen Töchtern und den Weibern der<br />

Gläubigen, sie sollen senken auf sich ein Teil von ihren Überwürfen. So<br />

ist's geschickter, daß man sie erkenne, doch nicht kränke." (Sure 33 "Die<br />

Verbündten", Vers 59).<br />

Die Frau gilt aufgrund der betreffenden Koranverse im Verständnis der<br />

Fundamentalisten soviel als ein halber Mann, beim Heiraten soviel als ein<br />

Viertel von ihm, da der Mann das Recht hat, vier Frauen zu heiraten,<br />

wogegen sie gesteinigt wird, wenn sie sich mit mehr als einem Mann<br />

einläßt. Bei der Scheidung gilt sie soviel als ein Drittel eines Mannes, denn<br />

er kann sie verstoßen und sie sich dann wieder holen, sie nochmals<br />

verstoßen und nochmals wieder holen, und das ganz nach eigenem<br />

Gutdünken. Schließlich und letztlich kann er sie dann noch ein drittes Mal<br />

verstoßen. Als Zeugin gilt sie soviel als ein halber Mann im<br />

Personenstandsrecht, aber in Mordsachen und anderen Delikten, die mit<br />

den Hadd-Strafen belegt werden - Diebstahl und Ehebruch - ist es ihr ganz<br />

verwehrt, als Zeugin aufzutreten.<br />

So hat sie denn auch kein Recht, über andere zu bestimmen und<br />

entsprechend kein Recht, ein politisches oder richterliches Amt auszuüben.<br />

Das heißt, der Mann, insofern er als der Frau überlegen gilt, hat das Recht,<br />

diese zu züchtigen: "Und diejenigen, deren Widerspenstigkeit ihr fürchtet,<br />

verbannt sie in ihre Schlafstätten und schlagt sie. Und wenn sie euch dann<br />

gehorchen, verfolgt sie nicht weiter." (Sure 4 "Die Weiber", Vers 34).<br />

Mahmud überprüfte diese und andere Bestimmungen bezüglich der Frau<br />

und kam zu dem Schluß, daß sie alle der ersten Botschaft zugehören. Der<br />

zweiten Botschaft nach ist die Frau in jeder Hinsicht dem Mann gegenüber<br />

gleichberechtigt, und dieses Urteil gründet sich auf zwei ursprüngliche<br />

Textstellen <strong>des</strong> Koran. Die erste lautet: "Sie haben gleiche Rechte


entsprechend ihren Pflichten, wie es sich geziemt." (Sure 2 "Die Kuh",<br />

Vers 228). Mahmud zufolge ist der Rest <strong>des</strong> Verses entsprechend zu<br />

ändern, um den veränderten Beziehungen zwischen Mann und Frau im<br />

Sinne der Gleichberechtigung gerecht zu werden.<br />

Bei <strong>einer</strong> zweiten Gruppe von Textstellen geht es nach Meinung von<br />

Mahmud um die Gleichheit aller Menschen überhaupt, ungeachtet <strong>des</strong><br />

Geschlechts oder <strong>des</strong> Glaubens oder der Religion. Dagegen halten im<br />

Sinne der ersten Botschaft die Dogmatiker daran fest, daß im Islam die<br />

Menschen ungleich zu behandeln seien, und zwar ausgehend von ihrer<br />

gesellschaftlichen Stellung als Freie oder Sklaven. In ihrer Sicht ist der<br />

Sklave, ob Mann oder Frau, dem Freien nicht gleichwertig, vielmehr ist er<br />

eine Sache und ein Handelsartikel. Der Freie hat das Recht, soviel<br />

Sklavinnen zu besitzen, wie er will, und kraft seines Besitzverhältnisses ist<br />

ihm erlaubt, mit <strong>einer</strong> Sklavin Geschlechtsverkehr zu haben, wann er will,<br />

ohne die Pflicht, sie zu heiraten. "Und so ihr fürchtet, nicht Gerechtigkeit<br />

gegen die Waisen zu üben, so nehmt euch zu Weibern, was euch gutdünkt,<br />

zwei, drei oder vier. Und so ihr fürchtet, nicht allen gerecht werden zu<br />

können, so nehmt euch nur eine oder was eure Rechte besitzt." (Sure 4<br />

"Die Weiber", Vers 3). Indem die Sklaven als Besitz betrachtet wurden,<br />

konnten sie auch als Sühnegeld eingesetzt werden, wenn es darum ging,<br />

bestimmte gesellschaftliche Zwecke zu erreichen: "Wer einen Gläubigen<br />

tötet unvorsätzlich, <strong>des</strong> Sühne sei Befreiung eines gläubigen Sklaven."<br />

(Sure 4 "Die Weiber", Vers 94).<br />

Zusammenfassend kann man sagen, daß die erste Botschaft <strong>des</strong> Islam, wie<br />

Mahmud feststellte, dem Menschen erlaubt, seine Mitmenschen zu<br />

versklaven, sei es in Folge eines Überfalls oder <strong>einer</strong> Eroberung - im<br />

Rahmen <strong>des</strong> Jihad - oder durch den Kauf auf dem Sklavenmarkt. Die<br />

gefährlichste Diskriminierung, die die Fundamentalisten betreiben, wobei<br />

sie sie zu <strong>einer</strong> Sache <strong>des</strong> Glaubens machen, ist die Diskriminierung der<br />

Nicht-Muslime. Nicht nur ist der Nicht-Muslim dem Muslim nicht gleich,<br />

ein Muslim darf einen Nicht-Muslim demzufolge auch nicht zum<br />

Vorgesetzten haben, mit allen Konsequenzen, die sich daraus ergeben. Die<br />

Grundlage für diese Bestimmung findet sich, wie wir gesehen haben, im<br />

Auftrag an die Muslime: "Und bekämpft sie, damit die Zwietracht aufhört<br />

und nur noch Gott verehrt wird." (Sure 2 "Die Kuh", Vers 193). Und sogar,<br />

wenn die Ungläubigen Väter und Brüder sind: "O ihr, die ihr glaubt, nehmt<br />

nicht eure Väter noch eure Brüder zu Verbündeten, wenn sie den<br />

Unglauben dem Glauben vorziehen." (Sure 9 "Die Reue", Vers 23).<br />

Natürlich gehört hierher auch die folgende Stelle: "O ihr, die ihr glaubt,<br />

nehmt nicht die Juden und Christen zu Verbündteten. Sie sind<br />

untereinander Verbündete. Und wer sich mit ihnen verbündet, wird zu<br />

einem der ihren." (Sure 5 "Der Tisch", Vers 51). Gestützt auf diesen Vers<br />

hat Omar Bin Al-Chattab (der zweite Khalif) die Behandlung der<br />

Schriftbesitzer (Juden und Christen) festgelegt, und seine Bestimmungen<br />

werden von den Dogmatikern als heiliger Text behandelt. Es genügt, einige<br />

Stellen <strong>des</strong> Textes anzuführen:<br />

"Man soll mit den Schutzbefohlenen (Juden und Christen) an ihren<br />

Versammlungsorten nicht sprechen, sei es in ihren Kirchen oder


Synagogen oder Klöstern, ... und was davon zerstört wurde, soll nicht<br />

wiederaufgebaut werden. Und in ihren Kirchen sollen sie ihre Glocken nur<br />

leise läuten, und sie sollen darüber kein Kreuz anbringen. Und sie sollen<br />

sich bei ihren Festen nicht versammeln wie es die Muslime tun. Sie sollen<br />

für ihre Religion keine Mission treiben und zum Beitritt auffordern. Sie<br />

sollen in der Nachbarschaft von Muslimen keine Schweine mästen und<br />

keinen Alkohol verkaufen. Sie sollen sich nicht kleiden wie die Muslime,<br />

sich nicht gebärden wie diese und nicht wie sie sprechen. Sie sollen die<br />

Muslime in ihren Versammlungen achten, und sie sollen einen Muslim auf<br />

Reisen drei Tage lang beherbergen. Sie sollen zusammen mit einem<br />

Muslim kein Geschäft betreiben, es sei denn, der Muslim hat dabei die<br />

Geschäftsführung inne." (Ibn Al Qajim Djuseh: "Das Buch über die<br />

Schutzbefohlenen").<br />

Mahmud untersuchte diese Bestimmungen und stellte fest, daß sie alle zur<br />

ersten Botschaft <strong>des</strong> Islam gehörten. Er erklärte, daß die zweite Botschaft<br />

die völlige Gleichbehandlung der Menschen fordere und stützte sich dabei<br />

auf eine Reihe von Textstellen, worunter die wichtigste lautet:<br />

"O ihr Menschen! Siehe, wir haben euch als Mann und Frau erschaffen und<br />

zu Völkern und Stämmen gemacht, damit ihr einander kennenlernt. Siehe,<br />

derjenige unter euch gilt bei Gott am meisten, der der Frömmste ist." (Sure<br />

49 "Die Gemächer", Vers 13).<br />

Mahmud zufolge hebt dieser Vers die Diskriminierung zwischen den<br />

Menschen auf, da er nicht (wie die Verse der ersten Botschaft) speziell an<br />

die Gläubigen oder die Muslime gerichtet ist, sondern an "die Menschen"<br />

ganz allgemein. Der Vers hebt ausdrücklich insbesondere die<br />

Diskriminierung aufgrund <strong>des</strong> Geschlechts - Mann und Frau - auf, und<br />

aufgrund der ethnischen Herkunft - Völker und Stämme -, <strong>des</strong>gleichen hebt<br />

er aber ebenfalls die Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe oder der<br />

Religionszugehörigkeit auf. In diesem Zusammenhang läßt sich auch der<br />

Ausspruch <strong>des</strong> Propheten anführen: "Alle Menschen sind gleich wie die<br />

Zinken eines Kamms".<br />

Aus all dem Gesagten geht klar hervor, daß Mahmud die von den<br />

Dogmatikern entwickelte Theorie der Abrogation ablehnte. Mahmud<br />

sagte, daß die Verse der zweiten Botschaft, die von den Dogmatikern für<br />

abrogiert erklärt worden sind, in Wahrheit die göttliche Weisheit enthalten,<br />

die für die Menschheit eine fortschrittliche, auf Toleranz begründete<br />

Ordnung vorzeichnet, welche, wenn die Zeit dafür reif ist, von der<br />

Menschheit verwirklicht werden wird.<br />

Aber Mahmud blieb dem Prinzip verhaftet, vom Wortlaut <strong>des</strong> heiligen<br />

Textes auszugehen und ihn in s<strong>einer</strong> sprachlichen Bedeutung nach der<br />

Logik der Fundamentalisten zu behandeln, womit er sich der Logik bzw.<br />

der Denkmethode verschloß, die dem koranischen Denken eigentümlich,<br />

aber nicht in s<strong>einer</strong> rein sprachlichen Form zu finden ist. Das hat bei ihm<br />

zu gefährlichen Verwirrungen geführt, so daß es ihm beispielsweise nicht<br />

gelungen ist, die Theorie der Abrogation zu überwinden, welche aus dem<br />

koranischen Vers abgeleitet wird: "Wenn wir einen Vers aufheben oder in<br />

Vergessenheit bringen, so ersetzen wir ihn durch einen besseren oder


einen, der ihm gleich ist." (Sure 2 "Die Kuh", Vers 106). So blieb es<br />

Mahmud beispielsweise bis zuletzt, bis hin zu seinem <strong>Märtyrer</strong>tod, versagt,<br />

auf dem Weg der frommen Versenkung eine koranische Textstelle zu<br />

finden, die er denjenigen Koranversen hätte entgegensetzen können, in<br />

welchen solche Strafen für Kriminaldelikte festgelegt worden sind, wie sie<br />

in der heutigen Zeit nicht mehr akzeptabel sind, vielmehr von den<br />

internationalen Menschenrechtsabkommen, allen voran der<br />

Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen, sogar entschieden verurteilt<br />

werden.<br />

Die Rede ist von den sogenannten Hadd-Strafen, d.h. Strafen wie dem<br />

Auspeitschen, dem Abschneiden der rechten Hand oder der kreuzweisen<br />

Amputation (Abschneiden der rechten Hand und <strong>des</strong> linken Fußes), der<br />

Steinigung und der Kreuzigung. Mahmud verabscheute alle diese Strafen<br />

und fühlte sich gedrängt, zu erklären, daß man solange nicht daran denken<br />

könne, solche Strafen anzuwenden, wie nicht eine islamische Gesellschaft<br />

auf der Grundlage und nach den Bestimmungen der zweiten Botschaft <strong>des</strong><br />

Islam entstanden sei. Wenn man das jetzt schon täte, sei das eine Schande<br />

für den Islam und säe Zwietracht unter den Menschen.<br />

Abschließend läßt sich sagen, daß Mahmud ein islamischer Denker war,<br />

der ganz aus s<strong>einer</strong> Zeit, aus der Mitte <strong>des</strong> XX.Jahrhunderts heraus lebte,<br />

und der seine ganzen Kräfte daran setzte, den Islam als Religion zu<br />

verkünden, die sich auf der Höhe der Zeit befindet und deren Zeichen und<br />

Prinzipien Ausdruck gibt. An erster Stelle stand für ihn die<br />

Gleichberechtigung aller Menschen und die Verurteilung der Kriege als<br />

Mittel der Austragung von Differenzen. An deren Stelle sollte die<br />

Duldsamkeit gegenüber dem Anderen treten und der Dialog mit ihm im<br />

Geist der Toleranz und <strong>des</strong> guten Willens. Eine Religion, die die<br />

Menschheit nicht an ihrer Entwicklung hindert oder daran, sich für ein<br />

wirtschaftliches oder politisches System zu entscheiden, das geeignet ist,<br />

Gerechtigkeit und Gleichberechtigung zwischen den Menschen und die<br />

Demokratie zu verwirklichen.<br />

Deshalb trat er mit Entschiedenheit der fundamentalistischen Offensive<br />

entgegen, die der sudanesische Staatschef Numeiri einleitete, als er im<br />

September 1983 im Sudan die Scharia in ihrer fundamentalistischen Form<br />

einführte. Er verbreitete ein mutiges Flugblatt, in dem er die betreffenden<br />

Gesetze kritisierte und sie als eine Verunglimpfung der Scharia und als<br />

eine Schändung <strong>des</strong> Islam verurteilte und voraussagte, daß sie das<br />

sudanesische Volk in religiöse und ethnische Konflikte treiben, das Feuer<br />

<strong>des</strong> Bürgerkriegs schüren und dadurch die nationale Einheit <strong>des</strong> Sudan<br />

zerstören würden. In dieser Flugblattaktion sahen die Fundamentalisten<br />

eine günstige Gelegenheit, sich Mahmuds und der von ihm verbreiteten<br />

Gedanken zu entledigen.<br />

Sie betrieben seine Verhaftung aufgrund <strong>einer</strong> richterlichen Verfügung, die<br />

juristisch auf äußerst schwachen Füßen stand. Man ging dabei aus von<br />

einem Tatbestand, der im fundamentalistischen Sinne ein<br />

Kapitalverbrechen darstellt und sich auf den Ausspruch <strong>des</strong> Propheten<br />

gründet: "Wer seinen Glauben wechselt, den tötet." Dabei stützten sie die


Anklage der Abtrünnigkeit auf eine Regel, die ursprünglich eine<br />

sprachliche Regel, aber von den Dogmatikern zu <strong>einer</strong> Glaubensregel<br />

erhoben worden war, wonach <strong>einer</strong>, der etwas leugnet, von dem er weiß,<br />

daß es unabdingbar zum Glauben gehört, als ketzerischer Ungläubiger zu<br />

behandeln ist. Wenn also Mahmud die Pflicht zur Anwendung von Gottes<br />

Scharia leugnete, mußte man ihn als vom Islam Abtrünnigen betrachten. Er<br />

wurde zum Tode verurteilt und am 18.Januar 1985 hingerichtet. Und so<br />

starb Mahmud als Blutzeuge jener heiligen Texte, mit deren Hilfe er<br />

versucht hatte, die fundamentalistische Gedankenwelt zu durchbrechen.<br />

(Übersetzung aus dem Arabischen von Peter-Anton von Arnim)<br />

Zur Ergänzung dieses Artikels:<br />

Erklärung von Mahmud Mohammed Taha am 14.Januar 1985 (vier Tage<br />

vor s<strong>einer</strong> Hinrichtung) zu dem gegen ihn wegen Ketzerei eingeleiteten<br />

Gerichtsverfahren, an dem teilzunehmen er sich weigerte:<br />

"Ich habe zu wiederholten Malen meine Meinung zu den<br />

Septembergesetzen von 1983 erklärt , und zwar, daß sie im Widerspruch<br />

stehen zur Scharia und zum Islam, ja noch schlimmer, daß sie die Scharia<br />

und den Islam verunglimpfen und zum Schreckbild werden lassen,<br />

darüberhinaus, daß sie geschaffen und dazu eingesetzt worden sind, das<br />

Volk zu terrorisieren und es auf dem Weg der Demütigung zum Schweigen<br />

zu bringen, und schließlich, daß sie die Einheit <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> in Gefahr<br />

bringen. Soweit, was ihren theoretischen Aspekt betrifft.<br />

Was nun ihre Anwendung anlangt, so fehlt den Richtern, die unter diesen<br />

Gesetzen ihre Richterstühle eingenommen haben, die berufliche<br />

Qualifikation, und sie sind moralisch so schwach, daß sie sich dem Einfluß<br />

der Exekutivgewalt nicht zu entziehen vermögen, die sie dazu gebraucht,<br />

die Grundrechte mit Füßen zu treten und den Islam zu verunglimpfen und<br />

das Volk zu demütigen und den freien Gedanken und die Denker zu<br />

verhöhnen.<br />

Aus diesem Grunde bin ich nicht bereit, mit einem Gericht<br />

zusammenzuarbeiten, das die Freiheit unabhängiger Richter verleugnet ,<br />

und das sich dazu hergibt, ein Instrument zu sein zur Demütigung <strong>des</strong><br />

Volkes und zur Verhöhnung <strong>des</strong> freien Gedankens und zur Fesselung der<br />

politischen Opposition."<br />

(Aus dem Arabischen von Peter-Anton von Arnim)<br />

Lebenslauf von Mahmud Mohammed Taha<br />

Peter-Anton von Arnim<br />

Mahmud Mohammed Taha wurde 1909 in der Ortschaft Rufa'a am Ostufer<br />

<strong>des</strong> Blauen Nils im mittleren Sudan geboren. 1936 schloß er seine


Ausbildung am Gordon Memorial College (dem Institut, aus dem die<br />

Universität Khartoum hervorgegangen ist) als Bewässerungsingenieur ab<br />

und arbeitete fünf Jahre als Angestellter der Eisenbahngesellschaft Sudan<br />

Railways. Am 26.10.1945 gründete er zusammen mit einigen anderen<br />

Intellektuellen die Republikanische Partei. Sie trat ein für einen von<br />

Ägypten unabhängigen, einheitlichen Nationalstaat mit einem<br />

demokratischen, republikanischen Regierungssystem. Wegen<br />

antikolonialistischer Agitation wurde Mahmud von den Briten drei Jahre<br />

lang, von 1946-1948 ins Gefängnis gebracht. Das war die Zeit, in der er<br />

sich intensiv der islamischen Mystik (dem Sufismus) zuwandte und sich<br />

ganz dem Gebet, dem Fasten und der Meditation widmete.<br />

Diese Beschäftigung mit der Mystik setzte er nach s<strong>einer</strong> Entlassung fort,<br />

indem er sich an seinen Heimatort Rufa'a zurückzog und dort weitere drei<br />

Jahre in selbstgewählter, religiös bestimmter Absonderung lebte. Mit den<br />

in dieser Zeit gewonnenen Einsichten trat er 1951 vor seine<br />

Anhängerschaft und gab der Partei eine neue Ausrichtung als religiöspolitische<br />

<strong>Erneuerung</strong>sbewegung. Mahmud entfaltete in den folgenden<br />

Jahren eine rege literarische Tätigkeit mit Stellungnahmen zu<br />

theologischen Fragen und zur politischen Entwicklung im Sudan.<br />

Insbesondere wandte er sich gegen die Absichten der traditionellen<br />

Parteien, eine an der orthodoxen Scharia orientierte angeblich islamische<br />

Staatsordnung zu schaffen und erklärte, der vorgelegte Verfassungsentwurf<br />

sei weder demokratisch noch islamisch, da er Frauen und Nicht-Muslime<br />

diskriminiere.<br />

1966 und 1967 erschienen seine Hauptschriften, "Der Weg Mohammeds"<br />

und "Die zweite Botschaft <strong>des</strong> Islam". Ein Jahr danach, im November<br />

1968, wurde er auf Betreiben eines Fundamentalisten von dem Obersten<br />

Scharia-Gerichtshof in Khartoum zum ersten Mal der Apostasie angeklagt<br />

und für schuldig befunden. Er hatte sich geweigert, vor Gericht zu<br />

erscheinen, mit der Begründung, es gebe im geltenden Recht keine<br />

gesetzliche Bestimmung, die Apostasie unter Strafe stelle, überhaupt aber<br />

unterlägen für ihn Glaubensfragen grundsätzlich nicht der Justiz. Das<br />

Urteil hatte zunächst keine unmittelbaren Folgen.<br />

Die Bemühungen der beiden großen traditionalistisch-sektiererischen<br />

Parteien, insbesondere der Umma-Partei unter Führung Sadiq el Mahdis,<br />

im Sudan eine islamische Verfassung einzuführen, die kurz vor dem<br />

Abschluß standen, wurden am 25.Mai 1969 vereitelt durch den Putsch<br />

<strong>einer</strong> mit linken Nationalisten verbündeten Gruppe nasseristisch<br />

gesonnener Offiziere unter Führung von Oberst Jaafar Mohammed<br />

Numeiri. Vom Parteienverbot <strong>des</strong> neuen Regimes war auch die Bewegung<br />

Mahmuds betroffen, die sich aber sowieso schon seit längerem nicht mehr<br />

als Partei verstanden hatte. Sie gab sich nunmehr den Namen<br />

"Republikanische Brüder", setzte aber die Agitation für die Gedanken ihres<br />

"Ustadh", ihres "Meisters" Mahmud Mohammed Taha, in aller<br />

Öffentlichkeit fort. Die Republikanischen Brüder unterstützten Numeiri<br />

insoweit, als er die Einführung <strong>einer</strong> sogenannten islamischen Verfassung<br />

verhindert hatte, den Einfluß der Traditionalisten und Fundamentalisten<br />

zurückdrängte und darum bemüht war, die Einheit <strong>des</strong> durch einen


Bürgerkrieg zerissenen Lan<strong>des</strong> auf dem Verhandlungsweg<br />

wiederherzustellen.<br />

Diese Haltung <strong>einer</strong> kritischen Unterstützung mußten sie fast über Nacht<br />

aufgeben, als im September 1983 Numeiri per Präsidialdekret ein eilig von<br />

ihm hörigen Juristen zusammengestoppeltes Strafgesetzbuch, das die im<br />

Koran vorgeschrieben Körperstrafen wie Auspeitschung, Amputation von<br />

Gliedmaßen, Kreuzigung und Steinigung einführte, aber sonst mit dem<br />

Koran nichts zu tun hatte, unter dem Etikett Scharia als Gesetz <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong><br />

verkündete und sich selbst als Imam den Treueid schwören ließ. Mahmud<br />

Mohammed Taha und die Republikanischen Brüder organisierten den<br />

Widerstand, indem sie die Legitimität der Dekrete bestritten und sie als<br />

verwerflichen Mißbrauch <strong>des</strong> Islams verurteilten.<br />

Ein Jahr in Isolationshaft ohne Gerichtsverfahren im Kober-Gefängnis von<br />

Khartoum konnte den Widerstandsgeist von Mahmud Mohammed Taha<br />

nicht brechen. Am 19.Dezember 1984 aus dem Gefängnis entlassen,<br />

brandmarkte er erneut auf <strong>einer</strong> Studentenversammlung und in einem<br />

Flugblatt mit dem Titel "Dieses - oder die Sintflut" die von Numeiri als<br />

Scharia eingeführten Gesetze als Verhöhnung <strong>des</strong> Islam und Gefahr für die<br />

Einheit <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong>. Kurz darauf, am 5.1.1985 wurde er erneut verhaftet,<br />

und nunmehr wurde gegen ihn ein Verfahren wegen Verstoßes gegen das<br />

Gesetz über die Staatssicherheit eröffnet. In einem Schnellverfahren, das<br />

von Mahmud und seinen vier mitangeklagten Republikanischen Brüdern<br />

wegen Inkompetenz <strong>des</strong> Gerichts boykottiert wurde, wurde das To<strong>des</strong>urteil<br />

verhängt.<br />

Im Volk herrschte aber bereits eine spürbar so regierungsfeindliche<br />

Stimmung und das Urteil rief eine solche Empörung hervor, daß sich das<br />

Numeiri-Regime gezwungen sah, eine Revisionsverhandlung<br />

anzuberaumen, in der ein ganz neuer Anklagepunkt eingeführt wurde,<br />

nämlich die Anklage wegen Apostasie. Allerdings gab es auch in der neuen<br />

Gesetzgebung noch keinen Paragraphen, der Apostasie unter Strafe gestellt<br />

hätte . Man stützte sich <strong>des</strong>halb auf einen Paragraphen aus dem Gesetz<br />

über die Grundlagen der Urteilsfindung, der dem <strong>des</strong> Strafgesetzbuches <strong>des</strong><br />

Dritten Reiches über das gesunde Volksempfinden nachgebildet war:<br />

Danach war es ins freie Ermessen <strong>des</strong> Richters gestellt, zu bestimmen, was<br />

dem Geist der Scharia widerspricht und entsprechend strafbar ist, und die<br />

ihm angemessen scheinende Strafe festzusetzen.<br />

Mahmud Mohamed Taha wurde, den Wünschen Numeiris folgend, am<br />

15.Januar 1985 zum Tode verurteilt und drei Tage später, am 18.Januar<br />

1985, hingerichtet. Seitdem wird der 18.Januar von der arabischen<br />

Organisation für Menschenrechte als jährlicher Gedenktag begangen.<br />

Lebenslauf von Taha Ibrahim<br />

Peter-Anton von Arnim<br />

Taha Ibrahim Mohammed Abdallah wurde in der Stadt Toker im Ostsudan


geboren.<br />

Taha Ibrahim studierte Jura an der Khartoumer Zweigstelle der Kairoer<br />

Universität. Bereits in s<strong>einer</strong> Jugend war er politisch aktiv (Widerstand<br />

gegen Kolonialismus, gegen die Militärdiktatur Ibrahim Abbouds),<br />

weswegen er mehrmals inhaftiert wurde (insgesamt verbrachte er 1,5 Jahre<br />

im Gefängnis). Nach der Machtergreifung <strong>des</strong> Diktators Numeiri war er<br />

unermüdlich als Mitglied der Rechtsanwaltskammer und deren zeitweiliger<br />

Sekretär am Widerstandkampf gegen <strong>des</strong>sen Regime beteiligt. Dies brachte<br />

ihm wiederum mehrfache Verhaftungen ein (vier Jahre).<br />

Als im Januar 1985 Mahmud Mohammed Taha vor Gericht gebracht und<br />

hingerichtet wurde, ging auch gegen Taha Ibrahim ein Haftbefehl aus<br />

wegen s<strong>einer</strong> Opposition gegen die von Numeiri im September 1983<br />

verkündeten Scharia-Gesetze (die sogenannten September-Gesetze), und<br />

auch ihm drohte die To<strong>des</strong>strafe. Er konnte sich jedoch durch die Flucht<br />

über die östliche Grenze retten und kehrte erst nach dem Sturz Numeiris,<br />

am 13.4.1985, nach Khartoum zurück.<br />

Er hat mehr als zwanzig größere Werke verfaßt, von denen die meisten<br />

noch nicht gedruckt worden sind, u. a. ein Buch über Numeiris Scharia-<br />

Gesetze (September-Gesetze). Nach dem Sturz Numeiris machten es die<br />

wiederhergestellten rechtsstaatlichen Verhältnisse möglich, daß Taha<br />

Ibrahim - im Namen seines vom Numeiri-Regime hingerichteten Freun<strong>des</strong><br />

Mahmud Mohammed Taha und im Auftrag von <strong>des</strong>sen Tochter Asma -<br />

einen Prozeß gegen den sudanesischen Staat führte, worin er diesen auf die<br />

Herausgabe der vom Numeiri-Regime beschlagnahmten (bescheidenen)<br />

Besitztümer <strong>des</strong> <strong>Märtyrer</strong>s und <strong>des</strong>sen Rehabilitierung verklagte; mit<br />

Erfolg.<br />

Nach dem Militärputsch vom Juni 1989, gelang Taha Ibrahim erneut die<br />

Flucht ins Ausland. Er lebt jetzt im Exil in Kairo und arbeitet zur Zeit u.a.<br />

an einem Buch über die Ursprünge <strong>des</strong> Fundamentalismus und an einem<br />

über die dem Koran zugrundeliegende Denkmethode.

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