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Macht! (357) die Herausforderung des Unglücks (Receptbuch) (358 ...

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<strong>Macht</strong>!<br />

(<strong>357</strong>) <strong>die</strong> <strong>Herausforderung</strong> <strong>des</strong> <strong>Unglücks</strong> (<strong>Receptbuch</strong>)<br />

(<strong>358</strong>) zur Erkenntnißlehre: innere Phänomenalität<br />

(359) Wahrhaftigkeit — was sie ist?<br />

(360) Freude, überall <strong>die</strong> Immoralität wieder zu entdecken<br />

(361) der wirkliche Mensch mehr werth als der wünschbare!<br />

(362) Vorrede: Heraufkunft <strong>des</strong> Nihilismus(1687)<br />

(363) Subjekt, Objekt<br />

(364) „Hunger“ im Protoplasm<br />

(365) der Widersinn im Gottesbegriff: wir leugnen „Gott“<br />

in Gott<br />

Page Break KGW='VIII-2.455' KSA='13.211'<br />

(366) der praktische Nihilist<br />

(367) Wir — enttäuscht über das „Ideal“<br />

(368) Spott: „seid einfach!“<br />

(369) Auswahl der Gleichen, der „Auszug“, <strong>die</strong> Isolation<br />

(<strong>Receptbuch</strong>)<br />

(370) gegen <strong>die</strong> „Gerechtigkeit“ (<strong>Receptbuch</strong>)<br />

(371) Volk: Verwandtschaft-Instinkt<br />

(372) <strong>die</strong> drei Ideale<br />

heidnisch; anämisch; widernatürlich<br />

Aphorism n=12148 id='VIII.12[2]' kgw='VIII-2.455' ksa='13.211'<br />

12. 4. Lebens-Recepte für uns.<br />

1. 1. Der Nihilismus, vollkommen zu Ende<br />

gedacht.<br />

2 1. Cultur, Civilisation, <strong>die</strong> Zweideutigkeit <strong>des</strong><br />

„Modernen“.<br />

3. 2. Die Herkunft <strong>des</strong> Ideals.<br />

4. 2. Kritik <strong>des</strong> christlichen Ideals.<br />

5. 2. Wie <strong>die</strong> Tugend zum Siege kommt.<br />

6. 2. Der Heerden-Instinkt.<br />

10. 4. Die „ewige Wiederkunft“<br />

11. 4. Die große Politik.<br />

7. 3. Der „Wille zur Wahrheit“.<br />

8. 3. Moral als Circe der Philosophen<br />

9. 3. Psychologie <strong>des</strong> „Willens zur <strong>Macht</strong>“<br />

(Lust, Wille, Begriff usw.<br />

Page Break KGW='VIII-2.456' KSA='13.212'<br />

VIII-3<br />

Nachgelassene Fragmente Anfang 1888 bis Anfang Januar 1889<br />

[ 13 = Z II 3b. Anfang 1888 bis Frühjahr 1888 ]<br />

Page Break KGW='VIII-3.1' KSA='13.213'


Aphorism n=12149 id='VIII.13[1]' kgw='VIII-3.1' ksa='13.213'<br />

Werden und Sein.<br />

Der Gesichtspunkt <strong>des</strong> Werths. Was sind Werthe?<br />

In wiefern Lust und Unlust keine letzten<br />

Werthmaße sind.<br />

Wie man <strong>die</strong> Tugend zur Herrschaft bringt.<br />

Charakteristik <strong>des</strong> Christenthums<br />

der griechischen Philosophie<br />

Der Egoismus als Mißverständniß.<br />

Der zukünftige Europäer.<br />

Metamorphosen <strong>des</strong> Nihilismus:<br />

<strong>die</strong> libertinage <strong>des</strong> Geistes, <strong>die</strong> vagabondage<br />

<strong>die</strong> Descendenz Rousseaus:<br />

der Heerdeninstinkt<br />

Aphorism n=12150 id='VIII.13[2]' kgw='VIII-3.1' ksa='13.213'<br />

Der Mangel an Sinn; Werth <strong>des</strong> Nächsten, der kleine Sinn;<br />

Rangordnung.<br />

Page Break KGW='VIII-3.4' KSA='13.214'<br />

Der große Mittag ( — <strong>die</strong> zwei Wege.) Vom Vorrecht<br />

der Wenigsten.<br />

Psychologie (Affektenlehre) als Morphologie <strong>des</strong> Willens zur<br />

<strong>Macht</strong>. (Nicht „Glück“ als Motiv)<br />

Die metaphysischen Werthe reduzirt.<br />

Physiologie <strong>des</strong> Willens zur <strong>Macht</strong>.<br />

Zur Geschichte <strong>des</strong> Nihilismus ( — Eudämonismus als eine<br />

Form <strong>des</strong> Gefühls von Sinnlosigkeit <strong>des</strong> Ganzen).<br />

Was Moralisten und Moralsysteme bedeuten?<br />

Lehre von den Herrschaftsgebilden. Egoism. Altruism.<br />

„Heerde“.<br />

Der Wille zur <strong>Macht</strong> in der Geschichte<br />

(Herrschaft über <strong>die</strong> Naturkräfte, das wirthschaftliche Leben<br />

Kosmologische Perspektive.<br />

Abhängigkeit der Kunst-Werthe. Was ist klassisch?<br />

„schön“? romantisch? usw.<br />

Die ewige Wiederkunft.


Aphorism n=12151 id='VIII.13[3]' kgw='VIII-3.4' ksa='13.214'<br />

I. Zur Geschichte <strong>des</strong> europäischen Nihilism. (Mißverständniß<br />

<strong>des</strong> Pessimismus.<br />

woran es fehlt? Wesentlich: der<br />

Sinn fehlt)<br />

Niedergang aller übrigen höchsten Werthe Die idealisirende<br />

Kraft hat sich auf<br />

das umgekehrte<br />

geworfen<br />

I. Der Wille zur Wahrheit. Ausgangspunkt: Niedergang<br />

<strong>des</strong> Werthes „Wahrheit“.<br />

— Die herrschaftlichen Typen bisher. Niedergang <strong>des</strong><br />

herrschaftlichen Typus.<br />

IV Zur Lehre von der ewigen Wiederkunft. Als Hammer.<br />

— Zur Geschichte der Rangordnung<br />

1 Physiologie: <strong>die</strong> organischen Funktionen<br />

Page Break KGW='VIII-3.5' KSA='13.215'<br />

2 Psychologie der Affekte<br />

II. Was Moralisten und Moralsysteme bedeuten.<br />

IV Wir Zukünftigen. Vom Vorrecht der Wenigsten und vom<br />

Vorrecht der Meisten<br />

II Herkunft der höchsten Werthbegriffe („Metaphysik“)<br />

„Heerde“; „guter Mensch“ usw. Herrschaftsgebilde.<br />

II Die ästhetischen Werthe, Ursprung, Kritik.<br />

IV Rangordnung der Werthe.<br />

Aphorism n=12152 id='VIII.13[4]' kgw='VIII-3.5' ksa='13.215'<br />

A. Von der Heraufkunft <strong>des</strong> Nihilismus.<br />

1. „Wahrheit“. Vom Werthe der Wahrheit. Der Glaube an<br />

<strong>die</strong> Wahrheit. — Niedergang <strong>die</strong>ses höchsten Werthes.<br />

Summirung alles <strong>des</strong>sen, was gegen ihn gethan ist.<br />

2. Niedergang von jeder Art Glaubens.<br />

3. Niedergang aller herrschaftlichen Typen<br />

B. Von der Nothwendigkeit <strong>des</strong> Nihilismus.<br />

4. Herkunft der höchsten bisherigen Werthe.<br />

5. Was Moralisten und Moralsysteme bedeuten.<br />

6. Zur Kritik der ästhetischen Werthe.<br />

C. Von der Selbstüberwindung <strong>des</strong> Nihilismus.<br />

7. Der Wille zur <strong>Macht</strong>: psychologische Betrachtung.<br />

8. Der Wille zur <strong>Macht</strong>: physiologische Betrachtung.<br />

9. Der Wille zur <strong>Macht</strong>: historisch-sociologische Betrachtung<br />

D. Die Überwinder und <strong>die</strong> Überwundenen.<br />

10. Vom Vorrecht der Wenigsten.


11. Der Hammer: Lehre von der ewigen Wiederkunft.<br />

12. Von der Rangordnung der Werthe.<br />

Je<strong>des</strong> Buch 150 Seiten.<br />

Je<strong>des</strong> Capitel 50<br />

Page Break KGW='VIII-3.6' KSA='13.216'<br />

Aphorism n=12153 id='VIII.13[5]' kgw='VIII-3.6' ksa='13.216'<br />

Du bist fern:<br />

weder Liebe noch Haß.<br />

Wie an einer alten Festung,<br />

Besinne dich!<br />

Page Break KGW='VIII-3.7' KSA='13.217'<br />

[ 14 = W II 5. Frühjahr 1888 ]<br />

Nizza, den 25. März 1888.<br />

Aphorism n=12154 id='VIII.14[1]' kgw='VIII-3.7' ksa='13.217'<br />

Kunst. Vorrede<br />

Über Kunst zu reden verträgt sich bei mir nicht mit<br />

sauertöpfischen Gebärden: ich will von ihr reden, wie ich mit mir<br />

selber rede, auf wilden und einsamen Spaziergängen, wo ich<br />

mitunter ein frevelhaftes Glück und Ideal in mein Leben herunter<br />

erhasche. Sein Leben zwischen zarten und absurden Dingen<br />

verbringen; der Realität fremd; halb Künstler, halb Vogel und<br />

Metaphysikus; ohne Ja und Nein für <strong>die</strong> Realität, es sei denn<br />

daß man sie ab und zu in der Art eines guten Tänzers mit den<br />

Fußspitzen anerkennt; immer von irgend einem Sonnenstrahle<br />

<strong>des</strong> Glücks gekitzelt; ausgelassen und ermuthigt selbst durch<br />

Trübsal — denn Trübsal erhält den Glücklichen —; einen<br />

kleinen Schwanz von Posse auch noch dem Heiligsten<br />

anhängend — <strong>die</strong>s, wie sich von selbst versteht, das Ideal eines<br />

schweren, zentnerschweren Geistes, eines Geistes der<br />

Schwere…<br />

Aphorism n=12155 id='VIII.14[2]' kgw='VIII-3.7' ksa='13.217'<br />

Homoeopathica<br />

Die Wirkung von Infinitesimal-Dosen ist spezifisch<br />

bei Nervenkranken: ego.


Page Break KGW='VIII-3.10' KSA='13.218'<br />

„man ist um so unglücklicher als man intelligent ist“<br />

Schopenhauer<br />

Aphorism n=12156 id='VIII.14[3]' kgw='VIII-3.10' ksa='13.218'<br />

Die unbemerkbaren Phasen: <strong>die</strong> der Erregung, bald<br />

<strong>die</strong> der Erschöpfung<br />

Der hypnotische Schlummer kann durch alle Sorten<br />

sensorieller Erregungen (<strong>des</strong> Gesichts, Gehörs, Geruchs) herbeigeführt<br />

werden, nur müssen sie genügend stark und lang sein: der erste<br />

Effekt ist immer der einer allgemeinen Steigerung der Beweglichkeit.<br />

Endlich aber Erschöpfung de l'influx cérébral. Die<br />

Erregung setzt eine Kraft in Spiel, <strong>die</strong> sich erschöpft …<br />

Aphorism n=12157 id='VIII.14[4]' kgw='VIII-3.10' ksa='13.218'<br />

Psychologica<br />

Die Begierde, angenehm, wenn man sich stark genug<br />

glaubt, <strong>die</strong> Objekte zu erreichen<br />

als Vorstellung von dem, was unser Gefühl von <strong>Macht</strong><br />

mehren wird: erster Anfang <strong>des</strong> Vergnügens<br />

sonst unangenehm; und bald gegen sich einnehmend.<br />

Die Begierde wird ein Nothstand: wie bei<br />

Schopenhauer.<br />

Aphorism n=12158 id='VIII.14[5]' kgw='VIII-3.10' ksa='13.218'<br />

Religion. décadence<br />

Die Gefährlichkeit <strong>des</strong> Christenthums<br />

Trotzdem daß das Christenthum <strong>die</strong> Lehre von der Uneigennützigkeit<br />

und Liebe in den Vordergrund gerückt hat, bleibt<br />

seine eigentliche historische Wirkung <strong>die</strong> Steigerung <strong>des</strong><br />

Egoismus <strong>des</strong> Individual-Egoismus bis in sein äußerstes<br />

Extrem — das Extrem ist der Glaube an eine Individual-Unsterblichkeit.<br />

Der Einzelne war so wichtig geworden, daß man ihn<br />

nicht mehr opfern konnte: vor Gott waren <strong>die</strong> „Seelen“<br />

gleich. Das heißt aber das Leben der Gattung auf <strong>die</strong> gefährlichste<br />

Page Break KGW='VIII-3.11' KSA='13.219'<br />

Weise in Frage stellen: das begünstigte eine Praxis, welche<br />

der Gegensatz <strong>des</strong> Gattungs-Interesses ist. Der Altruismus <strong>des</strong>


Christenthums ist eine lebensgefährliche Conception: es<br />

setzt jeden einander gleich …<br />

Damit ist aber der natürliche Gang der Entwicklung(1688) …<br />

und alle natürlichen Werthe umgestoßen. Wenn der Kranke<br />

so viel Werth haben soll wie der Gesunde (oder gar noch mehr,<br />

nach Pascal)<br />

Diese allgemeine Menschenliebe, in praxi <strong>die</strong> Bevorzugung<br />

aller Leidenden, Schlechtweggekommenen, Kranken<br />

hat thatsächlich <strong>die</strong> Kraft, Menschen zu opfern,<br />

abgeschwächt: sie hat <strong>die</strong> Verantwortlichkeit darauf reduziren<br />

wollen, sich zu opfern: — aber gerade <strong>die</strong>ser absurde persönliche<br />

Altruismus hat, vom Standpunkte der Züchtung aus,<br />

gar keinen Werth. Wenn man darauf warten wollte, wie<br />

viele sich selber opfern zur Erhaltung der Gattung, so wäre man<br />

genarrt …<br />

alle großen Bewegungen, Kriege usw. bringen <strong>die</strong> Menschen<br />

dazu, sich zu opfern: es sind <strong>die</strong> Starken, <strong>die</strong> auf <strong>die</strong>se Weise<br />

fortwährend ihre Zahl vermindern …<br />

dagegen haben <strong>die</strong> Schwachen einen erschrecklichen<br />

Instinkt, sich zu schonen, sich zu erhalten, sich gegenseitig<br />

zu halten …<br />

<strong>die</strong>se „Gegenseitigkeit der Erhaltung“ soll beinahe <strong>die</strong><br />

Tugend und jedenfalls <strong>die</strong> Menschenliebe sein! … typisch: sie<br />

wollen vom Staate geschützt sein, sie meinen, das „sei <strong>des</strong>sen<br />

oberste Pflicht!“<br />

unter dem allgemeinen Lobe <strong>des</strong> „Altruismus“ verbirgt sich<br />

der Instinkt, daß wenn alle für einander sorgen, der Einzelne am<br />

besten bewahrt bleibt… es ist der Egoismus der Schwachen,<br />

der das Lob, das ausschließliche Lob <strong>des</strong> Altruismus<br />

geschaffen hat …<br />

Die gefährliche Antinatürlichkeit <strong>des</strong> Christenthums:<br />

— sie kreuzt <strong>die</strong> Selektion —<br />

Page Break KGW='VIII-3.12' KSA='13.220'<br />

1) sie erfindet einen imaginären Werth der Person, so<br />

ausschweifend und wichtig, daß ungefähr jeder gleich werth ist<br />

2) sie stellt den Schutz-Selbsterhaltungstrieb der<br />

Schwachen unter sich als höchstes Werthmaß hin,<br />

sie befeindet nichts mehr als was wie <strong>die</strong> Natur mit<br />

Schwachen und Schlechtweggekommenen handelt: schädigend,<br />

ausnützend, zerstörend …<br />

3) sie will nicht Wort haben, daß der höchste Typus Mensch der<br />

wohlgerathene und glückliche ist … sie ist <strong>die</strong> Verleumdung,<br />

<strong>die</strong> Vergiftung, <strong>die</strong> Anbröckelung aller Natur-Werthung<br />

Aphorism n=12159 id='VIII.14[6]' kgw='VIII-3.12' ksa='13.220'<br />

Wille zur <strong>Macht</strong> als Moral


Die Zusammengehörigkeit aller Corruptions-Formen zu<br />

begreifen; und dabei nicht <strong>die</strong> christliche Corruption zu vergessen<br />

Pascal als Typus<br />

ebensowenig <strong>die</strong> socialistisch-communistische Corruption<br />

(eine Folge der christlichen)<br />

höchste Societäts-Conception der Socialisten <strong>die</strong><br />

niederste in der Rangordnung der Societäten<br />

<strong>die</strong> „Jenseits“-Corruption: wie als ob es außer der<br />

wirklichen Welt, der <strong>des</strong> Werdens, eine Welt <strong>des</strong> Seienden gäbe<br />

Hier darf es keinen Vertrag geben: hier muß man ausmerzen,<br />

vernichten, Krieg führen — man muß das christlich-nihilistische<br />

Werthmaß überall noch hinausziehen und es<br />

unter jeder Maske bekämpfen … Aus der jetzigen Sociologie<br />

zum Beispiel, aus der jetzigen Musik z.B. aus dem jetzigen<br />

Pessimismus ( — alles Formen <strong>des</strong> christlichen Werthideals — )<br />

Entweder Eins oder das Andere ist wahr: wahr d.h.<br />

hier den Typus Mensch emporhebend …<br />

Der Priester, der Seelsorger, als verwerfliche Daseins-Formen<br />

<strong>die</strong> gesammte Erziehung bisher hülflos, haltlos, ohne<br />

Schwergewicht, mit dem Widerspruch der Werthe behaftet —<br />

Page Break KGW='VIII-3.13' KSA='13.221'<br />

Aphorism n=12160 id='VIII.14[7]' kgw='VIII-3.13' ksa='13.221'<br />

Zur Modernität.<br />

Die Feigheit vor der Consequenz — das moderne<br />

Laster.<br />

Romantik: <strong>die</strong> Feindschaft<br />

gegen <strong>die</strong> Renaissance (Chateaubriand, R. Wagner)<br />

gegen das antike Werthideal<br />

gegen <strong>die</strong> dominirende Geistigkeit<br />

gegen den klassischen Geschmack, den einfachen, den<br />

strengen, den großen Stil<br />

gegen <strong>die</strong> „Glücklichen“<br />

gegen <strong>die</strong> „Kriegerischen“<br />

Aphorism n=12161 id='VIII.14[8]' kgw='VIII-3.13' ksa='13.221'<br />

Werth …<br />

Das höchste Quantum <strong>Macht</strong>, das der Mensch sich<br />

einzuverleiben vermag<br />

der Mensch: nicht <strong>die</strong> Menschheit …<br />

<strong>die</strong> Menschheit ist viel eher noch ein Mittel, als ein Ziel. Es<br />

handelt sich um den Typus: <strong>die</strong> Menschheit ist bloß das<br />

Versuchsmaterial, der ungeheure Überschuß <strong>des</strong> Mißrathenen, ein<br />

Trümmerfeld …


Aphorism n=12162 id='VIII.14[9]' kgw='VIII-3.13' ksa='13.221'<br />

Nihilismus<br />

Nichts wäre nützlicher und mehr zu fördern als ein<br />

consequenter Nihilismus der That<br />

: so wie ich alle Phänomene <strong>des</strong> Christenthums, <strong>des</strong> Pessimismus<br />

verstehe, so drücken sie aus „wir sind reif, nicht zu sein; für<br />

uns ist es vernünftig, nicht zu sein“<br />

<strong>die</strong>se Sprache der „Vernunft“ wäre in <strong>die</strong>sem Falle auch <strong>die</strong><br />

Sprache der selektiven Natur<br />

Was über alle Begriffe dagegen zu verurtheilen ist, das ist <strong>die</strong><br />

zweideutige und feige Halbheit einer Religion, wie <strong>die</strong> <strong>des</strong><br />

Page Break KGW='VIII-3.14' KSA='13.222'<br />

Christenthums: deutlicher, der Kirche: welche, statt<br />

zum Tode und zur Selbstvernichtung zu ermuthigen, alles<br />

Mißrathene und Kranke schützt und sich selbst fortpflanzen macht —<br />

Problem: mit was für Mitteln würde eine strenge Form <strong>des</strong><br />

großen contagiösen Nihilism erzielt werden: eine solche,<br />

welche, mit wissenschaftlicher Gewissenhaftigkeit, den freiwilligen<br />

Tod lehrt und übt … (und nicht das schwächliche Fortvegetiren<br />

mit Hinsicht auf eine falsche Postexistenz — )<br />

Man kann das Christenthum nicht genug verurtheilen, weil<br />

es den Werth einer solchen reinigenden großen Nihilismus-Bewegung,<br />

wie sie vielleicht im Gange war, durch den Gedanken<br />

der unsterblichen Privat-Person entwerthet hat:<br />

insgleichen durch <strong>die</strong> Hoffnung auf Auferstehung: kurz, immer<br />

durch ein Abhalten von der That <strong>des</strong> Nihilismus, dem<br />

Selbstmord … Es substituirte den langsamen Selbstmord;<br />

allmählich ein kleines armes aber dauerhaftes Leben; allmählich ein<br />

ganz gewöhnliches bürgerliches mittelmäßiges Leben usw.<br />

Aphorism n=12163 id='VIII.14[10]' kgw='VIII-3.14' ksa='13.222'<br />

Religion als décadence<br />

Kritik <strong>des</strong> Christenthums<br />

Es bedarf großer Selektions- und Reinigungs-Krisen:<br />

jedenfalls durch nihilistische Religionen und<br />

Philosophien eingeführt.<br />

Man begreift, daß das Christenthum etwas unsterblich<br />

Verfehltes und Mißrathenes ist: aus einem<br />

Mittel der Zuchtwahl wurde es deren Gegner, Hemmschuh und<br />

Giftgewächs


Aphorism n=12164 id='VIII.14[11]' kgw='VIII-3.14' ksa='13.222'<br />

<strong>die</strong> Jasagenden Affecte<br />

Der Stolz<br />

<strong>die</strong> Freude<br />

<strong>die</strong> Gesundheit<br />

Page Break KGW='VIII-3.15' KSA='13.223'<br />

<strong>die</strong> Liebe der Geschlechter<br />

<strong>die</strong> Feindschaft und der Krieg<br />

<strong>die</strong> Ehrfurcht<br />

<strong>die</strong> schönen Gebärden, Manieren, Gegenstände<br />

der starke Wille<br />

<strong>die</strong> Zucht der hohen Geistigkeit<br />

der Wille zur <strong>Macht</strong><br />

<strong>die</strong> Dankbarkeit gegen Erde und Leben<br />

:alles, was reich ist und abgeben will und das Leben beschenkt<br />

und vergoldet und verewigt und vergöttlicht — <strong>die</strong> ganze<br />

Gewalt verklärender Tugenden … alles Gutheißende, Jasagende,<br />

Jathuende —<br />

Aphorism n=12165 id='VIII.14[12]' kgw='VIII-3.15' ksa='13.223'<br />

Priester und andere Tintenwischer, Tintenfische —<br />

Aphorism n=12166 id='VIII.14[13]' kgw='VIII-3.15' ksa='13.223'<br />

Physiologie der nihilistischen Religionen<br />

ein typischer Krankheits-Verlauf<br />

NB <strong>die</strong> nihilistischen Religionen allesammt: systematisirte(1689)<br />

Krankheits-Geschichten unter einer religiös-moralischen(1690)<br />

Nomenklatur.<br />

— in dem heidnischen Cultus ist es der große Jahreskreislauf,<br />

um <strong>des</strong>sen Ausdeutung sich der Cultus dreht<br />

— im christlichen Cultus ein Kreislauf paralytischer<br />

Phänomene, um <strong>die</strong> sich der Cultus dreht …<br />

„der Glaube“, eine Form der Geisteskrankheit<br />

<strong>die</strong> Reue<br />

<strong>die</strong> Erlösung alles neurasthenisch<br />

das Gebet<br />

<strong>die</strong> Sünde, eine fixe Idee<br />

der Haß gegen <strong>die</strong> Natur, gegen <strong>die</strong> Vernunft<br />

Page Break KGW='VIII-3.16' KSA='13.224'


Die Christlichkeit als Krankheit<br />

Das Christenthum als Symptom physiologischer décadence<br />

Aphorism n=12167 id='VIII.14[14]' kgw='VIII-3.16' ksa='13.224'<br />

Gegenbewegung Kunst<br />

Geburt der Tragoe<strong>die</strong><br />

III<br />

Diese beiden Kunst-Naturgewalten: werden von Nietzsche<br />

als das Dionysische und das Apollinische einander entgegengesetzt:<br />

er behauptet, daß — — — Mit dem Wort „dionysisch“ ist<br />

ausgedrückt: ein Drang zur Einheit, ein Hinausgreifen über<br />

Person, Alltag, Gesellschaft, Realität, als Abgrund <strong>des</strong> Vergessens,<br />

das leidenschaftlich-schmerzliche Überschwellen in dunklere<br />

vollere schwebendere Zustände; ein verzücktes Jasagen zum<br />

Gesammt-Charakter <strong>des</strong> Lebens, als dem in allem Wechsel Gleichen,<br />

Gleich-Mächtigen, Gleich-Seligen; <strong>die</strong> große pantheistische<br />

Mitfreudigkeit und Mitleidigkeit, welche auch <strong>die</strong> furchtbarsten und<br />

fragwürdigsten Eigenschaften <strong>des</strong> Lebens gutheißt und heiligt,<br />

aus einem ewigen Willen zur Zeugung, zur Fruchtbarkeit, zur<br />

Ewigkeit heraus: als Einheitsgefühl von der Nothwendigkeit <strong>des</strong><br />

Schaffens und Vernichtens… Mit dem Wort apollinisch ist<br />

ausgedrückt: der Drang zum vollkommenen Für-sich-sein, zum<br />

typischen „Individuum“, zu Allem, was vereinfacht, heraushebt,<br />

stark, deutlich, unzweideutig, typisch macht: <strong>die</strong> Freiheit unter<br />

dem Gesetz.<br />

An ihren Antagonismus ist <strong>die</strong> Fortentwicklung der Kunst<br />

eben so nothwendig geknüpft, als <strong>die</strong> Fortentwicklung der<br />

Menschheit an den Antagonismus der Geschlechter. Die Fülle der<br />

<strong>Macht</strong> und <strong>die</strong> Mäßigung, <strong>die</strong> höchste Form der Selbstbejahung in<br />

einer kühlen, vornehmen, spröden Schönheit: der Apollinismus<br />

<strong>des</strong> hellenischen Willens<br />

der Ursprung der Tragö<strong>die</strong> und Komö<strong>die</strong> als ein Gegenwärtig-sehen<br />

eines göttlichen Typus im Zustand einer<br />

Page Break KGW='VIII-3.17' KSA='13.225'<br />

Gesammt-Verzückung, als ein Miterleben der Ortslegende, <strong>des</strong><br />

Besuchs, Wunders, Stiftungsakts, <strong>des</strong> „Dramas“ ( —<br />

Diese Gegensätzlichkeit <strong>des</strong> Dionysischen und Apollinischen<br />

innerhalb der griechischen Seele ist eines der großen Räthsel, von<br />

dem Nietzsche sich angesichts <strong>des</strong> griechischen Wesens angezogen<br />

fühlte. Nietzsche bemühte sich im Grunde um nichts als um zu<br />

errathen, warum gerade der griechische Apollinismus aus einem<br />

dionysischen Untergrund herauswachsen mußte: der dionysische<br />

Grieche nöthig hatte, apollinisch zu werden, das heißt: seinen<br />

Willen zum Ungeheuren, Vielfachen, Ungewissen, Entsetzlichen<br />

zu brechen an einem Willen zum Maaß, zur Einfachheit, zur


Einordnung in Regel und Begriff. Das Maßlose, Wüste, Asiatische<br />

liegt auf seinem Grunde: <strong>die</strong> Tapferkeit <strong>des</strong> Griechen besteht im<br />

Kampfe mit seinem Asiatismus: <strong>die</strong> Schönheit ist ihm nicht<br />

geschenkt, sowenig als <strong>die</strong> Logik, als <strong>die</strong> Natürlichkeit der Sitte —<br />

sie ist erobert, gewollt, erkämpft — sie ist sein Sieg …<br />

Aphorism n=12168 id='VIII.14[15]' kgw='VIII-3.17' ksa='13.225'<br />

Dies Buch ist antipessimistisch: es lehrt eine Gegenkraft gegen<br />

alles Neinsagen und Neinthun, ein Heilmittel der großen<br />

Müdigkeit<br />

Aphorism n=12169 id='VIII.14[16]' kgw='VIII-3.17' ksa='13.225'<br />

Typus Gottes nach dem Typus <strong>des</strong> schöpferischen Geistes, <strong>des</strong><br />

„großen Menschen“<br />

Aphorism n=12170 id='VIII.14[17]' kgw='VIII-3.17' ksa='13.225'<br />

Geburt der Tragö<strong>die</strong>.<br />

2.<br />

Anfang <strong>des</strong> Abschnitts zwei Seiten später: II.<br />

Die Kunst gilt hier als einzige überlegene Gegenkraft gegen<br />

allen Willen zur Verneinung <strong>des</strong> Lebens: als das Antichristliche,<br />

Antibuddhistische, Antinihilistische par excellence …<br />

Page Break KGW='VIII-3.18' KSA='13.226'<br />

Sie ist <strong>die</strong> Erlösung <strong>des</strong> Erkennenden — <strong>des</strong>sen,<br />

der den furchtbaren und fragwürdigen Charakter <strong>des</strong> Lebens<br />

sieht, sehen will, <strong>des</strong> tragischen Erkennenden.<br />

Sie ist <strong>die</strong> Erlösung <strong>des</strong> Handelnden — <strong>des</strong>sen,der<br />

den furchtbaren und fragwürdigen Charakter <strong>des</strong> Lebens nicht<br />

nur sieht, sondern lebt, leben will, <strong>des</strong> tragischen Menschen,<br />

<strong>des</strong> Helden …<br />

Sie ist <strong>die</strong> Erlösung <strong>des</strong> Leidenden — als Weg zu<br />

Zuständen, wo das Leiden gewollt, verklärt, vergöttlicht wird, wo<br />

das Leiden eine Form der großen Entzückung ist …<br />

Aphorism n=12171 id='VIII.14[18]' kgw='VIII-3.18' ksa='13.226'<br />

III


Es giebt zwei Zustände, in denen <strong>die</strong> Kunst selber als eine<br />

Art Naturgewalt im Menschen auftritt: einmal als Vision,<br />

andrerseits als der dionysische Orgiasmus. Dieselben sind<br />

physiologisch vorgebildet im Traum und im Rausch: ersterer als<br />

Einübung jener Kraft zur Vision verstanden, als eine Lust am<br />

Gestalten-sehen, Gestalten-bilden.<br />

Der Wille zum Schein, zur Illusion, zur Täuschung, zum Werden<br />

und Wechseln ist tiefer, „metaphysischer“ als der Wille zur<br />

Wahrheit, zur Wirklichkeit, zum Sein: <strong>die</strong> Lust ist ursprünglicher<br />

als der Schmerz; der letztere ist selbst nur <strong>die</strong> Folge eines Willens<br />

zur Lust ( — zum Schaffen, Gestalten, zu-Grunde-richten,<br />

Zerstören) und, in der höchsten Form, eine Art der Lust …<br />

Aphorism n=12172 id='VIII.14[19]' kgw='VIII-3.18' ksa='13.226'<br />

6.<br />

Diese Schrift ist antimodern: sie glaubt an <strong>die</strong> moderne Kunst,<br />

sonst an nichts, und im Grunde auch nicht an <strong>die</strong> moderne Kunst,<br />

sondern an <strong>die</strong> moderne Musik, und im Grunde nicht an <strong>die</strong><br />

moderne Musik überhaupt, sondern nur an Wagner … Und im<br />

Grunde vielleicht nicht einmal an Wagner, es sei denn faute de<br />

mieux.<br />

Page Break KGW='VIII-3.19' KSA='13.227'<br />

p. 116. „Was wüßten wir sonst zu nennen, heißt es mit einer<br />

schmerzlichen Gebärde — — —<br />

Schopenhauer, Dürer.<br />

Es glaubt daran, daß eine Musik kommen wird … an<br />

eine dionysische Musik …<br />

Aphorism n=12173 id='VIII.14[20]' kgw='VIII-3.19' ksa='13.227'<br />

7.<br />

Diese Schrift gebärdet sich deutsch, selbst reichstreu — sie<br />

glaubt selbst noch an den deutschen Geist! … Ihre nuance ist,<br />

daß sie deutsch-antichristlich ist: „das Schmerzlichste, heißt es<br />

in ihr auf S. 142, ist für uns <strong>die</strong> lange Entwürdigung, unter<br />

der der deutsche Geist, entfremdet von Haus und Heimat, im<br />

Dienst tückischer Zwerge lebte.“ Diese tückischen Zwerge sind<br />

<strong>die</strong> Priester. — An einer anderen Stelle wird <strong>die</strong> Frage<br />

aufgeworfen, ob der deutsche Geist noch stark genug sei, sich auf<br />

sich selbst zurückzubesinnen; ob er mit der Ausscheidung fremder<br />

Elemente noch Ernst machen könne; oder fortfahren werde, sich<br />

wie ein sieches, verkümmertes Gewächs in krankhaftem Mühen<br />

zu verzehren. In <strong>die</strong>sem Buche gilt <strong>die</strong> Überpflanzung eines tief<br />

widerdeutschen Mythos, <strong>des</strong> christlichen in's deutsche Herz als


das eigentlich deutsche Verhängniß.<br />

Aphorism n=12174 id='VIII.14[21]' kgw='VIII-3.19' ksa='13.227'<br />

4.<br />

Dieses Buch ist dergestalt sogar antipessimistisch: nämlich in<br />

dem Sinn, daß es etwas lehrt, das stärker ist als der Pessimismus,<br />

das göttlicher ist als „Wahrheit“: <strong>die</strong> Kunst.<br />

Niemand würde, wie es scheint, einer radikalen Verneinung<br />

<strong>des</strong> Lebens, einem wirklichen Neinthun noch mehr als Neinsagen<br />

zum Leben so sehr das Wort reden, wie der Verfasser <strong>die</strong>ses<br />

Buchs: nur weiß er, — er hat es erlebt, er hat vielleicht nichts<br />

andres erlebt — daß <strong>die</strong> Kunst mehr werth ist als <strong>die</strong><br />

„Wahrheit“.<br />

Page Break KGW='VIII-3.20' KSA='13.228'<br />

In der Vorrede bereits, mit der Richard Wagner wie zu<br />

einem Zwiegespräch eingeladen wird, erscheint das Glaubensbekenntniß,<br />

das Artisten-Evangelium: „<strong>die</strong> Kunst als <strong>die</strong><br />

eigentliche Aufgabe <strong>des</strong> Lebens, <strong>die</strong> Kunst als metaphysische<br />

Thätigkeit“ …<br />

Aphorism n=12175 id='VIII.14[22]' kgw='VIII-3.20' ksa='13.228'<br />

5.<br />

Was muß, unter solcher Voraussetzung, aus der Wissenschaft<br />

werden? Wie steht sie da? In einem bedeutenden Sinne beinahe<br />

als Gegnerin der Wahrheit: denn sie ist optimistisch, denn sie<br />

glaubt an <strong>die</strong> Logik. Es wird physiologisch nachgerechnet, daß<br />

es <strong>die</strong> Niedergangs-Zeiten einer starken Rasse sind, wo der Typus<br />

<strong>des</strong> wissenschaftlichen Menschen in ihr reif wird. Die Kritik <strong>des</strong><br />

Socrates macht den Haupttheil <strong>des</strong> Buches aus: Socrates als<br />

Gegner der Tragö<strong>die</strong>, als Auflöser jener dämonisch-prophylaktischen<br />

Instinkte der Kunst; der Sokratismus als das große Mißverständniß<br />

von Leben und Kunst: <strong>die</strong> Moral, Dialektik, Genügsamkeit<br />

<strong>des</strong> theoretischen Menschen eine Form der Ermüdung; <strong>die</strong><br />

berühmte griechische Heiterkeit nur eine Abendröthe … Die<br />

starken Rassen, so lange sie reich und überreich noch an Kraft<br />

sind, haben den Muth dazu <strong>die</strong> Dinge zu sehen, wie sie sind:<br />

tragisch … Für sie ist <strong>die</strong> Kunst mehr als eine Unterhaltung<br />

und Ergötzlichkeit; sie ist eine Kur …<br />

Das Buch lehrt, „allen modernen Ideen und Vorurtheilen <strong>des</strong><br />

demokratischen Geschmacks zum Trotz“, daß <strong>die</strong> Griechen — p. X<br />

der<br />

Vorrede.


Aphorism n=12176 id='VIII.14[23]' kgw='VIII-3.20' ksa='13.228'<br />

II<br />

Das Wesentliche an <strong>die</strong>ser Conception ist der Begriff der<br />

Kunst im Verhältniß zum Leben: sie wird, ebenso psychologisch<br />

als physiologisch, als das große Stimulans aufgefaßt, als<br />

das, was ewig zum Leben, zum ewigen Leben drängt …<br />

Page Break KGW='VIII-3.21' KSA='13.229'<br />

Aphorism n=12177 id='VIII.14[24]' kgw='VIII-3.21' ksa='13.229'<br />

3.<br />

Man sieht, daß in <strong>die</strong>sem Buche der Pessimismus, sagen wir<br />

deutlicher, der Nihilismus als <strong>die</strong> „Wahrheit“ gilt: aber <strong>die</strong><br />

Wahrheit gilt nicht als ein oberstes Werthmaß, noch weniger als<br />

oberste <strong>Macht</strong>.<br />

Der Wille zum Schein, zur Illusion, zur Täuschung, zum<br />

Werden und Wechseln gilt hier als tiefer und ursprünglicher<br />

„metaphysischer“ als der Wille zur Wahrheit, zur Wirklichkeit<br />

zum Sein: — letzterer ist selbst bloß eine Form <strong>des</strong> Willens zur<br />

Illusion. Ebenso gilt <strong>die</strong> Lust als ursprünglicher als der Schmerz:<br />

der Schmerz ist nur bedingt als eine Folge <strong>des</strong> Willens zur Lust<br />

(<strong>des</strong> Willens zum Werden, Wachsen, Gestalten, folglich zur<br />

Überwältigung, zum Widerstand, zum Krieg, zur Zerstörung)<br />

Es wird ein höchster Zustand der Daseins-Bejahung concipirt, in<br />

dem sogar der Schmerz, jede Art von Schmerz als Mittel der<br />

Steigerung ewig einbegriffen ist: der tragisch-dionysische<br />

Zustand.<br />

Aphorism n=12178 id='VIII.14[25]' kgw='VIII-3.21' ksa='13.229'<br />

Zur „Geburt der Tragö<strong>die</strong>“.<br />

VIII.<br />

Die neue Conception der Griechen ist das Auszeichnende<br />

<strong>die</strong>ses Buches; wir haben bereits seine beiden anderen Ver<strong>die</strong>nste<br />

angedeutet — <strong>die</strong> neue Conception der Kunst, als das große<br />

Stimulans <strong>des</strong> Lebens, zum Leben; insgleichen <strong>die</strong> Conception<br />

<strong>des</strong> Pessimismus, eines Pessimismus der Stärke, eines<br />

klassischen Pessimismus: das Wort klassisch hier nicht zur<br />

historischen, sondern zur psychologischen Abgrenzung gebraucht. Der<br />

Gegensatz <strong>des</strong> klassischen Pessimismus ist der romantische:<br />

jener in dem sich <strong>die</strong> Schwäche, <strong>die</strong> Ermüdung, <strong>die</strong> Rassen-décadence<br />

in Begriffen und Werthungen formulirt: der Pessimismus<br />

Schopenhauers z.B., insgleichen der de Vigny's, Dostoijevsky's,


Leopardi's, Pascals, der aller großen nihilistischen Religionen<br />

Page Break KGW='VIII-3.22' KSA='13.230'<br />

(<strong>des</strong> Brahmanismus, Buddhismus, Christenthums — sie dürfen<br />

nihilistisch genannt werden, weil sie alle den Gegensatzbegriff<br />

<strong>des</strong> Lebens, das Nichts, als Ziel, als höchstes Gut, als „Gott“<br />

verherrlicht haben)<br />

Was Nietzsche auszeichnet: <strong>die</strong> Spontaneität seiner psychologischen<br />

Vision, eine schwindelerregende Weite der Umschau,<br />

<strong>des</strong> Erlebten, Errathenen, Erschlossenen, der Wille zur<br />

Consequenz, <strong>die</strong> Furchtlosigkeit vor der Härte und gefährlichen<br />

Consequenz.<br />

Aphorism n=12179 id='VIII.14[26]' kgw='VIII-3.22' ksa='13.230'<br />

Geburt der Tragö<strong>die</strong><br />

Aber kommen wir zur Hauptsache, zu dem, was das Buch<br />

auszeichnet und bei Seite stellt, zu seiner Originalität: es enthält<br />

drei neue Conceptionen. Die erste haben wir bereits genannt: <strong>die</strong><br />

Kunst als das große Stimulans <strong>des</strong> Lebens, zum Leben. Die<br />

zweite: es bringt einen neuen Typus <strong>des</strong> Pessimismus, den<br />

klassischen. Zu dritt: es stellt ein Problem der Psychologie neu,<br />

das griechische.<br />

Aphorism n=12180 id='VIII.14[27]' kgw='VIII-3.22' ksa='13.230'<br />

Philosophie als décadence<br />

Zur Psychologie <strong>des</strong> Psychologen<br />

Psychologen, wie sie erst vom 19ten Jahrhundert ab(1691) möglich<br />

sind: nicht mehr jene Eckensteher, <strong>die</strong> drei, vier Schritt vor<br />

sich blicken und beinahe zufrieden sind, in sich hinein zu graben.<br />

Wir Psychologen der Zukunft — wir haben wenig guten Willen<br />

zur Selbstbeobachtung: wir nehmen es fast als ein Zeichen von<br />

Entartung, wenn ein Instrument „sich selbst zu erkennen“ sucht:<br />

wir sind Instrumente der Erkenntniß und möchten <strong>die</strong> ganze<br />

Naivetät und Präcision eines Instrumentes haben; — folglich<br />

dürfen wir uns selbst nicht analysiren, nicht „kennen“. Erstes<br />

Merkmal eines Selbsterhaltungs-Instinkts <strong>des</strong> großen Psychologen:<br />

er sucht sich nie, er hat kein Auge, kein Interesse, keine<br />

Page Break KGW='VIII-3.23' KSA='13.231'<br />

Neugierde für sich … Der große Egoismus unseres dominirenden<br />

Willens will es so von uns, daß wir hübsch vor uns <strong>die</strong> Augen<br />

schließen, — daß wir als „unpersönlich“, „désintéressé“,<br />

„objektiv“ erscheinen müssen … oh wie sehr wir das Gegentheil von


dem sind! Nur weil wir in einem excentrischen Grade Psychologen<br />

sind<br />

Aphorism n=12181 id='VIII.14[28]' kgw='VIII-3.23' ksa='13.231'<br />

Der Psycholog.<br />

1) Wir sind keine Pascals, wir sind nicht sonderlich am „Heil<br />

der Seele“, am eigenen Glück, an der eigenen Tugend interessirt<br />

… —<br />

2) Wir haben weder Zeit noch Neugierde genug, uns<br />

dergestalt um uns selbst zu drehn. Es steht, tiefer angesehn, sogar<br />

noch anders: wir mißtrauen allen Nabelbeschauern aus dem<br />

Grunde, weil uns <strong>die</strong> Selbstbeobachtung als eine Entartungsform<br />

<strong>des</strong> psychologischen Genies gilt, als ein Fragezeichen am<br />

Instinkt <strong>des</strong> Psychologen: so gewiß ein Maler-Auge entartet ist,<br />

hinter dem der Wille steht, zu sehn, um zu sehn<br />

Aphorism n=12182 id='VIII.14[29]' kgw='VIII-3.23' ksa='13.231'<br />

Ursprung der Moral-Werthe.<br />

Der Egoismus ist so viel werth als der physiologisch werth<br />

ist, der ihn hat.<br />

Jeder Einzelne ist <strong>die</strong> ganze Linie der Entwicklung noch (und<br />

nicht nur, wie ihn <strong>die</strong> Moral auffaßt(1692), etwas das mit der<br />

Geburt beginnt): stellt er das Aufsteigen der Linie Mensch dar, so<br />

ist sein Werth in der That außerordentlich; und <strong>die</strong> Sorge um<br />

Erhaltung und Begünstigung seines Wachsthums darf extrem<br />

sein. (Es ist <strong>die</strong> Sorge um <strong>die</strong> in ihm verheißene Zukunft, welche<br />

dem wohlgerathenen Einzelnen ein so außerordentliches Recht<br />

auf Egoismus giebt) Stellt er <strong>die</strong> absteigende Linie dar, den<br />

Verfall, <strong>die</strong> chronische Erkrankung: so kommt ihm wenig Werth zu:<br />

und <strong>die</strong> erste Billigkeit ist, daß er so wenig als möglich Platz,<br />

Page Break KGW='VIII-3.24' KSA='13.232'<br />

Kraft und Sonnenschein den Wohlgerathenen wegnimmt. In<br />

<strong>die</strong>sem Falle hat <strong>die</strong> Gesellschaft <strong>die</strong> Niederhaltung <strong>des</strong><br />

Egoism ( — der mitunter absurd, krankhaft, aufrührerisch<br />

sich äußert — ) zur Aufgabe: handle es sich nun um Einzelne<br />

oder um ganze verkommende verkümmerte Volks-Schichten.<br />

Eine Lehre und Religion der „Liebe“, der Niederhaltung<br />

der Selbstbejahung, <strong>des</strong> Duldens, Tragens, Helfens, der<br />

Gegenseitigkeit in That und Wort kann innerhalb solcher Schichten vom<br />

höchsten Werthe sein, selbst mit den Augen der Herrschenden<br />

gesehn: denn sie hält <strong>die</strong> Gefühle der Rivalität, <strong>des</strong> ressentiment,<br />

<strong>des</strong> Nei<strong>des</strong> nieder, <strong>die</strong> allzu natürlichen Gefühle der<br />

Schlechtweggekommenen, — sie vergöttlicht ihnen selbst unter dem


Ideal der Demuth und <strong>des</strong> Gehorsams das Sklave-sein, das<br />

Beherrschtwerden, das Armsein, das Kranksein, das Unten-stehn.<br />

Hieraus ergiebt sich, warum <strong>die</strong> herrschenden Classen oder Rassen und<br />

Einzelnen jeder Zeit den Cultus der Selbstlosigkeit, das<br />

Evangelium der Niedrigen, „den Gott am Kreuze“ aufrecht erhalten<br />

haben.<br />

Das Übergewicht einer altruistischen Werthungsweise ist <strong>die</strong><br />

Folge eines Instinktes für Mißrathen-sein. Das Werthurtheil auf<br />

unterstem Grunde sagt hier: „ich bin nicht viel werth“: ein bloß<br />

physiologisches Werthurtheil, noch deutlicher: das Gefühl der<br />

Ohnmacht, der Mangel der großen bejahenden Gefühle der<br />

<strong>Macht</strong> (in Muskeln, Nerven, Bewegungscentren). Dies Werthurtheil<br />

übersetzt sich, je nach der Cultur <strong>die</strong>ser Schichten, in ein<br />

moralisches oder religiöses Urtheil ( — <strong>die</strong> Vorherrschaft<br />

religiöser und moralischer Urtheile ist immer ein Zeichen niedriger<br />

Cultur — ): es sucht sich zu begründen, aus Sphären, woher ihnen<br />

der Begriff „Werth“ überhaupt bekannt ist. Die Auslegung, mit<br />

der der christliche Sünder sich zu verstehen glaubt, ist ein<br />

Versuch, den Mangel an <strong>Macht</strong> und Selbstgewißheit berechtigt<br />

zu finden: er will lieber sich schuldig finden, als umsonst sich<br />

schlecht fühlen: an sich ist es ein Symptom von Verfall,<br />

Interpretationen <strong>die</strong>ser Art überhaupt zu brauchen. In andern Fällen<br />

Page Break KGW='VIII-3.25' KSA='13.233'<br />

sucht der Schlechtweggekommene den Grund dafür nicht in seiner<br />

„Schuld“ (wie der Christ), sondern in der Gesellschaft: der<br />

Socialist, der Anarchist, der Nihilist, indem sie ihr Dasein als<br />

etwas empfinden, an dem Jemand schuld sein soll, ist damit immer<br />

noch der Nächstverwandte <strong>des</strong> Christen, der auch das<br />

Sichschlechtbefinden und Mißrathen besser zu ertragen glaubt, wenn<br />

er Jemanden gefunden hat, den er dafür verantwortlich<br />

machen kann. Der Instinkt der Rache und <strong>des</strong> ressentiment<br />

ist in beiden Fällen, erscheint hier als Mittel, es<br />

auszuhalten, als Instinkt der Selbsterhaltung: ebenso wie <strong>die</strong><br />

Bevorzugung der altruistischen Theorie und Praxis. Der<br />

Haß gegen den Egoismus, sei es gegen den eigenen, wie<br />

beim Christen, sei es gegen den fremden, wie beim Socialisten,<br />

ergiebt sich dergestalt als ein Werthurtheil unter der Vorherrschaft<br />

der Rache; andrerseits als eine Klugheit der Selbsterhaltung<br />

Leidender durch Steigerung ihrer Gegenseitigkeits- und<br />

Solidaritätsgefühle … Zuletzt ist, wie schon angedeutet, auch<br />

jene Entladung <strong>des</strong> Ressentiment im Richten, Verwerfen,<br />

Bestrafen <strong>des</strong> Egoism (<strong>des</strong> eigenen oder eines fremden) noch ein<br />

Instinkt der Selbsterhaltung bei Schlechtweggekommenen. In<br />

summa: der Cultus <strong>des</strong> Altruismus ist eine spezifische Form <strong>des</strong><br />

Egoismus, <strong>die</strong> unter bestimmten physiologischen Voraussetzungen<br />

regelmäßig auftritt.


Aphorism n=12183 id='VIII.14[30]' kgw='VIII-3.25' ksa='13.233'<br />

Wenn der Socialist mit einer schönen Entrüstung „Gerechtigkeit“,<br />

„Recht“, „gleiche Rechte“ verlangt, so steht er nur unter<br />

dem Druck seiner ungenügenden Cultur, welche nicht zu begreifen<br />

weiß, warum er leidet: andrerseits macht er sich ein Vergnügen<br />

damit; befände er sich besser, so würde er sich hüten, so zu<br />

schreien: er fände dann anderswo sein Vergnügen. Dasselbe gilt<br />

vom Christen: „<strong>die</strong> Welt“ wird von ihm verurtheilt, verleumdet,<br />

verflucht — er nimmt sich selbst nicht aus. Aber das ist kein<br />

Grund, sein Geschrei ernst zu nehmen. In beiden Fällen sind wir<br />

Page Break KGW='VIII-3.26' KSA='13.234'<br />

immer noch unter Kranken, denen es wohlthut, zu schreien,<br />

denen <strong>die</strong> Verleumdung eine Erleichterung ist.<br />

Aphorism n=12184 id='VIII.14[31]' kgw='VIII-3.26' ksa='13.234'<br />

Werth …<br />

Der Begriff „verwerfliche Handlung“ macht uns<br />

Schwierigkeit: es kann nichts an sich Verwerfliches geben. Nichts von<br />

Alledem, was überhaupt geschieht, kann an sich verwerflich sein:<br />

denn man dürfte es nicht weghaben wollen: denn<br />

Jegliches ist so mit Allem verbunden, daß irgend Etwas<br />

ausschließen wollen, Alles ausschließen heißt. Eine verwerfliche<br />

Handlung: heißt eine verworfene Welt überhaupt …<br />

Und selbst dann noch: in einer verworfenen Welt würde auch<br />

das Verwerfen verwerflich sein … Und <strong>die</strong> Consequenz einer<br />

Denkweise, welche Alles verwirft, wäre eine Praxis, <strong>die</strong> Alles<br />

bejaht … Wenn das Werden ein großer Ring ist, so ist Jegliches<br />

gleich werth, ewig, nothwendig …<br />

In allen Correlationen von Ja und Nein, von Vorziehen und<br />

Abweisen, Lieben und Hassen drückt sich nur eine Perspektive,<br />

ein Interesse bestimmter Typen <strong>des</strong> Lebens aus: an sich redet<br />

Alles, was ist, das Ja.<br />

Aphorism n=12185 id='VIII.14[32]' kgw='VIII-3.26' ksa='13.234'<br />

Werth …<br />

eine nihilistische Werthschätzung sagt: „ich bin werth,<br />

nicht zu sein“. Geht sie weiter und sagt: „du bist werth, nicht<br />

zu sein“.<br />

Aphorism n=12186 id='VIII.14[33]' kgw='VIII-3.26' ksa='13.234'


Was das tragische Pathos angeht, so nimmt Nietzsche nicht<br />

das alte Mißverständniß <strong>des</strong> Aristoteles wieder auf —<br />

als Transfiguration von Wollust und Grausamkeit ins Griechische:<br />

Elemente, welche in den orgiastischen Festen — — —<br />

Page Break KGW='VIII-3.27' KSA='13.235'<br />

das Dionysische als eine Überströmung und Einheit<br />

vielfacher, zum Theil schrecklicher Erregungen<br />

Aphorism n=12187 id='VIII.14[34]' kgw='VIII-3.27' ksa='13.235'<br />

Drama<br />

das Drama ist nicht, wie <strong>die</strong> Halbgelehrten glauben, <strong>die</strong><br />

Handlung, sondern, gemäß der dorischen Herkunft vom Wort<br />

„Drama“, auch dorisch-hieratisch zu verstehen: es ist das<br />

Begebniß, das „Ereigniß“, <strong>die</strong> heilige Geschichte, <strong>die</strong><br />

Gründungs-Legende, das „Nachsinnen“, <strong>die</strong> Vergegenwärtigung der<br />

Aufgabe <strong>des</strong> Hieratischen.<br />

Aphorism n=12188 id='VIII.14[35]' kgw='VIII-3.27' ksa='13.235'<br />

Kunst als Gegenbewegung.<br />

Das orgiastische Element in der Kunst der Griechen war<br />

bisher unterschätzt worden; daß aber der Orgiasmus eine der<br />

tiefsten Bewegungen und Krisen für <strong>die</strong> griechische Seele selbst<br />

bedeutet — — —<br />

Man erinnert sich vielleicht der frivolen und kalten Art, mit<br />

der Lobeck sich das ganze Gebiet von Riten, Mythen und<br />

Geheimnissen vom Leibe hielt p. 564. 565.<br />

Man möchte sagen, daß der Begriff „klassisch“ —, wie ihn<br />

Winckelmann und Goethe gebildet hatten, jenes dionysische<br />

Element nicht nur nicht erklärte, sondern von sich ausschloß:<br />

und — — —<br />

es gab eine Zeit, wo man unter Philologen mit besonderer<br />

Dankbarkeit Lobeck — — —<br />

Aphorism n=12189 id='VIII.14[36]' kgw='VIII-3.27' ksa='13.235'<br />

Apollinisch, dionysisch<br />

III<br />

Es giebt zwei Zustände, in denen <strong>die</strong> Kunst selbst wie eine<br />

Naturgewalt im Menschen auftritt, über ihn verfügend, ob er<br />

will oder nicht: einmal als Zwang zur Vision, andrerseits als


Page Break KGW='VIII-3.28' KSA='13.236'<br />

Zwang zum Orgiasmus. Beide Zustände sind auch im normalen<br />

Leben, nur schwächer, im Traum und im Rausch, wie in — — —<br />

Aber derselbe Gegensatz besteht noch zwischen Traum und<br />

Rausch: beide entfesseln in uns künstlerische Gewalten, jeder aber<br />

verschieden: der Traum <strong>die</strong> <strong>des</strong> Sehens, Verknüpfens, Dichtens;<br />

der Rausch <strong>die</strong> der Gebärde, der Leidenschaft, <strong>des</strong> Gesangs, <strong>des</strong><br />

Tanzes.<br />

Aphorism n=12190 id='VIII.14[37]' kgw='VIII-3.28' ksa='13.236'<br />

Zur Modernität.<br />

Was uns Ehre macht.<br />

Wenn irgend etwas uns Ehre macht, so ist es <strong>die</strong>s: wir haben<br />

den Ernst wo andershin gelegt: wir nehmen <strong>die</strong> von allen<br />

Zeiten verachteten und bei Seite gelassenen niedrigen Dinge<br />

wichtig — wir geben dagegen <strong>die</strong> „schönen Gefühle“ wohlfeil…<br />

Giebt es eine gefährlichere Verirrung, als <strong>die</strong> Verachtung <strong>des</strong><br />

Leibes? Als ob nicht mit ihr <strong>die</strong> ganze Geistigkeit verurtheilt<br />

wäre krankhaft zu werden, zu den vapeurs <strong>des</strong> „Idealismus“!<br />

Es hat Alles nicht Hand und Fuß, was von Christen und<br />

Idealisten ausgedacht worden ist: wir sind radikaler. Wir haben<br />

<strong>die</strong> „kleinste Welt“ als das überall-Entscheidende entdeckt: wir<br />

sind auf eine gefährliche Weise in <strong>die</strong> — — —<br />

Straßenpflaster, gute Luft im Zimmer, <strong>die</strong> Bude nicht vergiftet,<br />

<strong>die</strong> Speisen auf ihren Werth begriffen, wir haben Ernst gemacht<br />

mit allen Necessitäten <strong>des</strong> Daseins und verachten<br />

alles „Schönseelenthum“ als eine Art der „Leichtfertigkeit<br />

und Frivolität“.<br />

Das bisher Verachtetste ist in <strong>die</strong> erste Linie gerückt.<br />

ich füge <strong>die</strong> Unmoralität hinzu: Moralität ist nur eine Form<br />

der Unmoralität, welche in Hinsicht auf den Vortheil, den eine<br />

bestimmte Art davon hat, — — —<br />

Page Break KGW='VIII-3.29' KSA='13.237'<br />

Aphorism n=12191 id='VIII.14[38]' kgw='VIII-3.29' ksa='13.237'<br />

Typus „Jesus“ …<br />

Jesus ist das Gegenstück eines Genies: er ist ein<br />

Idiot. Man fühle seine Unfähigkeit, eine Realität zu verstehn:<br />

er bewegt sich im Kreise um fünf, sechs Begriffe, <strong>die</strong> er früher<br />

gehört und allmählich verstanden, d.h. falsch verstanden hat —<br />

in ihnen hat er seine Erfahrung, seine Welt, seine Wahrheit, —<br />

der Rest ist ihm fremd. Er spricht Worte, wie sie Jedermann


aucht — er versteht sie nicht wie Jedermann, er versteht nur<br />

seine fünf, sechs schwimmenden Begriffe. Daß <strong>die</strong> eigentlichen<br />

Manns-Instinkte — nicht nur <strong>die</strong> geschlechtlichen, sondern auch<br />

<strong>die</strong> <strong>des</strong> Kampfes, <strong>des</strong> Stolzes, <strong>des</strong> Heroismus — nie bei ihm<br />

aufgewacht sind, daß er zurückgeblieben ist und kindhaft im Alter<br />

der Pubertät geblieben ist: das gehört zum Typus gewisser<br />

epilepsoider Neurosen.<br />

Jesus ist in seinen tiefsten Instinkten unheroisch: er kämpft<br />

nie: wer etwas wie einen Held in ihm sieht, wie Renan, hat den<br />

Typus vulgärisirt ins Unerkenntliche.<br />

man fühle andererseits seine Unfähigkeit, etwas Geistiges zu<br />

verstehen: das Wort Geist wird in seinem Munde zum Mißverständniß!<br />

Nicht der entfernteste Hauch von Wissenschaft, Geschmack,<br />

geistiger Zucht, Logik hat <strong>die</strong>sen heiligen Idioten<br />

angeweht: so wenig als ihn das Leben berührt hat. — Natur?<br />

Gesetze der Natur? — Niemand hat ihm verrathen daß es eine<br />

Natur giebt. Er kennt nur moralische Wirkungen: Zeichen der<br />

untersten und absur<strong>des</strong>ten Cultur. Man muß das festhalten: er ist<br />

Idiot inmitten eines sehr klugen Volkes … Nur daß seine<br />

Schüler es nicht waren — Paulus war ganz und gar kein Idiot! —<br />

daran hängt <strong>die</strong> Geschichte <strong>des</strong> Christenthums.<br />

Aphorism n=12192 id='VIII.14[39]' kgw='VIII-3.29' ksa='13.237'<br />

Kritik <strong>des</strong> Christenthums.<br />

Moral als Circe der Philosophen<br />

Der Kampf ums „Ich“.<br />

Page Break KGW='VIII-3.30' KSA='13.238'<br />

Aphorism n=12193 id='VIII.14[40]' kgw='VIII-3.30' ksa='13.238'<br />

Die unbewußte Wirkung der décadence<br />

auf <strong>die</strong> Ideale der Wissenschaft<br />

Es giebt eine tiefe und vollkommen unbewußte Wirkung der<br />

décadence selbst auf <strong>die</strong> Ideale der Wissenschaft: unsere ganze<br />

Sociologie ist der Beweis für <strong>die</strong>sen Satz. Ihr bleibt vorzuwerfen,<br />

daß sie nur das Verfalls-Gebilde der Societät aus Erfahrung<br />

kennt und unvermeidlich <strong>die</strong> eigenen Verfalls-Instinkte<br />

als Norm <strong>des</strong> sociologischen Urtheils nimmt.<br />

Das niedersinkende Leben im jetzigen Europa formulirt<br />

in ihnen seine Gesellschafts-Ideale: sie sehen alle zum<br />

Verwechseln dem Ideal alter überlebter Rassen ähnlich …<br />

Der Heerdeninstinkt sodann — eine jetzt souverän<br />

gewordene <strong>Macht</strong> — ist etwas Grundverschiedenes vom Instinkt<br />

einer aristokratischen Societät: und es kommt auf<br />

den Werth der Einheiten an, was <strong>die</strong> Summe zu bedeuten


hat …<br />

Unsere ganze Sociologie kennt gar keinen anderen Instinkt<br />

als den der Heerde, d.h. der summirten Nullen … wo<br />

jede Null „gleiche Rechte“ hat, wo es tugendhaft ist, Null zu<br />

sein …<br />

Die Werthung, mit der heute <strong>die</strong> verschiedenen Formen der<br />

Societät beurteilt werden, ist ganz und gar eins mit jener, welche<br />

dem Frieden einen höheren Werth zuertheilt als dem Krieg:<br />

aber <strong>die</strong>s Urtheil ist antibiologisch, ist selbst eine Ausgeburt der<br />

décadence <strong>des</strong> Lebens… Herr Herbert Spencer ist als Biologe<br />

ein décadent, — meist auch als Moralist ( — er sieht im Sieg<br />

<strong>des</strong> Altruismus etwas Wünschenswerthes!!!). Das Leben ist eine<br />

Folge <strong>des</strong> Krieges, <strong>die</strong> Gesellschaft selbst ein Mittel zum Krieg.<br />

Aphorism n=12194 id='VIII.14[41]' kgw='VIII-3.30' ksa='13.238'<br />

Renan, der das mit den Weibern gemeinsam hat, daß er nur<br />

lebensgefährlich wird, wenn er liebt; er der niemals ohne kleine<br />

mörderische Nebenabsichten einen alten Götzen von Ideal<br />

Page Break KGW='VIII-3.31' KSA='13.239'<br />

umarmt hat, immer neugierig, ob das, was er umarmt, nicht bereits<br />

wackelt …<br />

Aphorism n=12195 id='VIII.14[42]' kgw='VIII-3.31' ksa='13.239'<br />

— Deutsch =<br />

(4) Religion in der Musik.<br />

Wie viel uneingeständliche und selbst unverstandene Befriedigung<br />

aller religiösen Bedürfnisse ist noch in der Wagnerschen<br />

Musik! Wie viel Gebet, Tugend, Salbung, „Jungfräulichkeit“<br />

„Erlösung“ redet da noch mit! … Daß <strong>die</strong> Musik vom Worte<br />

vom Begriffe absehen darf — oh wie sie daraus ihren Vortheil<br />

zieht, <strong>die</strong>se arglistige Heilige, <strong>die</strong> zu allem zurückführt,<br />

zurückverführt, was einst geglaubt wurde! … Unser<br />

intellektuelles(1693) Gewissen braucht sich nicht zu schämen, — es bleibt<br />

außerhalb — wenn irgend ein alter Instinkt mit zitternden<br />

Lippen aus verbotenen Bechern trinkt … Das ist klug, gesund<br />

und, insofern es Scham vor der Befriedigung <strong>des</strong> religiösen<br />

Instinktes verräth, sogar ein gutes Zeichen … Heimtückische<br />

Christlichkeit: Typus der Musik <strong>des</strong> „letzten Wagner“.<br />

Aphorism n=12196 id='VIII.14[43]' kgw='VIII-3.31' ksa='13.239'


Durch Alkohol und Musik bringt man sich auf Stufen der<br />

Cultur und Unkultur zurück, welche unsere Voreltern überwunden<br />

haben: insofern ist nichts lehrreicher, nichts „wissenschaftlicher“<br />

als sich zu berauschen … Auch manche Speisen enthalten<br />

Offenbarungen über etwas, woraus wir herkommen. Wie viel<br />

Geheimniß steckt zum Beispiel in der Correlation der deutschen<br />

Knödel und <strong>des</strong> deutschen „kindlichen Gemüthes“! … Wenn<br />

man erstere im Leibe hat, regt sich sofort das Letztere: man<br />

beginnt zu ahnen!… Oh wie fern man alsbald vom „Verstand<br />

der Verständigen“ ist! —<br />

Page Break KGW='VIII-3.32' KSA='13.240'<br />

Aphorism n=12197 id='VIII.14[44]' kgw='VIII-3.32' ksa='13.240'<br />

Gegen <strong>die</strong>se Verderbniß der Musik wehre ich mich mit allen<br />

Mitteln, und wie ein schöner Teufel — — —<br />

Aphorism n=12198 id='VIII.14[45]' kgw='VIII-3.32' ksa='13.240'<br />

Was hat der deutsche Geist aus dem Christenthum gemacht! —<br />

Und daß ich beim Protestantismus stehen bleibe, wie viel Bier ist<br />

wieder in der protestantischen Christlichkeit! Ist eine geistig<br />

verdumpftere, faulere, gliederstreckendere Form <strong>des</strong> Christen-Glaubens<br />

noch denkbar! als <strong>die</strong> eines deutschen Durchschnitts-Protestanten? …<br />

Das nenne ich mir ein bescheidenes Christenthum! eine Homöopathie<br />

<strong>des</strong> Christenthums nenne ich's! — Man erinnert mich daran, daß<br />

es heute auch einen unbescheidenen Protestantismus giebt, den der<br />

Hofprediger und antisemitischen Spekulanten: aber Niemand hat noch<br />

behauptet, daß irgend ein „Geist“ auf <strong>die</strong>sen Gewässern „schwebe“<br />

… Das ist bloß eine unanständigere Form der Christlichkeit,<br />

durchaus noch keine verständigere …<br />

Aphorism n=12199 id='VIII.14[46]' kgw='VIII-3.32' ksa='13.240'<br />

Im dionysischen Rausche ist <strong>die</strong> Geschlechtlichkeit und <strong>die</strong><br />

Wollust: sie fehlt nicht im apollinischen. Es muß noch eine<br />

tempo-Verschiedenheit in beiden Zuständen geben … Die extreme<br />

Ruhe gewisser Rauschempfindungen (strenger:<br />

<strong>die</strong> Verlangsamung <strong>des</strong> Zeit- und Raumgefühls) spiegelt sich gern<br />

in der Vision der ruhigsten Gebärden und Seelen-Arten. Der<br />

klassische Stil stellt wesentlich <strong>die</strong>se Ruhe, Vereinfachung,<br />

Abkürzung, Concentration dar — das höchste Gefühl der<br />

<strong>Macht</strong> ist concentrirt im klassischen Typus. Schwer reagiren:<br />

ein großes Bewußtsein: kein Gefühl von Kampf:


Der Naturrausch:<br />

Page Break KGW='VIII-3.33' KSA='13.241'<br />

Aphorism n=12200 id='VIII.14[47]' kgw='VIII-3.33' ksa='13.241'<br />

Gegenbewegung der Kunst.<br />

Pessimismus in der Kunst? —<br />

der Künstler liebt allmählich <strong>die</strong> Mittel um ihrer selber<br />

willen, in denen sich der Rauschzustand zu erkennen giebt: <strong>die</strong><br />

extreme Feinheit und Pracht der Farbe, <strong>die</strong> Deutlichkeit der<br />

Linie, <strong>die</strong> nuance <strong>des</strong> Tons: das Distinkte, wo sonst, im<br />

Normalen, alle Distinktion fehlt<br />

— : alle distinkten Sachen, alle Nuancen, insofern sie an <strong>die</strong><br />

extremen Kraftsteigerungen erinnern, welche der Rausch erzeugt,<br />

wecken rückwärts <strong>die</strong>ses Gefühl <strong>des</strong> Rausches.<br />

— : <strong>die</strong> Wirkung der Kunstwerke ist <strong>die</strong> Erregung <strong>des</strong><br />

kunstschaffenden Zustan<strong>des</strong>, <strong>des</strong> Rausches …<br />

— : das Wesentliche an der Kunst bleibt ihre<br />

Daseins-Vollendung, ihr Hervorbringen der Vollkommenheit und Fülle<br />

Kunst ist wesentlich Bejahung, Segnung, Vergöttlichung<br />

<strong>des</strong> Daseins …<br />

— : Was bedeutet eine pessimistische Kunst? … Ist<br />

das nicht eine contradictio? — Ja.<br />

Schopenhauer irrt, wenn er gewisse Werke der Kunst in<br />

den Dienst <strong>des</strong> Pessimism stellt. Die Tragö<strong>die</strong> lehrt nicht<br />

„Resignation“ …<br />

— Die furchtbaren und fragwürdigen Dinge darstellen ist<br />

selbst schon ein Instinkt der <strong>Macht</strong> und Herrlichkeit am Künstler:<br />

er fürchtet sie nicht …<br />

Es giebt keine pessimistische Kunst … Die Kunst bejaht. Hiob<br />

bejaht.<br />

Aber Zola? Aber de Goncourt?<br />

— <strong>die</strong> Dinge sind häßlich, <strong>die</strong> sie zeigen: aber daß sie<br />

<strong>die</strong>selben zeigen, ist aus Lust an <strong>die</strong>sem Häßlichen …<br />

— hilft nichts! ihr betrügt euch, wenn ihr's anders behauptet<br />

Wie erlösend ist Dostoiewsky!<br />

Page Break KGW='VIII-3.34' KSA='13.242'<br />

Aphorism n=12201 id='VIII.14[48]' kgw='VIII-3.34' ksa='13.242'<br />

Überschriften über einem modernen Narrenhaus.<br />

Denknothwendigkeiten sind Moralnothwendigkeiten.<br />

Herbert Spencer.<br />

Der letzte Prüfstein für <strong>die</strong> Wahrheit eines Satzes ist <strong>die</strong><br />

Unbegreiflichkeit ihrer Verneinung.


Herbert Spencer.<br />

Aphorism n=12202 id='VIII.14[49]' kgw='VIII-3.34' ksa='13.242'<br />

Modernität.<br />

Die Verhäßlichung der Musik.<br />

<strong>die</strong> Herrschaft <strong>des</strong> Abstrakten: „das bedeutet“:<br />

gleichgültig gegen den „Sumpf“, zu dem <strong>die</strong> Sinne gar<br />

nicht Ja sagen sollen …<br />

Musik soll durchaus etwas bedeuten, was nicht Musik ist:<br />

dabei wird aus ihr<br />

der Rhythmus<br />

<strong>die</strong> Melo<strong>die</strong><br />

<strong>die</strong> Farbe<br />

der Bau<br />

der falsche Tiefsinn als Stille der Gedanken; <strong>die</strong> Wuth, <strong>die</strong><br />

Reue, der Krampf, <strong>die</strong> Ekstase — alles leichte Dinge,<br />

Spielereien, <strong>die</strong> man noch immer vermischen kann bis zur<br />

Vollendung<br />

Aphorism n=12203 id='VIII.14[50]' kgw='VIII-3.34' ksa='13.242'<br />

5. Die Mittel, mit denen der Schauspieler obenauf kommt<br />

6. Die Gefahr <strong>des</strong> Theaters als Ort der Verderbniß aller<br />

Künste.<br />

7. Das Überflüssige aller Neuerungen Wagner's selbst in der<br />

Oper<br />

8. Carmen: und <strong>die</strong> deprimirende Wirkung Wagner's:<br />

physiologische Einsprache gegen Wagner<br />

Page Break KGW='VIII-3.35' KSA='13.243'<br />

9. <strong>die</strong> große Zweideutigkeit der tragischen Tendenz<br />

bei Wagner: mein realismus in aestheticis …<br />

10. Wiederherstellung <strong>des</strong> Begriffs „tragisch“<br />

11. Die Bedeutung <strong>die</strong>ses psychologisch-aesthetischen Phänomens<br />

für <strong>die</strong> Geschichte der „modernen Seele“.<br />

12. : wesentlich undeutsch, — darin liegt seine<br />

Auszeichnung …<br />

13. : Kritik der „Romantik“.<br />

Aphorism n=12204 id='VIII.14[51]' kgw='VIII-3.35' ksa='13.243'<br />

Wagner als Problem.<br />

Ein Wort zur Aufklärung.


Von<br />

Friedrich Nietzsche.<br />

Aphorism n=12205 id='VIII.14[52]' kgw='VIII-3.35' ksa='13.243'<br />

— — — <strong>des</strong>sen Klugheit zur rechten Zeit mit dem<br />

deutschen Wesen Frieden machte, den Kaisermarsch dichtete,<br />

General-Kapellmeister-Stellungen ambitionirte<br />

der zu jedem Schmutz con<strong>des</strong>cendirte, mit dem sich der<br />

deutsche Geist, <strong>die</strong>ser so corrupte deutsche Geist, befleckt hat<br />

der mit seinem Parsifal allen Feigheiten der modernen Seele<br />

zuredete.<br />

Diese sehr zweideutig gewordene Personnage, auf deren Grab<br />

nichts<strong>des</strong>toweniger ein Wagner-Verein — der Münchener —<br />

einen Kranz mit der Inschrift niederlegte:<br />

Erlösung dem Erlöser! …<br />

Man sieht, das Problem ist groß, das Mißverständniß<br />

ungeheuer.<br />

Wenn Wagner zum Erlöser werden konnte,<br />

Wer erlöst uns von <strong>die</strong>ser Erlösung?<br />

wer erlöst uns von <strong>die</strong>sem Erlöser? …<br />

Page Break KGW='VIII-3.36' KSA='13.244'<br />

Aphorism n=12206 id='VIII.14[53]' kgw='VIII-3.36' ksa='13.244'<br />

Es giebt Instrumente, mit denen man <strong>die</strong> Eingeweide<br />

überredet, andere haben ihren Erfolg im Rückenmark … Man hat<br />

mir verrathen, daß <strong>die</strong> Wirkung Wagnerischer Musik am stärksten<br />

nach einer Kur in Carlsbad ist…<br />

Aphorism n=12207 id='VIII.14[54]' kgw='VIII-3.36' ksa='13.244'<br />

Aber Wagner ist nicht nur hier ein Vorbild… Und man hat<br />

ihn in der ganzen Welt verstanden… Man macht seit Wagner<br />

eine neue Musik, man macht sie in Rußland, in Paris, in<br />

Südamerika, man macht sie selbst in Deutschland… Ich selbst wüßte<br />

Unterricht zu geben, wie man <strong>die</strong>se neue Musik macht. Will man<br />

eine kleine Lektion?…<br />

Aphorism n=12208 id='VIII.14[55]' kgw='VIII-3.36' ksa='13.244'<br />

Unter Musikern.


Wir sind späte Musiker. Eine ungeheure Vergangenheit ist in<br />

uns vererbt. Unser Gedächtniß citirt beständig. Wir dürfen unter<br />

uns auf eine fast gelehrte Weise anspielen: wir verstehen uns<br />

schon. Auch unsere Zuhörer lieben es, daß wir anspielen: es<br />

schmeichelt ihnen, sie fühlen sich dabei gelehrt.<br />

Aphorism n=12209 id='VIII.14[56]' kgw='VIII-3.36' ksa='13.244'<br />

Erster Satz aller Theater-Optik: was als wahr wirken soll,<br />

darf nicht wahr sein.<br />

Der Schauspieler hat das Gefühl nicht, das er darstellt; er<br />

wäre verloren, wenn er es hätte<br />

Man kennt, wie ich hoffe, <strong>die</strong> berühmten Ausführungen<br />

Talmas<br />

Aphorism n=12210 id='VIII.14[57]' kgw='VIII-3.36' ksa='13.244'<br />

Überzeugung<br />

Zur Psychologie <strong>des</strong> Paulus.<br />

Das Faktum ist der Tod Jesu. Dies bleibt auszulegen…<br />

Page Break KGW='VIII-3.37' KSA='13.245'<br />

Daß es eine Wahrheit und einen Irrthum in der Auslegung<br />

giebt, ist gar nicht solchen Leuten in den Sinn gekommen: eines<br />

Tages steigt ihnen eine sublime Möglichkeit in den Kopf, „es<br />

könnte <strong>die</strong>ser Tod das und das bedeuten“<br />

und sofort ist er das! Eine Hypothese beweist sich durch<br />

den sublimen Schwung, welchen sie ihrem Urheber giebt…<br />

„Der Beweis der Kraft“: d.h. ein Gedanke wird durch seine<br />

Wirkung bewiesen, — („an seinen Früchten“, wie <strong>die</strong> Bibel<br />

naiv sagt)<br />

was begeistert, muß wahr sein —<br />

wofür man sein Blut läßt, muß wahr sein —<br />

Hier wird überall das plötzliche <strong>Macht</strong>gefühl, das ein<br />

Gedanke in seinem Urheber erregt, <strong>die</strong>sem Gedanken als Werth<br />

zugerechnet: — und da man einen Gedanken gar nicht anders<br />

zu ehren weiß, als indem man ihn als wahr bezeichnet, so ist das<br />

erste Prädikat, das er zu seiner Ehre bekommt, er sei wahr…<br />

Wie könnte er sonst wirken? Er wird von einer <strong>Macht</strong> imaginirt:<br />

gesetzt sie wäre nicht real, so könnte sie nicht wirken… Er wird<br />

als inspirirt aufgefaßt: <strong>die</strong> Wirkung, <strong>die</strong> er ausübt, hat<br />

etwas von der Übergewalt eines dämonischen Einflusses —<br />

Ein Gedanke, dem ein solcher décadent nicht Widerstand zu<br />

leisten vermag, dem er vollends verfällt, ist als wahr<br />

„bewiesen“!!!


Alle <strong>die</strong>se heiligen Epileptiker und Gesichte-Seher besaßen<br />

nicht ein Tausendstel von jener Rechtschaffenheit der Selbstcritik,<br />

mit der heute ein Philologe einen Text liest oder ein historisches<br />

Ereigniß auf seine Wahrheit prüft…<br />

es sind, im Vergleich zu uns, moralische Cretins…<br />

Aphorism n=12211 id='VIII.14[58]' kgw='VIII-3.37' ksa='13.245'<br />

Carlyle…<br />

Die Herkunft der Wissenschaft: man gebe Acht. Sie<br />

entsteht nicht bei den Priestern und den Philosophen, ihren<br />

Page Break KGW='VIII-3.38' KSA='13.246'<br />

natürlichen Gegnern. Sie entsteht bei den Söhnen von Handwerkern<br />

und Geschäftsleuten aller Art, bei Advokaten usw.: solchen,<br />

welchen <strong>die</strong> Tüchtigkeit <strong>des</strong> Handwerks und <strong>des</strong>sen<br />

Voraussetzung sich auch auf solche Fragen und deren<br />

Beantwortung übertrug.<br />

Aphorism n=12212 id='VIII.14[59]' kgw='VIII-3.38' ksa='13.246'<br />

Überzeugung und Lüge.<br />

Die „Besserung“.<br />

Wie man <strong>die</strong> Tugend zur <strong>Macht</strong> bringt.<br />

Mitleiden.<br />

„Altruismus“.<br />

Entsagung.<br />

Entsinnlichung<br />

Aphorism n=12213 id='VIII.14[60]' kgw='VIII-3.38' ksa='13.246'<br />

Ein Glaube der behauptet „selig“ zu machen, nachdem er<br />

krank machte. Ein Glaube, der sich auf Bücher beruft, — ein<br />

Glaube, der eine Offenbarung für sich in Anspruch nimmt —<br />

ein Glaube, der den Zweifel an sich als „Sünde“ betrachtet, ein<br />

Glaube, der sich durch Märtyrertode beweist — — —<br />

Ein anderes Abzeichen <strong>des</strong> Theologen ist sein Unvermögen<br />

zur Philologie. Ich verstehe hier das Wort Philologie<br />

in einem sehr allgemeinen Sinne: Thatsachen ablesen können<br />

ohne sie durch Interpretation zu fälschen, ohne — — —<br />

Aphorism n=12214 id='VIII.14[61]' kgw='VIII-3.38' ksa='13.246'


Wille zur <strong>Macht</strong> als Kunst<br />

„Musik“ — und der große Styl<br />

Die Größe eines Künstlers bemißt sich nicht nach den<br />

„schönen Gefühlen“ <strong>die</strong> er erregt: das mögen <strong>die</strong> Weiblein glauben.<br />

Sondern nach dem Grade, in dem er sich dem großen Stile nähert,<br />

in dem er fähig ist <strong>des</strong> großen Stils. Dieser Stil hat das mit der<br />

großen Leidenschaft gemein, daß er es verschmäht zu gefallen;<br />

Page Break KGW='VIII-3.39' KSA='13.247'<br />

daß er es vergißt zu überreden; daß er befiehlt; daß er will…<br />

Über das Chaos Herr werden das man ist; sein Chaos zwingen,<br />

Form zu werden; Nothwendigkeit werden in Form: logisch,<br />

einfach, unzweideutig, Mathematik werden; Gesetz werden —:<br />

das ist hier <strong>die</strong> große Ambition. Mit ihr stößt man zurück; nichts<br />

reizt mehr <strong>die</strong> Liebe zu solchen Gewaltmenschen — eine Einöde<br />

legt sich um sie, ein Schweigen, eine Furcht wie vor einem großen<br />

Frevel…<br />

Alle Künste kennen solche Ambitiöse <strong>des</strong> großen Stils: warum<br />

fehlen sie in der Musik? Noch niemals hat ein Musiker gebaut,<br />

wie jener Baumeister, der den Palazzo Pitti schuf?… Hier liegt<br />

ein Problem. Gehört <strong>die</strong> Musik vielleicht in jene Cultur, wo das<br />

Reich aller Art Gewaltmenschen schon zu Ende gieng? Widerspräche<br />

zuletzt der Begriff großer Stil schon der Seele der Musik,<br />

— dem „Weibe“ in unserer Musik?…<br />

Ich berühre hier eine Cardinal-Frage: wohin gehört unsere<br />

ganze Musik? Die Zeitalter <strong>des</strong> klassischen Geschmacks kennen<br />

nichts ihr Vergleichbares: sie ist aufgeblüht, als <strong>die</strong><br />

Renaissance-Welt ihren Abend erreichte, als <strong>die</strong> „Freiheit“<br />

aus den Sitten und selbst aus den Wünschen davon war:<br />

gehört es zu ihrem Charakter, Gegenrenaissance zu sein?<br />

Und anders ausgedrückt eine Décadence-Kunst zu sein?<br />

etwa wie der Barockstil eine Décadence-Kunst ist? Ist<br />

sie <strong>die</strong> Schwester <strong>des</strong> Barockstils, da sie jedenfalls seine<br />

Zeitgenossin ist? Ist Musik, moderne Musik nicht<br />

schon décadence?…<br />

Die Musik ist Gegenrenaissance in der Kunst: sie ist auch<br />

décadence als Gesellschafts-Ausdruck<br />

Ich habe schon früher einmal den Finger auf <strong>die</strong>se Frage<br />

gelegt: ob unsere Musik nicht ein Stück Gegenrenaissance in der<br />

Kunst ist? ob sie nicht <strong>die</strong> Nächstverwandte <strong>des</strong> Barockstils ist?<br />

ob sie nicht im Widerspruch zu allem klassischen Geschmack<br />

Page Break KGW='VIII-3.40' KSA='13.248'<br />

gewachsen ist, so daß sich in ihr jede Ambition der Classicität<br />

von selbst verböte?…


Auf <strong>die</strong>se Werthfrage ersten Ranges würde <strong>die</strong> Antwort nicht<br />

zweifelhaft sein dürfen, wenn <strong>die</strong> Thatsache richtig abgeschätzt<br />

worden wäre, daß <strong>die</strong> Musik als Romantik ihre höchste Reife<br />

und Fülle erlangt — noch einmal als Reaktions-Bewegung gegen<br />

<strong>die</strong> Classicität…<br />

Mozart — eine zärtliche und verliebte Seele, aber ganz<br />

achtzehntes Jahrhundert, auch noch in seinem Ernste… Beethoven<br />

der erste große Romantiker, im Sinne <strong>des</strong> französischen<br />

Begriffs Romantik, wie Wagner der letzte große Romantiker<br />

ist… bei<strong>des</strong> instinktive Widersacher <strong>des</strong> klassischen Geschmacks,<br />

<strong>des</strong> strengen Stils, — um vom „großen“ hier nicht zu reden…<br />

bei<strong>des</strong> — — —<br />

Aphorism n=12215 id='VIII.14[62]' kgw='VIII-3.40' ksa='13.248'<br />

Modernität<br />

<strong>die</strong> deutsche romantische Musik, ihre Ungeistigkeit,<br />

ihr Haß gegen <strong>die</strong> „Aufklärung“ und „Vernunft“<br />

Verkümmerung der Melo<strong>die</strong> das Gleiche, wie das Verkümmern<br />

der „Idee“, der Dialektik, der Freiheit geistigster Bewegung,<br />

— wie viel Kampf gegen Voltaire ist in der deutschen<br />

Musik!…<br />

wie viel Plumpheit, Gestopftheit, was sich zu neuen Begriffen<br />

und selbst zu Principien entwickelt —<br />

man hat immer <strong>die</strong> Principien seiner Begabung<br />

gegen <strong>die</strong> höhere Tragö<strong>die</strong> und spöttische Geistigkeit, gegen<br />

das Buffo<br />

ich habe Biertrinker und Militärärzte gesehen, <strong>die</strong> Wagner<br />

„verstanden“…<br />

Page Break KGW='VIII-3.41' KSA='13.249'<br />

Wagners Ehrgeiz, auch <strong>die</strong> Idioten zu zwingen, Wagner zu<br />

verstehen<br />

Aphorism n=12216 id='VIII.14[63]' kgw='VIII-3.41' ksa='13.249'<br />

Der Held, wie ihn Wagner concipirt, wie modern! wie kühn!<br />

wie geistreich-complex hat er ihn concipirt! Wie verstand<br />

Wagner, den drei Grundbedürfnissen der modernen Seele mit seinen<br />

Helden entgegenzukommen — sie will das Brutale, das Krankhafte<br />

und das Unschuldige…<br />

<strong>die</strong>se prachtvollen Ungethüme, mit Leibern aus Vorzeiten<br />

und Nerven von Übermorgen; <strong>die</strong>se blonden Heiligen, deren


kaum präexistente Sinnlichkeit den Frauen so viel zarte<br />

Neugierde inspirirt und so viel Entgegenkommen erlaubt …<br />

Beaumarchais hat Cherubin, Wagner hat Parsifal den schönen<br />

Frauen zum Geschenk gemacht:<br />

Und was <strong>die</strong> hysterisch-heroischen Wesen angeht, <strong>die</strong><br />

Wagner als Weib concipirt hat, vergöttlicht hat, den Typus<br />

Senta, Elsa, Isolde, Brünnhilde, Kundry: so sind sie im Theater<br />

interessant genug — aber wer möchte sie?…<br />

daß <strong>die</strong>ser Typus selbst in Deutschland nicht gänzlich degoutirt<br />

hat, hat darin seinen Grund (wenn auch noch lange nicht sein<br />

Recht:) daß bereits ein unvergleichlich größerer Dichter als<br />

Wagner, der edle Heinrich von Kleist, ihm daselbst <strong>die</strong> Fürsprache<br />

<strong>des</strong> Genies gegeben hatte<br />

Aphorism n=12217 id='VIII.14[64]' kgw='VIII-3.41' ksa='13.249'<br />

Frage: ist das Entpersönlichung durch eine Wahrheit,<br />

wenn man sich in einen Gedanken versenkt?<br />

… Herzen behauptet das: er meint, es sei etwas ganz<br />

Gewöhnliches, daß man sein moi vergesse und fahren lasse —<br />

Frage: ob auch da nicht bloße Scheinbarkeit ist; ob<br />

das, was eine Frage interessant findet, nicht unser ganzes<br />

vielfaches Ich ist…<br />

Page Break KGW='VIII-3.42' KSA='13.250'<br />

Aphorism n=12218 id='VIII.14[65]' kgw='VIII-3.42' ksa='13.250'<br />

décadence(1694)<br />

Was sich vererbt, das ist nicht <strong>die</strong> Krankheit, sondern <strong>die</strong><br />

Krankhaftigkeit: <strong>die</strong> Unkraft im Widerstande gegen <strong>die</strong><br />

Gefahr schädlicher Einwanderungen usw.; <strong>die</strong> gebrochene<br />

Widerstandskraft — moralisch ausgedrückt: <strong>die</strong> Resignation und<br />

Demuth vor dem Feinde.<br />

Ich habe mich gefragt, ob man nicht alle <strong>die</strong>se obersten<br />

Werthe der bisherigen Philosophie Moral und Religion mit den<br />

Werthen der Geschwächten, Geisteskranken und Neurastheniker<br />

vergleichen kann: sie stellen, in einer milderen Form,<br />

<strong>die</strong>selben Übel dar…<br />

der Werth aller morbiden Zustände ist, daß sie in einem<br />

Vergrößerungsglas gewisse Zustände, <strong>die</strong> normal aber als<br />

normal schlecht sichtbar sind, zeigen…<br />

Gesundheit und Krankheit sind nichts wesentlich<br />

Verschiedenes, wie es <strong>die</strong> alten Mediziner und heute noch einige<br />

Praktiker glauben. Man muß nicht distinkte Principien, oder<br />

Entitäten daraus machen, <strong>die</strong> sich um den lebenden Organismus<br />

streiten und aus ihm ihren Kampfplatz machen. Das ist altes


Zeug und Geschwätz, das zu nichts mehr taugt. Thatsächlich giebt<br />

es zwischen <strong>die</strong>sen beiden Arten <strong>des</strong> Daseins nur Gradunterschiede:<br />

<strong>die</strong> Übertreibung, <strong>die</strong> Disproportion, <strong>die</strong> Nicht-Harmonie<br />

der normalen Phänomene constituiren den krankhaften<br />

Zustand. Claude Bernard.<br />

So gut das Böse betrachtet werden kann als Übertreibung,<br />

Disharmonie, Disproportion, so gut kann das Gute eine<br />

Schutzdiät gegen <strong>die</strong> Gefahr der Übertreibung, Disharmonie und<br />

Disproportion sein<br />

Die erbliche Schwäche, als dominiren<strong>des</strong> Gefühl:<br />

Ursache der obersten Werthe.<br />

NB Man will Schwäche: warum? … meistens, weil man<br />

nothwendig schwach ist…<br />

Page Break KGW='VIII-3.43' KSA='13.251'<br />

Die Schwächung als Aufgabe: Schwächung der Begehrungen,<br />

der Lust- und Unlustgefühle, <strong>des</strong> Willens zur <strong>Macht</strong>, zum<br />

Stolzgefühl, zum Haben und Mehr-haben-wollen; <strong>die</strong> Schwächung<br />

als Demuth; <strong>die</strong> Schwächung als Glaube; <strong>die</strong> Schwächung<br />

als Widerwille und Scham an allem Natürlichen, als<br />

Verneinung <strong>des</strong> Lebens, als Krankheit und habituelle Schwäche…<br />

<strong>die</strong> Schwächung als Verzichtleisten auf Rache, auf<br />

Widerstand, auf Feindschaft und Zorn.<br />

der Fehlgriff in der Behandlung: man will <strong>die</strong> Schwäche<br />

nicht bekämpfen durch ein système fortifiant, sondern<br />

durch eine Art Rechtfertigung und Moralisirung: d.h.<br />

durch eine Auslegung…<br />

Die Verwechslung zweier gänzlich verschiedener<br />

Zustände: z.B. <strong>die</strong> Ruhe der Stärke, welche wesentlich<br />

Enthaltung der Reaktion ist, der Typus der Götter, welche nichts<br />

bewegt…<br />

und <strong>die</strong> Ruhe der Erschöpfung, <strong>die</strong> Starrheit, bis zur<br />

Anaesthesie.<br />

: alle philosophisch-asketischen Prozeduren streben nach der<br />

zweiten, aber meinen in der That <strong>die</strong> erste… Denn sie legen dem<br />

erreichten Zustande <strong>die</strong> Prädikate bei, wie als ob ein göttlicher<br />

Zustand erreicht sei.<br />

Aphorism n=12219 id='VIII.14[66]' kgw='VIII-3.43' ksa='13.251'<br />

Moral als décadence<br />

Warum <strong>die</strong> Schwäche nicht bekämpft, sondern nur<br />

„gerechtfertigt“ wird<br />

Die Abnahme <strong>des</strong> Heilkraft-Instinktes bei den<br />

Geschwächten: so daß sie als remedium begehren, was ihren<br />

Untergang beschleunigt. Z.B. <strong>die</strong> meisten Vegetarier hätten eine<br />

corroborirende Kost nöthig, um der erschlafften Faser wieder Energie


zu geben: aber sie halten ihr penchant zum Milden und Sanften<br />

für einen Wink der Natur: — und schwächen sich noch hyper<br />

moron…<br />

Page Break KGW='VIII-3.44' KSA='13.252'<br />

Aphorism n=12220 id='VIII.14[67]' kgw='VIII-3.44' ksa='13.252'<br />

Das Weib reagirt langsamer als der Mann, der Chinese langsamer<br />

als der Europäer…<br />

Aphorism n=12221 id='VIII.14[68]' kgw='VIII-3.44' ksa='13.252'<br />

Religion als décadence<br />

Das gefährlichste Missverständniss.<br />

Es giebt einen Begriff, der anscheinend keine Verwechslung,<br />

keine Zweideutigkeit zuläßt: das ist der der Erschöpfung. Diese<br />

kann erworben sein; sie kann vererbt sein — in jedem Falle<br />

verändert sie den Aspekt der Dinge, den Werth der Dinge…<br />

Im Gegensatz zu dem, der, aus der Fülle, welche er darstellt<br />

und fühlt, unfreiwillig abgiebt an <strong>die</strong> Dinge, sie voller, mächtiger,<br />

zukunftsreicher sieht — der jedenfalls schenken kann,<br />

verkleinert und verhunzt der Erschöpfte alles was er sieht, — er<br />

verarmt den Werth: er ist schädlich…<br />

Hierüber scheint kein Fehlgriff möglich: trotzdem enthält <strong>die</strong><br />

Geschichte <strong>die</strong> schauerliche Thatsache, daß <strong>die</strong> Erschöpften immer<br />

verwechselt worden sind mit den Vollsten — und <strong>die</strong> Vollsten<br />

mit den Schädlichsten.<br />

Der Arme an Leben der Schwache verarmt noch das Leben:<br />

der Reiche an Leben der Starke bereichert es…<br />

Der Erste ist <strong>des</strong>sen Parasit; der Zweite ein<br />

Hinzuschenkender…<br />

Wie ist eine Verwechslung möglich?…<br />

Wenn der Erschöpfte mit der Gebärde der höchsten Aktivität<br />

und Energie auftritt: wenn <strong>die</strong> Entartung einen Exceß der geistigen<br />

oder nervösen Entladung bedingt, dann verwechselte<br />

man ihn mit dem Reichen… Er erregte Furcht…<br />

der Cultus <strong>des</strong> Narren ist immer noch der Cultus <strong>des</strong><br />

An-Leben-Reichen <strong>des</strong> Mächtigen<br />

der Fanatiker, der Besessene, der religiöse Epileptiker, alle<br />

Excentrischen sind als höchste Typen der <strong>Macht</strong> empfunden worden<br />

Page Break KGW='VIII-3.45' KSA='13.253'<br />

: als göttlich<br />

<strong>die</strong>se Art Stärke, <strong>die</strong> Furcht erregt, galt vor allem als<br />

göttlich: hierher nahm <strong>die</strong> Autorität ihren Ausgangspunkt, hier<br />

interpretirte, hörte, suchte man Weisheit…


Hieraus entwickelte sich, überall beinahe, ein Wille zur<br />

„Vergöttlichung“, d.h. zur typischen Entartung von Geist, Leib<br />

und Nerven: ein Versuch, den Weg zu <strong>die</strong>ser höheren Art Sein<br />

zu finden<br />

sich krank, sich toll machen: <strong>die</strong> Symptome der Zerrüttung<br />

provociren — das hieß stärker, übermenschlicher, furchtbarer,<br />

weiser werden:<br />

— man glaubte damit so reich an <strong>Macht</strong> zu werden, daß man<br />

abgeben konnte: überall, wo angebetet worden ist, suchte man<br />

einen, der abgeben kann.<br />

daß man den Narren für etwas Übermenschliches nahm<br />

daß man in den Nervenkranken und Epileptikern furchtbare<br />

Mächte thätig glaubte<br />

Hier war irreführend <strong>die</strong> Erfahrung <strong>des</strong> Rausches…<br />

<strong>die</strong>ser vermehrt im höchsten Grade das Gefühl der<br />

<strong>Macht</strong><br />

folglich, naiv beurtheilt, <strong>die</strong> <strong>Macht</strong> —<br />

auf der höchsten Stufe der <strong>Macht</strong> mußte der Berauschteste<br />

stehen, der Ekstatische<br />

es giebt zwei Ausgangspunkte <strong>des</strong> Rausches: <strong>die</strong> übergroße<br />

Fülle <strong>des</strong> Lebens und einen Zustand von krankhafter Ernährung<br />

<strong>des</strong> Gehirns<br />

Nichts hat sich theurer bezahlt gemacht, als <strong>die</strong> Verwechslung<br />

im Physiologischen. —<br />

Aphorism n=12222 id='VIII.14[69]' kgw='VIII-3.45' ksa='13.253'<br />

Die physiologischen Mißverständnisse.<br />

1. <strong>die</strong> Krankheit als höhere Form <strong>des</strong> Lebens mißverstanden<br />

Page Break KGW='VIII-3.46' KSA='13.254'<br />

2. der Rausch<br />

3. <strong>die</strong> Impassibilität.<br />

Aphorism n=12223 id='VIII.14[70]' kgw='VIII-3.46' ksa='13.254'<br />

Die Lust tritt auf, wo Gefühl der <strong>Macht</strong><br />

Das Glück in dem herrschend gewordenen Bewußtsein der<br />

<strong>Macht</strong> und <strong>des</strong> Siegs<br />

Der Fortschritt: <strong>die</strong> Verstärkung <strong>des</strong> Typus, <strong>die</strong> Fähigkeit<br />

zum großen Wollen: alles andere ist Mißverständniß,<br />

Gefahr, — — —


Aphorism n=12224 id='VIII.14[71]' kgw='VIII-3.46' ksa='13.254'<br />

Wille zur <strong>Macht</strong> als „Naturgesetz“<br />

Wille zur <strong>Macht</strong> als Leben<br />

Wille zur <strong>Macht</strong> als Kunst.<br />

Wille zur <strong>Macht</strong> als Moral.<br />

Wille zur <strong>Macht</strong> als Politik<br />

Wille zur <strong>Macht</strong> als Wissenschaft.<br />

Wille zur <strong>Macht</strong> als Religion<br />

Aphorism n=12225 id='VIII.14[72]' kgw='VIII-3.46' ksa='13.254'<br />

Wille zur <strong>Macht</strong>.<br />

Morphologie.<br />

Wille zur <strong>Macht</strong> als „Natur“<br />

als Leben<br />

als Gesellschaft<br />

als Wille zur Wahrheit<br />

als Religion<br />

als Kunst<br />

als Moral<br />

als Menschheit<br />

Die Gegenbewegung<br />

Wille zum Nichts<br />

<strong>die</strong> Überwundenen. Der Abfall, <strong>die</strong> Entarteten<br />

Page Break KGW='VIII-3.47' KSA='13.255'<br />

Aphorism n=12226 id='VIII.14[73]' kgw='VIII-3.47' ksa='13.255'<br />

Folgen der décadence.<br />

Das Laster, <strong>die</strong> Lasterhaftigkeit<br />

<strong>die</strong> Krankheit, <strong>die</strong> Krankhaftigkeit<br />

das Verbrechen, <strong>die</strong> Criminalität<br />

das Coelibat, <strong>die</strong> Sterilität<br />

der Hysterismus, <strong>die</strong> Willensschwäche, der Alkoholismus<br />

der Pessimismus<br />

der Anarchismus<br />

Aphorism n=12227 id='VIII.14[74]' kgw='VIII-3.47' ksa='13.255'<br />

Die Degenerescenz:<br />

Erster Grundsatz: was man bisher als Ursachen der<br />

Degeneration ansah, sind deren Folgen.


: das Laster: als Folge;<br />

: <strong>die</strong> Krankheit <strong>die</strong> Sterilität<br />

: das Verbrechen<br />

<strong>die</strong> Verleumder Scepsis<br />

Untergraber Asketik<br />

Anzweifler Nihilismus<br />

Zerstörer Jenseitigkeit<br />

: <strong>die</strong> libertinage (auch <strong>die</strong> geistige) — Coelibat.<br />

: <strong>die</strong> Willensschwäche: der Pessimismus; der Anarchismus;<br />

Aber auch, was man als Heilmittel gegen <strong>die</strong> Entartung<br />

betrachtet, sind nur Palliative gegen gewisse Wirkungen<br />

derselben: <strong>die</strong> „Geheilten“ sind nur ein Typus der<br />

Degenerirten.<br />

Aphorism n=12228 id='VIII.14[75]' kgw='VIII-3.47' ksa='13.255'<br />

Begriff „décadence“<br />

Der Abfall, Verfall, Ausschuß ist nichts, was an<br />

sich zu verurtheilen wäre: er ist eine nothwendige Consequenz <strong>des</strong><br />

Lebens, <strong>des</strong> Wachsthums an Leben. Die Erscheinung der<br />

Page Break KGW='VIII-3.48' KSA='13.256'<br />

décadence ist so nothwendig, wie irgend ein Aufgang und Vorwärts<br />

<strong>des</strong> Lebens: man hat es nicht in der Hand sie abzuschaffen.<br />

Die Vernunft will umgekehrt, daß ihr ihr Recht wird…<br />

Es ist eine Schmach für alle socialistischen Systematiker, daß<br />

sie meinen, es könnte Umstände geben, gesellschaftliche<br />

Combinationen, unter denen das Laster, <strong>die</strong> Krankheit, das<br />

Verbrechen, <strong>die</strong> Prostitution, <strong>die</strong> Noth nicht mehr wüchse… Aber<br />

das heißt das Leben verurtheilen… Es steht einer Gesellschaft<br />

nicht frei, jung zu bleiben. Und noch in ihrer besten Kraft muß<br />

sie Unrath und Abfallsstoffe bilden. Je energischer und kühner sie<br />

vorgeht, um so reicher wird sie an Mißglückten, an Mißgebilden<br />

sein, um so näher dem Niedergang sein… Alter schafft man nicht<br />

durch Institutionen ab. Die Krankheit auch nicht. Das Laster<br />

auch nicht.<br />

Aphorism n=12229 id='VIII.14[76]' kgw='VIII-3.48' ksa='13.256'<br />

Ehemals sagte man von jeder Moral: „an ihren Früchten sollt<br />

ihr sie erkennen“; ich sage von jeder Moral: sie ist eine Frucht,<br />

an der ich den Boden erkenne, aus dem sie wuchs.


Aphorism n=12230 id='VIII.14[77]' kgw='VIII-3.48' ksa='13.256'<br />

Wir Hyperboreer.<br />

Eine Vorrede.<br />

Der Wille zur <strong>Macht</strong>.<br />

Erster Theil.<br />

Psychologie der décadence.<br />

Theorie der décadence.<br />

Zweiter Theil.<br />

Kritik <strong>des</strong> Zeitgeistes.<br />

Dritter Theil.<br />

Der große Mittag.<br />

Vierter Theil.<br />

Page Break KGW='VIII-3.49' KSA='13.257'<br />

Die Starken.<br />

Die Schwachen.<br />

Wohin gehören wir?<br />

Die große Wahl.<br />

Aphorism n=12231 id='VIII.14[78]' kgw='VIII-3.49' ksa='13.257'<br />

Der Wille zur <strong>Macht</strong>.<br />

Versuch einer Umwerthung aller Werthe.<br />

Erster Theil.<br />

Was aus der Stärke stammt.<br />

Zweiter Theil.<br />

Was aus der Schwäche stammt.<br />

Dritter Theil.<br />

Und woraus stammen wir? —<br />

Vierter Theil.<br />

Die grosse Wahl.<br />

Aphorism n=12232 id='VIII.14[79]' kgw='VIII-3.49' ksa='13.257'<br />

Wille zur <strong>Macht</strong> Philosophie<br />

<strong>Macht</strong>quanta. Kritik <strong>des</strong> Mechanismus<br />

entfernen wir hier <strong>die</strong> zwei populären Begriffe „Nothwendigkeit“


und „Gesetz“: das erste legt einen falschen Zwang, das<br />

zweite eine falsche Freiheit in <strong>die</strong> Welt. „Die Dinge“ betragen<br />

sich nicht regelmäßig, nicht nach einer Regel: es giebt keine<br />

Dinge ( — das ist unsere Fiktion) sie betragen sich ebensowenig<br />

unter einem Zwang von Nothwendigkeit. Hier wird nicht<br />

gehorcht: denn daß etwas so ist, wie es ist, so stark,<br />

so schwach, das ist nicht <strong>die</strong> Folge eines Gehorchens oder einer<br />

Regel oder eines Zwanges…<br />

Der Grad von Widerstand und der Grad von Übermacht —<br />

darum handelt es(1695) sich bei allem Geschehen: wenn wir, zu<br />

unserem Hausgebrauch der Berechnung, das in Formeln von<br />

Page Break KGW='VIII-3.50' KSA='13.258'<br />

„Gesetzen“ auszudrücken wissen, um so besser für uns! Aber wir<br />

haben damit keine „Moralität“ in <strong>die</strong> Welt gelegt, daß wir sie<br />

als(1696) gehorsam fingiren —<br />

Es giebt kein Gesetz: jede <strong>Macht</strong> zieht in jedem Augenblick<br />

ihre letzte Consequenz. Gerade, daß es kein mezzo termine giebt,<br />

darauf beruht <strong>die</strong> Berechenbarkeit.<br />

Ein <strong>Macht</strong>quantum ist durch <strong>die</strong> Wirkung, <strong>die</strong> es übt und der<br />

es widersteht, bezeichnet. Es fehlt <strong>die</strong> Adiaphorie: <strong>die</strong> an sich<br />

denkbar wäre. Es ist essentiell ein Wille zur Vergewaltigung und<br />

sich gegen Vergewaltigungen zu wehren. Nicht Selbsterhaltung:<br />

je<strong>des</strong> Atom wirkt in das ganze Sein hinaus, — es ist weggedacht,<br />

wenn man <strong>die</strong>se Strahlung von <strong>Macht</strong>willen wegdenkt. Deshalb<br />

nenne ich es ein Quantum „Wille zur <strong>Macht</strong>“: damit ist<br />

der Charakter ausgedrückt, der aus der mechanischen Ordnung<br />

nicht weggedacht werden kann, ohne sie selbst wegzudenken.<br />

Eine Übersetzung <strong>die</strong>ser Welt von Wirkung in eine sichtbare<br />

Welt — eine Welt für's Auge — ist der Begriff „Bewegung“.<br />

Hier ist immer subintelligirt, daß etwas bewegt wird,<br />

— hierbei wird, sei es nun in der Fiktion eines Klümpchen-Atoms<br />

oder selbst von <strong>des</strong>sen Abstraktion, dem dynamischen Atom,<br />

immer noch ein Ding gedacht, welches wirkt, — d.h. wir sind<br />

aus der Gewohnheit nicht herausgetreten, zu der uns Sinne und<br />

Sprache verleiten. Subjekt, Objekt, ein Thäter zum Thun, das<br />

Thun und das, was es thut, gesondert: vergessen wir nicht, daß<br />

das eine bloße Semiotik und nichts Reales bezeichnet. Die<br />

Mechanik als eine Lehre der Bewegung ist bereits eine Übersetzung<br />

in <strong>die</strong> Sinnensprache <strong>des</strong> Menschen.<br />

Wir haben Einheiten nöthig, um rechnen zu können: <strong>des</strong>halb<br />

ist nicht anzunehmen, daß es solche Einheiten giebt. Wir haben<br />

den Begriff der Einheit entlehnt von unserem „Ich“begriff, —<br />

unserem ältesten Glaubensartikel. Wenn wir uns nicht für<br />

Einheiten hielten, hätten wir nie den Begriff „Ding“ gebildet. Jetzt,<br />

ziemlich spät, sind wir reichlich davon überzeugt, daß unsere<br />

Conception <strong>des</strong> Ich-Begriffs nichts für eine reale Einheit<br />

Page Break KGW='VIII-3.51' KSA='13.259'


verbürgt. Wir haben also, um den Mechanismus der Welt theoretisch<br />

aufrecht zu erhalten, immer <strong>die</strong> Clausel zu machen, in wie fern<br />

wir sie mit zwei Fiktionen durchführen: dem Begriff der Bewegung<br />

(aus unserer Sinnensprache genommen) und dem Begriff <strong>des</strong><br />

Atoms = Einheit (aus unserer psychischen „Erfahrung“<br />

herstammend): sie hat ein Sinnen-Vorurtheil und ein<br />

psychologisches Vorurtheil zu ihrer Voraussetzung.<br />

Die mechanistische Welt ist so imaginirt, wie das<br />

Auge und das Getast sich allein eine Welt vorstellen (als<br />

„bewegt“)<br />

so, daß sie berechnet werden kann, — daß Einheiten fingirt<br />

sind,<br />

so daß ursächliche Einheiten fingirt sind, „Dinge“ (Atome),<br />

deren Wirkung constant bleibt ( — Übertragung <strong>des</strong> falschen<br />

Subjektbegriffs auf den Atombegriff)<br />

Zahlbegriff.<br />

Dingbegriff (Subjektbegriff<br />

Thätigkeitsbegriff (Trennung von Ursache-sein und Wirken)<br />

Bewegung (Auge und Getast)<br />

: daß alle Wirkung Bewegung ist<br />

: daß wo Bewegung ist, etwas bewegt wird<br />

Phänomenal ist also: <strong>die</strong> Einmischung <strong>des</strong> Zahlbegriffs,<br />

<strong>des</strong> Subjektbegriffs, <strong>des</strong> Bewegungsbegriffs: wir haben unser<br />

Auge, unsere Psychologie immer noch darin.<br />

Eliminiren wir <strong>die</strong>se Zuthaten: so bleiben keine Dinge übrig,<br />

sondern dynamische Quanta, in einem Spannungsverhältniß zu<br />

allen anderen dynamischen Quanten: deren Wesen in ihrem<br />

Verhältniß zu allen anderen Quanten besteht, in ihrem „Wirken“<br />

auf <strong>die</strong>selben — der Wille zur <strong>Macht</strong> nicht ein Sein, nicht ein<br />

Werden, sondern ein Pathos ist <strong>die</strong> elementarste Thatsache,<br />

aus der sich erst ein Werden, ein Wirken ergiebt…<br />

<strong>die</strong> Mechanik formulirt Folgeerscheinungen noch dazu<br />

semiotisch in sinnlichen und psychologischen Ausdrucksmitteln,<br />

sie berührt <strong>die</strong> ursächliche Kraft nicht …<br />

Page Break KGW='VIII-3.52' KSA='13.260'<br />

Aphorism n=12233 id='VIII.14[80]' kgw='VIII-3.52' ksa='13.260'<br />

Wenn das innerste Wesen <strong>des</strong> Seins Wille zur <strong>Macht</strong> ist, wenn<br />

Lust alles Wachsthum der <strong>Macht</strong>, Unlust alles Gefühl, nicht<br />

widerstehen und Herr werden zu können, ist: dürfen wir dann<br />

nicht Lust und Unlust als Cardinal-Thatsachen ansetzen? Ist<br />

Wille möglich ohne <strong>die</strong>se beiden Oscillationen <strong>des</strong> Ja und <strong>des</strong><br />

Nein? Aber wer fühlt Lust?… Aber wer will <strong>Macht</strong>?…<br />

Absurde Frage: wenn das Wesen selbst <strong>Macht</strong>wille und folglich<br />

Lust- und Unlust-fühlen ist. Trotzdem: es bedarf der Gegensätze,<br />

der Widerstände, also, relativ, der übergreifenden Einheiten…<br />

Lokalisirt - - -


wenn A auf B wirkt, so ist A erst lokalisirt getrennt von B<br />

Aphorism n=12234 id='VIII.14[81]' kgw='VIII-3.52' ksa='13.260'<br />

Kritik <strong>des</strong> Begriffs „Ursache“<br />

Psychologisch nachgerechnet: so ist der Begriff „Ursache“<br />

unser <strong>Macht</strong>gefühl vom sogenannten Wollen — unser Begriff<br />

„Wirkung“ der Aberglaube, daß das <strong>Macht</strong>gefühl <strong>die</strong> <strong>Macht</strong> selbst ist,<br />

welche bewegt…<br />

ein Zustand, der ein Geschehen begleitet, und schon eine<br />

Wirkung <strong>des</strong> Geschehens ist, wird projicirt als „zureichender<br />

Grund“ <strong>des</strong>selben<br />

das Spannungsverhältniß unseres <strong>Macht</strong>gefühls: <strong>die</strong> Lust als<br />

Gefühl der <strong>Macht</strong>: <strong>des</strong> überwundenen Widerstan<strong>des</strong> — sind das<br />

Illusionen?<br />

übersetzen wir den Begriff „Ursache“ wieder zurück in <strong>die</strong><br />

uns einzig bekannte Sphäre, woraus wir ihn genommen haben:<br />

so ist uns keine Veränderung vorstellbar, bei der es nicht<br />

einen Willen zur <strong>Macht</strong> giebt. Wir wissen eine Veränderung nicht<br />

abzuleiten, wenn nicht ein Übergreifen von <strong>Macht</strong> über andere<br />

<strong>Macht</strong> statt hat.<br />

Die Mechanik zeigt uns nur Folgen, und noch dazu im Bilde<br />

(Bewegung ist eine Bilderrede)<br />

Page Break KGW='VIII-3.53' KSA='13.261'<br />

Die Gravitation selbst hat keine mechanische Ursache, da sie<br />

der Grund erst für mechanische Folgen ist<br />

Der Wille zur Accumulation von Kraft als spezifisch für das<br />

Phänomen <strong>des</strong> Lebens, für Ernährung, Zeugung, Vererbung,<br />

für Gesellschaft, Staat, Sitte, Autorität<br />

sollten wir <strong>die</strong>sen Willen nicht als bewegende Ursache auch<br />

in der Chemie annehmen dürfen?<br />

und in der kosmischen Ordnung?<br />

nicht bloß Constanz der Energie: sondern Maximal-Ökonomie<br />

<strong>des</strong> Verbrauchs: so daß das Stärker-werden-wollen<br />

von jedem Kraftcentrum aus <strong>die</strong> einzige Realität ist,<br />

— nicht Selbstbewahrung, sondern Aneignung, Herr-werden-,<br />

Mehr-werden-, Stärker-werden-wollen.<br />

Daß Wissenschaft möglich ist, das soll uns ein<br />

Causalitäts-Princip beweisen?<br />

„aus gleichen Ursachen gleiche Wirkungen“:<br />

„ein permanentes Gesetz der Dinge“<br />

„eine invariable Ordnung“<br />

weil etwas berechenbar ist, ist es <strong>des</strong>halb schon nothwendig?<br />

wenn etwas so und nicht anders geschieht, so ist darin kein


„Princip“, kein „Gesetz“, keine „Ordnung“<br />

Kraft-Quanta, deren Wesen darin besteht, auf alle anderen<br />

Kraft-Quanta <strong>Macht</strong> auszuüben<br />

Beim Glauben an Ursache und Wirkung ist <strong>die</strong> Hauptsache<br />

immer vergessen: das Geschehen selbst.<br />

man hat einen Thäter angesetzt, man hat das Gethane<br />

wieder hypothesirt<br />

Aphorism n=12235 id='VIII.14[82]' kgw='VIII-3.53' ksa='13.261'<br />

Können wir ein Streben nach <strong>Macht</strong> annehmen, ohne<br />

eine Lust- und Unlust-Empfindung d.h. ohne ein Gefühl von<br />

der Steigerung und Verminderung der <strong>Macht</strong>?<br />

Page Break KGW='VIII-3.54' KSA='13.262'<br />

der Mechanismus ist nur eine Zeichensprache für <strong>die</strong><br />

interne Thatsachen-Welt kämpfender und überwindender<br />

Willens-Quanta?<br />

alle Voraussetzungen <strong>des</strong> Mechanismus, Stoff, Atom, Druck<br />

und Stoß, Schwere sind nicht „Thatsachen an sich“, sondern<br />

Interpretationen mit Hülfe psychischer Fiktionen.<br />

das Leben als <strong>die</strong> uns bekannteste Form <strong>des</strong> Seins ist spezifisch<br />

ein Wille zur Accumulation der Kraft<br />

: alle Prozesse <strong>des</strong> Lebens haben hier ihren Hebel<br />

: nichts will sich erhalten, alles soll summirt und accumulirt<br />

werden<br />

Das Leben, als ein Einzelfall: Hypothese von da aus auf den<br />

Gesammtcharakter <strong>des</strong> Daseins.<br />

: strebt nach einem Maximal-Gefühl von <strong>Macht</strong><br />

: ist essentiell ein Streben nach Mehr von <strong>Macht</strong><br />

: Streben ist nichts anderes als Streben nach <strong>Macht</strong><br />

: das Unterste und Innerste bleibt <strong>die</strong>ser Wille: Mechanik ist<br />

eine bloße Semiotik der Folgen.<br />

Aphorism n=12236 id='VIII.14[83]' kgw='VIII-3.54' ksa='13.262'<br />

Problem <strong>des</strong> Philosophen und <strong>des</strong><br />

wissenschaftlichen Menschen.<br />

Aufgangs-Typus<br />

Stärke in der Ruhe. In der relativen Gleichgültigkeit und<br />

Schwierigkeit, zu reagiren.<br />

Die großen Affekte, alle, und wunderbar einander zu<br />

Hülfe kommend…<br />

Einfluß <strong>des</strong> Alters<br />

depressive Gewohnheiten (Stubenhocken à la Kant)<br />

Überarbeitung


unzureichende Ernährung <strong>des</strong> Gehirns<br />

Lesen<br />

Wesentlicher: ob nicht ein Décadence-Symptom<br />

schon in der Richtung auf solche Allgemeinheit<br />

Page Break KGW='VIII-3.55' KSA='13.263'<br />

gegeben ist: Objektivität als Willens-Disgregation<br />

(so fern bleiben können…<br />

<strong>die</strong>s setzt eine große Adiaphorie gegen <strong>die</strong> starken Triebe<br />

voraus:<br />

eine Art Isolation<br />

Ausnahme-Stellung gegen <strong>die</strong> Normal-Triebe<br />

Widerstand<br />

Typus: <strong>die</strong> Loslösung von der Heimat, in immer weitere<br />

Kreise, der wachsende Exotismus, das Stummwerden der<br />

alten Imperative — — gar <strong>die</strong>ses beständige Fragen<br />

„wohin?“ („Glück“) ist ein Zeichen der Herauslösung<br />

aus Organisations-Formen, Herausbruch.<br />

Problem: ob der wissenschaftliche Mensch eher noch<br />

ein Décadence-Symptom ist als der Philosoph —<br />

er ist als Ganzes nicht losgelöst, nur ein Theil von<br />

ihm ist absolut der Erkenntniß geweiht, dressirt für eine<br />

Ecke und Optik —<br />

— er hat hier alle Tugenden einer starken Rasse und<br />

Gesundheit nöthig<br />

— große Strenge, Männlichkeit, Klugheit —<br />

— hier könnte man von einer Arbeitstheilung und Dressur<br />

reden, <strong>die</strong> sehr zum Nutzen <strong>des</strong> Ganzen und nur bei<br />

einem sehr hohen Grad von Cultur möglich ist. Er ist<br />

mehr ein Symptom hoher Vielfachheit der Cultur als<br />

von deren Müdigkeit.<br />

Der décadence-Gelehrte ist ein schlechter Gelehrter.<br />

Während der décadence-Philosoph bisher wenigstens als<br />

der typische Philosoph galt.<br />

Aphorism n=12237 id='VIII.14[84]' kgw='VIII-3.55' ksa='13.263'<br />

Verglichen mit dem Künstler ist das Erscheinen <strong>des</strong><br />

wissenschaftlichen Menschen in der That ein Zeichen<br />

einer gewissen Eindämmung und Niveau-Erniedrigung <strong>des</strong><br />

Lebens.<br />

Page Break KGW='VIII-3.56' KSA='13.264'<br />

Aber auch einer Verstärkung, Strenge, Willenskraft.<br />

: inwiefern <strong>die</strong> Falschheit, <strong>die</strong> Gleichgültigkeit gegen Wahr<br />

und Nützlich beim Künstler Zeichen von Jugend, von<br />

„Kinderei“ sein mögen…


: ihre habituelle Art, ihre Unvernünftigkeit, ihre Ignoranz<br />

über sich, ihre Gleichgültigkeit gegen ewige Werthe, Ernst im<br />

„Spiele“ … ihr Mangel an Würde; Hanswurst und Gott<br />

benachbart; der Heilige und <strong>die</strong> canaille…<br />

: das Nachmachen als Instinkt, commandirend<br />

Die bejahenden, <strong>die</strong> Niedergangs-Künstler.<br />

Aufgangs-Künstler — Niedergangs-Künstler:<br />

ob sie nicht allen Phasen zugehören … Ja.<br />

Aphorism n=12238 id='VIII.14[85]' kgw='VIII-3.56' ksa='13.264'<br />

Pyrrho, ein griechischer Buddhist<br />

Plato, vielleicht bei den Juden in <strong>die</strong> Schule gegangen<br />

Aphorism n=12239 id='VIII.14[86]' kgw='VIII-3.56' ksa='13.264'<br />

Zum Begriff „Décadence“ —<br />

1. <strong>die</strong> Skepsis ist eine Folge der décadence: ebenso wie <strong>die</strong><br />

libertinage <strong>des</strong> Geistes.<br />

2. <strong>die</strong> Corruption der Sitten ist eine Folge der décadence:<br />

Schwäche <strong>des</strong> Willens, Bedürfniß starker Reizmittel…<br />

3. <strong>die</strong> Kurmethoden, <strong>die</strong> psychologischen, moralischen, verändern<br />

nicht den Gang der décadence, sie halten nicht auf, sie sind<br />

physiologisch null<br />

: Einsicht in <strong>die</strong> große Nullität <strong>die</strong>ser anmaaßlichen<br />

„Reaktionen“<br />

: es sind Formen der Narkotisirung gegen gewisse fatale<br />

Folge-Erscheinungen, sie bringen das morbide Element nicht<br />

heraus<br />

Page Break KGW='VIII-3.57' KSA='13.265'<br />

: sie sind oft heroische Versuche, den Menschen der décadence<br />

zu annulliren, ein Minimum seiner Schädlichkeit<br />

durchzusetzen.<br />

4. der Nihilism ist keine Ursache, sondern nur <strong>die</strong> Logik der<br />

décadence<br />

5. der „Gute“ und der „Schlechte“ sind nur zwei Typen der<br />

décadence: sie halten zu einander in allen Grundphänomenen.<br />

6. <strong>die</strong> sociale Frage ist eine Folge der décadence<br />

7. <strong>die</strong> Krankheiten, vor allen <strong>die</strong> Nerven- und Kopfkrankheiten<br />

sind Anzeichen, daß <strong>die</strong> Defensiv-Kraft der starken<br />

Natur fehlt; ebendafür spricht <strong>die</strong> Irritabilität, so daß Lust<br />

und Unlust <strong>die</strong> Vordergrunds-Probleme werden.


Aphorism n=12240 id='VIII.14[87]' kgw='VIII-3.57' ksa='13.265'<br />

der antike Philosoph(1697) von Socrates an(1698) hat <strong>die</strong> Stigmata<br />

der décadence: Moralismus und Glück.<br />

Höhepunkt Pyrrho. Stufe <strong>des</strong> Buddhismus erreicht<br />

Epicureismus im Christenthum<br />

Wege zum Glück: Zeichen, daß alle Hauptkräfte <strong>des</strong><br />

Lebens erschöpft sind<br />

Aphorism n=12241 id='VIII.14[88]' kgw='VIII-3.57' ksa='13.265'<br />

Die accumulativen Zeiten und Einzelnen<br />

<strong>die</strong> verschwenderischen: <strong>die</strong> genialen, <strong>die</strong> siegreichen,<br />

<strong>die</strong> erobernden, <strong>die</strong> entdeckenden, <strong>die</strong> abenteuerlichen<br />

nach letzteren folgt nothwendig der décadent<br />

Aphorism n=12242 id='VIII.14[89]' kgw='VIII-3.57' ksa='13.265'<br />

Gegenbewegung: Religion<br />

Die zwei Typen:<br />

Dionysos und der Gekreuzigte.<br />

Festzuhalten: der typische religiöse Mensch — ob eine<br />

décadence-Form?<br />

Page Break KGW='VIII-3.58' KSA='13.266'<br />

Die großen Neuerer sind sammt und sonders krankhaft und<br />

epileptisch<br />

.: aber lassen wir nicht da einen Typus <strong>des</strong> religiösen Menschen<br />

aus, den heidnischen? Ist der heidnische Cult nicht eine<br />

Form der Danksagung und Bejahung <strong>des</strong> Lebens? Müßte nicht<br />

sein höchster Repräsentant eine Apologie und Vergöttlichung<br />

<strong>des</strong> Lebens sein?<br />

Typus eines vollgerathenen und entzückt-überströmenden<br />

Geistes…<br />

Typus eines <strong>die</strong> Widersprüche und Fragwürdigkeiten <strong>des</strong><br />

Daseins in sich hineinnehmenden und erlösenden Typus?<br />

— Hierher stelle ich den Dionysos der Griechen:<br />

<strong>die</strong> religiöse Bejahung <strong>des</strong> Lebens, <strong>des</strong> ganzen, nicht<br />

verleugneten und halbirten Lebens<br />

typisch: daß der Geschlechts-Akt Tiefe, Geheimniß,<br />

Ehrfurcht erweckt<br />

Dionysos gegen den „Gekreuzigten“: da habt ihr den Gegensatz.<br />

Es ist nicht eine Differenz hinsichtlich <strong>des</strong> Martyriums,<br />

— nur hat dasselbe einen anderen Sinn. Das Leben selbst, seine


ewige Fruchtbarkeit und Wiederkehr bedingt <strong>die</strong> Qual, <strong>die</strong><br />

Zerstörung, den Willen zur Vernichtung…<br />

im anderen Fall gilt das Leiden, der „Gekreuzigte als der<br />

Unschuldige“, als Einwand gegen <strong>die</strong>ses Leben, als Formel seiner<br />

Verurtheilung.<br />

Man erräth: das Problem ist das vom Sinn <strong>des</strong> Leidens: ob<br />

ein christlicher Sinn, ob ein tragischer Sinn… Im ersten Falle<br />

soll es der Weg sein zu einem seligen Sein, im letzteren gilt das<br />

Sein als selig genug, um ein Ungeheures von Leid noch<br />

zu rechtfertigen<br />

Der tragische Mensch bejaht noch das herbste Leiden: er ist<br />

stark, voll, vergöttlichend genug dazu<br />

Der christliche verneint noch das glücklichste Los auf Erden:<br />

er ist schwach, arm, enterbt genug, um in jeder Form noch am<br />

Leben zu leiden…<br />

Page Break KGW='VIII-3.59' KSA='13.267'<br />

„der Gott am Kreuz“ ist ein Fluch auf Leben, ein Fingerzeig,<br />

sich von ihm zu erlösen<br />

der in Stücke geschnittene Dionysos ist eine Verheißung<br />

ins Leben: es wird ewig wieder geboren und aus der Zerstörung<br />

heimkommen<br />

Aphorism n=12243 id='VIII.14[90]' kgw='VIII-3.59' ksa='13.267'<br />

Die physiologische Falschheit auf den Bildern<br />

Raffaels.<br />

Ein Weib mit normalen Sekretionen hat kein Bedürfniß nach<br />

Erlösung. Daß all <strong>die</strong>se wohlgerathenen und vortheilhaften<br />

Naturen sich ewig um jenen anämischen Heiligen von Nazareth<br />

bekümmern, geht wider <strong>die</strong> Naturgeschichte. Der gehörte unter<br />

eine andere Species: eine solche, wie sie Dostoiewsky kennt, —<br />

rührende, verderbte und verdrehte Mißgeburten mit Idiotismus<br />

und Schwärmerei, mit Liebe…<br />

Aphorism n=12244 id='VIII.14[91]' kgw='VIII-3.59' ksa='13.267'<br />

<strong>die</strong> Religion als décadence<br />

Buddha gegen den „Gekreuzigten“<br />

Innerhalb der nihilistischen Bewegung darf man immer noch<br />

<strong>die</strong> christliche und <strong>die</strong> buddhistische scharf auseinander<br />

halten<br />

: <strong>die</strong> buddhistische drückt einen schönen Abend<br />

aus, eine vollendete Süßigkeit und Milde, — es ist Dankbarkeit<br />

gegen alles, was hinten liegt, mit eingerechnet, es fehlt <strong>die</strong><br />

Bitterkeit, <strong>die</strong> Enttäuschung, <strong>die</strong> Rancune


: zuletzt, <strong>die</strong> hohe geistige Liebe, das Raffinement <strong>des</strong><br />

physiologischen Widerspruchs ist hinter ihm, auch davon ruht es aus:<br />

aber von <strong>die</strong>sem hat es noch seine geistige Glorie und<br />

Sonnenuntergangs-Gluth. ( — Herkunft aus den obersten<br />

Kasten. —<br />

: <strong>die</strong> christliche Bewegung ist eine Degenerescenz-Bewegung<br />

aus Abfalls- und Ausschuß-Elementen aller Art: sie<br />

drückt nicht den Niedergang einer Rasse aus, sie ist von<br />

Page Break KGW='VIII-3.60' KSA='13.268'<br />

Anfang an eine Aggregat-Bildung aus sich zusammendrängenden<br />

und sich suchenden Krankheits-Gebilden… Sie ist <strong>des</strong>halb<br />

nicht national, nicht rassebedingt: sie wendet sich an <strong>die</strong><br />

Enterbten von Überall<br />

sie hat <strong>die</strong> Rancune auf dem Grunde gegen alle Wohlgerathene<br />

und Herrschende, sie braucht ein Symbol, welches den<br />

Fluch auf <strong>die</strong> Wohlgerathenen und Herrschenden darstellt…<br />

sie steht im Gegensatz auch zu aller geistigen Bewegung,<br />

zu aller Philosophie: sie nimmt <strong>die</strong> Partei der Idioten und spricht<br />

einen Fluch gegen den Geist aus. Rancune gegen <strong>die</strong> Begabten,<br />

Gelehrten, Geistig-Unabhängigen: sie erräth in ihnen das<br />

Wohlgerathene, das Herrschaftliche<br />

Aphorism n=12245 id='VIII.14[92]' kgw='VIII-3.60' ksa='13.268'<br />

Das Problem <strong>des</strong> Socrates.<br />

Die beiden Gegensätze:<br />

<strong>die</strong> tragische Gesinnung gemessen an dem<br />

<strong>die</strong> sokratische Gesinnung Gesetz <strong>des</strong> Lebens<br />

: in wiefern <strong>die</strong> sokratische Gesinnung ein Phänomen der<br />

décadence ist<br />

: in wiefern aber noch eine starke Gesundheit und Kraft im<br />

ganzen Habitus, in der Dialektik und Tüchtigkeit, Straffheit <strong>des</strong><br />

wissenschaftlichen Menschen sich zeigt ( — <strong>die</strong> Gesundheit <strong>des</strong><br />

Plebejers <strong>des</strong>sen Bosheit, esprit frondeur <strong>des</strong>sen Scharfsinn<br />

<strong>des</strong>sen Canaille au fond im Zaum gehalten durch<br />

<strong>die</strong> Klugheit: „häßlich“<br />

Verhäßlichung:<br />

<strong>die</strong> Selbstverhöhnung<br />

<strong>die</strong> dialektische Dürre<br />

<strong>die</strong> Klugheit als Tyrann gegen „den Tyrannen“ (den<br />

Instinkt)<br />

es ist alles übertrieben, excentrisch, Carikatur an Sokrates,<br />

ein buffo, mit den Instinkten Voltaires im Leibe;<br />

— er entdeckt eine neue Art Agon —<br />

Page Break KGW='VIII-3.61' KSA='13.269'


— er ist der erste Fechtmeister in den vornehmen Kreisen<br />

Athens<br />

— er vertritt nichts als <strong>die</strong> höchste Klugheit: er<br />

nennt sie „Tugend“ ( — er errieth sie als Rettung: es stand<br />

ihm nicht frei, klug zu sein, es war de rigueur<br />

— sich in Gewalt haben, um mit Gründen und nicht mit<br />

Affekten in den Kampf zu treten — <strong>die</strong> List <strong>des</strong><br />

Spinoza — das Aufdröseln der Affekt-Irrthümer…<br />

entdecken, wie man Jeden fängt, den man in Affekt bringt,<br />

entdecken,(1699) daß der Affekt unlogisch prozedirt… Übung<br />

in der Selbstverspottung, um das Rancune-Gefühl<br />

in der Wurzel zu schädigen<br />

Ich suche zu begreifen, aus welchen partiellen und<br />

idiosynkratischen Zuständen das sokratische Problem abzuleiten<br />

ist: seine Gleichsetzung von Vernunft = Tugend = Glück. Mit <strong>die</strong>sem<br />

Absurdum von Identitäts-Lehre hat er bezaubert: <strong>die</strong> antike<br />

Philosophie kam nicht wieder los …<br />

Problem <strong>des</strong> Sokrates. Die Klugheit, Helle, Härte und<br />

Logicität als Waffe wider <strong>die</strong> Wildheit der Triebe. Letztere<br />

müssen gefährlich und untergangdrohend sein: sonst hat es<br />

keinen Sinn, <strong>die</strong> Klugheit bis zu <strong>die</strong>ser Tyrannei auszubilden.<br />

Aus der Klugheit einen Tyrannen machen: aber dazu<br />

müssen <strong>die</strong> Triebe Tyrannen sein. Dies das Problem. — Es war<br />

sehr zeitgemäß damals. Vernunft wurde = Tugend = Glück.<br />

absoluter Mangel an objektiven Interessen: Haß gegen <strong>die</strong><br />

Wissenschaft: Idiosynkrasie, sich selbst als Problem zu(1700)<br />

fühlen<br />

Akustische Hallucinationen bei Socrates: morbi<strong>des</strong> Element<br />

Mit Moral sich abgeben widersteht am meisten, wo der Geist<br />

Page Break KGW='VIII-3.62' KSA='13.270'<br />

reich und unabhängig ist. Wie kommt es, daß Socrates<br />

Moral-Monoman ist?<br />

Alle „praktische“ Philosophie tritt in Nothlagen sofort in<br />

den Vordergrund. Moral und Religion als Hauptinteressen sind<br />

Nothstands-Zeichen<br />

Lösung: <strong>die</strong> griechischen Philosophen stehen auf der gleichen<br />

Grundthatsache ihrer inneren Erfahrungen, wie Sokrates: 5<br />

Schritt weit vom Exceß, von der Anarchie, von der Ausschweifung,<br />

alles Décadence-Menschen. Sie empfinden ihn als Arzt:<br />

Lösung: Die Wildheit und Anarchie der Instinkte bei<br />

Sokrates ist ein décadence-Symptom. Die Superfötation


der Logik und der Vernunft-Helligkeit insgleichen. Beide sind<br />

Abnormitäten, beide gehören zu einander<br />

Logik als Wille zur <strong>Macht</strong>, zur Selbstherrschaft, zum „Glück“<br />

Kritik. Die décadence verräth sich in <strong>die</strong>ser Präoccupation<br />

<strong>des</strong> „Glücks“ (d.h. <strong>des</strong> „Heils der Seele“ d.h. seinen<br />

Zustand als Gefahr empfinden)<br />

ihr Fanatismus <strong>des</strong> Interesses für „Glück“ zeigt <strong>die</strong><br />

Pathologie <strong>des</strong> Untergrun<strong>des</strong>: es war ein Lebensinteresse.<br />

Vernünftig sein oder zu Grunde gehen war <strong>die</strong> Alternative vor<br />

der sie alle standen<br />

der Moralismus der griechischen Philosophen zeigt, daß sie<br />

sich in Gefahr fühlten…<br />

Aphorism n=12246 id='VIII.14[93]' kgw='VIII-3.62' ksa='13.270'<br />

Wille zur <strong>Macht</strong> als Erkenntniss<br />

Kritik <strong>des</strong> Begriffs „wahre und scheinbare Welt“<br />

von <strong>die</strong>sen ist <strong>die</strong> erste eine bloße Fiktion, aus lauter<br />

fingirten Dingen gebildet<br />

Page Break KGW='VIII-3.63' KSA='13.271'<br />

<strong>die</strong> „Scheinbarkeit“ gehört selbst zur Realität: sie ist eine<br />

Form ihres Seins d.h.<br />

in einer Welt, wo es kein Sein giebt, muß durch den Schein<br />

erst eine gewisse berechenbare Welt identischer Fälle<br />

geschaffen werden: ein tempo, in dem Beobachtung und<br />

Vergleichung möglich ist usw.<br />

„Scheinbarkeit“ ist eine zurechtgemachte und vereinfachte<br />

Welt, an der unsere praktischen Instinkte gearbeitet haben:<br />

sie ist für uns vollkommen recht: nämlich wir leben, wir<br />

können in ihr leben: Beweis ihrer Wahrheit für uns…<br />

: <strong>die</strong> Welt, abgesehen von unserer Bedingung, in ihr zu leben,<br />

<strong>die</strong> Welt, <strong>die</strong> wir nicht auf unser Sein, unsere Logik, und<br />

psychologischen Vorurtheile reduzirt haben<br />

existirt nicht als Welt „an sich“<br />

sie ist essentiell Relations-Welt: sie hat, unter Umständen,<br />

von jedem Punkt aus ihr verschiedenes Gesicht: ihr<br />

Sein ist essentiell an jedem Punkte anders: sie drückt auf jeden<br />

Punkt, es widersteht ihr jeder Punkt — und <strong>die</strong>se Summirungen<br />

sind in jedem Falle gänzlich incongruent.<br />

Das Maß von <strong>Macht</strong> bestimmt, welches Wesen das<br />

andre Maß von <strong>Macht</strong> hat: unter welcher Form, Gewalt, Nöthigung<br />

es wirkt oder widersteht<br />

unser Einzelfall ist interessant genug: wir haben eine<br />

Conception gemacht, um in einer Welt leben zu können, um gerade


genug zu percipiren, daß wir noch es aushalten…<br />

Aphorism n=12247 id='VIII.14[94]' kgw='VIII-3.63' ksa='13.271'<br />

Philosophie als décadence<br />

Zur Kritik <strong>des</strong> Philosophen<br />

Es ist ein Selbstbetrug der Philosophen und Moralisten,<br />

damit aus der décadence herauszutreten, daß sie gegen <strong>die</strong>selbe<br />

ankämpfen.<br />

Das steht außerhalb ihres Willens: und, so wenig sie es<br />

Page Break KGW='VIII-3.64' KSA='13.272'<br />

anerkennen, später entdeckt man, wie sie zu den kräftigsten<br />

Förderern der décadence gehört haben.<br />

Die Philosophen Griechenlands z.B.: Plato, der Mann <strong>des</strong><br />

Guten — aber er löste <strong>die</strong> Instinkte ab von der Polis, vom<br />

Wettkampfe, von der militärischen Tüchtigkeit, von der Kunst und<br />

Schönheit, von den Mysterien, von dem Glauben an Tradition<br />

und Großväter…<br />

— er war der Verführer der nobles: er selbst verführt durch<br />

den Roturier Sokrates…<br />

— er negirte alle Voraussetzungen <strong>des</strong> „vornehmen Griechen“<br />

von Schrot und Korn, nahm Dialektik in <strong>die</strong> Alltags-Praxis<br />

auf, conspirirte mit den Tyrannen, trieb Zukunfts-Politik<br />

und gab das Beispiel der vollkommensten Instinkt-Ablösung<br />

vom Alten.<br />

Er ist tief, leidenschaftlich in allem Antihellenischen…<br />

Sie stellen der Reihe nach <strong>die</strong> typischen Décadence-Formen<br />

dar, <strong>die</strong>se großen Philosophen:<br />

<strong>die</strong> moralisch-religiöse Idiosynkrasie<br />

den Anarchismus<br />

den Nihilismus adiaphora<br />

den Cynismus<br />

<strong>die</strong> Verhärtung<br />

den Hedonismus,<br />

den Reaktionismus<br />

<strong>die</strong> Frage vom „Glück“ von der „Tugend“, vom „Heil der<br />

Seele“ ist der Ausdruck der physiologischen Widersprüchlichkeit<br />

in <strong>die</strong>sen Niedergangsnaturen: es fehlt in den Instinkten das<br />

Schwergewicht, das Wohin?<br />

: warum wagt Keiner, <strong>die</strong> Freiheit <strong>des</strong> Willens zu leugnen?<br />

Sie sind alle präoccupirt durch ihr „Heil der Seele“ — was liegt<br />

ihnen an der Wahrheit?<br />

Page Break KGW='VIII-3.65' KSA='13.273'


Aphorism n=12248 id='VIII.14[95]' kgw='VIII-3.65' ksa='13.273'<br />

Zwei aufeinander folgende Zustände: der eine Ursache, der<br />

andere Wirkung<br />

: ist falsch.<br />

der erste Zustand hat nichts zu bewirken<br />

den zweiten hat nichts bewirkt.<br />

: es handelt sich um einen Kampf zweier an <strong>Macht</strong> ungleichen<br />

Elemente: es wird ein Neuarrangement der Kräfte<br />

erreicht, je nach dem Maß von <strong>Macht</strong> eines jeden.<br />

der zweite Zustand ist etwas Grundverschiedenes vom<br />

ersten (nicht <strong>des</strong>sen „Wirkung“): das Wesentliche ist,<br />

daß <strong>die</strong> im Kampf befindlichen Faktoren mit anderen<br />

<strong>Macht</strong>quanten herauskommen.<br />

Aphorism n=12249 id='VIII.14[96]' kgw='VIII-3.65' ksa='13.273'<br />

[+++] Sie verachten den Leib: sie ließen ihn außer Rechnung:<br />

mehr noch, sie behandelten ihn wie einen Feind. Ihr Wahnwitz<br />

war zu glauben, man könne eine „schöne Seele, in einer<br />

Mißgeburt von Cadaver herumtragen… Um das auch Anderen<br />

glaublich zu machen, hatten sie nöthig, den Begriff „schöne Seele“<br />

anders anzusetzen, den natürlichen Werth umzuwerthen, bis endlich<br />

ein bleiches, krankhaftes, idiotisch-schwärmerisches Wesen<br />

als Vollkommenheit, als „englisch“, als Verklärung, als höherer<br />

Mensch empfunden wurde.<br />

Aphorism n=12250 id='VIII.14[97]' kgw='VIII-3.65' ksa='13.273'<br />

„Wille zur <strong>Macht</strong>“<br />

„Der Wille zur <strong>Macht</strong>“ wird in demokratischen Zeitaltern<br />

dermaaßen gehaßt, daß deren ganze Psychologie auf seine<br />

Verkleinerung und Verleumdung gerichtet scheint…<br />

Der Typus <strong>des</strong> großen Ehrgeizigen: das soll Napoleon sein!<br />

Und Caesar! Und Alexander!… Als ob das nicht gerade <strong>die</strong><br />

größten Verächter der Ehre wären!…<br />

Und Helvétius entwickelt uns, daß man nach <strong>Macht</strong> strebt,<br />

Page Break KGW='VIII-3.66' KSA='13.274'<br />

um <strong>die</strong> Genüsse zu haben, welche dem Mächtigen zu Gebote stehen…:<br />

er versteht <strong>die</strong>ses Streben nach <strong>Macht</strong> als Willen zum<br />

Genuß, als Hedonismus…<br />

Stuart Mill: — — —


Aphorism n=12251 id='VIII.14[98]' kgw='VIII-3.66' ksa='13.274'<br />

Wille zur <strong>Macht</strong> principiell<br />

Kritik <strong>des</strong> Begriffs „Ursache“<br />

Ich brauche den Ausgangspunkt „Wille zur <strong>Macht</strong>“<br />

als Ursprung der Bewegung. Folglich darf <strong>die</strong> Bewegung nicht<br />

von außen her bedingt sein — nicht verursacht…<br />

Ich brauche Bewegungsansätze und -Centren, von wo aus der<br />

Wille um sich greift…<br />

Wir haben absolut keine Erfahrung über eine Ursache<br />

: psychologisch nachgerechnet, kommt uns der ganze Begriff<br />

aus der subjektiven Überzeugung, daß wir Ursache sind, nämlich,<br />

daß der Arm sich bewegt… Aber das ist ein Irrthum<br />

: wir unterscheiden uns, <strong>die</strong> Thäter, vom Thun und von<br />

<strong>die</strong>sem Schema machen wir überall Gebrauch, — wir suchen nach<br />

einem Thäter zu jedem Geschehen…<br />

: was haben wir gemacht? wir haben ein Gefühl von Kraft,<br />

Anspannung, Widerstand, ein Muskelgefühl, das schon der<br />

Beginn der Handlung ist, als Ursache mißverstanden<br />

: oder den Willen, das und das zu thun, weil auf ihn <strong>die</strong><br />

Aktion folgt, als Ursache verstanden — Ursache, d.h. — — —<br />

„Ursache“ kommt gar nicht vor: von einigen Fällen, wo sie<br />

uns gegeben schien und von wo aus wir sie projicirt haben zum<br />

Verständniß <strong>des</strong> Geschehens, ist <strong>die</strong> Selbsttäuschung<br />

nachgewiesen.<br />

Unser „Verständniß eines Geschehens“ bestand darin, daß<br />

wir ein Subjekt erfanden welches verantwortlich wurde dafür,<br />

daß etwas geschah und wie es geschah.<br />

Page Break KGW='VIII-3.67' KSA='13.275'<br />

Wir haben unser Willens-Gefühl, unser „Freiheits-Gefühl“,<br />

unser Verantwortlichkeits-Gefühl und unsere Absicht von einem<br />

Thun in den Begriff „Ursache“ zusammengefaßt:<br />

: causa efficiens und finalis ist in der Grundconception Eins.<br />

Wir meinten, eine Wirkung sei erklärt, wenn ein Zustand<br />

aufgezeigt würde, in dem sie bereits inhärirt<br />

Thatsächlich erfinden wir alle Ursachen nach dem Schema<br />

der Wirkung: letztere ist uns bekannt… Umgekehrt sind wir<br />

außer Stande, von irgend einem Ding voraus zu sagen, was es<br />

„wirkt“.<br />

Das Ding, das Subjekt, der Wille, <strong>die</strong> Absicht — alles<br />

inhärirt der Conception „Ursache“.<br />

Wir suchen nach Dingen, um zu erklären, weshalb sich etwas<br />

verändert hat. Selbst noch das Atom ist ein solches<br />

hinzugedachtes „Ding“ und „Ursubjekt“…<br />

Endlich begreifen wir, daß Dinge, folglich auch Atome nichts<br />

wirken: weil sie gar nicht da sind… daß der Begriff<br />

Causalität vollkommen unbrauchbar ist — Aus einer nothwendigen


Reihenfolge von Zuständen folgt nicht deren Causal-Verhältniß<br />

( — das hieße deren wirkende Vermögen von<br />

1 auf 2, auf 3, auf 4, auf 5 springen zu machen)<br />

Die Causalitäts-Interpretation eine Täuschung…<br />

<strong>die</strong> Bewegung(1701) ist ein Wort, <strong>die</strong> Bewegung(1702) ist keine Ursache —<br />

ein „Ding“ ist eine Summe seiner Wirkungen, synthetisch<br />

gebunden durch einen Begriff, Bild…<br />

Es giebt weder Ursachen, noch Wirkungen.<br />

Sprachlich wissen wir davon nicht loszukommen. Aber daran<br />

liegt nichts. Wenn ich den Muskel von seinen „Wirkungen“<br />

getrennt denke, so habe ich ihn negirt…<br />

In summa: ein Geschehen ist weder bewirkt,<br />

noch bewirkend<br />

Page Break KGW='VIII-3.68' KSA='13.276'<br />

Causa ist ein Vermögen zu wirken, hinzu erfunden<br />

zum Geschehen…<br />

es giebt nicht was Kant meint, keinen Causalitäts-Sinn<br />

man wundert sich, man ist beunruhigt, man will etwas<br />

Bekanntes, woran man sich halten kann…<br />

sobald im Neuen uns etwas Altes aufgezeigt wird, sind wir<br />

beruhigt.<br />

Der angebliche Causalitäts-Instinkt ist nur <strong>die</strong> Furcht<br />

vor dem Ungewohnten und der Versuch, in ihm etwas<br />

Bekanntes zu entdecken<br />

ein Suchen nicht nach Ursachen sondern nach Bekanntem…<br />

Der Mensch ist sofort beruhigt, wenn er zu einem Neuen<br />

— — — er bemüht sich nicht, zu verstehen, in wiefern das<br />

Streichhölzchen Feuer verursacht<br />

Thatsächlich hat <strong>die</strong> Wissenschaft den Begriff Causalität seines<br />

Inhalts entleert und ihn übrig behalten zu einer Gleichnißformel,<br />

bei der es im Grunde gleichgültig geworden ist, auf welcher<br />

Seite Ursache oder Wirkung. Es wird behauptet, daß in zwei<br />

Complexen Zuständen (Kraftconstellationen) <strong>die</strong> Quanten Kraft<br />

gleich blieben.<br />

Die Berechenbarkeit eines Geschehens liegt<br />

nicht darin, daß eine Regel befolgt wurde<br />

oder einer Nothwendigkeit gehorcht wurde<br />

oder ein Gesetz von Causalität von uns in je<strong>des</strong> Geschehen<br />

projicirt wurde:<br />

sie liegt in der Wiederkehr identischer Fälle<br />

Aphorism n=12252 id='VIII.14[99]' kgw='VIII-3.68' ksa='13.276'<br />

Philosophie als décadence<br />

Die weise Müdigkeit. Pyrrho. Der Buddhist. Vergleich mit<br />

Epikur.


Pyrrho. Unter den Niedrigen leben, niedrig. Kein Stolz.<br />

Auf <strong>die</strong> gemeine Art leben; ehren und glauben, was Alle glauben.<br />

Page Break KGW='VIII-3.69' KSA='13.277'<br />

Auf der Hut gegen Wissenschaft und Geist, auch Alles, was<br />

bläht… Einfach: unbeschreiblich geduldig, unbekümmert, mild.<br />

apatheia, mehr noch prautes.<br />

Ein Buddhist für Griechenland, zwischen dem Tumult der<br />

Schulen aufgewachsen; spät gekommen; ermüdet; der Protest <strong>des</strong><br />

Müden gegen den Eifer der Dialektiker; der Unglaube <strong>des</strong><br />

Müden an <strong>die</strong> Wichtigkeit aller Dinge. Er hat Alexander<br />

gesehen, er hat <strong>die</strong> indischen Büßer gesehen. Auf solche<br />

Späte und Raffinirte wirkt alles Niedrige, alles Arme, alles<br />

Idiotische selbst verführerisch. Das narkotisirt: das macht<br />

ausstrecken: Pascal. Sie empfinden andrerseits, mitten im Gewimmel<br />

und verwechselt mit Jedermann, ein wenig Wärme: sie haben<br />

Wärme nöthig, <strong>die</strong>se Müden…<br />

Den Widerspruch überwinden; kein Wettkampf; kein Wille<br />

zur Auszeichnung: <strong>die</strong> griechischen Instinkte verneinen.<br />

— Pyrrho lebte mit seiner Schwester zusammen, <strong>die</strong> Hebamme<br />

war. —<br />

Die Weisheit verkleiden, daß sie nicht mehr auszeichnet; ihr<br />

einen Mantel von Armut und Lumpen geben; <strong>die</strong> niedrigsten<br />

Verrichtungen thun: auf den Markt gehen und Milchschweine<br />

verkaufen…<br />

Süßigkeit; Helle; Gleichgültigkeit; keine Tugenden, <strong>die</strong><br />

Gebärden brauchen. Sich auch in der Tugend gleichsetzen: letzte<br />

Selbstüberwindung, letzte Gleichgültigkeit.<br />

Pyrrho, gleich Epikur, zwei Formen der griechischen<br />

décadence: verwandt, im Haß gegen <strong>die</strong> Dialektik und gegen alle<br />

schauspielerischen Tugenden — Bei<strong>des</strong> zusammen hieß<br />

damals Philosophie —; absichtlich das, was sie lieben, niedrig;<br />

<strong>die</strong> gewöhnlichen, selbst verachteten Namen dafür wählend;<br />

einen Zustand darstellend, wo man weder krank, noch gesund,<br />

noch lebendig, noch todt ist… Epikur, naiver, idyllischer,<br />

dankbarer; Pyrrho, gereister, verlebter, nihilistischer…<br />

Sein Leben war ein Protest gegen <strong>die</strong> große Identitätslehre<br />

(Glück = Tugend = Erkenntniß).<br />

Page Break KGW='VIII-3.70' KSA='13.278'<br />

Das rechte Leben findet man nicht durch Wissenschaft:<br />

Weisheit macht nicht „weise“…<br />

Das rechte Leben will nicht Glück, sieht ab von Glück…<br />

Aphorism n=12253 id='VIII.14[100]' kgw='VIII-3.70' ksa='13.278'<br />

Die eigentlichen Philosophen der Griechen sind


<strong>die</strong> vor Sokrates: mit Sokrates verändert sich etwas<br />

das sind Alles vornehme Personnagen, abseits sich stellend<br />

von Volk und Sitte, gereist, ernst bis zur Düsterkeit, mit<br />

langsamem Auge, den Staatsgeschäften und der Diplomatie nicht<br />

fremd. Sie nehmen den Weisen alle großen Conceptionen der<br />

Dinge vorweg: sie stellen sie selber dar, sie bringen sich in System.<br />

Nichts giebt einen höheren Begriff vom griechischen Geist,<br />

als <strong>die</strong>se plötzliche Fruchtbarkeit an Typen, als <strong>die</strong>se ungewollte<br />

Vollständigkeit in der Aufstellung der großen Möglichkeiten<br />

<strong>des</strong> philosophischen Ideals.<br />

Ich sehe nur noch Eine originale Figur in den Kommenden:<br />

einen Spätling, aber nothwendig den letzten… den Nihilisten<br />

Pyrrho,… er hat den Instinkt gegen alles das, was<br />

inzwischen obenauf, <strong>die</strong> Sokratiker, Plato<br />

Pyrrho greift über Protagoras zu Demokrit zurück…<br />

der Artisten-Optimismus Heraklits, — — —<br />

Aphorism n=12254 id='VIII.14[101]' kgw='VIII-3.70' ksa='13.278'<br />

<strong>die</strong> décadence überhaupt<br />

Wenn Lust und Unlust sich auf das Gefühl der <strong>Macht</strong><br />

beziehen, so müßte Leben ein Wachsthum von <strong>Macht</strong> darstellen, so<br />

daß <strong>die</strong> Differenz <strong>des</strong> „Mehr“ ins Bewußtsein träte… Ein<br />

Niveau von <strong>Macht</strong> festgehalten: würde sich <strong>die</strong> Lust nur an<br />

Verminderungen <strong>des</strong> Niveaus zu messen haben, an Unlustzuständen,<br />

— nicht an Lustzuständen… Der Wille zum Mehr liegt im<br />

Wesen der Lust: daß <strong>die</strong> <strong>Macht</strong> wächst, daß <strong>die</strong> Differenz in's<br />

Bewußtsein tritt…<br />

Page Break KGW='VIII-3.71' KSA='13.279'<br />

Von einem gewissen Punkte an, bei der décadence tritt <strong>die</strong><br />

umgekehrte Differenz ins Bewußtsein, <strong>die</strong> Abnahme:<br />

das Gedächtniß der starken Augenblicke von ehedem drückt <strong>die</strong><br />

gegenwärtigen Lustgefühle herab, — der Vergleich schwächt<br />

jetzt <strong>die</strong> Lust…<br />

Aphorism n=12255 id='VIII.14[102]' kgw='VIII-3.71' ksa='13.279'<br />

Zur Hygiene der „Schwachen“. — Alles, was in<br />

der Schwäche gethan wird, mißräth. Moral: nichts thun. Nur ist<br />

das Schlimme, daß gerade <strong>die</strong> Kraft, das Thun auszuhängen,<br />

nicht zu reagiren, am stärksten krank ist unter dem Einfluß<br />

der Schwäche: daß man nie schneller, nie blinder reagirt als dann,<br />

wenn man gar nicht reagiren sollte…<br />

Die Stärke einer Natur zeigt sich im Abwarten und Aufschieben<br />

der Reaktion: eine gewisse adiaphoria ist ihr so zu eigen,


wie der Schwäche <strong>die</strong> Unfreiheit der Gegenbewegung, <strong>die</strong><br />

Plötzlichkeit, Unhemmbarkeit der „Handlung“…<br />

der Wille ist schwach: und das Recept, um dumme Sachen<br />

zu verhüten, wäre, starken Willen zu haben, und nichts zu<br />

thun…<br />

Contradictio…<br />

Eine Art Selbstzerstörung, der Instinkt der Erhaltung ist<br />

compromittirt… Der Schwache schadet sich selber…<br />

das ist der Typus der décadence…<br />

Thatsächlich finden wir ein ungeheures Nachdenken über<br />

Praktiken, <strong>die</strong> Impassibilität zu provociren. Der Instinkt<br />

ist insofern auf richtiger Spur als nichts-thun nützlicher ist als<br />

etwas thun…<br />

Alle Praktiken der Orden, der solitären Philosophen, der<br />

Fakirs sind von dem richtigen Werthmaße eingegeben, daß<br />

eine gewisse Art Mensch sich noch am meisten nützt,<br />

wenn sie sich so viel wie möglich hindert, zu handeln —<br />

Erleichterungsmittel: der absolute Gehorsam<br />

<strong>die</strong> machinale Thätigkeit<br />

Page Break KGW='VIII-3.72' KSA='13.280'<br />

<strong>die</strong> Separation von Menschen und Dingen, welche ein sofortiges<br />

Entschließen und Handeln fördern würden<br />

Aphorism n=12256 id='VIII.14[103]' kgw='VIII-3.72' ksa='13.280'<br />

Ich sehe mit Erstaunen, daß <strong>die</strong> Wissenschaft sich heute<br />

resignirt, auf <strong>die</strong> scheinbare Welt angewiesen zu sein: eine wahre<br />

Welt — sie mag sein, wie sie will, gewiß haben wir kein Organ<br />

der Erkenntniß für sie.<br />

Hier dürfte man nun schon fragen: mit welchem Organ<br />

der Erkenntniß setzt man auch <strong>die</strong>sen Gegensatz nur an?…<br />

Damit daß eine Welt, <strong>die</strong> unseren Organen zugänglich ist,<br />

auch als abhängig von <strong>die</strong>sen Organen verstanden wird, damit<br />

daß wir eine Welt als subjektiv bedingt verstehen,(1703) damit<br />

ist nicht ausgedrückt, daß eine objektive Welt überhaupt<br />

möglich ist. Wer wehrt uns zu denken, daß <strong>die</strong> Subjektivität<br />

real, essentiell ist?<br />

das „An sich“ ist sogar eine widersinnige Conception: eine<br />

„Beschaffenheit an sich“ ist Unsinn: wir haben den Begriff „Sein“,<br />

„Ding“ immer nur als Relationsbegriff…<br />

Das Schlimme ist — daß mit dem alten Gegensatz „scheinbar“<br />

und „wahr“ sich das correlative Werthurtheil fortgepflanzt<br />

hat(1704): geringer an Werth und absolut „werthvoll“<br />

<strong>die</strong> scheinbare Welt gilt uns nicht als eine „werthvolle“<br />

Welt; der Schein soll eine Instanz gegen <strong>die</strong> oberste Werthheit<br />

sein. Werthvoll an sich kann nur eine „wahre“ Welt sein…


Erstens: man behauptet, sie existirt<br />

zweitens: man hat eine ganz bestimmte Werthvorstellung<br />

von ihr<br />

Vorurtheil der Vorurtheile! Erstens wäre an sich<br />

möglich, daß <strong>die</strong> wahre Beschaffenheit der Dinge dermaßen<br />

den Voraussetzungen <strong>des</strong> Lebens schädlich wäre, entgegengesetzt<br />

Page Break KGW='VIII-3.73' KSA='13.281'<br />

wäre, daß eben der Schein noth thäte, um leben zu können…<br />

Dies ist ja der Fall in so vielen Lagen: z.B. in der Ehe<br />

Unsere empirische Welt wäre aus den Instinkten der<br />

Selbsterhaltung auch in ihren Erkenntnißgrenzen bedingt: wir hielten<br />

für wahr, für gut, für werthvoll, was der Erhaltung der Gattung<br />

frommt…<br />

a. wir haben keine Kategorien, nach denen wir eine wahre<br />

und eine scheinbare Welt scheiden dürften. Es könnte eben<br />

bloß eine scheinbare Welt geben, aber nicht nur unsere<br />

scheinbare Welt…<br />

b. <strong>die</strong> wahre Welt angenommen, so könnte sie immer<br />

noch <strong>die</strong> geringere an Werth für uns sein: gerade<br />

das Quantum Illusion möchte in seinem Erhaltungswerth<br />

für uns höheren Ranges sein. Es sei denn, daß der<br />

Schein an sich ein Verwerfungsurtheil begründete?<br />

c. daß eine Correlation besteht zwischen den Graden<br />

der Werthe und den Graden der Realität,<br />

so daß <strong>die</strong> obersten Werthe auch <strong>die</strong> oberste Realität<br />

hätten: ist ein metaphysisches Postulat von der<br />

Voraussetzung ausgehend, daß wir <strong>die</strong> Rangordnung der Werthe<br />

kennen: nämlich daß <strong>die</strong>se Rangordnung eine moralische<br />

ist… Nur in <strong>die</strong>ser Voraussetzung ist <strong>die</strong><br />

Wahrheit nothwendig für <strong>die</strong> Definition alles<br />

Höchstwerthigen<br />

der „Schein“ wäre ein Einwand gegen einen Werth<br />

überhaupt<br />

2.<br />

Es ist von kardinaler Wichtigkeit, daß man <strong>die</strong> wahre<br />

Welt abschafft. Sie ist <strong>die</strong> große Anzweiflerin und<br />

Werthverminderung der Welt, <strong>die</strong> wir sind: Sie war bisher unser<br />

gefährlichstes Attentat auf das Leben<br />

Krieg gegen alle Voraussetzungen, auf welche hin man eine<br />

Page Break KGW='VIII-3.74' KSA='13.282'<br />

wahre Welt fingirt hat. Zu <strong>die</strong>sen Voraussetzungen gehört, daß<br />

<strong>die</strong> moralischen Werthe <strong>die</strong> obersten sind<br />

Die moralische Werthung als oberste wäre widerlegt, wenn<br />

sie bewiesen werden könnte als <strong>die</strong> Folge einer unmoralischen


Werthung<br />

: als ein Spezialfall der realen Unmoralität<br />

: sie reduzirte sich damit selbst auf einen Anschein<br />

und als Anschein hätte sie, von sich aus, kein Recht mehr,<br />

den Schein zu verurtheilen.<br />

3.<br />

„Der Wille zur Wahrheit“ wäre sodann psychologisch zu<br />

untersuchen: er ist keine moralische Gewalt, sondern eine Form<br />

<strong>des</strong> Willens zur <strong>Macht</strong>. Dies wäre damit zu beweisen, daß er<br />

sich aller unmoralischen Mittel be<strong>die</strong>nt: der Metaphysik<br />

voran —<br />

: <strong>die</strong> Methodik der Forschung ist erst erreicht, wenn<br />

alle moralischen Vorurtheile überwunden sind… sie<br />

stellte einen Sieg über <strong>die</strong> Moral dar…<br />

NB. Wir sind heute vor <strong>die</strong> Prüfung der Behauptung gestellt,<br />

daß <strong>die</strong> moralischen Werthe <strong>die</strong> obersten Werthe sind.<br />

Aphorism n=12257 id='VIII.14[104]' kgw='VIII-3.74' ksa='13.282'<br />

Die Moralwerthe als Scheinwerthe, verglichen mit<br />

den physiologischen<br />

Aphorism n=12258 id='VIII.14[105]' kgw='VIII-3.74' ksa='13.282'<br />

Unsere Erkenntniß ist in dem Maaße wissenschaftlich geworden,<br />

als sie Zahl und Maaß anwenden kann…<br />

Der Versuch wäre zu machen, ob nicht eine wissenschaftliche<br />

Ordnung der Werthe einfach auf eine Zahl- und Maßscala<br />

der Kraft aufzubauen wäre…<br />

— alle sonstigen „Werthe“ sind Vorurtheile, Naivetäten,<br />

Mißverständnisse…<br />

Page Break KGW='VIII-3.75' KSA='13.283'<br />

— sie sind überall reduzirbar auf jene Zahl- und<br />

Maß-Scala der Kraft<br />

— das Aufwärts in <strong>die</strong>ser Scala bedeutet je<strong>des</strong> Wachsen<br />

an Werth:<br />

das Abwärts in <strong>die</strong>ser Skala bedeutet Verminderung<br />

<strong>des</strong> Werths<br />

Hier hat man den Schein und das Vorurtheil wider sich.<br />

eine Moral, eine durch lange Erfahrung und Prüfung<br />

erprobte, bewiesene Lebensweise kommt zuletzt als Gesetz zum<br />

Bewußtsein, als dominirend…<br />

und damit tritt <strong>die</strong> ganze Gruppe verwandter Werthe und


Zustände in sie hinein: sie wird ehrwürdig, unangreifbar, heilig,<br />

wahrhaft<br />

es gehört zu ihrer Entwicklung, daß ihre Herkunft vergessen<br />

wird… Es ist ein Zeichen, daß sie Herr geworden ist…<br />

* * *<br />

Ganz dasselbe könnte geschehen sein mit den Kategorien<br />

der Vernunft: <strong>die</strong>selben könnten, unter vielem Tasten und<br />

Herumgreifen, sich bewährt haben durch relative Nützlichkeit…<br />

Es kam ein Punkt, wo man sie zusammenfaßte, sich als Ganzes<br />

zum Bewußtsein brachte, — und wo man sie befahl… d.h.<br />

wo sie wirkten als befehlend…<br />

Von jetzt ab galten sie als a priori…, als jenseits der<br />

Erfahrung, als unabweisbar…<br />

Und doch drücken sie vielleicht nichts aus als eine bestimmte<br />

Rassen- und Gattungs-Zweckmäßigkeit, — bloß ihre Nützlichkeit<br />

ist ihre „Wahrheit“ —<br />

Von der Herkunft der Vernunft —<br />

A.<br />

Die obersten Werthe waren bisher <strong>die</strong> moralischen.<br />

Page Break KGW='VIII-3.76' KSA='13.284'<br />

B.<br />

Kritik <strong>die</strong>ser Werthe.<br />

C.<br />

-- -- --<br />

Aphorism n=12259 id='VIII.14[106]' kgw='VIII-3.76' ksa='13.284'<br />

Vorschrift für den jungen Theologen:<br />

1. daß er sich <strong>des</strong> Weibes enthalte und überhaupt jeder<br />

gegorenen Substanz; daß er weder Stiefeln, noch Sonnenschirm<br />

trage; daß er sich je<strong>des</strong> Sinnenreizes (Gesang, Tanz und Musik)<br />

enthalte<br />

2. Wenn der Candidat unfreiwillig eine Befleckung während<br />

seines Schlummers empfängt, so soll er sich bei dem Aufgang der<br />

Sonne drei Mal in den heiligen Sumpf tauchen, mit den Worten<br />

„daß Das, was wider Willen von mir gegangen ist, zu mir<br />

zurückkomme!“<br />

3. Wenn sein Lehrer ihn unterbricht, so soll er ihm weder<br />

liegend, noch sitzend, noch essend, noch laufend, noch von fern,<br />

noch mit einem Seitenblick antworten:<br />

4. Vielmehr soll er zu ihm kommen und, aufrecht, respektvoll,<br />

ihn ansehen und Antwort geben.<br />

Wenn er im Wagen ist und seinen Lehrer bemerkt, soll er<br />

sofort aussteigen, um ihm seine honneurs zu machen.<br />

Der Schüler darf das Weib seines Lehrers nicht beim Baden<br />

be<strong>die</strong>nen, noch sie parfümiren, noch sie massiren, noch ihren


Haar-Aufputz arrangiren, noch sie salben<br />

Er darf sich auch nicht vor der jungen Gattin seines Lehrers<br />

niederwerfen und respectvoll ihre Füße berühren, gesetzt<br />

nämlich, daß er durch sein Alter bereits das Wissen von Gut und Böse<br />

hat.<br />

Es liegt in der Natur <strong>des</strong> Weibes daß es den Männern<br />

gefalle und sie versuchen will. Aber <strong>die</strong> Weisen lassen sich niemals<br />

so weit gehen, <strong>die</strong>ser Anziehungskraft nachzugeben, nämlich in<br />

Fällen, wo <strong>die</strong>s tadelnswerth ist.<br />

Page Break KGW='VIII-3.77' KSA='13.285'<br />

Man soll nicht an einsamen Orten allein mit seiner Mutter,<br />

seiner Schwester, seiner Tochter und anderen Verwandtinnen<br />

weilen: <strong>die</strong> durch Einsamkeit aufgeregten Sinne sind so mächtig<br />

daß sie bisweilen über <strong>die</strong> Weisesten Recht bekommen.<br />

Dies war der Fall mit dem weisen Vasta, der, um vor der<br />

Bosheit der Leute von Gotha zu fliehen, sich mit seinen 2 Töchtern<br />

in eine Höhle zurückzog: woselbst er sie alle beide zu Müttern<br />

machte.<br />

Aphorism n=12260 id='VIII.14[107]' kgw='VIII-3.77' ksa='13.285'<br />

Theorie und Praxis<br />

Kritik vom Werth der Moral<br />

Gefährliche Unterscheidung zwischen „theoretisch“<br />

und “praktisch“ z.B. bei Kant, aber auch<br />

bei den Alten<br />

— sie thun, als ob <strong>die</strong> reine Geistigkeit ihnen <strong>die</strong> Probleme<br />

der Erkenntniß und Metaphysik vorlege<br />

— sie thun, als ob, wie auch <strong>die</strong> Antwort der Theorie<br />

ausfalle, <strong>die</strong> Praxis nach eigenem Werthmaße zu beurtheilen sei.<br />

Gegen das Erste richte ich meine Psychologie der Philosophen:<br />

ihr entfremdetster Calcul und „Geistigkeit“ bleibt<br />

immer nur der letzte blasseste Abdruck einer physiologischen<br />

Thatsache; es fehlt absolut <strong>die</strong> Freiwilligkeit darin, Alles ist<br />

Instinkt, Alles ist von vorn herein in bestimmte Bahnen<br />

gelenkt…<br />

— gegen das Zweite frage ich, ob wir eine andere Methode<br />

kennen, um gut zu handeln als immer gut zu denken: letzteres<br />

ist ein Handeln, und ersteres setzt Denken voraus. Haben wir<br />

ein Vermögen, den Werth einer Lebensweise anderswie zu<br />

beurtheilen als den Werth einer Theorie durch Induktion, durch<br />

Vergleichung?… Die Naiven glauben, hier wären wir besser<br />

daran, hier wüßten wir, was „gut“ ist, — <strong>die</strong> Philosophen<br />

reden's nach. Wir schließen, daß hier ein Glaube vorhanden<br />

ist, weiter nichts…<br />

Page Break KGW='VIII-3.78' KSA='13.286'


„Man muß handeln; folglich bedarf es einer Richtschnur“<br />

— sagten selbst <strong>die</strong> antiken Skeptiker<br />

<strong>die</strong> Dringlichkeit einer Entscheidung als Argument,<br />

irgend etwas hier für wahr zu halten!…<br />

Man muß nicht handeln: — sagten ihre consequenteren<br />

Brüder, <strong>die</strong> Buddhisten und ersannen eine Richtschnur, wie man<br />

sich losmachte vom Handeln…<br />

Sich einordnen, leben wie der „gemeine Mann“ lebt, gut<br />

und recht halten, was er recht hält: das ist <strong>die</strong> Unterwerfung<br />

unter den Herdeninstinkt.<br />

Man muß seinen Muth und seine Strenge so weit treiben,<br />

eine solche Unterwerfung wie eine Scham zu empfinden<br />

Nicht mit zweierlei Maß leben!… Nicht Theorie und Praxis<br />

trennen! —<br />

Aphorism n=12261 id='VIII.14[108]' kgw='VIII-3.78' ksa='13.286'<br />

Wille zur <strong>Macht</strong> als Moral<br />

Die Vorherrschaft der moralischen Werthe.<br />

Folgen <strong>die</strong>ser Vorherrschaft, <strong>die</strong> Verderbniß der Psychologie<br />

usw.<br />

das Verhängniß überall, das an ihr hängt<br />

Was bedeutet <strong>die</strong>se Vorherrschaft? Worauf weist sie hin?<br />

— eine gewisse größere Dringlichkeit eines bestimmten<br />

Ja und Nein auf <strong>die</strong>sem Gebiete<br />

— man hat alle Arten Imperative darauf verwendet,<br />

um <strong>die</strong> moralischen Werthe als fest erscheinen zu lassen: sie sind<br />

am längsten commandirt worden: — sie scheinen instinktiv<br />

wie innere Commandos…<br />

— es drücken sich Erhaltungsbedingungen der<br />

Societät darin aus, daß <strong>die</strong> moralischen Werthe als<br />

undiskutirbar empfunden werden<br />

— <strong>die</strong> Praxis: das will heißen, <strong>die</strong> Nützlichkeit, mit<br />

einander sich über <strong>die</strong> obersten Werthe zu verstehen, hat hier<br />

eine Art Sanktion erlangt<br />

Page Break KGW='VIII-3.79' KSA='13.287'<br />

— wir sehen alle Mittel angewendet, wodurch das<br />

Nachdenken und <strong>die</strong> Kritik auf <strong>die</strong>sem Gebiete lahm gelegt<br />

wird: — welche Attitüde nimmt noch Kant, nicht zu reden<br />

von denen, welche es als unmoralisch ablehnen, hier zu<br />

„forschen“ —<br />

Wie man <strong>die</strong> Moral zur Herrschaft gebracht hat<br />

Aphorism n=12262 id='VIII.14[109]' kgw='VIII-3.79' ksa='13.287'


Wissenschaft und Philosophie<br />

Alle <strong>die</strong>se Werthe sind empirisch und bedingt. Aber der, der<br />

an sie glaubt, der sie verehrt, will eben <strong>die</strong>sen Charakter nicht<br />

anerkennen…<br />

<strong>die</strong> Philosophen glauben allesammt an <strong>die</strong>se Werthe und eine<br />

Form ihrer Verehrung war <strong>die</strong> Bemühung, aus ihnen a priori<br />

Wahrheiten zu machen<br />

fälschender Charakter der Verehrung…<br />

<strong>die</strong> Verehrung ist <strong>die</strong> hohe Probe der intellektuellen<br />

Rechtschaffenheit: aber es giebt in der ganzen Geschichte der<br />

Philosophie keine intellektuelle Rechtschaffenheit<br />

sondern <strong>die</strong> „Liebe zum Guten“…<br />

: der absolute Mangel an Methode, um das Maaß<br />

<strong>die</strong>ser Werthe zu prüfen<br />

zweitens: <strong>die</strong> Abneigung, <strong>die</strong>se Werthe zu prüfen,<br />

überhaupt sie bedingt zu nehmen<br />

Bei den Moral-Werthen kamen alle antiwissenschaftlichen<br />

Instinkte zusammen in Betracht, um hier <strong>die</strong> Wissenschaft<br />

auszuschließen…<br />

Wie der unglaubliche Skandal, den <strong>die</strong> Moral in der<br />

Geschichte der Wissenschaft darstellt, zu erklären…<br />

Aphorism n=12263 id='VIII.14[110]' kgw='VIII-3.79' ksa='13.287'<br />

Formel <strong>des</strong> „Fortschritts“-Aberglaubens eines<br />

berühmten Physiologen der cerebralen Thätigkeiten<br />

Page Break KGW='VIII-3.80' KSA='13.288'<br />

„L'animal ne fait jamais de progrès comme espèce; l'homme<br />

seul fait de progrès comme espèce.“<br />

Nein: — — —<br />

Aphorism n=12264 id='VIII.14[111]' kgw='VIII-3.80' ksa='13.288'<br />

Philosophie als décadence<br />

Die große Vernunft in aller Erziehung zur Moral war immer,<br />

daß man hier <strong>die</strong> Sicherheit eines Instinkts zu erreichen<br />

suchte: so daß weder <strong>die</strong> gute Absicht, noch <strong>die</strong> guten<br />

Mittel als solche erst ins Bewußtsein traten. So wie der Soldat<br />

exercirt, so sollte der Mensch handeln lernen. In der That gehört<br />

<strong>die</strong>ses Unbewußtsein zu jeder Art Vollkommenheit: selbst noch<br />

der Mathematiker handhabt seine Combinationen unbewußt…<br />

Was bedeutet nun <strong>die</strong> Reaktion <strong>des</strong> Sokrates, welcher <strong>die</strong><br />

Dialektik als Weg zur Tugend anempfahl und sich darüber lustig<br />

machte, wenn <strong>die</strong> Moral sich nicht logisch zu rechtfertigen<br />

wußte? … Aber eben das Letztere gehört zu ihrer Güte…<br />

ohne sie taugt sie nichts!… Scham erregen war ein


nothwendiges Attribut <strong>des</strong> Vollkommenen!…<br />

Es bedeutet exakt <strong>die</strong> Auflösung der griechischen<br />

Instinkte, als man <strong>die</strong> Beweisbarkeit als Voraussetzung<br />

der persönlichen Tüchtigkeit in der Tugend voranstellte.<br />

Es sind selbst Typen der Auflösung, alle <strong>die</strong>se großen<br />

„Tugendhaften“ und Wortemacher…<br />

In praxi bedeutet es, daß <strong>die</strong> moralischen Urtheile aus ihrer<br />

Bedingtheit, aus der sie gewachsen sind und in der allein sie<br />

Sinn haben, aus ihrem griechischen und griechisch-politischen<br />

Grund und Boden ausgerissen werden und, unter dem Anschein<br />

von Sublimirung, entnatürlicht werden. Die großen<br />

Begriffe „gut“ „gerecht“ werden losgemacht von den<br />

Voraussetzungen, zu denen sie gehören: und als frei gewordene<br />

„Ideen“ Gegenstände der Dialektik. Man sucht hinter ihnen eine<br />

Wahrheit, man nimmt sie als Entitäten oder als Zeichen von<br />

Page Break KGW='VIII-3.81' KSA='13.289'<br />

Entitäten: man erdichtet eine Welt, wo sie zu Hause sind,<br />

wo sie herkommen…<br />

In summa: der Unfug ist auf seiner(1705) Spitze bereits bei Plato<br />

…Und nun hatte man nöthig, auch den abstrakt-vollkommenen<br />

Menschen hinzuzuerfinden(1706)<br />

gut, gerecht, weise, Dialektiker — kurz <strong>die</strong> Vogelscheuche<br />

<strong>des</strong> antiken Philosophen,<br />

eine Pflanze, aus jedem Boden losgelöst; eine Menschlichkeit<br />

ohne alle bestimmten regulirenden Instinkte; eine Tugend, <strong>die</strong><br />

sich mit Gründen „beweist“.<br />

das vollkommen absurde „Individuum“ an sich! <strong>die</strong><br />

Unnatur höchsten Rangs…<br />

Kurz, <strong>die</strong> Entnatürlichung der Moralwerthe hatte zur<br />

Consequenz, einen entartenden Typus <strong>des</strong> Menschen zu schaffen<br />

— „den Guten“, „den Glücklichen“, „den Weisen“<br />

Sokrates ist ein Moment der tiefsten Perversität in<br />

der Geschichte der Menschen<br />

Aphorism n=12265 id='VIII.14[112]' kgw='VIII-3.81' ksa='13.289'<br />

Es würde uns Zweifel gegen einen Menschen machen, zu<br />

hören, daß er Gründe nöthig hat, um anständig zu bleiben:<br />

gewiß ist, daß wir seinen Umgang meiden. Das Wörtchen „denn“<br />

compromittirt in gewissen Fällen; man widerlegt sich<br />

mitunter sogar durch ein einziges „denn“. Hören wir nun <strong>des</strong><br />

Weiteren daß ein solcher Aspirant der Tugend schlechte Gründe<br />

nöthig hat, um respektabel zu bleiben, so giebt das noch keinen<br />

Grund ab, unseren Respekt vor ihm zu steigern. Aber er geht<br />

weiter, er kommt zu uns, er sagt uns ins Gesicht: „Sie stören<br />

meine Moralität mit Ihrem Unglauben, mein Herr Ungläubiger;<br />

so lange Sie nicht an meine schlechten Gründe, will sagen


an Gott, an ein strafen<strong>des</strong> Jenseits, an eine Freiheit <strong>des</strong><br />

Willens glauben, verhindern Sie meine Tugend … Moral:<br />

man muß <strong>die</strong> Ungläubigen abschaffen, sie verhindern <strong>die</strong><br />

Moralisirung der Massen“.<br />

Page Break KGW='VIII-3.82' KSA='13.290'<br />

Aphorism n=12266 id='VIII.14[113]' kgw='VIII-3.82' ksa='13.290'<br />

Moral als décadence<br />

Heute, wo uns je<strong>des</strong> „so und so soll der Mensch sein“ eine<br />

kleine Ironie in den Mund legt, wo wir durchaus daran festhalten,<br />

daß man, trotz allem, nur das wird, was man ist (trotz<br />

allem: will sagen Erziehung, Unterricht, milieu, Zufälle und<br />

Unfälle), haben wir in Dingen der Moral auf eine curiose Weise das<br />

Verhältniß von Ursache und Folge umdrehen gelernt, —<br />

nichts unterscheidet uns vielleicht gründlicher von den alten<br />

Moralgläubigen. Wir sagen z.B. nicht mehr „das Laster ist <strong>die</strong><br />

Ursache davon, daß ein Mensch auch physiologisch zu Grunde<br />

geht“; wir sagen ebenso wenig „durch <strong>die</strong> Tugend gedeiht ein<br />

Mensch, sie bringt langes Leben und Glück“. Unsere Meinung ist<br />

vielmehr, daß Laster und Tugend keine Ursachen, sondern nur<br />

Folgen sind. Man wird ein anständiger Mensch, weil man ein<br />

anständiger Mensch ist: das heißt weil man als Capitalist guter<br />

Instinkte und gedeihlicher Verhältnisse geboren ist… Kommt<br />

man arm zur Welt, von Eltern her, welche in Allem nur verschwendet<br />

und nichts gesammelt haben, so ist man „unverbesserlich“,<br />

will sagen reif für Zuchthaus und Irrenhaus… Wir wissen<br />

heute <strong>die</strong> moralische Degenerescenz nicht mehr abgetrennt von<br />

der physiologischen zu denken: sie ist ein bloßer Symptom-Complex<br />

der letzteren; man(1707) ist nothwendig schlecht, wie man nothwendig<br />

krank ist… Schlecht: das Wort drückt hier gewisse<br />

Unvermögen aus, <strong>die</strong> physiologisch mit dem Typus der<br />

Degenerescenz verbunden sind: z.B. <strong>die</strong> Schwäche <strong>des</strong> Willens, <strong>die</strong><br />

Unsicherheit und selbst Mehrheit der „Person“, <strong>die</strong> Ohnmacht,<br />

auf irgend einen Reiz hin <strong>die</strong> Reaktion auszusetzen und sich zu<br />

„beherrschen“, <strong>die</strong> Unfreiheit vor jeder Art Suggestion eines<br />

fremden Willens. Laster ist keine Ursache; Laster ist eine<br />

Folge… Laster ist eine ziemlich willkürliche Begriffs-Abgrenzung,<br />

um gewisse Folgen der physiologischen Entartung zusammenzufassen.<br />

Ein allgemeiner Satz, wie ihn das Christenthum<br />

lehrte, „der Mensch ist schlecht“, würde berechtigt sein, wenn es<br />

Page Break KGW='VIII-3.83' KSA='13.291'<br />

berechtigt wäre, den Typus <strong>des</strong> Degenerirten als Normal-Typus<br />

<strong>des</strong> Menschen zu nehmen. Aber das ist vielleicht eine Übertreibung.<br />

Gewiß hat der Satz überall dort ein Recht, wo gerade das<br />

Christenthum gedeiht und obenauf ist: denn damit ist ein


morbider Boden bewiesen, ein Gebiet für Degenerescenz.<br />

Aphorism n=12267 id='VIII.14[114]' kgw='VIII-3.83' ksa='13.291'<br />

Wachsthum oder Erschöpfung<br />

Kritik der christlichen Werthe.<br />

Kritik der antiken Philosophie.<br />

Zur Geschichte <strong>des</strong> europäischen Nihilismus.<br />

das Christenthum nihilistisch<br />

<strong>die</strong> Vorarbeit dazu: <strong>die</strong> antike Philosophie<br />

Aphorism n=12268 id='VIII.14[115]' kgw='VIII-3.83' ksa='13.291'<br />

Wissenschaft und Philosophie<br />

Wie weit <strong>die</strong> Verderbniß der Psychologen durch <strong>die</strong><br />

Moral-Idiosynkrasie geht:<br />

Niemand der alten Philosophen hat den Muth zur Theorie<br />

<strong>des</strong> „unfreien Willens“ gehabt (das heißt zu einer <strong>die</strong> Moral<br />

negirenden Theorie)<br />

Niemand hat den Muth gehabt, das Typische der Lust, jeder<br />

Art Lust („Glück“) zu definiren als Gefühl der <strong>Macht</strong>: denn <strong>die</strong><br />

Lust an der <strong>Macht</strong> galt als unmoralisch<br />

Niemand hat den Muth gehabt, <strong>die</strong> Tugend als eine Folge<br />

der Unmoralität (eines <strong>Macht</strong>willens) im Dienste der Gattung<br />

(oder der Rasse oder der Polis) zu begreifen (denn der<br />

<strong>Macht</strong>wille galt als Unmoralität, denn damit wäre erkannt<br />

worden, was <strong>die</strong> Wahrheit — — — daß Tugend nur eine(1708) Form der<br />

Unmoralität ist)<br />

Es kommt in der ganzen Entwicklung der Moral keine Wahrheit<br />

vor: alle Begriffs-Elemente, mit denen gearbeitet wird, sind<br />

Fiktionen, alle Psychologica, an <strong>die</strong> man sich hält, sind Fälschungen;<br />

alle Formen der Logik, welche man in <strong>die</strong>s Reich der Lüge<br />

Page Break KGW='VIII-3.84' KSA='13.292'<br />

einschleppt, sind Sophismen. Was <strong>die</strong> Moral-Philosophen selbst<br />

auszeichnet: das ist <strong>die</strong> vollkommene Absenz jeder Sauberkeit,<br />

jeder Selbst-Zucht <strong>des</strong> Intellekts: sie halten „schöne Gefühle“ für<br />

Argumente: ihr „geschwellter Busen“ dünkt ihnen der Blasebalg<br />

der Gottheit… Die Moral-Philosophie ist <strong>die</strong> scabreuse Partie<br />

in der Geschichte <strong>des</strong> Geistes.<br />

Das erste große Beispiel: unter dem Namen der Moral, als<br />

Patronat der Moral ein unerhörter Unfug ausgeübt, thatsächlich<br />

eine décadence in jeder Hinsicht.


Aphorism n=12269 id='VIII.14[116]' kgw='VIII-3.84' ksa='13.292'<br />

Philosophie als décadence<br />

Man kann nicht streng genug darauf insistiren, daß <strong>die</strong><br />

großen griechischen Philosophen <strong>die</strong> décadence jedweder<br />

griechischen Tüchtigkeit repräsentiren und contagiös<br />

machen… Diese gänzlich abstrakt gemachte „Tugend“<br />

war <strong>die</strong> größte Verführung, sich selbst abstrakt zu machen: d.h.<br />

sich herauszulösen…<br />

Der Augenblick ist sehr merkwürdig: <strong>die</strong> Sophisten streifen<br />

an <strong>die</strong> erste Kritik der Moral, <strong>die</strong> erste Einsicht in<br />

<strong>die</strong> Moral…<br />

— sie stellen <strong>die</strong> Mehrheit (<strong>die</strong> lokale Bedingtheit) der<br />

moralischen Werthurtheile neben einander<br />

— sie geben zu verstehen, daß jede Moral sich dialektisch<br />

rechtfertigen lasse(1709), — daß es keinen Unterschied mache: das<br />

heißt, sie errathen, wie alle Begründung einer Moral nothwendig<br />

sophistisch sein muß —<br />

— ein Satz, der hinterdrein im allergrößten Stil durch <strong>die</strong><br />

antiken Philosophen von Plato an (bis Kant) bewiesen worden<br />

ist<br />

— sie stellen <strong>die</strong> erste Wahrheit hin, daß„eine Moral an sich“,<br />

ein „Gutes an sich“ nicht existirt, daß es Schwindel ist, von<br />

„Wahrheit“ auf <strong>die</strong>sem Gebiete zu reden<br />

Page Break KGW='VIII-3.85' KSA='13.293'<br />

Wo war nur <strong>die</strong> intellektuelle Rechtschaffenheit<br />

damals?<br />

<strong>die</strong> griechische Cultur der Sophisten war aus allen griechischen<br />

Instinkten herausgewachsen: sie gehört zur Cultur der<br />

Perikleischen Zeit, so nothwendig wie Plato nicht zu ihr<br />

gehört: sie hat ihre Vorgänger in Heraklit, in Demokrit, in den<br />

wissenschaftlichen Typen der alten Philosophie; sie hat in der<br />

hohen Cultur <strong>des</strong> Thukydi<strong>des</strong> z.B. ihren Ausdruck<br />

— und, sie hat schließlich Recht bekommen: jeder Fortschritt<br />

der erkenntnißtheoretischen und moralistischen Erkenntniß hat<br />

<strong>die</strong> Sophisten restituirt…<br />

unsere heutige Denkweise ist in einem hohen Grade heraklitisch,<br />

demokritisch und protagoreisch… es genügte zu sagen, daß<br />

sie protagoreisch sei(1710), weil Protagoras <strong>die</strong> beiden Stücke<br />

Heraklit und Demokrit in sich zusammennahm<br />

Plato: ein großer Cagliostro, — man denke, wie ihn<br />

Epicur beurtheilte; wie ihn Timon, der Freund Pyrrhos,<br />

beurtheilte — —<br />

Steht vielleicht <strong>die</strong> Rechtschaffenheit Platos außer<br />

Zweifel? … Aber wir wissen zum Min<strong>des</strong>ten, daß er als absolute<br />

Wahrheit gelehrt wissen wollte, was nicht einmal bedingt ihm<br />

als Wahrheit galt: nämlich <strong>die</strong> Sonderexistenz und<br />

Sonder-Unsterblichkeit der „Seelen“


Aphorism n=12270 id='VIII.14[117]' kgw='VIII-3.85' ksa='13.293'<br />

<strong>die</strong> Gegenbewegung: <strong>die</strong> Kunst<br />

Das Rauschgefühl, thatsächlich einem Mehr von Kraft<br />

entsprechend:<br />

am stärksten in der Paarungszeit der Geschlechter:<br />

neue Organe, neue Fertigkeiten, Farben, Formen…<br />

<strong>die</strong> „Verschönerung“ ist eine Folge der erhöhten Kraft<br />

Verschönerung als nothwendige Folge der Kraft-Erhöhung<br />

Verschönerung als Ausdruck eines siegreichen Willens,<br />

einer gesteigerten Coordination, einer Harmonisirung aller<br />

Page Break KGW='VIII-3.86' KSA='13.294'<br />

starken Begehrungen, eines unfehlbar perpendikulären<br />

Schwergewichts<br />

<strong>die</strong> logische und geometrische Vereinfachung ist eine Folge<br />

der Krafterhöhung: umgekehrt erhöht wieder das Wahrnehmen<br />

solcher Vereinfachung das Kraftgefühl…<br />

Spitze der Entwicklung: der große Stil<br />

Die Häßlichkeit bedeutet décadence eines Typus,<br />

Widerspruch und mangelnde Coordination der inneren<br />

Begehrungen<br />

bedeutet einen Niedergang an organisirender Kraft,<br />

an „Willen“ physiologisch geredet…<br />

der Lustzustand, den man Rausch nennt, ist exakt ein<br />

hohes <strong>Macht</strong>gefühl…<br />

<strong>die</strong> Raum- und Zeit-Empfindungen sind verändert:<br />

ungeheure Fernen werden überschaut und gleichsam erst<br />

wahrnehmbar<br />

<strong>die</strong> Ausdehnung <strong>des</strong> Blicks über größere Mengen und<br />

Weiten<br />

<strong>die</strong> Verfeinerung <strong>des</strong> Organs für <strong>die</strong> Wahrnehmung<br />

vieles Kleinsten und Flüchtigsten<br />

<strong>die</strong> Divination, <strong>die</strong> Kraft <strong>des</strong> Verstehens auf <strong>die</strong> leiseste<br />

Hülfe hin, auf jede Suggestion hin, <strong>die</strong> „intelligente“<br />

Sinnlichkeit…<br />

<strong>die</strong> Stärke als Herrschaftsgefühl in den Muskeln, als<br />

Geschmeidigkeit und Lust an der Bewegung, als Tanz, als<br />

Leichtigkeit und Presto<br />

<strong>die</strong> Stärke als Lust am Beweis der Stärke, als Bravourstück,<br />

Abenteuer, Furchtlosigkeit, gleichgültiges Wesen…<br />

Alle <strong>die</strong>se Höhen-Momente <strong>des</strong> Lebens regen sich gegenseitig<br />

an; <strong>die</strong> Bilder- und Vorstellungswelt der Einen genügt, als<br />

Suggestion, für <strong>die</strong> anderen… Dergestalt sind schließlich Zustände<br />

in einander verwachsen, <strong>die</strong> vielleicht Grund hätten, sich fremd<br />

zu bleiben. Zum Beispiel


Page Break KGW='VIII-3.87' KSA='13.295'<br />

das religiöse Rauschgefühl und <strong>die</strong> Geschlechtserregung (zwei<br />

tiefe Gefühle, nachgerade fast verwunderlich coordinirt. Was<br />

gefällt allen frommen Frauen, alten und jungen? Antwort: ein<br />

Heiliger mit schönen Beinen, noch jung, noch Idiot…)<br />

<strong>die</strong> Grausamkeit in der Tragö<strong>die</strong> und das Mitleid ( — ebenfalls<br />

normal coordinirt…<br />

Frühling, Tanz, Musik, alles Wettbewerb der Geschlechter —<br />

und auch noch jene Faustische „Unendlichkeit im Busen“…<br />

<strong>die</strong> Künstler, wenn sie etwas taugen, sind stark (auch leiblich)<br />

angelegt, überschüssig, Kraftthiere, sensuell; ohne eine<br />

gewisse Überheizung <strong>des</strong> geschlechtlichen Systems ist kein Raffael<br />

zu denken… Musik machen ist auch noch eine Art Kindermachen;<br />

Keuschheit ist bloß <strong>die</strong> Ökonomie eines Künstlers: — und<br />

jedenfalls hört auch bei Künstlern <strong>die</strong> Fruchtbarkeit mit der<br />

Zeugungskraft auf…<br />

<strong>die</strong> Künstler sollen nichts so sehen, wie es ist, sondern voller,<br />

sondern einfacher, sondern stärker: dazu muß ihnen eine Art<br />

ewiger Jugend und Frühling, eine Art habitueller Rausch im<br />

Leibe sein.<br />

Beyle und Flaubert, zwei unbedenkliche in solchen Fragen,<br />

haben in der That den Künstlern im Interesse ihres Handwerks<br />

Keuschheit anempfohlen: ich hätte auch Renan zu nennen der<br />

den gleichen Rath giebt, Renan ist Priester…<br />

Aphorism n=12271 id='VIII.14[118]' kgw='VIII-3.87' ksa='13.295'<br />

<strong>die</strong> Epidemien ‚<strong>die</strong> Hallucinationen,<br />

‚<strong>die</strong> Tänze und Gebärden-Zeichen<br />

‚das Lied (Überrest von Tanz<br />

‚— — —<br />

normale Funktionen: : der Traum (ein rauschartiger Zustand<br />

sich übend leitet ihn ein)<br />

: <strong>die</strong> optischen Gesichtsbilder<br />

: Gehörsbilder<br />

: Tastbilder<br />

Page Break KGW='VIII-3.88' KSA='13.296'<br />

Aphorism n=12272 id='VIII.14[119]' kgw='VIII-3.88' ksa='13.296'<br />

Gegenbewegung<br />

<strong>die</strong> Kunst<br />

alle Kunst wirkt als Suggestion auf <strong>die</strong> Muskeln und Sinne,<br />

welche ursprünglich beim naiven künstlerischen Menschen thätig<br />

sind: sie redet immer nur zu Künstlern, — sie redet zu <strong>die</strong>ser Art


von feiner Erreglichkeit <strong>des</strong> Leibes. Der Begriff „Laie“ ist ein<br />

Fehlgriff. Der Taube ist keine Species <strong>des</strong> Guthörigen.<br />

Alle Kunst wirkt tonisch, mehrt <strong>die</strong> Kraft, entzündet <strong>die</strong><br />

Lust (d.h. das Gefühl der Kraft), regt alle <strong>die</strong> feineren Erinnerungen<br />

<strong>des</strong> Rausches an, — es giebt ein eigenes Gedächtniß, das<br />

in solche Zustände hinunterkommt: eine ferne und flüchtige Welt<br />

von Sensationen kehrt da zurück…<br />

Das Häßliche d.h. der Widerspruch zur Kunst, das, was<br />

ausgeschlossen wird von der Kunst, ihr Nein — je<strong>des</strong><br />

Mal, wenn der Niedergang, <strong>die</strong> Verarmung an Leben, <strong>die</strong><br />

Ohnmacht, <strong>die</strong> Auflösung, <strong>die</strong> Verwesung von Fern nur angeregt<br />

wird, reagirt der aesthetische Mensch mit seinem Nein<br />

Das Häßliche wirkt depressiv, es ist der Ausdruck einer<br />

Depression. Es nimmt Kraft, es verarmt, es drückt…<br />

Das Häßliche suggerirt Häßliches; man kann an seinen<br />

Gesundheitszuständen erproben, wie unterschiedlich das<br />

Schlechtbefinden auch <strong>die</strong> Fähigkeit der Phantasie <strong>des</strong> Häßlichen<br />

steigert. Die Auswahl wird anders, von Sachen, Interessen, Fragen:<br />

es giebt einen dem Häßlichen nächstverwandten Zustand auch<br />

im Logischen — Schwere, Dumpfheit… Mechanisch fehlt dabei<br />

das Schwergewicht: das Häßliche hinkt, das Häßliche stolpert: —<br />

Gegensatz einer göttlichen Leichtfertigkeit <strong>des</strong> Tanzenden…<br />

Der aesthetische Zustand hat einen Überreichthum von<br />

Mittheilungsmitteln, zugleich mit einer extremen<br />

Empfänglichkeit für Reize und Zeichen. Er ist der Höhepunkt<br />

der Mittheilsamkeit und Übertragbarkeit zwischen lebenden<br />

Wesen, — er ist <strong>die</strong> Quelle der Sprachen.<br />

Page Break KGW='VIII-3.89' KSA='13.297'<br />

<strong>die</strong> Sprachen haben hier ihren Entstehungsherd: <strong>die</strong><br />

Tonsprachen, sogut als <strong>die</strong> Gebärden- und Blicksprachen. Das vollere<br />

Phänomen ist immer der Anfang: unsere Culturmensch-Vermögen<br />

sind subtrahirte aus volleren Vermögen. Aber auch heute hört<br />

man noch mit den Muskeln, man liest selbst noch mit den<br />

Muskeln.<br />

Jede reife Kunst hat eine Fülle Convention zur Grundlage:<br />

insofern sie Sprache ist. Die Convention ist <strong>die</strong> Bedingung der<br />

großen Kunst, nicht deren Verhinderung…<br />

Jede Erhöhung <strong>des</strong> Lebens steigert <strong>die</strong> Mittheilungs-Kraft,<br />

insgleichen <strong>die</strong> Verständniß-Kraft <strong>des</strong> Menschen. Das<br />

Sichhineinleben in andere Seelen ist ursprünglich nichts<br />

Moralisches, sondern eine physiologische Reizbarkeit der<br />

Suggestion: <strong>die</strong> „Sympathie“ oder was man „Altruismus“ nennt, sind<br />

bloße Ausgestaltungen jenes zur Geistigkeit gerechneten<br />

psychomotorischen Rapports (induction psycho-motrice meint Ch.<br />

Féré) Man theilt sich nie Gedanken mit, man theilt sich<br />

Bewegungen mit, mimische Zeichen, welche von uns auf Gedanken hin<br />

zurück gelesen werden…<br />

* * *


Ich setze<br />

hier eine Reihe psychologischer Zustände als Zeichen<br />

vollen und blühenden Lebens hin, welche man heute gewohnt<br />

ist, als krankhaft zu beurtheilen. Nun haben wir verlernt,<br />

inzwischen, zwischen gesund und krank von einem Gegensatze<br />

zu reden: es handelt sich um Grade, — meine Behauptung in<br />

<strong>die</strong>sem Falle ist, daß was heute „gesund“ genannt wird, ein<br />

niedrigeres Niveau von dem darstellt, was unter günstigen<br />

Verhältnissen gesund wäre … daß wir relativ krank sind … Der<br />

Künstler gehört zu einer noch stärkeren Rasse. Was uns schon<br />

schädlich, was bei uns krankhaft wäre, ist bei ihm Natur<br />

<strong>die</strong> Überfülle an Säften und Kräften kann so gut Symptome<br />

der Partiellen Unfreiheit von Sinnes-Hallucinationen,<br />

Page Break KGW='VIII-3.90' KSA='13.298'<br />

von Suggestions-Raffinements mit sich bringen, wie eine<br />

Verarmung an Leben… der Reiz ist anders bedingt, <strong>die</strong> Wirkung<br />

bleibt sich gleich…<br />

Vor allem ist <strong>die</strong> Nachwirkung nicht <strong>die</strong>selbe; <strong>die</strong> extreme<br />

Erschlaffung aller morbiden Naturen(1711) nach ihren Nerven-Excentricitäten<br />

hat nichts mit den Zuständen <strong>des</strong> Künstlers gemein:<br />

der seine guten Zeiten nicht abzubüßen hat…<br />

Er ist reich genug dazu: er kann verschwenden, ohne arm zu<br />

werden…<br />

Wie man heute „Genie“ als eine Form der Neurose beurtheilen<br />

dürfte, so vielleicht auch <strong>die</strong> künstlerische Suggestions-Kraft,<br />

— und unsere Artisten sind in der That den hysterischen<br />

Weiblein nur zu verwandt!!! Das aber spricht gegen „heute „<br />

und nicht gegen <strong>die</strong> „Künstler“…<br />

Aber man wendet uns ein, daß gerade <strong>die</strong> Verarmung<br />

der Maschine <strong>die</strong> extravagante Verständnißkraft über jedwede<br />

Suggestion ermögliche: Zeugniß unsere hysterischen Weiblein<br />

„unsere Jenseitsforscher“<br />

* * *<br />

Inspiration: Beschreibung.<br />

* * *<br />

Die unkünstlerischen Zustände: <strong>die</strong> der Objektivität,<br />

der Spiegelung, <strong>des</strong> ausgehängten Willens…<br />

das skandalöse Mißverständniß Schopenhauers, der<br />

<strong>die</strong> Kunst als Brücke zur Verneinung <strong>des</strong> Lebens nimmt…<br />

* * *<br />

Die unkünstlerischen Zustände: <strong>die</strong> Verarmenden, Abziehenden,<br />

Ablassenden unter deren Blick das Leben leidet … der<br />

Christ…<br />

* * *<br />

Problem der tragischen Kunst.<br />

* * *


Page Break KGW='VIII-3.91' KSA='13.299'<br />

Die Romantiker: eine zweideutige Frage, wie alles<br />

Moderne.<br />

* * *<br />

der Schauspieler<br />

Aphorism n=12273 id='VIII.14[120]' kgw='VIII-3.91' ksa='13.299'<br />

Liebe<br />

Will man den erstaunlichsten Beweis dafür, wie weit <strong>die</strong><br />

Transfigurationskraft <strong>des</strong> Rausches geht? Die „Liebe“ ist <strong>die</strong>ser<br />

Beweis, das, was Liebe heißt, in allen Sprachen und Stummheiten<br />

der Welt. Der Rausch wird hier mit der Realität in einer Weise<br />

fertig, daß im Bewußtsein <strong>des</strong> Liebenden <strong>die</strong> Ursache ausgelöscht<br />

und etwas Andres sich an ihrer Stelle zu finden scheint —<br />

ein Zittern und Aufglänzen aller Zauberspiegel der Circe…<br />

Hier macht Mensch und Thier keinen Unterschied; noch weniger,<br />

Geist, Güte, Rechtschaffenheit… Man wird fein genarrt, wenn<br />

man fein ist, man wird grob genarrt, wenn man grob ist: aber<br />

<strong>die</strong> Liebe, und selbst <strong>die</strong> Liebe zu Gott, <strong>die</strong> Heiligen-Liebe<br />

„erlöster Seelen“, bleibt in der Wurzel Eins: als ein Fieber, das<br />

Gründe hat(1712), sich zu transfiguriren, ein Rausch, der gut thut,<br />

über sich zu lügen… Und jedenfalls lügt man gut, wenn man<br />

liebt, vor sich und über sich: man scheint sich transfigurirt,<br />

stärker, reicher, vollkommener, man ist vollkommener … Wir<br />

finden hier <strong>die</strong> Kunst als organische Funktion: wir finden sie<br />

eingelegt in den engelhaftesten Instinkt <strong>des</strong> Lebens: wir finden sie<br />

als größtes Stimulans <strong>des</strong> Lebens, — Kunst somit, sublim zweckmäßig<br />

auch noch darin, daß sie lügt… Aber wir würden irren,<br />

bei ihrer Kraft zu lügen stehen zu bleiben: sie thut mehr als bloß<br />

imaginiren, sie verschiebt selbst <strong>die</strong> Werthe. Und nicht nur daß<br />

sie das Gefühl der Werthe verschiebt… Der Liebende ist mehr<br />

werth, ist stärker. Bei den Thieren treibt <strong>die</strong>ser Zustand neue<br />

Stoffe, Pigmente, Farben und Formen heraus: vor allem neue<br />

Bewegungen, neue Rythmen, neue Locktöne und Verführungen.<br />

Beim Menschen ist es nicht anders. Sein Gesammthaushalt ist<br />

Page Break KGW='VIII-3.92' KSA='13.300'<br />

reicher als je, mächtiger ganzer als im Nichtliebenden. Der<br />

Liebende wird Verschwender: er ist reich genug dazu. Er wagt jetzt,<br />

wird Abenteurer, wird ein Esel an Großmuth und Unschuld; er<br />

glaubt wieder an Gott, er glaubt an <strong>die</strong> Tugend weil er an <strong>die</strong><br />

Liebe glaubt: und andrerseits wachsen <strong>die</strong>sem Idioten <strong>des</strong> Glücks<br />

Flügel und neue Fähigkeiten und selbst zur Kunst thut sich ihm<br />

<strong>die</strong> Thüre auf. Rechnen wir aus der Lyrik in Ton und Wort <strong>die</strong><br />

Suggestion jenes intestinalen Fiebers ab: was bleibt von der


Lyrik und Musik übrig?… L'art pour l'art vielleicht: das<br />

virtuose Gequak kaltgestellter Frösche, <strong>die</strong> in ihrem Sumpfe<br />

<strong>des</strong>periren… Den ganzen Rest schuf <strong>die</strong> Liebe…<br />

Aphorism n=12274 id='VIII.14[121]' kgw='VIII-3.92' ksa='13.300'<br />

Wille zur <strong>Macht</strong> psychologisch<br />

Einheitsconception der Psychologie.<br />

Wir sind gewöhnt daran, <strong>die</strong> Ausgestaltung einer ungeheuren<br />

Fülle von Formen verträglich zu halten mit einer Herkunft aus<br />

der Einheit.<br />

Daß der Wille zur <strong>Macht</strong> <strong>die</strong> primitive Affekt-Form ist, daß<br />

alle anderen Affekte nur seine Ausgestaltungen sind:<br />

Daß es eine bedeutende Aufklärung giebt, an Stelle <strong>des</strong><br />

individuellen „Glücks“ nach dem je<strong>des</strong> Lebende streben soll, zu<br />

setzen <strong>Macht</strong>: „es strebt nach <strong>Macht</strong>, nach Mehr in der <strong>Macht</strong>“ —<br />

Lust ist nur ein Symptom vom Gefühl der erreichten <strong>Macht</strong>, eine<br />

Differenz-Bewußtheit —<br />

— es strebt nicht nach Lust, sondern Lust tritt ein, wenn es<br />

erreicht, wonach es strebt: Lust begleitet, Lust bewegt nicht…<br />

Daß alle treibende Kraft Wille zur <strong>Macht</strong> ist, das es keine<br />

physische, dynamische oder psychische Kraft außerdem giebt…<br />

— in unserer Wissenschaft, wo der Begriff Ursache und<br />

Wirkung reduzirt ist auf das Gleichungs-Verhältniß, mit dem<br />

Ehrgeiz, zu beweisen, daß auf jeder Seite dasselbe Quantum von<br />

Kraft ist, fehlt <strong>die</strong> treibende Kraft: wir betrachten nur<br />

Resultate, wir setzen sie als gleich in Hinsicht auf Inhalt an<br />

Page Break KGW='VIII-3.93' KSA='13.301'<br />

Kraft, wir erlassen uns <strong>die</strong> Frage der Verursachung einer<br />

Veränderung…<br />

es ist eine bloße Erfahrungssache, daß <strong>die</strong> Veränderung<br />

nicht aufhört: an sich haben wir nicht den geringsten<br />

Grund zu verstehen, daß auf eine Veränderung(1713) eine andere<br />

folgen müsse. Im Gegentheil: ein erreichter Zustand schiene<br />

sich selbst erhalten zu müssen, wenn es nicht ein Vermögen in<br />

ihm gebe, eben nicht sich erhalten zu(1714) wollen…<br />

Der Satz <strong>des</strong> Spinoza von der Selbsterhaltung müßte eigentlich<br />

der Veränderung einen Halt setzen: aber der Satz ist falsch,<br />

das Gegentheil ist wahr. Gerade an allem Lebendigen ist<br />

am deutlichsten zu zeigen, daß es alles thut, um nicht sich zu<br />

erhalten, sondern um mehr zu werden…<br />

ist „Wille zur <strong>Macht</strong>“ eine Art „Wille“ oder identisch mit<br />

dem Begriff „Wille“? heißt es so viel als begehren? oder<br />

commandiren?<br />

ist es der „Wille“, von dem Schopenhauer meint, er sei das<br />

„An sich der Dinge“?<br />

: mein Satz ist: daß Wille der bisherigen Psychologie, eine


ungerechtfertigte Verallgemeinerung ist, daß es <strong>die</strong>sen Willen<br />

gar nicht giebt, daß statt <strong>die</strong> Ausgestaltung Eines<br />

bestimmten Willens in viele Formen zu fassen, man den<br />

Charakter <strong>des</strong> Willens weggestrichen hat, indem man den<br />

Inhalt, das Wohin? heraus subtrahirt hat<br />

: das ist im höchsten Grade bei Schopenhauer der Fall:<br />

das ist ein bloßes leeres Wort, was er „Wille“ nennt. Es handelt<br />

sich noch weniger um einen „Willen zum Leben“: denn das<br />

Leben ist bloß ein Einzelfall <strong>des</strong> Willens zur <strong>Macht</strong>, — es<br />

ist ganz willkürlich zu behaupten, daß Alles danach strebe, in<br />

<strong>die</strong>se Form <strong>des</strong> Willens zur <strong>Macht</strong> überzutreten<br />

Aphorism n=12275 id='VIII.14[122]' kgw='VIII-3.93' ksa='13.301'<br />

Zur Erkenntnisstheorie: bloß empirisch:<br />

Es giebt weder „Geist“, noch Vernunft, noch Denken, noch<br />

Page Break KGW='VIII-3.94' KSA='13.302'<br />

Bewußtsein, noch Seele, noch Wille, noch Wahrheit: alles Fiktionen,<br />

<strong>die</strong> unbrauchbar sind. Es handelt sich nicht um „Subjekt<br />

und Objekt“ sondern um eine bestimmte Thierart, welche nur<br />

unter einer gewissen relativen Richtigkeit, vor allem<br />

Regelmäßigkeit ihrer Wahrnehmungen (so daß sie Erfahrung<br />

capitalisiren kann) gedeiht…<br />

Die Erkenntniß arbeitet als Werkzeug der <strong>Macht</strong>. So<br />

liegt es auf der Hand, daß sie wächst mit jedem Mehr von<br />

<strong>Macht</strong>…<br />

Sinn der „Erkenntniß“: hier ist, wie bei „gut“ oder „schön“,<br />

der Begriff streng und eng anthropocentrisch und biologisch zu<br />

nehmen. Damit eine bestimmte Art sich erhält — und wächst<br />

in ihrer <strong>Macht</strong> —, muß sie in ihrer Conception der Realität so<br />

viel Berechenbares und Gleichbleiben<strong>des</strong> erfassen, daß darauf hin<br />

ein Schema ihres Verhaltens construirt werden kann. Die<br />

Nützlichkeit der Erhaltung, nicht irgend ein abstrakttheoretisches<br />

Bedürfniß, nicht betrogen zu werden, steht als<br />

Motiv hinter der Entwicklung der Erkenntnißorgane… sie<br />

entwickeln sich so, daß ihre Beobachtung genügt, uns zu erhalten.<br />

Anders: das Maß <strong>des</strong> Erkennenwollens hängt ab von dem<br />

Maß <strong>des</strong> Wachsens <strong>des</strong> Willens zur <strong>Macht</strong> der Art:<br />

eine Art ergreift so viel Realität, um über sie Herr zu<br />

werden, um sie in Dienst zu nehmen.<br />

der mechanistische Begriff der Bewegung ist bereits eine<br />

Übersetzung <strong>des</strong> Original-Vorgangs in <strong>die</strong> Zeichensprache<br />

von Auge und Getast.<br />

der Begriff „Atom“ <strong>die</strong> Unterscheidung zwischen einem „Sitz<br />

der treibenden Kraft und ihr selber“ ist eine Zeichensprache<br />

aus unserer logisch-psychischen Welt her.


Es steht nicht in unserem Belieben, unser Ausdrucksmittel zu<br />

verändern: es ist möglich, zu begreifen, in wiefern es bloße<br />

Semiotik ist.<br />

Page Break KGW='VIII-3.95' KSA='13.303'<br />

Die Forderung einer adäquaten Ausdrucksweise<br />

ist unsinnig: es liegt im Wesen einer Sprache, eines<br />

Ausdrucksmittels, eine bloße Relation auszudrücken… Der Begriff<br />

„Wahrheit“ ist widersinnig … das ganze Reich von<br />

„wahr“ „falsch“ bezieht sich nur auf Relationen zwischen<br />

Wesen, nicht auf das „An sich“… Unsinn: es giebt kein „Wesen<br />

an sich“, <strong>die</strong> Relationen constituiren erst Wesen, so wenig es eine<br />

„Erkenntniß an sich“ geben kann…<br />

Aphorism n=12276 id='VIII.14[123]' kgw='VIII-3.95' ksa='13.303'<br />

Gegenbewegung<br />

Anti-Darwin.<br />

Was mich beim Überblick über <strong>die</strong> großen Schicksale <strong>des</strong><br />

Menschen am meisten überrascht ist, immer das Gegentheil vor<br />

Augen zu sehen von dem, was heute Darwin mit seiner Schule<br />

sieht oder sehen will: <strong>die</strong> Selektion zu Gunsten der Stärkeren,<br />

Besser-Weggekommenen, den Fortschritt der Gattung. Gerade<br />

das Gegentheil greift sich mit Händen: das Durchstreichen der<br />

Glücksfälle, <strong>die</strong> Unnützlichkeit der höher gerathenen Typen, das<br />

unvermeidliche Herr-werden der mittleren, selbst der<br />

untermittleren Typen. Gesetzt, daß man uns nicht den Grund<br />

aufzeigt, warum der Mensch <strong>die</strong> Ausnahme unter den Creaturen<br />

ist, neige ich zum Vorurtheil, daß <strong>die</strong> Schule Darwins sich überall<br />

getäuscht hat. Jener Wille zur <strong>Macht</strong>, in dem ich den letzten<br />

Grund und Charakter aller Veränderung wieder erkenne, giebt<br />

uns das Mittel in <strong>die</strong> Hand, warum gerade <strong>die</strong> Selektion zu<br />

Gunsten der Ausnahmen und Glücksfälle nicht statt hat: <strong>die</strong><br />

Stärksten und Glücklichsten sind schwach, wenn sie organisirte<br />

Heerdeninstinkte, wenn sie <strong>die</strong> Furchtsamkeit der Schwachen,<br />

der Überzahl gegen sich haben. Mein Gesammtaspekt der Welt<br />

der Werthe zeigt, daß in den obersten Werthen, <strong>die</strong> über der<br />

Menschheit heute aufgehängt sind, nicht <strong>die</strong> Glücksfälle, <strong>die</strong><br />

Selektions-Typen, <strong>die</strong> Oberhand haben(1715): vielmehr <strong>die</strong> Typen<br />

Page Break KGW='VIII-3.96' KSA='13.304'<br />

der décadence — vielleicht giebt es nichts Interessanteres in der<br />

Welt als <strong>die</strong>s unerwünschte Schauspiel…<br />

So seltsam es klingt: man hat <strong>die</strong> Starken immer zu bewaffnen<br />

gegen <strong>die</strong> Schwachen; <strong>die</strong> Glücklichen gegen <strong>die</strong> Mißglückten;<br />

<strong>die</strong> Gesunden gegen <strong>die</strong> Verkommenden und Erblich-Belasteten.<br />

Will man <strong>die</strong> Realität zur Moral formuliren: so lautet <strong>die</strong>se


Moral: <strong>die</strong> Mittleren sind mehr werth als <strong>die</strong> Ausnahmen, <strong>die</strong><br />

Decadenz-Gebilde mehr als <strong>die</strong> Mittleren, der Wille zum Nichts<br />

hat <strong>die</strong> Oberhand über den Willen zum Leben — und das<br />

Gesammtziel ist<br />

nun, christlich, buddhistisch, schopenhauerisch ausgedrückt:<br />

besser nicht sein als sein<br />

Gegen <strong>die</strong> Formulirung der Realität zur Moral empöre ich<br />

mich: <strong>des</strong>halb perhorrescire ich das Christenthum mit einem<br />

tödtlichen Haß, weil es <strong>die</strong> sublimen Worte und Gebärden schuf, um<br />

einer schauderhaften Wirklichkeit den Mantel <strong>des</strong> Rechts der<br />

Tugend, der Göttlichkeit zu geben…<br />

Ich sehe alle Philosophen, ich sehe <strong>die</strong> Wissenschaft auf den<br />

Knien vor der Realität vom umgekehrten Kampf ums<br />

Dasein, als ihn <strong>die</strong> Schule Darwins lehrt — nämlich überall <strong>die</strong><br />

obenauf, <strong>die</strong> übrigbleibend, <strong>die</strong> das Leben, den Werth <strong>des</strong> Lebens<br />

compromittiren. — Der Irrthum der Schule Darwins wurde<br />

mir zum Problem: wie kann man blind sein, um gerade hier<br />

falsch zu sehen? … Daß <strong>die</strong> Gattungen einen Fortschritt<br />

darstellen, ist <strong>die</strong> unvernünftigste Behauptung von der Welt:<br />

einstweilen stellen sie ein Niveau dar, —<br />

daß <strong>die</strong> höheren Organismen aus den niederen sich entwickelt<br />

haben, ist durch keinen Fall bisher bezeugt —<br />

ich sehe, daß <strong>die</strong> niederen durch <strong>die</strong> Menge, durch <strong>die</strong> Klugheit,<br />

durch <strong>die</strong> List im Übergewicht sind — ich sehe nicht, wie eine<br />

zufällige Veränderung einen Vortheil abgiebt, zum Min<strong>des</strong>ten<br />

nicht für eine so lange Zeit, <strong>die</strong>se wäre(1716) wieder ein neues Motiv,<br />

zu erklären, warum eine zufällige Veränderung derartig stark<br />

geworden ist —<br />

Page Break KGW='VIII-3.97' KSA='13.305'<br />

— ich finde <strong>die</strong> „Grausamkeit der Natur“, von der man so<br />

viel redet, an einer anderen Stelle: sie ist grausam gegen ihre<br />

Glückskinder, sie schont und schützt und liebt les humbles —<br />

ganz wie — — —<br />

* * *<br />

In summa: das Wachsthum der <strong>Macht</strong> einer Gattung ist<br />

durch <strong>die</strong> Präponderanz ihrer Glückskinder, ihrer Starken<br />

vielleicht weniger garantirt als durch <strong>die</strong> Präponderanz der<br />

mittleren und niederen Typen… In letzteren ist <strong>die</strong> große<br />

Fruchtbarkeit, <strong>die</strong> Dauer; mit ersteren wächst <strong>die</strong> Gefahr, <strong>die</strong> rasche<br />

Verwüstung, <strong>die</strong> schnelle Zahl-Verminderung.<br />

* * *<br />

Aphorism n=12277 id='VIII.14[124]' kgw='VIII-3.97' ksa='13.305'<br />

Gegenbewegung<br />

Vom Ursprung der Religion<br />

In derselben Weise, in der jetzt noch der ungebildete Mensch


daran glaubt, der Zorn sei <strong>die</strong> Ursache davon, wenn er zürnt,<br />

der Geist davon, daß er denkt, <strong>die</strong> Seele davon, daß er fühlt,<br />

kurz so wie auch jetzt noch unbedenklich eine Masse von<br />

psychologischen Entitäten angesetzt wird welche Ursachen sein sollen:<br />

so hat der Mensch auf einer noch naiveren Stufe eben <strong>die</strong>selben<br />

Erscheinungen mit Hülfe von psychologischen Personal-Entitäten<br />

erklärt. Die Zustände, <strong>die</strong> ihm fremd, hinreißend, überwältigend<br />

schienen, legte er sich als Obsession und Verzauberung unter der<br />

<strong>Macht</strong> einer Person zurecht. So führt der Christ, <strong>die</strong> heute am<br />

meisten naive und zurückgebildete Art Mensch, <strong>die</strong> Hoffnung,<br />

<strong>die</strong> Ruhe, das Gefühl der „Erlösung“ auf ein psychologisches<br />

Inspiriren Gottes zurück: bei ihm, als einem wesentlich<br />

leidenden und beunruhigten Typus erscheinen billigerweise <strong>die</strong><br />

Glücks- Erhebungs- und Ruhegefühle als das Fremde, als das der<br />

Erklärung Bedürftige. Unter klugen, starken und lebensvollen<br />

Rassen erregte am meisten der Epileptische <strong>die</strong> Überzeugung, daß<br />

hier eine fremde <strong>Macht</strong> im Spiel ist; aber auch jede<br />

Page Break KGW='VIII-3.98' KSA='13.306'<br />

verwandte Unfreiheit, z.B. <strong>die</strong> <strong>des</strong> Begeisterten, <strong>des</strong> Dichters, <strong>des</strong><br />

großen Verbrechers, der Passionen wie Liebe und Rache <strong>die</strong>nt<br />

zur Erfindung von außermenschlichen Mächten. Man concrescirt<br />

einen Zustand in eine Person: und behauptet, <strong>die</strong>ser Zustand,<br />

wenn er an uns auftritt, sei <strong>die</strong> Wirkung jener Person. Mit<br />

anderen Worten: in der psychologischen Gottbildung wird ein<br />

Zustand, um Wirkung zu sein, als Ursache personifizirt.<br />

Die psychologische Logik ist <strong>die</strong>: das Gefühl der<br />

<strong>Macht</strong>, wenn es plötzlich und überwältigend den Menschen<br />

überzieht, — und das ist in allen großen Affekten der Fall —<br />

erregt ihm einen Zweifel an seiner Person: er wagt sich nicht als<br />

Ursache <strong>die</strong>ses erstaunlichen Gefühls zu denken — und so setzt<br />

er eine stärkere Person, eine Gottheit für <strong>die</strong>sen Fall an.<br />

In summa: der Ursprung der Religion liegt in den extremen<br />

Gefühlen der <strong>Macht</strong>, welche als fremd den Menschen überraschen:<br />

und dem Kranken gleich, der ein Glied zu schwer und<br />

seltsam fühlt und zum Schluß kommt, daß ein anderer Mensch<br />

über ihm liege, legt sich der naive homo religiosus in mehrere<br />

Personen auseinander. Die Religion ist ein Fall der „altération<br />

de la personnalité“. Eine Art Furcht- und Schreckgefühl<br />

vor sich selbst…<br />

Aber ebenso ein außerordentliches Glücks- und<br />

Höhengefühl…<br />

unter Kranken genügt das Gesundheits-Gefühl, um<br />

an Gott, an <strong>die</strong> Nähe Gottes zu glauben<br />

Aphorism n=12278 id='VIII.14[125]' kgw='VIII-3.98' ksa='13.306'<br />

Rudimentäre Psychologie <strong>des</strong> religiösen


Menschen<br />

alle Veränderungen sind Wirkungen,<br />

alle Wirkungen sind Willens-Wirkungen. Der Begriff<br />

„Natur“, „Naturgesetz“ fehlt.<br />

zu allen Wirkungen gehört ein Thäter<br />

Page Break KGW='VIII-3.99' KSA='13.307'<br />

rudimentäre Psychologie: man ist selber nur in dem Falle<br />

Ursache, wo man weiß, daß man gewollt hat.<br />

Folge: <strong>die</strong> Zustände der <strong>Macht</strong> imputiren dem Menschen das<br />

Gefühl, nicht <strong>die</strong> Ursache zu sein, unverantwortlich<br />

dafür zu sein<br />

: sie kommen, ohne gewollt zu sein: folglich sind wir nicht <strong>die</strong><br />

Urheber<br />

: der unfreie Wille (d.h. das Bewußtsein einer Veränderung<br />

mit uns, ohne daß wir sie gewollt haben) bedarf eines<br />

fremden Willens<br />

Consequenz: der Mensch hat alle seine starken und erstaunlichen<br />

Momente nicht gewagt, sich zuzurechnen, — er hat sie<br />

als „passiv“, als „erlitten“ als Überwältigungen concipirt<br />

: <strong>die</strong> Religion ist eine Ausgeburt eines Zweifels an der<br />

Einheit der Person, eine altération der Persönlichkeit<br />

: insofern alles Große und Starke vom Menschen als<br />

übermenschlich als fremd concipirt wurde, verkleinerte sich<br />

der Mensch, — er legte <strong>die</strong> zwei Seiten, eine sehr erbärmliche und<br />

schwache und eine sehr starke und erstaunliche in zwei Sphären<br />

auseinander, hieß <strong>die</strong> erste „Mensch“, <strong>die</strong> zweite „Gott“.<br />

Er hat das immer fortgesetzt, er hat, in der Periode der<br />

moralischen(1717) Idiosynkrasie, seine hohen und<br />

sublimen Moral-Zustände nicht als „gewollt“, als „Werk“ der Person<br />

ausgelegt. Auch der Christ legt seine Person in eine mesquine und<br />

schwache Fiktion, <strong>die</strong> er Mensch nennt und eine andere, <strong>die</strong> er<br />

Gott (Erlöser, Heiland) nennt auseinander —<br />

Die Religion hat den Begriff „Mensch“ erniedrigt; ihre<br />

extreme Consequenz ist, daß alles Gute, Große, Wahre<br />

übermenschlich ist und nur durch eine Gnade geschenkt…<br />

Aphorism n=12279 id='VIII.14[126]' kgw='VIII-3.99' ksa='13.307'<br />

Gegenbewegung: Religion<br />

Moral als Versuch, den menschlichen Stolz<br />

herzustellen<br />

Page Break KGW='VIII-3.100' KSA='13.308'<br />

Die Theorie vom „freien Willen“ ist antireligiös. Sie will dem<br />

Menschen ein Anrecht schaffen, sich für seine hohen Zustände und<br />

Handlungen als Ursache denken zu dürfen; sie ist eine Form <strong>des</strong>


wachsenden Stolzgefühls<br />

Der Mensch fühlt seine <strong>Macht</strong>, sein „Glück“, wie man sagt:<br />

es muß „Wille“ sein vor <strong>die</strong>sem Zustand, — sonst gehört er ihm<br />

nicht an<br />

<strong>die</strong> Tugend ist der Versuch, ein Faktum von Wollen und<br />

Gewollt-haben, als nothwendiges Antecedens vor je<strong>des</strong> hohe und<br />

starke Glücksgefühl zu setzen<br />

wenn regelmäßig der Wille zu gewissen Handlungen im<br />

Bewußtsein vorhanden ist, so darf ein <strong>Macht</strong>gefühl als <strong>des</strong>sen<br />

Wirkung ausgelegt werden<br />

Das ist eine bloße Optik der Psychologie: immer<br />

unter der falschen Voraussetzung, daß uns nichts zugehört, was<br />

wir nicht als gewollt im Bewußtsein haben<br />

Die ganze Verantwortlichkeitslehre hängt an <strong>die</strong>ser naiven<br />

Psychologie, daß nur der Wille Ursache ist und daß man wissen<br />

muß, gewollt zu haben, um sich als Ursache glauben zu<br />

dürfen<br />

der Mensch darf nur vor sich Achtung haben, sofern er<br />

tugendhaft ist.<br />

Kommt <strong>die</strong> Gegenbewegung: <strong>die</strong> der Moralphilosophen,<br />

immer noch unter dem gleichen Vorurtheile, daß man nur<br />

für etwas verantwortlich ist das man gewollt hat.<br />

Der Werth <strong>des</strong> Menschen als moralischer Werth<br />

angesetzt: folglich muß seine Moralität eine causa prima sein<br />

folglich muß ein Princip im Menschen sein, ein „freier Wille“<br />

als causa prima<br />

Hier ist immer der Hintergedanke: wenn der Mensch nicht<br />

causa prima ist als Wille, so ist er unverantwortlich, — folglich<br />

gehört er gar nicht vor das moralische Forum, — <strong>die</strong> Tugend<br />

oder das Laster wären automatisch oder machinal…<br />

Page Break KGW='VIII-3.101' KSA='13.309'<br />

In summa: damit der Mensch vor sich Achtung haben kann,<br />

muß er fähig sein, auch böse zu werden<br />

Aphorism n=12280 id='VIII.14[127]' kgw='VIII-3.101' ksa='13.309'<br />

Eine Form der Religion, um den Volks-Stolz<br />

herzustellen<br />

Ein andrer Weg, den Menschen aus seiner Erniedrigung zu<br />

ziehen, welche der Abgang der hohen und starken Zustände, wie<br />

als fremder Zustände, mit sich brachte, war <strong>die</strong><br />

Verwandtschafts-Theorie<br />

: <strong>die</strong>se hohen und starken Zustände konnten wenigstens als<br />

Einwirkungen unserer Vorfahren ausgelegt werden, wir gehörten<br />

zu einander, solidarisch, wir wachsen in unseren eigenen Augen,<br />

indem wir nach uns bekannter Norm handeln.<br />

Versuch, vornehmer Familien, <strong>die</strong> Religion mit ihrem


Selbstgefühl auszugleichen<br />

Die Transfiguration, <strong>die</strong> zeitweilige Metamorphose<br />

— Dasselbe thun <strong>die</strong> Dichter und Seher, sie fühlen sich stolz,<br />

gewürdigt und auserwählt zu sein zu solchem Verkehre, —<br />

sie legen Werth darauf, als Individuen gar nicht in Betracht zu<br />

kommen, bloße Mundstücke zu sein (Homer)<br />

Noch eine Form der Religion. Der Gott wählt aus, der Gott<br />

wird Mensch, oder Gott wohnt mit Menschen zusammen und<br />

hinterläßt große Wohlthaten, <strong>die</strong> Ortslegende, als „Drama“ ewig<br />

dargestellt<br />

Schrittweises Besitz-ergreifen von seinen hohen und stolzen<br />

Zuständen, Besitz-ergreifen von seinen Handlungen und<br />

Werken<br />

— ehedem glaubte man sich zu ehren, wenn man für <strong>die</strong><br />

höchsten Dinge, <strong>die</strong> man that, sich nicht verantwortlich wußte,<br />

sondern — Gott —<br />

<strong>die</strong> Unfreiheit <strong>des</strong> Willens galt als das, was einer<br />

Page Break KGW='VIII-3.102' KSA='13.310'<br />

Handlung einen höheren Werth verlieh: damals war ein Gott zu<br />

ihrem Urheber gemacht…<br />

Aphorism n=12281 id='VIII.14[128]' kgw='VIII-3.102' ksa='13.310'<br />

Wille zur <strong>Macht</strong> — Moral<br />

Die Schauspielerei als Folge der Moral <strong>des</strong> „freien<br />

Willens“<br />

Es ist ein Schritt in der Entwicklung <strong>des</strong> <strong>Macht</strong>gefühls<br />

selbst, seine hohen Zustände (seine Vollkommenheit)<br />

selber auch verursacht zu haben — folglich, schloß man sofort,<br />

gewollt zu haben…<br />

Kritik: alles vollkommene Thun ist gerade unbewußt und<br />

nicht mehr gewollt, das Bewußtsein drückt einen unvollkommenen<br />

und oft krankhaften Personalzustand aus. Die persönliche<br />

Vollkommenheit als bedingt durch Willen,<br />

als Bewußtheit, als Vernunft mit Dialektik ist eine<br />

Carikatur, eine Art von Selbstwiderspruch … Der Grad von<br />

Bewußtsein macht ja <strong>die</strong> Vollkommenheit unmöglich …<br />

Form der Schauspielerei …<br />

Aphorism n=12282 id='VIII.14[129]' kgw='VIII-3.102' ksa='13.310'<br />

Philosophie als décadence<br />

Warum Alles auf Schauspielerei hinauskam.<br />

Die rudimentäre Psychologie, welche nur <strong>die</strong> bewußten


Momente <strong>des</strong> Menschen rechnete, als Ursachen, welche „Bewußtheit“<br />

als Attribut der Seele nahm, welche einen Willen (d.h. eine<br />

Absicht) hinter allem Thun suchte<br />

: sie hatte nur nöthig zu antworten: erstens, was will der<br />

Mensch?<br />

Antwort: das Glück ( — man durfte nicht sagen „<strong>Macht</strong>“:<br />

das wäre unmoralisch gewesen) — folglich ist in allem<br />

Handeln <strong>des</strong> Menschen eine Absicht, mit ihm das Glück zu<br />

erreichen —<br />

Page Break KGW='VIII-3.103' KSA='13.311'<br />

zweitens, wenn thatsächlich der Mensch das Glück nicht<br />

erreicht, woran liegt es? An den Fehlgriffen in Bezug auf <strong>die</strong><br />

Mittel.<br />

Welches ist unfehlbar das Mittel zum<br />

Glück? Antwort: <strong>die</strong> Tugend.<br />

Warum <strong>die</strong> Tugend? Weil sie <strong>die</strong> höchste Vernünftigkeit (ist),<br />

und weil Vernünftigkeit den Fehler unmöglich macht, sich in den<br />

Mitteln zu vergreifen<br />

als Vernunft ist <strong>die</strong> Tugend der Weg zum Glück…<br />

<strong>die</strong> Dialektik ist das beständige Handwerk der Tugend, weil<br />

sie alle Trübung <strong>des</strong> Intellekts, alle Affekte ausschließt<br />

Thatsächlich will der Mensch nicht das „Glück“…<br />

Lust ist ein Gefühl von <strong>Macht</strong>: wenn man <strong>die</strong> Affekte<br />

ausschließt, so schließt man <strong>die</strong> Zustände aus, <strong>die</strong> am höchsten das<br />

Gefühl der <strong>Macht</strong>, folglich Lust geben.<br />

<strong>die</strong> höchste Vernünftigkeit ist ein kalter, klarer Zustand, der<br />

fern davon ist, jenes Gefühl von Glück zu geben, das der<br />

Rausch jeder Art mit sich bringt…<br />

<strong>die</strong> antiken Philosophen(1718) bekämpften alles, was berauscht, —<br />

was <strong>die</strong> absolute Kälte und Neutralität <strong>des</strong> Bewußtseins<br />

beeinträchtigt…<br />

sie waren consequent, auf Grund ihrer falschen Voraussetzung:<br />

daß Bewußtsein der hohe, der oberste Zustand sei,<br />

<strong>die</strong> Voraussetzung der Vollkommenheit,<br />

während das Gegentheil wahr ist —<br />

Soweit gewollt wird, soweit gewußt wird, giebt es keine<br />

Vollkommenheit im Thun irgendwelcher Art. Die antiken<br />

Philosophen waren <strong>die</strong> größten Stümper der Praxis, weil<br />

sie sich theoretisch verurtheilten, zur Stümperei… In praxi<br />

lief Alles auf Schauspielerei hinaus: — und wer dahinter kam,<br />

Pyrrho z.B., urtheilte wie Jedermann, nämlich daß in der Güte<br />

und Rechtschaffenheit <strong>die</strong> „kleinen Leute“ den Philosophen weit<br />

über sind<br />

Page Break KGW='VIII-3.104' KSA='13.312'<br />

Alle tieferen Naturen <strong>des</strong> Alterthums haben Ekel an den<br />

Philosophen der Tugend gehabt:<br />

man sah Streithämmel und Schauspieler in ihnen.


Urtheil über Plato: seitens Epikurs<br />

seitens Pyrrhos<br />

Resultat: in der Praxis <strong>des</strong> Lebens, in der Geduld, Güte<br />

und gegenseitigen Förderung sind ihnen <strong>die</strong> kleinen Leute über:<br />

ungefähr das Urtheil, wie es Dostojewsky oder Tolstoi für seine<br />

Moujik's in Anspruch nimmt: sie sind philosophischer in der<br />

Praxis, sie haben eine beherztere Art, mit dem Nothwendigen<br />

fertig zu werden…<br />

Aphorism n=12283 id='VIII.14[130]' kgw='VIII-3.104' ksa='13.312'<br />

Gegenbewegung: Religion<br />

Moral als décadence<br />

Reaktion der kleinen Leute:<br />

das höchste Gefühl der <strong>Macht</strong> giebt <strong>die</strong> Liebe<br />

Zu begreifen, in wiefern hier nicht der Mensch überhaupt,<br />

sondern eine Art Mensch redet. Diese ist näher auszugraben<br />

„wir sind göttlich in der Liebe, wir werden ‚Kinder Gottes‘,<br />

Gott liebt uns und will gar nichts von uns, als Liebe“<br />

das heißt: alle Moral, alles Gehorchen und Thun, bringt<br />

nicht jenes Gefühl von <strong>Macht</strong> und Freiheit hervor, wie es <strong>die</strong><br />

Liebe hervorbringt<br />

— aus Liebe thut man nichts Schlimmes, man thut viel mehr<br />

als man aus Gehorsam und Tugend thäte —<br />

— hier ist das Heerdenglück, das Gemeinschafts-Gefühl im<br />

Großen und Kleinen, das lebendige Eins-Gefühl als Summe<br />

<strong>des</strong> Lebensgefühls empfunden<br />

— das Helfen und Sorgen und Nützen erregt fortwährend<br />

das Gefühl der <strong>Macht</strong>, der sichtbare Erfolg, der Ausdruck der<br />

Freude unterstreicht das Gefühl der <strong>Macht</strong><br />

— der Stolz fehlt nicht, als Gemeinde, als Wohnstätte<br />

Gottes, als „Auserwählte“. —<br />

Page Break KGW='VIII-3.105' KSA='13.313'<br />

Thatsächlich hat der Mensch nochmals eine Alteration<br />

der Persönlichkeit erlebt: <strong>die</strong>s Mal nannte er sein<br />

Liebesgefühl Gott<br />

man muß ein Erwachen eines solchen Gefühls sich denken,<br />

eine Art Entzücken, eine fremde Rede, ein „Evangelium“ —<br />

<strong>die</strong>se Neuheit war es, welche ihm nicht erlaubte, sich <strong>die</strong> Liebe<br />

zuzurechnen —: er meinte, daß Gott vor ihm wandele, und in<br />

ihm lebendig geworden sei —<br />

„Gott kommt zu den Menschen“, der „Nächste“ wird<br />

transfigurirt, in einen Gott (insofern an ihm das Gefühl der Liebe<br />

sich auslöst) Jesus ist der Nächste, so wie <strong>die</strong>ser zur<br />

Gottheit, zur <strong>Macht</strong>gefühl erregenden Ursache umgedacht<br />

wurde


Aphorism n=12284 id='VIII.14[131]' kgw='VIII-3.105' ksa='13.313'<br />

Wissenschaft und Philosophie<br />

Wissenschaftlichkeit: als Dressur oder als Instinkt.<br />

Bei den griechischen Philosophen sehe ich einen<br />

Niedergang der Instinkte: sonst hätten sie nicht dermaßen<br />

fehlgreifen können, den bewußten Zustand als den<br />

werthvolleren anzusetzen<br />

<strong>die</strong> Intensität <strong>des</strong> Bewußtseins steht im umgekehrten<br />

Verhältniß zur Leichtigkeit und Schnelligkeit der<br />

cerebralen Übermittlung.<br />

Dort regierte <strong>die</strong> umgekehrte Meinung über den<br />

Instinkt: was immer das Zeichen geschwächter Instinkte ist.<br />

Wir müssen in der That das vollkommene Leben dort<br />

suchen, wo es am wenigsten mehr bewußt wird (d.h. seine Logik,<br />

seine Gründe, seine Mittel und Absichten, seine Nützlichkeit<br />

sich vorführt)<br />

Die Rückkehr zur Thatsache <strong>des</strong> bon sens, <strong>des</strong> bon homme,<br />

der „kleinen Leute“ aller Art<br />

einmagazinirte Rechtschaffenheit und<br />

Klugheit seit Geschlechtern, <strong>die</strong> sich niemals ihrer Principien<br />

Page Break KGW='VIII-3.106' KSA='13.314'<br />

bewußt wird und selbst einen kleinen Schauder vor Principien<br />

hat<br />

das Verlangen nach einer räsonnirenden Tugend<br />

ist nicht räsonnabel… Ein Philosoph ist mit einem solchen<br />

Verlangen compromittirt.<br />

Aphorism n=12285 id='VIII.14[132]' kgw='VIII-3.106' ksa='13.314'<br />

Wenn durch Übung in einer langen Geschlechterkette genug<br />

Feinheit, Tapferkeit, Vorsicht und Mäßigung aufgesammelt ist, so<br />

strahlt <strong>die</strong> Instinkt-Kraft <strong>die</strong>ser einverleibten Tugend auch noch<br />

ins Geistigste aus — und jenes seltene Phänomen wird sichtbar,<br />

<strong>die</strong> intellektuelle Rechtschaffenheit. Dasselbe ist<br />

sehr selten: es fehlt bei den Philosophen.<br />

man kann <strong>die</strong> Wissenschaftlichkeit oder moralisch<br />

ausgedrückt <strong>die</strong> intellektuelle Rechtschaffenheit<br />

eines Denkers, seine Instinkt gewordene Feinheit, Tapferkeit,<br />

Vorsicht, Mäßigung, <strong>die</strong> sich ins Geistigste noch übersetzt,<br />

auf eine Goldwage legen: man mache ihn Moral reden…<br />

und <strong>die</strong> berühmtesten Philosophen zeigen dann, daß ihre<br />

Wissenschaftlichkeit nur erst eine bewußte Sache,<br />

ein Ansatz, ein „guter Wille“, eine Mühsal ist — und daß<br />

eben im Augenblick, wo ihr Instinkt zu reden beginnt, wo sie


moralisiren, es zu Ende ist(1719) mit der Zucht und Feinheit ihres<br />

Gewissens<br />

<strong>die</strong> Wissenschaftlichkeit, ob bloße Dressur und Außenseite<br />

oder Endresultat einer langen Zucht und Moral-Übung:<br />

im ersten Falle vikarirt sie sofort, wenn der Instinkt redet<br />

(z.B. der religiöse oder der Pflichtbegriffs-Instinkt)<br />

im anderen Falle steht sie an Stelle <strong>die</strong>ser Instinkte und läßt<br />

sie nicht mehr zu, empfindet sie als Unsauberkeit und<br />

Verführungen…<br />

Page Break KGW='VIII-3.107' KSA='13.315'<br />

Aphorism n=12286 id='VIII.14[133]' kgw='VIII-3.107' ksa='13.315'<br />

Anti-Darwin<br />

Die Domestikation <strong>des</strong> Menschen: welchen definitiven<br />

Werth kann sie haben? oder hat überhaupt eine Domestikation<br />

einen definitiven Werth? — Man hat Gründe, <strong>die</strong>s<br />

letztere zu leugnen.<br />

Die Schule Darwins macht zwar große Anstrengung, uns zum<br />

Gegentheil zu überreden: sie will, daß <strong>die</strong> Wirkung der<br />

Domestikation tief, ja fundamental werden kann. Einstweilen<br />

halten wir am Alten fest: es hat sich Nichts bisher bewiesen,<br />

als eine ganz oberflächliche Wirkung durch Domestikation —<br />

oder aber <strong>die</strong> Degenerescenz. Und Alles, was der menschlichen<br />

Hand und Züchtung entschlüpft, kehrt fast sofort wieder in<br />

seinen Natur-Zustand zurück. Der Typus bleibt constant: man<br />

kann nicht „dénaturer la nature“.<br />

Man rechnet auf den Kampf um <strong>die</strong> Existenz den Tod der<br />

schwächlichen Wesen und das Überleben der Robustesten und<br />

Bestbegabten; folglich imaginirt man ein beständiges<br />

Wachsthum der Vollkommenheit für <strong>die</strong> Wesen.<br />

Wir haben uns umgekehrt versichert, daß, in dem Kampfe<br />

um das Leben, der Zufall den Schwachen so gut <strong>die</strong>nt, wie den<br />

Starken, daß <strong>die</strong> List <strong>die</strong> Kraft oft mit Vortheil sich supplirt, daß<br />

<strong>die</strong> Fruchtbarkeit der Gattungen in einem merkwürdigen<br />

Rapport zu den Chancen der Zerstörung steht…<br />

Man theilt der natürlichen Selection zugleich langsame<br />

und unendliche Metamorphosen zu: man will glauben, daß<br />

jeder Vortheil sich vererbt und sich in abfolgenden Geschlechtern<br />

immer stärker ausdrückt (während <strong>die</strong> Erblichkeit so capriciös<br />

ist …); man betrachtet <strong>die</strong> glücklichen Anpassungen gewisser<br />

Wesen an sehr besondere Lebensbedingungen und man erklärt,<br />

daß sie durch den Einfluß der milieux erlangt sind. Man<br />

findet aber Beispiele der unbewußten Selection nirgendswo<br />

(ganz und gar nicht) Die disparatesten Individuen<br />

einigen sich, <strong>die</strong> extremen mischen sich in <strong>die</strong> Masse. Alles<br />

Page Break KGW='VIII-3.108' KSA='13.316'


concurrirt, den Typus aufrecht zu erhalten; Wesen, <strong>die</strong> äußere<br />

Zeichen haben, <strong>die</strong> sie gegen gewisse Gefahren schützen, verlieren<br />

<strong>die</strong>selben nicht, wenn sie unter Umstände kommen, wo sie ohne<br />

Gefahr leben… Wenn sie Orte bewohnen, wo das Kleid<br />

aufhört, sie zu verbergen, nähern sie sich keineswegs dem Milieu an.<br />

Man hat <strong>die</strong> Auslese der Schönsten in einer Weise<br />

übertrieben, wie sie weit über den Schönheitstrieb unserer<br />

eigenen Rasse hinausgeht! Thatsächlich paart sich das Schönste mit<br />

sehr enterbten Creaturen, das Größte mit dem Kleinsten. Fast<br />

immer sehen wir Männchen und Weibchen jeder zufälligen<br />

Begegnung profitiren und sich ganz und gar nicht wählerisch zeigen.<br />

Modifikation durch Clima und Nahrung. Aber in Wahrheit<br />

absolut gleichgültig.<br />

Es giebt keine Übergangsformen…<br />

Verschiedene Arten auf Eine zurückgeführt. Die Erfahrung<br />

sagt, daß <strong>die</strong> Einigung zur Sterilität verurtheilt und Ein Typus<br />

wieder Herr wird.<br />

Man behauptet <strong>die</strong> wachsende Entwicklung der Wesen. Es<br />

fehlt je<strong>des</strong> Fundament. Jeder Typus hat seine Grenze: über<br />

<strong>die</strong>se hinaus giebt es keine Entwicklung. Bis dahin absolute<br />

Regelmäßigkeit.<br />

Die primitiven Wesen sollen <strong>die</strong> Vorfahren der jetzigen sein.<br />

Aber ein Blick auf <strong>die</strong> fauna und flora der Tertiärperiode erlaubt<br />

uns nur wie an ein noch unerforschtes Land zu denken, wo es<br />

Typen giebt, <strong>die</strong> anderwärts nicht existiren und einander<br />

verwandt und selbst <strong>die</strong>, <strong>die</strong> anderwärts existiren.<br />

Meine Consequenzen<br />

Meine Gesammtansicht. — Erster Satz: der Mensch<br />

als Gattung ist nicht im Fortschritt. Höhere Typen werden<br />

wohl erreicht, aber sie halten sich nicht. Das Niveau der Gattung<br />

wird nicht gehoben.<br />

Zweiter Satz: der Mensch als Gattung stellt keinen Fortschritt<br />

im Vergleich zu irgend einem anderen Thier dar. Die gesammte<br />

Page Break KGW='VIII-3.109' KSA='13.317'<br />

Thier- und Pflanzenwelt entwickelt sich nicht vom Niederen zum<br />

Höheren… Sondern Alles zugleich, und übereinander und<br />

durcheinander und gegeneinander.<br />

Die reichsten und complexesten Formen — denn mehr<br />

besagt das Wort „höherer Typus“ nicht — gehen leichter zu Grunde:<br />

nur <strong>die</strong> niedrigsten halten eine scheinbare Unvergänglichkeit<br />

fest. Erstere werden selten erreicht und halten sich mit Noth<br />

oben: letztere haben eine comprimittirende Fruchtbarkeit für sich.<br />

— Auch in der Menschheit gehen unter wechselnder Gunst und<br />

Ungunst <strong>die</strong> höheren Typen, <strong>die</strong> Glücksfälle der Entwicklung,<br />

am leichtesten zu Grunde.<br />

Sie sind jeder Art von décadence ausgesetzt: sie sind extrem,<br />

und damit selbst beinahe schon décadents… Die kurze Dauer


der Schönheit, <strong>des</strong> Genies, <strong>des</strong> Caesar, ist sui generis: dergleichen<br />

vererbt sich nicht. Der Typus vererbt sich; ein Typus ist nichts<br />

Extremes, kein „Glücksfall“…<br />

Das liegt an keinem besonderen Verhängniß und „bösen<br />

Willen“ der Natur, sondern einfach am Begriff „höherer Typus“:<br />

der höhere Typus stellt eine unvergleichlich größere Complexität,<br />

— eine größere Summe coordinirter Elemente dar: damit wird<br />

auch <strong>die</strong> Disgregation unvergleichlich wahrscheinlicher.<br />

Das „Genie“ ist <strong>die</strong> sublimste Maschine, <strong>die</strong> es giebt, —<br />

folglich <strong>die</strong> zerbrechlichste.<br />

Dritter Satz: <strong>die</strong> Domestikation („<strong>die</strong> Cultur“) <strong>des</strong> Menschen<br />

geht nicht tief… Wo sie tief geht, ist sie sofort <strong>die</strong> Degenerescenz<br />

(Typus: der Christ) Der „wilde“ Mensch (oder, moralisch<br />

ausgedrückt: der böse Mensch) ist seine Rückkehr zur Natur<br />

— und, in gewissem Sinne, — seine Wiederherstellung, seine<br />

Heilung von der „Cultur“ …<br />

Aphorism n=12287 id='VIII.14[134]' kgw='VIII-3.109' ksa='13.317'<br />

Philosophie als décadence<br />

Warum <strong>die</strong> Philosophen Verleumder sind?<br />

Page Break KGW='VIII-3.110' KSA='13.318'<br />

Die tückische und blinde Feindseligkeit der Philosophen gegen<br />

<strong>die</strong> Sinne<br />

Die Sinne sind es nicht, <strong>die</strong> täuschen! —<br />

— unsere Nase, von der, soviel ich weiß, noch nie ein<br />

Philosoph mit Ehrerbietung gesprochen hat, ist einstweilen das<br />

delikateste physikalische Instrument, das es giebt: es vermag noch<br />

Schwingungen zu constatiren, wo selbst das Spektroscop<br />

ohnmächtig ist.<br />

Wie viel Pöbel und Biedermann ist in all <strong>die</strong>sem<br />

Haß!<br />

Das Volk betrachtet einen Mißbrauch, von dem es schlechte<br />

Folgen fühlt, immer als Einwand gegen das, was mißbraucht<br />

worden ist: alle aufständischen Bewegungen gegen Principien,<br />

sei es im Gebiete der Politik, oder der Wirthschaft, argumentiren<br />

immer so, mit dem Hintergedanken, einen abusus als dem Princip<br />

nothwendig und inhärent darzustellen.<br />

Das ist eine jammervolle Geschichte: der Mensch sucht<br />

nach einem Princip, von wo aus er den Menschen verachten kann,<br />

— er erfindet eine Welt, um <strong>die</strong>se Welt verleumden und<br />

beschmutzen zu können: thatsächlich greift er je<strong>des</strong> Mal nach dem<br />

Nichts, und construirt das Nichts zum „Gott“, zur „Wahrheit“,<br />

und jedenfalls zum Richter und Verurtheiler <strong>die</strong>ses Seins…<br />

Wenn man einen Beweis dafür haben will, wie tief und<br />

gründlich <strong>die</strong> eigentlich barbarischen Bedürfnisse <strong>des</strong><br />

Menschen auch noch in seiner Zähmung und „Civilisation“


Befriedigung suchen: so sehe man <strong>die</strong> „Leitmotive“ der ganzen<br />

Entwicklung der Philosophie an. Eine Art Rache an der Wirklichkeit,<br />

ein heimtückisches Zugrunderichten der Werthung, in der der<br />

Mensch lebt, eine unbefriedigte Seele, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Zustände<br />

der Zähmung als Tortur empfindet und an einem krankhaften<br />

Aufdröseln aller Bande, <strong>die</strong> mit ihr verbinden, ihre Wollust hat.<br />

Die Geschichte der Philosophie ist ein heimliches<br />

Wüthen gegen <strong>die</strong> Voraussetzungen <strong>des</strong> Lebens, gegen <strong>die</strong><br />

Werthgefühle <strong>des</strong> Lebens, gegen das Parteinehmen zu Gunsten <strong>des</strong><br />

Page Break KGW='VIII-3.111' KSA='13.319'<br />

Lebens. Die Philosophen haben nie gezögert, eine Welt zu bejahen,<br />

vorausgesetzt, daß sie <strong>die</strong>ser Welt widerspricht, daß sie eine<br />

Handhabe abgiebt, von <strong>die</strong>ser Welt schlecht zu reden. Es war<br />

bisher <strong>die</strong> große Schule der Verleumdung: und sie hat<br />

so sehr imponirt, daß heute noch unsere sich als Fürsprecherin<br />

<strong>des</strong> Lebens gebende Wissenschaft <strong>die</strong> Grundposition der<br />

Verleumdung acceptirt hat und <strong>die</strong>se Welt als scheinbar, <strong>die</strong>se<br />

Ursachenkette als bloß phänomenal handhabt. Was haßt da<br />

eigentlich?…<br />

Ich fürchte, es ist immer <strong>die</strong> Circe der Philosophen,<br />

<strong>die</strong> Moral, welche ihnen <strong>die</strong>sen Streich gespielt, zu allen Zeiten<br />

Verleumder sein zu müssen… Sie glaubten an <strong>die</strong> moralischen<br />

„Wahrheiten“, sie fanden da <strong>die</strong> obersten Werthe, — was blieb<br />

ihnen übrig, als, je mehr sie das Dasein begriffen, um so mehr zu<br />

ihm Nein zu sagen?… denn <strong>die</strong>ses Dasein ist unmoralisch<br />

… Und <strong>die</strong>ses Leben ruht auf unmoralischen Voraussetzungen:<br />

und alle Moral verneint das Leben —<br />

— Schaffen wir <strong>die</strong> wahre Welt ab: und, um <strong>die</strong>s zu können,<br />

haben wir <strong>die</strong> bisherigen obersten Werthe abzuschaffen, <strong>die</strong><br />

Moral<br />

Es genügt nachzuweisen, daß auch <strong>die</strong> Moral unmoralisch<br />

ist, in dem Sinne, in dem das Unmoralische bis jetzt verurtheilt<br />

worden ist. Ist auf <strong>die</strong>se Weise <strong>die</strong> Tyrannei der bisherigen Werthe<br />

gebrochen, haben wir <strong>die</strong> „wahre Welt“ abgeschafft, so wird eine<br />

neue Ordnung der Werthe von selbst folgen müssen.<br />

NB NB. Die scheinbare Welt und <strong>die</strong> erlogene Welt: ist<br />

der Gegensatz: letztere hieß bisher <strong>die</strong> „wahre Welt“, <strong>die</strong><br />

„Wahrheit“, „Gott“. Diese haben wir abzuschaffen.<br />

Aphorism n=12288 id='VIII.14[135]' kgw='VIII-3.111' ksa='13.319'<br />

Logik meiner Conception:<br />

1. Moral als oberster Werth (Herrin über alle<br />

Phasen der Philosophie, selbst der Skeptiker):<br />

Page Break KGW='VIII-3.112' KSA='13.320'


Resultat: <strong>die</strong>se Welt taugt nichts, sie ist nicht <strong>die</strong> „wahre<br />

Welt“<br />

2. Was bestimmt hier den obersten Werth? Was ist eigentlich<br />

Moral?<br />

Der Instinkt der décadence, es sind <strong>die</strong> Erschöpften und<br />

Enterbten, <strong>die</strong> auf <strong>die</strong>se Weise Rache nehmen<br />

Historischer Nachweis: <strong>die</strong> Philosophen sind immer<br />

décadents… im Dienste der nihilistischen Religionen.<br />

3. Der Instinkt der décadence, der als Wille zur <strong>Macht</strong><br />

auftritt.<br />

Beweis: <strong>die</strong> absolute Unmoralität der Mittel<br />

in der ganzen Geschichte der Moral.<br />

II Wir haben in der ganzen Bewegung(1720) nur einen Spezialfall<br />

<strong>des</strong> Willens zur <strong>Macht</strong> erkannt.<br />

Aphorism n=12289 id='VIII.14[136]' kgw='VIII-3.112' ksa='13.320'<br />

Der Wille zur <strong>Macht</strong>.<br />

Versuch<br />

einer Umwerthung aller Werthe.<br />

I.<br />

Kritik der bisherigen Werthe.<br />

II.<br />

Das neue Princip <strong>des</strong> Werths.<br />

Morphologie <strong>des</strong> „Willens zur <strong>Macht</strong>“<br />

III.<br />

Frage vom Werthe unserer modernen Welt<br />

: gemessen nach <strong>die</strong>sem Princip<br />

IV.<br />

Der grosse Krieg.<br />

Page Break KGW='VIII-3.113' KSA='13.321'<br />

Aphorism n=12290 id='VIII.14[137]' kgw='VIII-3.113' ksa='13.321'<br />

Erstes Buch.<br />

welche Werthe bisher obenauf waren.<br />

1. Moral als oberster Werth, in allen Phasen der Philosophie<br />

(selbst bei den Skeptikern)<br />

Resultat: <strong>die</strong>se Welt taugt nichts, es muß eine „wahre Welt“<br />

geben<br />

2. Was bestimmt hier eigentlich den obersten Werth? Was<br />

ist eigentlich Moral? Der Instinkt der décadence, es sind <strong>die</strong><br />

Erschöpften und Enterbten, <strong>die</strong> auf <strong>die</strong>se Weise Rache nehmen<br />

und <strong>die</strong> Herren machen…


Historischer Nachweis: <strong>die</strong> Philosophen immer décadents,<br />

immer im Dienste der nihilistischen Religionen.<br />

3. Der Instinkt der décadence, der als Wille zur <strong>Macht</strong><br />

auftritt. Vorführung seines Systems der Mittel: absolute<br />

Unmoralität der Mittel.<br />

Gesammtansicht: <strong>die</strong> bisherigen obersten Werthe sind ein<br />

Spezialfall <strong>des</strong> Willens zur <strong>Macht</strong>; <strong>die</strong> Moral selbst ist ein<br />

Spezialfall der Unmoralität.<br />

Zweites Buch.<br />

warum <strong>die</strong> gegnerischen Werthe immer<br />

unterlagen.<br />

1. Wie war das eigentlich möglich? Frage: warum unterlag<br />

das Leben, <strong>die</strong> physiologische Wohlgerathenheit überall? Warum<br />

gab es keine Philosophie <strong>des</strong> Ja, keine Religion <strong>des</strong> Ja?…<br />

Die historischen Anzeichen solcher Bewegungen:<br />

<strong>die</strong> heidnische Religion. Dionysos gegen den „Gekreuzigten“<br />

<strong>die</strong> Renaissance. Die Kunst —<br />

2. Die Starken und <strong>die</strong> Schwachen: <strong>die</strong> Gesunden und <strong>die</strong><br />

Kranken; <strong>die</strong> Ausnahme und <strong>die</strong> Regel. Es ist kein Zweifel, wer<br />

der Stärkere ist…<br />

Gesammtaspekt der Geschichte. Ist der Mensch<br />

damit eine Ausnahme in der Geschichte <strong>des</strong> Lebens? —<br />

Page Break KGW='VIII-3.114' KSA='13.322'<br />

Einsprache gegen den Darwinismus. Die Mittel der Schwachen,<br />

um sich oben zu erhalten, sind Instinkte, sind „Menschlichkeit“<br />

geworden, sind „Institutionen“…<br />

3. Nachweis <strong>die</strong>ser Herrschaft in unseren politischen Instinkten,<br />

in unseren socialen Werthurtheilen, in unseren Künsten, in<br />

unserer Wissenschaft.<br />

Wir haben zwei „Willen zur <strong>Macht</strong>“ im Kampfe gesehen;<br />

im Specialfall: wir haben ein Princip, dem<br />

Einen Recht zu geben, der bisher unterlag, und dem, der bisher<br />

siegte, Unrecht zu geben: wir haben <strong>die</strong> „wahre Welt“ als eine<br />

„erlogene Welt“ und <strong>die</strong> Moral als eine Form der Unmoralität<br />

erkannt. Wir sagen nicht: „der Stärkere hat<br />

Unrecht“…<br />

Drittes Buch<br />

was <strong>die</strong> Ursache aller Werthe und Verschiedenheit der Werthe ist<br />

1. <strong>die</strong> nihilistischen Werthe sind obenauf<br />

2. <strong>die</strong> Gegenbewegung ist immer unterlegen, — alsbald<br />

entartet…<br />

3. Die Gegenbewegung bisher nur in halben und entarteten<br />

Formen bekannt.<br />

Reinigung und Wiederherstellung ihres<br />

Typus.<br />

Präciser Ausdruck <strong>des</strong> Systems:<br />

Psychologie


Historie<br />

Kunst<br />

Politik<br />

Aphorism n=12291 id='VIII.14[138]' kgw='VIII-3.114' ksa='13.322'<br />

3. Reinigung der bisher unterlegenen Werthe<br />

Wir haben begriffen, was bisher den obersten Werth<br />

bestimmt hat<br />

Page Break KGW='VIII-3.115' KSA='13.323'<br />

und warum es Herr geworden ist über <strong>die</strong> gegnerische Werthung<br />

: es war stärker…<br />

Reinigen wir jetzt <strong>die</strong> gegnerische Werthung von<br />

der Infektion und Halbheit, von der Entartung, in der sie<br />

uns allen bekannt ist.<br />

Theorie ihrer Entnatürlichung und<br />

Wiederherstellung der Natur: moralinfrei<br />

Erkenntnißtheorie, Wille zur Wahrheit<br />

Theorie der Psychologie<br />

Ursprung der Religion<br />

Ursprung der Kunst<br />

Theorie der Herrschaftsgebilde<br />

Theorie <strong>des</strong> Lebens<br />

Leben und Natur<br />

Geschichte der GegenbewegungenGegenbewegungen:<br />

Renaissance<br />

Revolution<br />

Emancipation der Wissenschaft<br />

Aphorism n=12292 id='VIII.14[139]' kgw='VIII-3.115' ksa='13.323'<br />

Der corrupte und gemischte Zustand der Werthe entspricht<br />

dem physiologischen Zustand der jetzigen Menschen: Theorie der<br />

Modernität<br />

Aphorism n=12293 id='VIII.14[140]' kgw='VIII-3.115' ksa='13.323'<br />

Die Niedergangs-Instinkte sind Herr über <strong>die</strong><br />

Aufgangs-Instinkte geworden…<br />

der Wille zum Nichts ist Herr geworden über den<br />

Willen zum Leben…


— ist das wahr? ist nicht vielleicht eine größere Garantie<br />

<strong>des</strong> Lebens, der Gattung in <strong>die</strong>sem Sieg der Schwachen und<br />

Mittleren?<br />

Page Break KGW='VIII-3.116' KSA='13.324'<br />

— ist es vielleicht nur ein Mittel in der Gesammtbewegung<br />

zum Leben, eine tempo-Verzögerung? eine Nothwehr gegen etwas<br />

noch Schlimmeres?<br />

— gesetzt, <strong>die</strong> Starken wären Herren, in Allem und auch in<br />

den Werthschätzungen geworden: ziehen wir <strong>die</strong> Consequenz,<br />

wie sie über Krankheit, Leiden, Opfer denken würden? Eine<br />

Selbstverachtung der Schwachen wäre <strong>die</strong> Folge;<br />

sie würden suchen, zu verschwinden und sich auszulöschen… Und<br />

wäre <strong>die</strong>s vielleicht wünschenswerth?…<br />

— und möchten wir eigentlich eine Welt, wo <strong>die</strong> Nachwirkung<br />

der Schwachen, ihre Feinheit, Rücksicht, Geistigkeit,<br />

Biegsamkeit fehlte?…<br />

Aphorism n=12294 id='VIII.14[141]' kgw='VIII-3.116' ksa='13.324'<br />

Wissenschaft<br />

Wissenschaft bekämpft von den Philosophen<br />

Das ist außerordentlich. Wir finden von Anfang der griechischen<br />

Philosophie an einen Kampf gegen <strong>die</strong> Wissenschaft, mit den<br />

Mitteln einer Erkenntnißtheorie, resp. Skepsis: und wozu? immer<br />

zu Gunsten der Moral…<br />

Der Haß gegen <strong>die</strong> Physiker und Ärzte<br />

Sokrates, Aristipp, <strong>die</strong> Megariker, <strong>die</strong> Cyniker, Epikur,<br />

Pyrrho — General-Ansturm gegen <strong>die</strong> Erkenntniß zu Gunsten<br />

der Moral…<br />

Haß auch gegen <strong>die</strong> Dialektik…<br />

Es bleibt ein Problem: sie nähern sich der Sophistik, um <strong>die</strong><br />

Wissenschaft los zu werden<br />

Andererseits sind <strong>die</strong> Physiker alle so weit unterjocht, um das<br />

Schema der Wahrheit, <strong>des</strong> wahren Seins in ihre Fundamente<br />

aufzunehmen: z.B. das Atom, <strong>die</strong> 4 Elemente (Juxtaposition<br />

eines Seienden, um <strong>die</strong> Vielheit und Veränderung zu erklären — )<br />

Verachtung gelehrt gegen <strong>die</strong> Objektivität <strong>des</strong> Interesses:<br />

Rückkehr zu dem praktischen Interesse, zur Personal-Nützlichkeit<br />

aller Erkenntniß…<br />

Page Break KGW='VIII-3.117' KSA='13.325'<br />

Der Kampf gegen <strong>die</strong> Wissenschaft richtet sich gegen<br />

1) deren Pathos (Objektivität),<br />

2) deren Mittel (d.h. gegen deren Nützlichkeit<br />

3) deren Resultate (als kindisch<br />

Es ist derselbe Kampf, der später wieder von Seiten der


Kirche, im Namen der Frömmigkeit geführt wird:<br />

: sie erbt das ganze antike Rüstzeug zum Kampfe.<br />

Die Erkenntnißtheorie spielt dabei <strong>die</strong>selbe Rolle, wie bei<br />

Kant, wie bei den Indern…<br />

Man will sich nicht drum zu bekümmern haben: man will<br />

<strong>die</strong> Hand behalten für seinen „Weg“<br />

wogegen wehren sie sich eigentlich? Gegen <strong>die</strong> Verbindlichkeit,<br />

gegen <strong>die</strong> Gesetzlichkeit, gegen <strong>die</strong> Nöthigung, Hand in<br />

Hand zu gehen —<br />

: ich glaube, man nennt das Freiheit…<br />

Darin drückt sich décadence aus: der Instinkt der Solidarität<br />

ist so entartet, daß <strong>die</strong> Solidarität als Tyrannei empfunden<br />

wird:<br />

: sie wollen keine Autorität<br />

keine Solidarität<br />

keine Einordnung in Reih und Glied und<br />

unendliche(1721) Langsamkeit der Bewegung<br />

sie hassen das Schrittweise, das tempo der Wissenschaft, sie<br />

hassen das Nicht-anlangen-wollen, den langen Athem, <strong>die</strong><br />

Personal-Indifferenz <strong>des</strong> wissenschaftlichen Menschen —.<br />

Aphorism n=12295 id='VIII.14[142]' kgw='VIII-3.117' ksa='13.325'<br />

Theorie und Praxis<br />

Verhängnißvolle Unterscheidung, wie als ob es einen eigenen<br />

Erkenntnißtrieb gäbe, der, ohne Rücksicht auf Fragen <strong>des</strong><br />

Nutzens und Schadens, blindlings auf <strong>die</strong> Wahrheit los gienge:<br />

und dann, davon abgetrennt, <strong>die</strong> ganze Welt der praktischen<br />

Interessen…<br />

Page Break KGW='VIII-3.118' KSA='13.326'<br />

Dagegen suche ich zu zeigen, welche Instinkte hinter all<br />

<strong>die</strong>sen reinen Theoretikern thätig gewesen sind, — wie sie<br />

allesammt fatalistisch im Bann ihrer Instinkte auf Etwas losgiengen,<br />

was für sie „Wahrheit“ war, für sie und nur für sie.<br />

Der Kampf der Systeme, sammt dem der erkenntnißtheoretischen<br />

Skrupel, ist ein Kampf ganz bestimmter Instinkte (Formen der<br />

Vitalität, <strong>des</strong> Niedergangs, der Stände, der Rassen usw.)<br />

Der sogenannte Erkenntnißtrieb ist zurückzuführen<br />

auf einen Aneignungs- und Überwältigungstrieb:<br />

<strong>die</strong>sem Triebe folgend haben sich <strong>die</strong> Sinne, das Gedächtniß, <strong>die</strong><br />

Instinkte usw. entwickelt…<br />

— <strong>die</strong> möglichst schnelle Reduktion der Phänomene, <strong>die</strong><br />

Oekonomie, <strong>die</strong> Accumulation <strong>des</strong> erworbenen Schatzes an<br />

Erkenntniß (d.h. angeeigneter und handlich gemachter Welt<br />

Die Moral ist <strong>des</strong>halb eine so curiose Wissenschaft, weil sie<br />

im höchsten Grade praktisch ist: so daß <strong>die</strong> reine Erkenntnißposition,


<strong>die</strong> wissenschaftliche Rechtschaffenheit sofort preisgegeben<br />

wird, sobald <strong>die</strong> Moral ihre Antworten fordert.<br />

Die Moral sagt: ich brauche manche Antworten, —<br />

Gründe, Argumente. Scrupel mögen hinterdrein kommen, oder<br />

auch nicht —<br />

„Wie soll gehandelt werden?“<br />

Denkt man nun nach, daß man mit einem souverän entwickelten<br />

Typus zu thun hat, von dem seit unzähligen Jahrtausenden<br />

„gehandelt“ worden ist und alles Instinkt, Zweckmäßigkeit,<br />

Automatismus, Fatalität geworden ist, so kommt Einem <strong>die</strong><br />

Dringlichkeit <strong>die</strong>ser Moral-Frage sogar ganz komisch vor.<br />

„Wie soll gehandelt werden?“ — Moral war immer ein<br />

Mißverständniß: thatsächlich wollte eine Art, <strong>die</strong> ein Fatum, so und<br />

so zu handeln, im Leibe hatte, sich rechtfertigen, indem sie ihre<br />

Norm als Universalnorm aufdekretiren wollte …<br />

„Wie soll gehandelt werden?“ ist keine Ursache, sondern eine<br />

Wirkung. Die Moral folgt, das Ideal kommt am Ende.<br />

Page Break KGW='VIII-3.119' KSA='13.327'<br />

Andrerseits verräth das Auftreten der moralischen Skrupel,<br />

anders ausgedrückt: das Bewußtwerden der Werthe,<br />

nach denen man handelt, eine gewisse Krankhaftigkeit;<br />

starke Zeiten und Völker reflektiren nicht über ihr Recht, über<br />

Prinzipien zu handeln, über Instinkt und Vernunft —<br />

das Bewußtwerden ist ein Zeichen davon, daß <strong>die</strong><br />

eigentliche Moralität, d.h. Instinkt-Gewißheit <strong>des</strong> Handelns,<br />

zum Teufel geht…<br />

Die Moralisten sind, wie je<strong>des</strong> Mal, daß eine neue<br />

Bewußtseins-Welt geschaffen wird, Zeichen einer Schädigung,<br />

Verarmung, Desorganisation —<br />

<strong>die</strong> Tief-Instinktiven haben eine Scheu vor dem Logisiren<br />

der Pflichten: unter ihnen findet man pyrrhonistische<br />

Gegner der Dialektik und der Erkennbarkeit überhaupt… Eine<br />

Tugend wird mit „um“ widerlegt…<br />

Thesis: das Auftreten der Moralisten gehört in <strong>die</strong> Zeiten,<br />

wo es zu Ende geht mit der Moralität<br />

Thesis: der Moralist ist ein Auflöser der moralischen<br />

Instinkte, so sehr er deren Wiederhersteller zu sein glaubt<br />

Thesis: das, was den Moralisten thatsächlich führt, sind<br />

nicht moralische Instinkte, sondern <strong>die</strong> Instinkte der<br />

décadence, übersetzt in <strong>die</strong> Formeln der Moral: er empfindet<br />

das Unsicherwerden der Instinkte als Corruption:<br />

thatsächlich — — —<br />

Thesis: <strong>die</strong> Instinkte der décadence, <strong>die</strong> durch <strong>die</strong><br />

Moralisten über <strong>die</strong> Instinkt-Moral starker Rassen und Zeiten<br />

Herr werden wollen, sind<br />

1) <strong>die</strong> Instinkte der Schwachen und Schlechtweggekommenen<br />

2) <strong>die</strong> Instinkte der Ausnahmen, der Solitären, der<br />

Ausgelösten, <strong>des</strong> abortus im Hohen und Geringen<br />

3) <strong>die</strong> Instinkte der Habituell-Leidenden, welche eine noble


Auslegung ihres Zustan<strong>des</strong> brauchen und <strong>des</strong>halb so wenig<br />

als möglich Physiologen sein dürfen<br />

Moral als décadence<br />

Page Break KGW='VIII-3.120' KSA='13.328'<br />

Aphorism n=12296 id='VIII.14[143]' kgw='VIII-3.120' ksa='13.328'<br />

Ein Philosoph ist klug, wenn er „unpraktisch“ ist: er erweckt<br />

Glauben an seine Ächtheit, Einfalt, Unschuld im Verkehr mit<br />

Gedanken, — unpraktisch bedeutet in seinem Falle „objektiv“.<br />

Schopenhauer war klug, als er sich einmal mit falsch zugeknöpfter<br />

Weste photographiren ließ: er sagte damit: „ich gehöre nicht in<br />

<strong>die</strong>se Welt: was geht einen Philosophen <strong>die</strong> Convention paralleler<br />

Nähte und Knöpfe an!… Ich bin zu objektiv dafür! …“<br />

Es genügt nicht zu beweisen, daß man unpraktisch ist:<br />

<strong>die</strong> meisten Philosophen glauben damit genug gethan zu haben,<br />

um <strong>die</strong> Objektivität und Reinheit der Vernunft über allen<br />

Zweifel zu erheben.<br />

1. Der angeblich reine Erkenntnißtrieb aller Philosophen ist<br />

commandirt durch ihre Moral- „wahrheiten“, — ist nur<br />

scheinbar unabhängig…<br />

2. <strong>die</strong> „Moralwahrheiten“ „so soll gehandelt werden“<br />

sind bloße Bewußtseins-Formen eines müde-werdenden Instinkts:<br />

„so und so wird bei uns gehandelt“. Das „Ideal“ soll<br />

einen Instinkt wiederherstellen, stärken: es schmeichelt dem<br />

Menschen, gehorsam zu sein, wo er nur Automat ist.<br />

Aphorism n=12297 id='VIII.14[144]' kgw='VIII-3.120' ksa='13.328'<br />

Wo es eine gewisse Einheit in der Gruppirung giebt, hat man<br />

immer den Geist als Ursache <strong>die</strong>ser Coordination gesetzt:<br />

wozu jeder Grund fehlt. Warum sollte <strong>die</strong> Idee eines complexen<br />

Factums eine der Bedingungen <strong>die</strong>ses Factums sein? oder warum<br />

müßte einem complexen Factum <strong>die</strong> Vorstellung davon präcediren? —<br />

Wir werden uns hüten, <strong>die</strong> Zweckmäßigkeit durch den Geist<br />

zu erklären: es fehlt jeder Grund, dem Geiste <strong>die</strong> Eigenthümlichkeit<br />

zu organisiren und zu systematisiren zuzuschreiben.<br />

Page Break KGW='VIII-3.121' KSA='13.329'<br />

Das Nervensystem hat ein viel ausgedehnteres Reich: <strong>die</strong><br />

Bewußtseinswelt ist hinzugefügt. Im Gesammtprozeß der<br />

Adaptation und Systematisation spielt es keine Rolle.<br />

Nichts ist fehlerhafter als aus psychischen und physischen


Phänomenen <strong>die</strong> zwei Gesichter <strong>die</strong> zwei Offenbarungen einer<br />

und derselben Substanz zu machen. Damit erklärt man nichts:<br />

der Begriff „Substanz“ ist vollkommen unbrauchbar, wenn man<br />

erklären will.<br />

Das Bewußtsein, in zweiter Rolle, fast indifferent, überflüssig,<br />

bestimmt vielleicht zu verschwinden, und einem vollkommenen<br />

Automatismus Platz zu machen —<br />

Wenn wir nur <strong>die</strong> inneren Phänomene beobachten, so sind wir<br />

vergleichbar den Taubstummen, <strong>die</strong> aus der Bewegung der Lippen<br />

<strong>die</strong> Worte errathen, <strong>die</strong> sie nicht hören. Wir schließen aus<br />

den Erscheinungen <strong>des</strong> inneren Sinns auf sichtbare und andere<br />

Phänomene, welche wir wahrnehmen würden, wenn unsere<br />

Beobachtungs-Mittel zureichend wären und welche man den<br />

Nervenstrom nennt.<br />

Aphorism n=12298 id='VIII.14[145]' kgw='VIII-3.121' ksa='13.329'<br />

Daß eine Welt, für <strong>die</strong> uns alle feineren Organe abgehen, so<br />

daß wir eine tausendfache Complexität noch als Einheit<br />

empfinden, so daß wir eine Causalität hineinerfinden, wo<br />

jeder Grund der Bewegung und Veränderung uns unsichtbar<br />

bleibt (<strong>die</strong> Aufeinanderfolge von Gedanken, von Gefühlen ist ja<br />

nur das Sichtbar-werden derselben im Bewußtsein; daß <strong>die</strong>se<br />

Reihenfolge irgend etwas mit einer Causal-Verkettung zu thun<br />

habe, ist völlig unglaubwürdig: das Bewußtsein liefert uns nie<br />

ein Beispiel von Ursache und Wirkung) — — —<br />

Page Break KGW='VIII-3.122' KSA='13.330'<br />

Aphorism n=12299 id='VIII.14[146]' kgw='VIII-3.122' ksa='13.330'<br />

Wissenschaft gegen Philosophie<br />

Die ungeheuren Fehlgriffe:<br />

1) <strong>die</strong> unsinnige Überschätzung <strong>des</strong> Bewußtseins,<br />

aus ihm eine Einheit gemacht, ein Wesen gemacht,<br />

„der Geist“, „<strong>die</strong> Seele“, etwas, das fühlt,<br />

denkt, will —<br />

2) der Geist als Ursache, namentlich überall wo<br />

Zweckmäßigkeit, System, Coordination erscheinen<br />

3) das Bewußtsein als höchste erreichbare Form, als<br />

oberste Art Sein, als „Gott“<br />

4) der Wille überall eingetragen, wo es Wirkung giebt<br />

5) <strong>die</strong> „wahre Welt“ als geistige Welt, als zugänglich<br />

durch Bewußtseins-Thatsachen


6) <strong>die</strong> Erkenntniß absolut als Fähigkeit <strong>des</strong><br />

Bewußtseins, wo überhaupt es Erkenntniß giebt<br />

Folgerungen:<br />

jeder Fortschritt liegt in dem Fortschritt zum<br />

Bewußtwerden; jeder Rückschritt im Unbewußtwerden.<br />

Man nähert sich der Realität, dem „wahren Sein“ durch<br />

Dialektik; man entfernt sich von ihm durch<br />

Instinkte, Sinne, Mechanismus…<br />

Den Menschen in Geist auflösen hieße ihn zu Gott<br />

machen: Geist, Wille, Güte — Eins<br />

Alles Gute muß aus der Geistigkeit stammen, muß<br />

Bewußtseins-Thatsache sein<br />

Der Fortschritt zum Besseren kann nur ein Fortschritt<br />

im Bewußtwerden sein<br />

Das Unbewußtwerden galt als Verfallensein an <strong>die</strong><br />

Begierden und Sinne — als Verthierung…<br />

Der Kampf gegen Sokrates, Plato, <strong>die</strong> sämmtlichen sokratischen<br />

Page Break KGW='VIII-3.123' KSA='13.331'<br />

Schulen geht von dem tiefen Instinkt aus, daß man den<br />

Menschen nicht besser macht, wenn man ihm <strong>die</strong> Tugend als<br />

beweisbar und als gründefordernd darstellt…<br />

Zuletzt ist es <strong>die</strong> mesquine Thatsache, daß der agonale<br />

Instinkt alle <strong>die</strong>se geborenen Dialektiker dazu zwang, ihre<br />

Personal-Fähigkeit als oberste Eigenschaft zu verherrlichen,<br />

und alles übrige Gute als bedingt durch sie darzustellen.<br />

Der antiwissenschaftliche Geist <strong>die</strong>ser ganzen „Philosophie“:<br />

sie will Recht behalten.<br />

Aphorism n=12300 id='VIII.14[147]' kgw='VIII-3.123' ksa='13.331'<br />

Der Kampf der Wissenschaft<br />

Sophisten<br />

Die Sophisten sind nichts weiter als Realisten: sie formuliren<br />

<strong>die</strong> allen gang und gäben Werthe und Praktiken zum Range der<br />

Werthe, — sie haben den Muth, den alle starken Geister haben,<br />

um ihre Unmoralität zu wissen…<br />

Glaubt man vielleicht, daß <strong>die</strong>se kleinen griechischen<br />

Freistädte, welche sich vor Wuth und Eifersucht gern aufgefressen<br />

hätten, von menschenfreundlichen und rechtschaffenen Principien<br />

geleitet wurden? <strong>Macht</strong> man vielleicht dem Thukydi<strong>des</strong><br />

einen Vorwurf aus seiner Rede, <strong>die</strong> er den athenischen Gesandten<br />

in den Mund legt, als sie mit den Meliern über Untergang oder<br />

Unterwerfung verhandeln?<br />

Inmitten <strong>die</strong>ser entsetzlichen Spannung von Tugend zu


eden war nur vollendeten Tartuffes möglich — oder<br />

Abseits-Gestellten, Einsiedlern, Flüchtlingen und Auswanderern<br />

aus der Realität… alles Leute, <strong>die</strong> negirten, um selber leben zu<br />

können —<br />

Die Sophisten waren Griechen: als Sokrates und Plato <strong>die</strong><br />

Partei der Tugend und Gerechtigkeit nahmen, waren sie<br />

Juden oder ich weiß nicht was — Die Taktik Grote's zur<br />

Verteidigung der Sophisten ist falsch: er will sie zu Ehrenmännern<br />

Page Break KGW='VIII-3.124' KSA='13.332'<br />

und Moral-Standarten erheben — aber ihre Ehre war, keinen<br />

Schwindel mit großen Worten und Tugenden zu treiben…<br />

Aphorism n=12301 id='VIII.14[148]' kgw='VIII-3.124' ksa='13.332'<br />

Parmeni<strong>des</strong> hat gesagt „man denkt das nicht, was nicht ist“<br />

— wir sind am anderen Ende und sagen „was gedacht werden<br />

kann, muß sicherlich eine Fiktion sein“. Denken hat keinen Griff<br />

auf Reales, sondern nur auf — — —<br />

Aphorism n=12302 id='VIII.14[149]' kgw='VIII-3.124' ksa='13.332'<br />

Die Anhänger Pyrrho's haben sich auch mit den Juden<br />

beschäftigt, namentlich der am aegyptischen Hofe lebende<br />

Hekatäus von Abdera, der über <strong>die</strong> Philosophie der Aegypter schrieb.<br />

Aphorism n=12303 id='VIII.14[150]' kgw='VIII-3.124' ksa='13.332'<br />

„Für das praktische Leben ist ein Glaube nothwendig“<br />

Aphorism n=12304 id='VIII.14[151]' kgw='VIII-3.124' ksa='13.332'<br />

<strong>die</strong> „Besserung“<br />

Moral als décadence<br />

Die allgemeine Täuschung und Täuscherei im Gebiete der<br />

sogenannten moralischen Besserung. Wir glauben nicht daran,<br />

daß ein Mensch ein Anderer wird, wenn er es nicht schon ist: d.h.<br />

wenn er nicht, wie es oft genug vorkommt, eine Vielheit von<br />

Personen, min<strong>des</strong>tens von Ansätzen zu Personen, ist. In <strong>die</strong>sem<br />

Falle erreicht man, daß eine andere Rolle in den Vordergrund<br />

tritt, daß „der alte Mensch“ zurückgeschoben wird… Der<br />

Anblick ist verändert, nicht das Wesen… Selbst das ist nicht immer


erreicht, daß es <strong>die</strong> Gewöhnung an ein gewisses Thun aufhebt,<br />

den besten Grund dazu nimmt. Wer aus(1722) fatum und Fähigkeit<br />

Verbrecher ist, verlernt nichts, sondern lernt immer hinzu: und<br />

eine lange Entbehrung wirkt sogar als tonicum auf sein Talent…<br />

Daß Jemand aufhört, gewisse Handlungen zu thun, ist ein bloßes<br />

fatum brutum, das <strong>die</strong> verschiedenste Deutung zuläßt. Für <strong>die</strong><br />

Page Break KGW='VIII-3.125' KSA='13.333'<br />

Gesellschaft freilich hat gerade das allein ein Interesse, daß<br />

Jemand gewisse Handlungen nicht mehr thut: sie nimmt ihn zu<br />

<strong>die</strong>sem Zwecke aus den Bedingungen heraus, wo er gewisse<br />

Handlungen thun kann: das ist jedenfalls weiser als das Unmögliche<br />

versuchen, nämlich <strong>die</strong> Fatalität seines So-und-So-seins zu<br />

brechen.<br />

Die Kirche — und sie hat nichts gethan als <strong>die</strong> antike Philosophie<br />

hierin abzulösen und zu beerben —, von einem anderen<br />

Werthmaaße ausgehend und eine „Seele“, das „Heil“ einer Seele<br />

retten wollend, glaubt einmal an <strong>die</strong> sühnende Kraft der Strafe<br />

und sodann an <strong>die</strong> auslöschende Kraft der Vergebung: bei<strong>des</strong> sind<br />

Täuschungen <strong>des</strong> religiösen Vorurtheils — <strong>die</strong> Strafe sühnt nicht,<br />

<strong>die</strong> Vergebung löscht nicht aus, Gethanes wird nicht ungethan<br />

gemacht. Damit daß Jemand Etwas vergißt, ist bei weitem nicht<br />

erreicht, daß Etwas nicht mehr ist… Eine That zieht ihre<br />

Consequenzen, im Menschen und außer dem Menschen, gleichgültig<br />

ob sie als bestraft, „gesühnt“, „vergeben“ oder „ausgelöscht“ gilt,<br />

gleichgültig ob <strong>die</strong> Kirche inzwischen ihren Thäter selbst zu<br />

einem Heiligen avancirt hat. Die Kirche glaubt an Dinge <strong>die</strong> es<br />

nicht giebt, an „Seelen“; sie glaubt an Wirkungen, <strong>die</strong> es nicht<br />

giebt, an göttliche Wirkungen; sie glaubt an Zustände, <strong>die</strong> es nicht<br />

giebt, an Sünde, an Erlösung, an das Heil der Seele; sie bleibt<br />

überall bei der Oberfläche stehen, bei Zeichen, Gebärden,<br />

Worten, Emblemen denen sie eine arbiträre Auslegung giebt: sie hat<br />

eine zu Ende gedachte Methodik der psychologischen<br />

Falschmünzerei.<br />

Aphorism n=12305 id='VIII.14[152]' kgw='VIII-3.125' ksa='13.333'<br />

Wille zur <strong>Macht</strong> als Erkenntniss<br />

nicht „erkennen“, sondern schematisiren, dem Chaos so viel<br />

Regularität und Formen auferlegen, als es unserem praktischen<br />

Bedürfniß genug thut<br />

Page Break KGW='VIII-3.126' KSA='13.334'<br />

In der Bildung der Vernunft, der Logik, der Kategorien ist<br />

das Bedürfniß maaßgebend gewesen: das Bedürfniß, nicht zu<br />

„erkennen“, sondern zu subsumiren, zu schematisiren, zum


Zweck der Verständigung, der Berechnung…<br />

das Zurechtmachen, das Ausdichten zum Ähnlichen, Gleichen<br />

— derselbe Proceß, den jeder Sinneseindruck durchmacht, ist <strong>die</strong><br />

Entwicklung der Vernunft!<br />

Hier hat nicht eine präexistente „Idee“ gearbeitet: sondern<br />

<strong>die</strong> Nützlichkeit, daß nur, wenn wir grob und gleich gemacht <strong>die</strong><br />

Dinge sehen, sie für uns berechenbar und handlich werden…<br />

<strong>die</strong> Finalität in der Vernunft ist eine Wirkung, keine<br />

Ursache: bei jeder anderen Art Vernunft, zu der es fortwährend<br />

Ansätze giebt, mißräth das Leben, — es wird unübersichtlich —<br />

zu ungleich —<br />

Die Kategorien sind „Wahrheiten“ nur in dem Sinne, als sie<br />

lebenbedingend für uns sind: wie der Euklidische Raum eine<br />

solche bedingte „Wahrheit“ ist. (An sich geredet, da Niemand<br />

<strong>die</strong> Nothwendigkeit, daß es gerade Menschen giebt, aufrecht<br />

erhalten wird, ist <strong>die</strong> Vernunft, so wie der Euklidische Raum eine<br />

bloße Idiosynkrasie bestimmter Thierarten und eine neben vielen<br />

anderen…)<br />

Die subjektive Nöthigung, hier nicht widersprechen zu können,<br />

ist eine biologische Nöthigung: der Instinkt der Nützlichkeit,<br />

so zu schließen wie wir schließen, steckt uns im Leibe, wir<br />

sind beinahe <strong>die</strong>ser Instinkt… Welche Naivetät aber, daraus<br />

einen Beweis zu ziehen, daß wir damit eine „Wahrheit an sich“<br />

besäßen…<br />

Das Nicht-Widersprechen-können beweist ein Unvermögen,<br />

nicht eine „Wahrheit“.<br />

* * *<br />

Man muß den Phänomenalismus nicht an der falschen Stelle<br />

suchen: nichts ist phänomenaler (oder deutlicher) nichts ist so sehr<br />

Page Break KGW='VIII-3.127' KSA='13.335'<br />

Täuschung, als <strong>die</strong>se innere Welt <strong>die</strong> wir mit dem berühmten<br />

„inneren Sinn“ beobachten.<br />

Wir haben den Willen als Ursache geglaubt, bis zu dem<br />

Maße, daß wir nach unserer Personal-Erfahrung überhaupt eine<br />

Ursache in das Geschehen hineingelegt haben (d.h. Absicht als<br />

Ursache von Geschehen — )<br />

Wir glauben, daß Gedanke und Gedanke, wie sie in uns<br />

nacheinander folgen, in irgend einer causalen Verkettung stehen:<br />

der Logiker in Sonderheit, der thatsächlich von lauter Fällen<br />

redet, <strong>die</strong> niemals in der Wirklichkeit vorkommen, hat sich an<br />

das Vorurtheil gewöhnt, daß Gedanken Gedanken verursachen,<br />

— er nennt das — Denken …<br />

Wir glauben — und selbst unsere Physiologen glauben es<br />

noch — daß Lust und Schmerz Ursache sind von Reaktionen, daß<br />

es der Sinn von Lust und Schmerz ist, Anlaß zu Reaktionen zu<br />

geben. Man hat Lust und das Vermeiden der Unlust geradezu<br />

Jahrtausende lang als Motive für je<strong>des</strong> Handeln aufgestellt.<br />

Mit einiger Besinnung dürften wir zugeben, daß Alles so verlaufen<br />

würde, nach genau derselben Verkettung der Ursachen und


Wirkungen, wenn <strong>die</strong>se Zustände „Lust und Schmerz“ fehlten:<br />

und man täuscht sich einfach, zu behaupten, daß sie irgend etwas<br />

verursachen: — es sind Begleiterscheinungen mit einer<br />

ganz anderen Finalität, als der, Reaktionen hervorzurufen; es<br />

sind bereits Wirkungen innerhalb <strong>des</strong> eingeleiteten Prozesses der<br />

Reaktion…<br />

In summa: alles, was bewußt wird, ist eine Enderscheinung,<br />

ein Schluß — und verursacht nichts — alles Nacheinander im<br />

Bewußtsein ist vollkommen atomistisch. Und wir haben <strong>die</strong> Welt<br />

versucht zu verstehen mit der umgekehrten Auffassung, —<br />

als ob nichts wirke und real sei als Denken, Fühlen, Wollen …<br />

Page Break KGW='VIII-3.128' KSA='13.336'<br />

Aphorism n=12306 id='VIII.14[153]' kgw='VIII-3.128' ksa='13.336'<br />

<strong>die</strong> Wissenschaft<br />

Capitel I<br />

Ursprung der „wahren Welt“<br />

Die Verirrung der Philosophie ruht darauf, daß man, statt<br />

in der Logik und den Vernunftkategorien Mittel zu sehen, zum<br />

Zurechtmachen der Welt zu Nützlichkeits-Zwecken (also<br />

„principiell“, zu einer nützlichen Fälschung) man in ihnen das<br />

Criterium der Wahrheit resp. der Realität zu haben glaubte.<br />

Das „Kriterium der Wahrheit“ war in der That bloß <strong>die</strong><br />

biologische Nützlichkeit eines solchen Systems<br />

principieller Fälschung: und da eine Gattung Thier<br />

nichts Wichtigeres kennt als sich zu erhalten, so dürfte man in<br />

der That hier von „Wahrheit“ reden. Die Naivetät war nur <strong>die</strong>,<br />

<strong>die</strong> anthropocentrische Idiosynkrasie als Maß der Dinge,<br />

als Richtschnur über „real“ und „unreal“ zu nehmen: kurz, eine<br />

Bedingtheit zu verabsolutiren. Und siehe da, jetzt fiel mit Einem<br />

Mal <strong>die</strong> Welt auseinander in eine wahre Welt und eine „scheinbare“:<br />

und genau <strong>die</strong> Welt, in der der Mensch zu wohnen und<br />

sich einzurichten seine Vernunft erfunden hatte, genau <strong>die</strong>selbe<br />

wurde ihm diskreditirt. Statt <strong>die</strong> Formen als Handhabe zu<br />

benutzen, sich <strong>die</strong> Welt handlich und berechenbar zu machen, kam<br />

der verrückte Scharfsinn der Philosophen dahinter, daß in <strong>die</strong>sen<br />

Kategorien der Begriff jener Welt gegeben ist, dem <strong>die</strong> andere<br />

Welt, <strong>die</strong> in der man lebt, nicht entspricht… Die Mittel wurden<br />

mißverstanden als Werthmaaß, selbst als Verurtheilung der<br />

Absicht…<br />

Die Absicht war, sich auf eine nützliche Weise zu täuschen:<br />

<strong>die</strong> Mittel dazu, <strong>die</strong> Erfindung von Formeln und Zeichen, mit<br />

deren Hülfe man <strong>die</strong> verwirrende Vielheit auf ein zweckmäßiges<br />

und handliches Schema reduzirte.<br />

Aber wehe! jetzt brachte man eine Moral-Kategorie<br />

ins Spiel: kein Wesen will sich täuschen, kein Wesen darf täuschen,


Page Break KGW='VIII-3.129' KSA='13.337'<br />

— folglich giebt es nur einen Willen zur Wahrheit. Was ist<br />

„Wahrheit“?<br />

Der Satz vom Widerspruch gab das Schema: <strong>die</strong> wahre Welt,<br />

zu der man den Weg sucht, kann nicht mit sich in Widerspruch<br />

sein, kann nicht wechseln, kann nicht werden, hat keinen<br />

Ursprung und kein Ende.<br />

Das ist der größte Irrthum, der begangen worden ist, das<br />

eigentliche Verhängniß <strong>des</strong> Irrthums auf Erden: man glaubte ein<br />

Kriterium der Realität in den Vernunftformen zu haben,<br />

während man sie hatte, um Herr zu werden über <strong>die</strong> Realität, um<br />

auf eine kluge Weise <strong>die</strong> Realität mißzuverstehen…<br />

Und siehe da: jetzt wurde <strong>die</strong> Welt falsch, und exakt der<br />

Eigenschaften wegen, <strong>die</strong> ihre Realität ausmachen,<br />

Wechsel, Werden, Vielheit, Gegensatz, Widerspruch, Krieg<br />

Und nun war das ganze Verhängniß da:<br />

1) wie kommt man los von der falschen, der bloß scheinbaren<br />

Welt? ( — es war <strong>die</strong> wirkliche, <strong>die</strong> einzige<br />

2) wie wird man selbst möglichst der Gegensatz zu dem<br />

Charakter der scheinbaren Welt? (Begriff <strong>des</strong> vollkommenen Wesens<br />

als eines Gegensatzes zu jedem realen Wesen, deutlicher als<br />

Widerspruch zum Leben…<br />

3) <strong>die</strong> ganze Richtung der Werthe war auf Verleumdung<br />

<strong>des</strong> Lebens aus<br />

4) man schuf eine Verwechslung <strong>des</strong> Ideal-Dogmatismus mit<br />

der Erkenntniß überhaupt: so daß <strong>die</strong> Gegenpartei immer<br />

nun auch <strong>die</strong> Wissenschaft perhorrescirte<br />

— der Weg zur Wissenschaft war dergestalt doppelt<br />

versperrt: einmal durch den Glauben an <strong>die</strong> wahre Welt und dann<br />

durch <strong>die</strong> Gegner <strong>die</strong>ses Glaubens.<br />

Die Naturwissenschaft, Physiologie war 1) in ihren Objecten<br />

verurtheilt 2) um ihre Unschuld gebracht…<br />

In der wirklichen Welt, wo schlechterdings Alles verkettet<br />

und bedingt ist, heißt irgend Etwas verurtheilen und wegdenken,<br />

Alles wegdenken und verurtheilen.<br />

Page Break KGW='VIII-3.130' KSA='13.338'<br />

Das Wort „das sollte nicht sein“, „das hätte nicht sein sollen“<br />

ist eine farce… Denkt man <strong>die</strong> Consequenzen aus, so ruinirte<br />

man den Quell <strong>des</strong> Lebens, wenn man das abschaffen wollte, was<br />

in irgendeinem Sinne schädlich, zerstörerisch ist. Die<br />

Physiologie demonstrirt es ja besser!<br />

Aphorism n=12307 id='VIII.14[154]' kgw='VIII-3.130' ksa='13.338'<br />

Moral als décadence<br />

Wir sehen, wie <strong>die</strong> Moral


a) <strong>die</strong> ganze Weltauffassung vergiftet<br />

b) den Weg zur Erkenntniß, zur Wissenschaft<br />

abschneidet<br />

c) alle wirklichen Instinkte auflöst und untergräbt<br />

(indem sie deren Wurzeln als unmoralisch<br />

empfinden lehrt<br />

Wir sehen ein furchtbares Werkzeug der décadence vor uns<br />

arbeiten, das sich mit den heiligsten Namen und Gebärden<br />

aufrecht hält<br />

Aphorism n=12308 id='VIII.14[155]' kgw='VIII-3.130' ksa='13.338'<br />

décadence(1723)<br />

Religion als décadence<br />

Gegen Reue und ihre rein-psychologische<br />

Behandlung<br />

(Ich empfehle <strong>die</strong> Behandlung <strong>des</strong> Gewissenbisses mit der<br />

Mitchells-Kur — — )<br />

Mit einem Erlebniß nicht fertig werden ist bereits ein Zeichen<br />

von décadence. Dieses Wieder-Aufreißen alter Wunden, das<br />

Sich-Wälzen in Selbstverachtung und Zerknirschung ist eine<br />

Krankheit mehr, aus der nimmermehr das „Heil der Seele“,<br />

sondern immer nur eine neue Krankheitsform derselben entstehen<br />

kann…<br />

<strong>die</strong>se „Erlösungs-Zustände“ im Christen sind bloße Wechsel<br />

eines und <strong>des</strong>selben krankhaften Zustan<strong>des</strong>, — Auslegungen der<br />

Page Break KGW='VIII-3.131' KSA='13.339'<br />

epileptischen Crise unter einer bestimmten Formel, welche nicht<br />

<strong>die</strong> Wissenschaft, sondern der religiöse Wahn giebt.<br />

man ist auf eine krankhafte Manier gut, wenn man krank<br />

ist … wir rechnen jetzt den größten Theil <strong>des</strong> Psychologischen<br />

Apparates, mit dem das Christenthum gearbeitet hat, unter <strong>die</strong><br />

Formen der Hysterie und der Epilepsoidis.<br />

<strong>die</strong>se ganze Praxis der seelischen Wiederherstellung muß auf<br />

eine physiologische Grundlage zurückgestellt werden: der<br />

„Gewissensbiß“ als solcher ist ein Hinderniß der Genesung, —<br />

man muß Alles aufzuwiegen suchen durch neue Handlungen und<br />

möglichst schnell das Siechthum der Selbsttortur…<br />

man sollte <strong>die</strong> rein psychologische Praktik der Kirche und<br />

der Sekten als gesundheitsgefährlich in Verruf bringen…<br />

man heilt einen Kranken nicht durch Gebete, und Beschwörungen<br />

böser Geister: <strong>die</strong> Zustände der „Ruhe“, <strong>die</strong> unter solchen<br />

Einwirkungen eintreten, sind fern davon, im physiologischen<br />

Sinne Vertrauen zu erwecken…<br />

man ist gesund, wenn man sich über seinen Ernst und<br />

Eifer lustig macht, mit dem irgend eine Einzelheit unseres Lebens<br />

dergestalt uns hypnotisirt hat, wenn man beim Gewissensbiß


Etwas fühlt wie beim Biß eines Hun<strong>des</strong> wider einen Stein, —<br />

wenn man sich seiner Reue schämt, —<br />

Die bisherige Praxis, <strong>die</strong> rein psychologische und religiöse,<br />

war nur auf eine Veränderung der Symptome aus:<br />

sie hielt einen Menschen wiederhergestellt, wenn er vor dem<br />

Kreuze sich erniedrigte, und Schwüre that, ein guter Mensch zu<br />

sein… Aber ein Verbrecher, der mit einem gewissen düsteren<br />

Ernst sein Schicksal festhält und nicht seine That hinterdrein<br />

verleumdet, hat mehr Gesundheit der Seele… Die Verbrecher,<br />

mit denen Dostoiewsky(1724) zusammen im Zuchthaus lebte,<br />

waren sammt und sonders ungebrochene Naturen, — sind sie<br />

nicht hundert Mal mehr werth als ein „gebrochener“ Christ?<br />

Page Break KGW='VIII-3.132' KSA='13.340'<br />

Aphorism n=12309 id='VIII.14[156]' kgw='VIII-3.132' ksa='13.340'<br />

Der Wille zur <strong>Macht</strong><br />

Versuch<br />

einer Umwerthung aller Werthe.<br />

Erstes Capitel:<br />

<strong>die</strong> wahre und <strong>die</strong> scheinbare Welt<br />

Zweites Capitel:<br />

wie ist ein solcher Fehlgriff möglich? Was bedeutet das<br />

Mißverstehenwollen <strong>des</strong> Lebens?<br />

Critik der Philosophen, als Typen der décadence.<br />

Drittes Capitel.<br />

Die Moral als Ausdruck der décadence.<br />

Kritik <strong>des</strong> Altruismus, <strong>des</strong> Mitleids, <strong>des</strong> Christenthums, der<br />

Entsinnlichung<br />

Viertes Capitel.<br />

Giebt es keine Ansätze einer gegentheiligen Stellung?<br />

1. Heidnisches in der Religion<br />

2. „<strong>die</strong> Kunst“<br />

3. Staat<br />

Der Krieg gegen sie: was sich immer gegen sie verschwört…<br />

Fünftes Capitel.<br />

Kritik der Gegenwart: wohin gehört sie?<br />

ihr nihilistisches Abzeichen<br />

ihre jasagenden Typen: man muß das ungeheure<br />

Faktum begreifen, daß ein gutes Gewissen<br />

der Wissenschaft besteht…<br />

Sechstes Capitel.


Der Wille zur <strong>Macht</strong>, als Leben<br />

Page Break KGW='VIII-3.133' KSA='13.341'<br />

Siebentes Capitel.<br />

Wir Hyperboreer.<br />

Lauter absolute Stellungen z.B. Glück!! z.B. Geschichte<br />

ungeheurer Genuß und Triumph am Schluß, lauter<br />

klare Ja's und Nein's zu haben… Erlösung<br />

von der Ungewißheit!<br />

Aphorism n=12310 id='VIII.14[157]' kgw='VIII-3.133' ksa='13.341'<br />

Moral als décadence décadence<br />

„Sinne“, „Leidenschaften“<br />

Die Furcht vor den Sinnen, vor den Begierden, vor den<br />

Leidenschaften, wenn sie so weit geht, <strong>die</strong>selben zu widerrathen,<br />

ist ein Symptom bereits von Schwäche: <strong>die</strong> extremen<br />

Mittel kennzeichnen immer abnormale Zustände. Was hier<br />

fehlt, resp. angebröckelt ist, das ist <strong>die</strong> Kraft zur<br />

Hemmung eines Impulses: wenn man den Instinkt hat, nachgeben<br />

zu müssen d.h. reagiren zu müssen, dann thut man gut, den<br />

Gelegenheiten („Verführungen“) aus dem Wege zu gehen.<br />

Ein „Anreiz der Sinne“ ist nur insofern eine Verführung,<br />

als es sich um Wesen handelt, deren System zu leicht<br />

beweglich und bestimmbar ist: im entgegengesetzten Falle, bei<br />

großer Schwerfälligkeit und Härte <strong>des</strong> Systems, sind starke Reize<br />

nöthig, um <strong>die</strong> Funktionen in Gang zu bringen…<br />

Die Ausschweifung ist uns nur ein Einwand gegen den, der zu<br />

ihr kein Recht hat; und fast alle Leidenschaften sind in schlechten<br />

Ruf derentwegen gebracht, <strong>die</strong> nicht stark genug sind, sie zu<br />

ihrem Nutzen zu wenden —<br />

Man muß sich darüber verstehen, daß gegen Leidenschaft<br />

eingewendet werden kann, was gegen Krankheit<br />

einzuwenden ist: trotzdem — wir dürften der Krankheit nicht<br />

entbehren und noch weniger der Leidenschaften…<br />

Wir brauchen das Anormale, wir geben dem Leben einen<br />

ungeheuren choc durch <strong>die</strong>se großen Krankheiten…<br />

* * *<br />

Page Break KGW='VIII-3.134' KSA='13.342'<br />

Im Einzelnen ist zu unterscheiden<br />

1) <strong>die</strong> dominirende Leidenschaft, welche sogar<br />

<strong>die</strong> supremste Form der Gesundheit überhaupt mit sich bringt:<br />

hier ist <strong>die</strong> Coordination der inneren Systeme und ihr Arbeiten<br />

in Einem Dienste am besten erreicht — aber das ist beinahe <strong>die</strong><br />

Definition der Gesundheit!<br />

2) das Gegeneinander der Leidenschaften, <strong>die</strong> Zweiheit, Dreiheit,<br />

Vielheit der „Seelen in Einer Brust“: sehr ungesund, innerer


Ruin, auseinanderlösend, einen inneren Zwiespalt und Anarchismus<br />

verrathend und steigernd —: es sei denn, daß eine Leidenschaft<br />

endlich Herr wird. Rückkehr der Gesundheit —<br />

3) das Nebeneinander, ohne ein Gegeneinander und Füreinander<br />

zu sein: oft periodisch, und dann, sobald es eine Ordnung<br />

gefunden hat, auch gesund… Die interessantesten Menschen<br />

gehören hierher, <strong>die</strong> Chamaeleons; sie sind nicht im<br />

Widerspruch mit sich, sie sind glücklich und sicher, aber sie haben<br />

keine Entwicklung, — ihre Zustände liegen neben einander,<br />

wenn sie auch siebenmal getrennt sind. Sie wechseln, sie<br />

werden nicht …<br />

Aphorism n=12311 id='VIII.14[158]' kgw='VIII-3.134' ksa='13.342'<br />

Moral als décadence<br />

Der „gute Mensch“ als Tyrann<br />

Die Menschheit hat immer denselben Fehler wiederholt: daß<br />

sie aus einem Mittel zum Leben einen Maßstab <strong>des</strong> Lebens<br />

gemacht hat<br />

: daß sie, statt in der höchsten Steigerung <strong>des</strong> Lebens selbst,<br />

im Problem <strong>des</strong> Wachsthums und der Erschöpfung das Maaß zu<br />

finden, <strong>die</strong> Mittel zu einem ganz bestimmten Leben zum<br />

Ausschluß aller anderen Formen <strong>des</strong> Lebens, kurz zur Kritik und<br />

Selektion <strong>des</strong> Lebens benutzt hat<br />

: d.h. der Mensch liebt endlich <strong>die</strong> Mittel um ihrer selbst<br />

willen und vergißt sie als Mittel: so daß sie jetzt als Ziele ihm<br />

ins Bewußtsein treten, als Maaßstäbe von Zwecken…<br />

Page Break KGW='VIII-3.135' KSA='13.343'<br />

: d.h. eine bestimmte Species Mensch behandelt<br />

ihre Existenzbedingungen als gesetzlich aufzuerlegende Bedingungen,<br />

als „Wahrheit“, „Gut“, „Vollkommen“: sie tyrannisirt…<br />

: es ist eine Form <strong>des</strong> Glaubens, <strong>des</strong> Instinkts, daß<br />

eine Art Mensch nicht <strong>die</strong> Bedingtheit ihrer eigenen Art, ihre<br />

Relativität im Vergleich zu anderen einsieht:<br />

: wenigstens scheint es zu Ende zu sein mit einer Art Mensch<br />

(Volk, Rasse) wenn sie tolerant wird, gleiche Rechte zugesteht<br />

und nicht mehr daran denkt, Herr sein zu wollen —<br />

Aphorism n=12312 id='VIII.14[159]' kgw='VIII-3.135' ksa='13.343'<br />

Religion als décadence<br />

Kritik <strong>des</strong> Glaubens<br />

Überzeugung und Lüge.<br />

1. „Zwischen einer Lüge und einer Überzeugung besteht ein<br />

Gegensatz“: es giebt keinen größeren…


2. Aber es ist mit Recht gesagt worden, daß Überzeugungen<br />

gefährlichere Feinde der Wahrheit sind als Lügen (M.AM.)<br />

3. Müßte vielleicht auch <strong>die</strong> vorangestellte Überzeugung<br />

unter <strong>die</strong> Feinde der Wahrheit gezählt werden? Und unter ihre<br />

gefährlichsten?<br />

Eine jede Überzeugung hat ihre Geschichte, ihre Vorformen,<br />

ihre Tentativen und Fehlgriffe: sie wird Überzeugung, nachdem<br />

sie es lange nicht ist und noch länger kaum ist…<br />

könnte unter <strong>die</strong>sen Embryonal-Zuständen der Überzeugung<br />

nicht auch <strong>die</strong> Lüge sein?…<br />

sie bedarf oft eines Personen-Wechsels ( — erst im Sohne<br />

wird Überzeugung, was im Vater noch Tendenz war — )<br />

Was macht es, daß ein Lügner uns einen Irrthum für eine<br />

Wahrheit verkauft? Seine „praktische Vernunft“ ( — sein<br />

Vortheil, populärer geredet)<br />

Was macht es, daß man zwischen verschiedenen Möglichkeiten<br />

sich entscheidet? Seine praktische Vernunft, sein Vortheil…<br />

Page Break KGW='VIII-3.136' KSA='13.344'<br />

Was macht es, daß man zwischen verschiedenen Hypothesen<br />

so und so wählt? Der Vortheil.<br />

Welcher Unterschied bleibt zwischen einem Überzeugten und<br />

einem Belogenen? Keiner, wenn er gut belogen ist.<br />

Was macht es, was alle Philosophen bestimmt, ihre<br />

Überzeugungen für Wahrheiten zu halten? Ihr Vortheil, ihre<br />

„praktische Vernunft“<br />

Die Fiktion, <strong>die</strong> Nützlichkeit, <strong>die</strong> Vermuthung, <strong>die</strong><br />

Wahrscheinlichkeit, <strong>die</strong> Gewißheit, <strong>die</strong> Überzeugung — eine<br />

Geschichte <strong>des</strong> inneren Pathos, an <strong>des</strong>sen Anfang <strong>die</strong> Lüge, deren<br />

Gott steht…<br />

„Ich will etwas für wahr halten“: ist das der Instinkt der<br />

Wahrheit oder nicht gerade ein anderer, der es sehr wenig streng<br />

nimmt mit der Wahrheit, aber den Vortheil kennt, den der<br />

Glaube mit sich bringt?…<br />

Gesetzt, man hat einen Vortheil davon, sich selbst zu belügen,<br />

worin unterscheidet sich das Pathos der Selbst-Belogenheit vom<br />

Pathos der Überzeugung?…<br />

Ist im Glauben, wie ihn(1725) das Christenthum versteht, <strong>die</strong><br />

Klugheit oder <strong>die</strong> Wahrheit zur Herrschaft gebracht? Der Beweis<br />

der Kraft (d.h. der Vortheile, welche ein Glaube mit sich bringt),<br />

oder der — — —<br />

Und was Märtyrer macht, ist das der Instinkt der Wahrheit,<br />

oder nicht umgekehrt eine Lücke der inneren Organisation, der<br />

Mangel eines solchen Instinkts? Wir betrachten Märtyrer als eine<br />

niedrigere Species: eine Überzeugung zu beweisen, hat gar keinen<br />

Sinn; sondern es gilt zu beweisen, daß man ein Recht hat, so<br />

überzeugt zu sein… Die Überzeugung ist ein Einwand, ein<br />

Fragezeichen, ein défi, man hat zu beweisen, daß man nicht nur<br />

überzeugt ist — daß man nicht nur Narr ist…<br />

der Tod am Kreuze beweist keine Wahrheit, nur eine Überzeugung,


nur eine Idiosynkrasie ( — sehr populärer Irrthum: den<br />

Muth zu seiner Überzeugung haben —? aber den Muth zum<br />

Angriff auf seine Überzeugung haben!!!<br />

Page Break KGW='VIII-3.137' KSA='13.345'<br />

Aphorism n=12313 id='VIII.14[160]' kgw='VIII-3.137' ksa='13.345'<br />

Religion als décadence — <strong>die</strong> Überzeugung<br />

Kritik <strong>des</strong> Opferto<strong>des</strong><br />

Wir würden heute für manche Dinge in den Tod gehn, ohne<br />

<strong>die</strong>ses Opfer sehr feierlich zu nehmen, es liegt uns fern mit<br />

solchen Dingen Götzen<strong>die</strong>nst zu treiben, bloß weil sie Menschen<br />

fordern … Das berühmte „Vaterland“ z.B., ein Begriff, der<br />

heute in Europa absonderlich theuer bezahlt wird: <strong>die</strong> noch<br />

berühmtere „Wissenschaft“, <strong>die</strong>, wie ich voraussetze, irgendwann<br />

einmal noch kostspieliger sogar werden dürfte, als der Begriff<br />

„Vaterland“<br />

Ein Tod für ein — — —<br />

Ist es nöthig, Recht zu haben, um Recht zu behalten? Im<br />

Gegentheil! Und abgesehen davon heißt es unbescheiden sein.<br />

Man muß nicht zu viel Ehre wollen… Aber alle <strong>die</strong>se großen<br />

Weisen waren bescheiden: — sie behielten bloß Recht…<br />

Ihr meint eine Sache wird dadurch ehrenhaft, daß ihr<br />

mit eurem Leben dafür bezahlt?… Ein Irrthum, der ehrenhaft<br />

wird, ist ein Irrthum, der eine Verführungskunst mehr besitzt!<br />

glaubt ihr, daß wir wünschen werden euch zu einem Opfertod<br />

für eure „Wahrheit“ zu ermuthigen?… Genau das war <strong>die</strong><br />

welthistorische Dummheit aller Verfolger: sie zwangen ihre Gegner,<br />

Heroen zu werden… sie haben alle Dummheiten zu Fetischen<br />

für <strong>die</strong> Menschheit gemacht… Das Weib liegt heute noch auf<br />

den Knien vor einer Lehre, deren Lehrer am Kreuz gestorben<br />

ist… ist das Kreuz ein Beweis?<br />

Ein gewisser Grad von Glaube genügt uns heute als Einwand<br />

gegen das Geglaubte, noch mehr als Fragezeichen an der<br />

geistigen Gesundheit <strong>des</strong> Gläubigen: <strong>die</strong> „felsenfesten<br />

Überzeugungen“ gehören fast immer ins Irrenhaus.<br />

Page Break KGW='VIII-3.138' KSA='13.346'<br />

Aphorism n=12314 id='VIII.14[161]' kgw='VIII-3.138' ksa='13.346'<br />

Ich sehe durchaus nicht ab, wie Einer es wieder gut machen


kann, der versäumt hat, zur rechten Zeit in eine gute Schule<br />

zu gehen. Ein solcher kennt sich nicht; er geht durchs Leben, ohne<br />

gehen gelernt zu haben; der schlaffe Muskel verräth sich bei<br />

jedem Schritt noch. Mitunter ist das Leben so barmherzig, <strong>die</strong>se<br />

harte Schule nachzuholen: jahrelanges Siechthum vielleicht, das<br />

<strong>die</strong> äußerste Willenskraft und Selbstgenugsamkeit herausfordert;<br />

oder eine plötzlich hereinbrechende Nothlage, zugleich noch für<br />

Weib und Kind, welche eine Thätigkeit erzwingt, <strong>die</strong> den<br />

erschlafften Fasern wieder Energie giebt und dem Willen zum<br />

Leben <strong>die</strong> Zähigkeit zurückgewinnt… Das Wünschenswertheste<br />

bleibt unter allen Umständen eine harte Disciplin zur<br />

rechten Zeit, das heißt in jenem Alter noch, wo es stolz<br />

macht, viel von sich verlangt zu sehen. Denn <strong>die</strong>s unterscheidet<br />

<strong>die</strong> harte Schule als gute Schule von jeder anderen: daß Viel<br />

verlangt wird; daß streng verlangt wird; daß das Gute, das<br />

Ausgezeichnete selbst als normal verlangt wird; daß das Lob selten<br />

ist, daß <strong>die</strong> Indulgenz fehlt; daß der Tadel scharf, sachlich, ohne<br />

Rücksicht auf Talent und Herkunft laut wird. Eine solche Schule<br />

hat man in jedem Betracht nöthig: das gilt vom Leiblichsten wie<br />

vom Geistigsten: es wäre verhängnißvoll, hier trennen zu<br />

wollen! Die gleiche Disziplin macht den Militär und den Gelehrten<br />

tüchtig: und näher besehen, es giebt keinen tüchtigen Gelehrten<br />

der nicht <strong>die</strong> Instinkte eines tüchtigen Militärs im Leibe hat…<br />

in Reih und Glied stehen, aber fähig jeder Zeit, voranzugehen;<br />

<strong>die</strong> Gefahr dem Behagen vorziehen; das Erlaubte und Unerlaubte<br />

nicht in einer Krämerwage wiegen; dem Mesquinen, Schlauen,<br />

Parasitischen mehr feind sein als dem Bösen…<br />

— Was lernt man in einer harten Schule? Gehorchen<br />

und Befehlen,— — —<br />

Page Break KGW='VIII-3.139' KSA='13.347'<br />

Aphorism n=12315 id='VIII.14[162]' kgw='VIII-3.139' ksa='13.347'<br />

Philosoph<br />

Pyrrho, der mil<strong>des</strong>te und geduldigste Mensch, der je unter<br />

Griechen gelebt hat, ein Buddhist obschon Grieche, ein Buddha<br />

selbst, wurde ein einziges Mal außer Rand und Band gebracht,<br />

durch wen? — durch seine Schwester, mit der er zusammenlebte:<br />

sie war Hebamme. Seitdem fürchteten sich am Allermeisten <strong>die</strong><br />

Philosophen vor der Schwester — <strong>die</strong> Schwester! Schwester!<br />

's klingt so fürchterlich! — und vor der Hebamme!…<br />

(Ursprung <strong>des</strong> Coelibats)<br />

Aphorism n=12316 id='VIII.14[163]' kgw='VIII-3.139' ksa='13.347'<br />

(Zum Capitel: Religion als décadence)


Die religiöse Moral<br />

Der Affekt, <strong>die</strong> große Begierde, <strong>die</strong> Leidenschaften der <strong>Macht</strong>,<br />

der Liebe, der Rache, <strong>des</strong> Besitzes —: <strong>die</strong> Moralisten wollen sie<br />

auslöschen, herausreißen, <strong>die</strong> Seele von ihnen „reinigen“<br />

Die Logik ist: <strong>die</strong>se Begierden richten oft großes Unheil an,<br />

— folglich sind sie böse, verwerflich. Der Mensch muß los von<br />

ihnen kommen: eher kann er nicht ein guter Mensch sein…<br />

Das ist <strong>die</strong>selbe Logik wie: „ärgert dich ein Glied, so reiße<br />

es aus“. In dem besonderen Fall, wie es jene gefährliche<br />

„Unschuld vom Lande“, der Stifter <strong>des</strong> Christenthums, seinen<br />

Jüngern zur Praxis empfahl, im Fall der geschlechtlichen Irritabilität,<br />

folgt leider <strong>die</strong>s nicht nur, daß ein Glied fehlt, sondern daß der<br />

Charakter <strong>des</strong> Menschen(1726) entmannt ist… und das Gleiche<br />

gilt von dem Moralisten-Wahnsinn, welcher, statt der Bändigung,<br />

<strong>die</strong> Exstirpation der Leidenschaften verlangt. Ihr Schluß<br />

ist immer: erst der entmannte Mensch ist der gute Mensch.<br />

Die großen Kraftquellen, jene oft so gefährlich und<br />

überwältigend hervorströmenden Wildwasser der Seele, statt ihre <strong>Macht</strong><br />

in Dienst zu nehmen und zu ökonomisiren, will <strong>die</strong>se<br />

kurzsichtigste und verderblichste Denkweise, <strong>die</strong> Moral-Denkweise,<br />

versiegen machen<br />

Page Break KGW='VIII-3.140' KSA='13.348'<br />

Aphorism n=12317 id='VIII.14[164]' kgw='VIII-3.140' ksa='13.348'<br />

Die christlichen Moral-Quacksalber<br />

Mitleid und Verachtung folgen sich in schnellem Wechsel, und<br />

mitunter bin ich empört, wie beim Anblick eines schnöden<br />

Verbrechens. Hier ist der Irrthum zur Pflicht gemacht — zur<br />

Tugend — der Fehlgriff ist Handgriff geworden, der Zerstörer-Instinkt<br />

systematisirt als „Erlösung“; hier wird aus jeder Operation<br />

eine Verletzung, eine Ausschneidung selbst von Organen,<br />

deren Energie <strong>die</strong> Voraussetzung jeder Wiederkehr der Gesundheit<br />

ist. Und besten Falls, wird nicht geheilt, sondern nur eine<br />

Symptomen-Reihe <strong>des</strong> Übels in eine andere eingetauscht… Und<br />

<strong>die</strong>ser gefährliche Unsinn, das System der Schändung und<br />

Verschneidung <strong>des</strong> Lebens gilt als heilig, als unantastbar; in seinem<br />

Dienste leben, Werkzeug <strong>die</strong>ser Heilkunst sein, Priester sein<br />

hebt heraus, macht ehrwürdig, macht heilig und unantastbar<br />

selbst. Nur <strong>die</strong> Gottheit kann <strong>die</strong> Urheberin <strong>die</strong>ser höchsten<br />

Heilkunst sein: nur als Offenbarung ist <strong>die</strong> Erlösung begreiflich, als<br />

Art der Gnade, als unver<strong>die</strong>ntestes Geschenk, das der Creatur<br />

gemacht ist.<br />

Erster Satz: <strong>die</strong> Gesundheit der Seele wird als Krankheit<br />

angesehen, mißtrauisch…<br />

Zweiter Satz: <strong>die</strong> Voraussetzungen für ein starkes und<br />

blühen<strong>des</strong> Leben, <strong>die</strong> starken Begehrungen und Leidenschaften,


gelten als Einwände gegen ein starkes und blühen<strong>des</strong> Leben<br />

Dritter Satz: Alles, woher dem Menschen Gefahr droht, Alles,<br />

was über ihn Herr werden und ihn(1727) zu Grunde richten kann, ist<br />

böse, ist verwerflich, — ist mit der Wurzel aus seiner Seele<br />

auszureißen.<br />

Vierter Satz: der Mensch, ungefährlich gemacht, gegen sich<br />

und Andere, schwach, niedergeworfen in Demuth und Bescheidenheit,<br />

seiner Schwäche bewußt, der „Sünder“ — das ist der<br />

wünschbarste Typus, der, welchen man mit einiger Chirurgie der<br />

Seele auch herstellen kann…<br />

Page Break KGW='VIII-3.141' KSA='13.349'<br />

Aphorism n=12318 id='VIII.14[165]' kgw='VIII-3.141' ksa='13.349'<br />

Der Muth.<br />

1.<br />

Ich unterscheide den Muth vor Personen, den Muth vor<br />

Sachen und den Muth vor dem Papier. Letzterer war zum<br />

Beispiel der Muth David Straußens. Ich unterscheide nochmals den<br />

Muth vor Zeugen und den Muth ohne Zeugen: der Muth eines<br />

Christen, eines Gottgläubigen überhaupt kann niemals Muth<br />

ohne Zeugen sein — er ist damit allein schon degradirt. Ich<br />

unterscheide endlich den Muth aus Temperament und den Muth<br />

aus Furcht vor der Furcht: ein Einzelfall der letzteren Species<br />

ist der moralische Muth. Hierzu kommt noch der Muth aus<br />

Verzweiflung.<br />

Wagner als Verführer.<br />

2.<br />

Wagner hatte <strong>die</strong>sen Muth. Seine Lage hinsichtlich der Musik<br />

war im Grunde verzweifelt. Ihm fehlte Bei<strong>des</strong>, was zum guten<br />

Musiker befähigt: Natur und Cultur, <strong>die</strong> Vorbestimmung für<br />

Musik und <strong>die</strong> Zucht und Schulung zur Musik. Er hatte Muth: er<br />

schuf aus <strong>die</strong>sem Mangel ein Princip, — er erfand sich eine<br />

Gattung Musik. Die „dramatische Musik“, wie er sie erfand, ist <strong>die</strong><br />

Musik, welche er machen konnte… ihr Begriff sind <strong>die</strong><br />

Grenzen Wagner's.<br />

Und man hat ihn mißverstanden — Hat man ihn mißverstanden?…<br />

Fünf Sechstel der modernen Künstler sind in seinem<br />

Falle. Wagner ist ihr Retter: fünf Sechstel sind übrigens <strong>die</strong><br />

„geringste Zahl“. Je<strong>des</strong>mal, wo <strong>die</strong> Natur sich unerbittlich gezeigt<br />

hat und wo andrerseits <strong>die</strong> Cultur ein Zufall, eine Tentative, ein<br />

Dilettantismus blieb, wendet sich jetzt der Künstler mit Instinkt,<br />

was sage ich? mit Begeisterung an Wagner: „halb zog er ihn, halb<br />

sank er hin“, wie der Dichter sagt.<br />

2.<br />

Der Erfolg Wagners ist ein großer Verführer. Setzen


Page Break KGW='VIII-3.142' KSA='13.350'<br />

wir einmal den Fall, daß <strong>die</strong>ser Verführer reden lernt, daß er<br />

sich in Gestalt eines klugen Freun<strong>des</strong> und Gewissensraths zu jungen<br />

Musikern gesellt, <strong>die</strong> in der Tiefe ihres Ichs ein kleines<br />

Verhängniß tragen — und schon hören wir ihn reden, zutraulich,<br />

biedermännisch, von einer engelhaften Toleranz für alle „kleinen<br />

Verhängnisse“…<br />

Aphorism n=12319 id='VIII.14[166]' kgw='VIII-3.142' ksa='13.350'<br />

Motiv zu einem Bild. Ein Fuhrmann. Winterlandschaft. Der<br />

Fuhrmann schlägt mit einem Ausdruck schnö<strong>des</strong>ten Cynismus<br />

sein Wasser an seinem eigenen Pferde ab. Die arme geschundene<br />

Creatur blickt sich um dazu — dankbar, sehr dankbar…<br />

Aphorism n=12320 id='VIII.14[167]' kgw='VIII-3.142' ksa='13.350'<br />

Wagner als Problem.<br />

Wagner der Schauspieler.<br />

Das was populär geworden ist<br />

Wagner als Vorbild.<br />

Wagner als Verführung.<br />

Musik als Mimik. Jeder Gedanke — — —<br />

Aphorism n=12321 id='VIII.14[168]' kgw='VIII-3.142' ksa='13.350'<br />

Die wahre und <strong>die</strong> scheinbare Welt<br />

Entwurf <strong>des</strong> ersten Capitels<br />

A.<br />

Die Verführungen, <strong>die</strong> von <strong>die</strong>sem Begriff ausgehen,<br />

sind dreierlei Art:<br />

eine unbekannte Welt: — wir sind Abenteurer,<br />

neugierig, — das Bekannte scheint uns müde zu machen<br />

( — <strong>die</strong> Gefahr <strong>des</strong> Begriffs liegt darin, uns „<strong>die</strong>se“ Welt<br />

als bekannt zu insinuiren…<br />

eine andere Welt, wo es anders ist: — es rechnet Etwas in<br />

uns nach, unsere stille Ergebung, unser Schweigen verliert<br />

Page Break KGW='VIII-3.143' KSA='13.351'<br />

dabei ihren Werth, — vielleicht wird Alles gut, wir haben<br />

nicht umsonst gehofft… <strong>die</strong> Welt, wo es anders, wo wir<br />

selbst — wer weiß? anders sind…


eine wahre Welt: — das ist der wunderlichste Streich und<br />

Angriff, der auf uns gemacht wird; es ist so Vieles an das<br />

Wort „wahr“ ankrustirt, unwillkürlich machen wir's auch<br />

der „Wahren Welt“ zum Geschenk: <strong>die</strong> wahre Welt<br />

muß auch eine wahrhaftige sein, eine solche, <strong>die</strong><br />

uns nicht betrügt, nicht zu Narren hat: an sie glauben ist<br />

beinahe glauben müssen ( — aus Anstand, wie es unter<br />

zutrauenswürdigen Wesen geschieht — )<br />

der Begriff <strong>die</strong> „unbekannte Welt“ insinuirt uns <strong>die</strong>se Welt<br />

als „bekannt“ ( — als langweilig — )<br />

der Begriff <strong>die</strong> „andere Welt“ insinuirt, als ob <strong>die</strong> Welt<br />

anders sein könnte — hebt <strong>die</strong> Nothwendigkeit<br />

und das Faktum auf ( — unnütz, sich zu ergeben, sich<br />

anzupassen — )<br />

der Begriff <strong>die</strong> „wahre Welt“ insinuirt <strong>die</strong>se Welt als eine<br />

unwahrhaftige, betrügerische, unredliche, unächte,<br />

unwesentliche — und folglich auch nicht unserem Nutzen<br />

zugethane Welt ( — unrathsam, sich ihr anzupassen,<br />

besser: ihr widerstreben)<br />

wir entziehen uns also in dreierlei Weise <strong>die</strong>ser Welt:<br />

mit unserer Neugierde, wie als ob der interessantere<br />

Theil wo anders wäre<br />

: mit unserer Ergebung, wie als ob es nicht nöthig sei, sich<br />

zu ergeben, — wie als ob <strong>die</strong>se Welt keine Nothwendigkeit<br />

letzten Ranges sei<br />

: mit unserer Sympathie und Achtung: wie als ob <strong>die</strong>se Welt<br />

sie nicht ver<strong>die</strong>nte, als unlauter, als gegen uns nicht<br />

redlich…<br />

In summa: wir sind auf eine dreifache Weise revoltirt:<br />

wir haben ein x zur Kritik der „bekannten Welt“ gemacht.<br />

Page Break KGW='VIII-3.144' KSA='13.352'<br />

B.(1728)<br />

Erster Schritt der Besonnenheit: zu begreifen,<br />

in wiefern wir verführt sind —<br />

nämlich es könnte an sich exakt umgekehrt sein.<br />

a) <strong>die</strong> unbekannte Welt könnte derartig beschaffen<br />

sein, um uns Lust zu machen zu <strong>die</strong>ser Welt, — als eine<br />

vielleicht stupide und geringere Form <strong>des</strong> Daseins<br />

b) <strong>die</strong> andere Welt, geschweige daß sie unseren Wünschen,<br />

<strong>die</strong> hier keinen Austrag fänden, Rechnung trüge,<br />

könnte mit unter der Masse <strong>des</strong>sen sein, was uns <strong>die</strong>se<br />

Welt möglich macht: sie kennen lernen wäre ein Mittel,<br />

uns zufrieden zu machen<br />

3) <strong>die</strong> wahre Welt: aber wer sagt uns eigentlich, daß <strong>die</strong><br />

scheinbare Welt weniger Werth sein muß als <strong>die</strong> wahre?<br />

Widerspricht nicht unser Instinkt <strong>die</strong>sem Urtheile? Schafft<br />

sich nicht ewig der Mensch eine fingirte Welt, weil er eine<br />

bessere Welt haben will als <strong>die</strong> Realität?…<br />

Vor allem: wie kommen wir darauf, daß nicht unsere


Welt <strong>die</strong> wahre ist?… zunächst könnte doch <strong>die</strong><br />

andere Welt <strong>die</strong> „scheinbare“ sein… in der That haben<br />

sich <strong>die</strong> Griechen z.B. ein Schattenreich, eine<br />

Scheinexistenz neben der wahren Existenz gedacht<br />

— Und endlich: was giebt uns ein Recht, gleichsam<br />

Grade der Realität anzusetzen? das ist etwas<br />

Anderes als eine unbekannte Welt, das ist bereits<br />

etwas-wissen-wollen von der unbekannten.<br />

NB. Die „andere“, <strong>die</strong> unbekannte Welt — gut! aber sagen<br />

„wahre Welt“ das heißt „etwas wissen von ihr“ —<br />

das ist der Gegensatz zur Annahme einer x-Welt…<br />

In summa: <strong>die</strong> Welt x könnte langweiliger, unmenschlicher<br />

und unwürdiger in jedem Sinne sein als <strong>die</strong>se Welt.<br />

Es stünde anders, wenn behauptet würde, es gäbe x Welten,<br />

d.h. jede mögliche Welt noch außer <strong>die</strong>ser. Aber das ist nie<br />

behauptet worden…<br />

Page Break KGW='VIII-3.145' KSA='13.353'<br />

Die „wahre“ Welt == <strong>die</strong> wahrhaftige, <strong>die</strong> uns nicht<br />

belügt, <strong>die</strong> ehrlich ist<br />

== <strong>die</strong> rechte, auf <strong>die</strong> allein es ankommt<br />

== <strong>die</strong> ächte, im Gegensatz zu etwas<br />

Nachgemachtem und Gefälschtem<br />

C.<br />

Problem: warum <strong>die</strong> Vorstellung von der anderen<br />

Welt immer zum Nachtheil, resp. zur Kritik <strong>die</strong>ser Welt<br />

ausgefallen ist, — worauf das weist? —<br />

Nämlich: ein Volk, das auf sich stolz ist, das im Aufgang<br />

<strong>des</strong> Lebens ist, denkt das Anders-sein immer als<br />

Niedriger-, Werthloser-sein; es betrachtet <strong>die</strong> fremde, <strong>die</strong><br />

unbekannte Welt als seinen Feind, als seinen Gegensatz, es<br />

fühlt sich ohne Neugierde, in voller Ablehnung gegen das<br />

Fremde…<br />

ein Volk würde nicht zugeben, daß ein anderes Volk das<br />

„wahre Volk“ wäre…<br />

schon daß ein solches Unterscheiden möglich ist — daß man<br />

<strong>die</strong>se Welt für <strong>die</strong> „scheinbare“ und jene für <strong>die</strong> „wahre“<br />

nimmt, ist symptomatisch<br />

Die Entstehungsheerde der Vorstellung: „andere Welt“<br />

der Philosoph, der eine Vernunft-Welt erfindet, wo <strong>die</strong><br />

Vernunft und <strong>die</strong> logischen Funktionen adaequat sind:<br />

— hierher stammt <strong>die</strong> „wahre“ Welt<br />

der religiöse Mensch, der eine „göttliche Welt“ erfindet(1729) —<br />

hierher stammt <strong>die</strong> „entnatürlichte, widernatürliche“<br />

Welt<br />

der moralische Mensch, der eine „freie Welt“ fingirt —<br />

hierher stammt <strong>die</strong> „gute, vollkommene, gerechte, heilige,<br />

Welt.


Page Break KGW='VIII-3.146' KSA='13.354'<br />

Das Gemeinsame der drei Entstehungsheerde…<br />

der psychologische Fehlgriff… <strong>die</strong> physiologlschen<br />

Verwechslungen<br />

„<strong>die</strong> andere Welt“, wie sie thatsächlich in der Geschichte<br />

erscheint, mit welchen Prädikaten, — abgezeichnet mit den<br />

Stigmaten<br />

<strong>des</strong> philosophischen<br />

<strong>des</strong> religiösen Vorurtheils.<br />

<strong>des</strong> moralischen<br />

<strong>die</strong> andere Welt, wie sie aus <strong>die</strong>sen Thatsachen erhellt, als<br />

ein Synonym <strong>des</strong> Nicht-seins, <strong>des</strong> Nicht-lebens,<br />

<strong>des</strong> Nicht-leben-wollens…<br />

Gesammteinsicht: der Instinkt der Lebens-Müdigkeit<br />

und nicht der <strong>des</strong> Lebens hat <strong>die</strong> andere Welt<br />

geschaffen.<br />

Consequenz: Philosophie, Religion und Moral<br />

sind Symptome der décadence.<br />

2tes Capitel<br />

Historischer Nachweis, daß Religion, Moral und Philosophie<br />

décadence-Formen der Menschheit sind.<br />

3tes Capitel<br />

1. <strong>die</strong> Gründe, darauf hin „<strong>die</strong>se“ Welt als „scheinbar“<br />

bezeichnet worden ist, begründen vielmehr ihre Realität: — eine<br />

andere Art Realität ist absolut unnachweisbar.<br />

2. <strong>die</strong> Kennzeichen, welche man dem „wahren Sein“ der<br />

Dinge gegeben hat, sind <strong>die</strong> Kennzeichen <strong>des</strong> Nicht-seins, — man<br />

hat <strong>die</strong> „wahre Welt“ aus dem Widerspruch zur „wirklichen<br />

Welt“ aufgebaut: eine „scheinbare Welt“ in der That, eine<br />

solche, <strong>die</strong> eine optisch-moralische Täuschung ist<br />

3. In summa: von einer andren Welt als <strong>die</strong>ser zu fabeln hat<br />

Page Break KGW='VIII-3.147' KSA='13.355'<br />

gar keinen Sinn, — vorausgesetzt, daß nicht ein Instinkt der<br />

Verleumdung, Verkleinerung, Verdächtigung <strong>des</strong> Lebens in uns<br />

mächtig ist: im letzteren Falle rächen wir uns am Leben mit<br />

der Phantasmagorie eines „besseren Lebens“…<br />

4. Die Welt scheiden in eine „wahre“ und eine „scheinbare“<br />

ist eine Suggestion der décadence: — den Schein höher zu<br />

schätzen als <strong>die</strong> Realität, wie es der Künstler thut, ist kein<br />

Einwand dagegen. Denn der Schein bedeutet hier nur <strong>die</strong>se Realität<br />

noch einmal in der Auswahl, Verstärkung, Correktur …<br />

Oder giebt es pessimistische Künstler? — Ist der tragische<br />

Künstler Pessimist?…


Aphorism n=12322 id='VIII.14[169]' kgw='VIII-3.147' ksa='13.355'<br />

1. Die wahre und <strong>die</strong> scheinbare Welt.<br />

2. Der Philosoph als Typus der décadence.<br />

3. Der religiöse Mensch als Typus der décadence.<br />

4. Der gute Mensch als Typus der décadence.<br />

5. Die Gegenbewegung: <strong>die</strong> Kunst.<br />

Problem <strong>des</strong> Tragischen.<br />

6. Das Heidnische in der Religion.<br />

7. Die Wissenschaft gegen Philosophie.<br />

8. Politica.<br />

9. Kritik der Gegenwart.<br />

10. Der Nihilismus und sein Gegenbild: <strong>die</strong><br />

Wiederkünftigen.<br />

11. Der Wille zur <strong>Macht</strong>.<br />

1) Gesetzt, sie ist mehr werth, warum sollte sie mehr<br />

real sein als <strong>die</strong>se?<br />

… ist <strong>die</strong> Realität eine Qualität der Vollkommenheit?<br />

— Aber das ist ja der ontologische Beweis<br />

Gottes…<br />

2) Gesetzt aber, sie ist wahr, so könnte sie weniger<br />

werth sein als unsere Welt…<br />

Page Break KGW='VIII-3.148' KSA='13.356'<br />

Aphorism n=12323 id='VIII.14[170]' kgw='VIII-3.148' ksa='13.356'<br />

Die Gegenbewegungen: <strong>die</strong> Kunst.<br />

Es sind <strong>die</strong> Ausnahme-Zustände, <strong>die</strong> den Künstler bedingen:<br />

alle <strong>die</strong> mit krankhaften Erscheinungen tief verwandt und<br />

verwachsen sind: so daß es nicht möglich scheint, Künstler zu sein<br />

und nicht krank zu sein.<br />

Die physiologischen Zustände, welche im Künstler gleichsam<br />

zur „Person“ gezüchtet sind, <strong>die</strong> an sich in irgend welchem<br />

Grade dem Menschen überhaupt anhaften:<br />

1. der Rausch: das erhöhte <strong>Macht</strong>gefühl; <strong>die</strong> innere<br />

Nöthigung, aus den Dingen einen Reflex der eigenen Fülle und<br />

Vollkommenheit zu machen —<br />

2. <strong>die</strong> extreme Schärfe gewisser Sinne: so daß sie eine<br />

ganz andere Zeichensprache verstehen — und schaffen… —<br />

<strong>die</strong>selbe, <strong>die</strong> mit manchen Nervenkrankheiten verbunden<br />

erscheint — <strong>die</strong> extreme Beweglichkeit, aus der eine extreme<br />

Mittheilsamkeit wird; das Redenwollen alles <strong>des</strong>sen, was Zeichen zu<br />

geben weiß… ein Bedürfniß, sich gleichsam loszuwerden durch<br />

Zeichen und Gebärden; Fähigkeit von sich durch hundert<br />

Sprachmittel zu reden… ein explosiver Zustand — man muß sich<br />

<strong>die</strong>sen Zustand zuerst als Zwang und Drang denken, durch alle


Art Muskelarbeit und Beweglichkeit <strong>die</strong> Exuberanz der inneren<br />

Spannung loszuwerden: sodann als unfreiwillige Coordination<br />

<strong>die</strong>ser Bewegung zu den inneren Vorgängen (Bildern,<br />

Gedanken, Begierden) — als eine Art Automatismus <strong>des</strong><br />

ganzen Muskelsystems unter dem Impuls von Innen wirkender<br />

starker Reize — Unfähigkeit, <strong>die</strong> Reaktion zu verhindern;<br />

der Hemmungsapparat gleichsam ausgehängt. Jede innere<br />

Bewegung (Gefühl, Gedanke, Affekt) ist begleitet von<br />

Vaskular-Veränderungen und folglich von Veränderungen der<br />

Farbe, der Temperatur, der Sekretion; <strong>die</strong> suggestive Kraft<br />

der Musik, ihre „suggestion mentale“;<br />

3. das Nachmachen-Müssen: eine extreme Irritabilität, bei<br />

der sich ein gegebenes Vorbild contagiös mittheilt, — ein<br />

Page Break KGW='VIII-3.149' KSA='13.<strong>357</strong>'<br />

Zustand wird nach Zeichen schon errathen und dargestellt…<br />

Ein Bild, innerlich auftauchend, wirkt schon als Bewegung der<br />

Glieder… eine gewisse Willens-Aushängung… (Schopenhauer!!!!)<br />

Eine Art Taubsein, Blindsein nach außen hin, — das Reich<br />

der zugelassenen Reize ist scharf umgrenzt —<br />

* * *<br />

Dies unterscheidet den Künstler vom Laien (dem<br />

künstlerisch-Empfänglichen): letzterer hat im Aufnehmen seinen<br />

Höhepunkt von Reizbarkeit; ersterer im Geben — dergestalt, daß ein<br />

Antagonismus <strong>die</strong>ser beiden Begabungen nicht nur natürlich,<br />

sondern wünschenswerth ist. Jeder <strong>die</strong>ser Zustände hat eine<br />

umgekehrte Optik, — vom Künstler verlangen, daß er sich <strong>die</strong> Optik<br />

<strong>des</strong> Zuhörers (Kritikers, — ) einübe, heißt verlangen, daß er sich<br />

und seine spezifische Kraft verarme… Es ist hier wie bei der<br />

Differenz der Geschlechter: man soll vom Künstler, der giebt,<br />

nicht verlangen, daß er Weib wird — daß er „empfängt“…<br />

Unsere Aesthetik war insofern bisher eine Weibs-Aesthetik,<br />

als nur <strong>die</strong> Empfänglichen für Kunst ihre Erfahrungen „was ist<br />

schön?“ formulirt haben. In der ganzen Philosophie bis heute<br />

fehlt der Künstler… Das ist, wie das Vorhergehende andeutete,<br />

ein nothwendiger Fehler; denn der Künstler, der anfienge wieder<br />

sich zu begreifen, würde sich damit vergreifen — er hat<br />

nicht zurück zu sehen, er hat überhaupt nicht zu sehen, er hat<br />

zu geben — Es ehrt einen Künstler, der Kritik unfähig zu sein<br />

… andernfalls ist er halb und halb, ist er „modern“…<br />

Aphorism n=12324 id='VIII.14[171]' kgw='VIII-3.149' ksa='13.<strong>357</strong>'<br />

Religion als décadence<br />

der Schlaf als Folge jeder Erschöpfung, <strong>die</strong> Erschöpfung als<br />

Folge jeder übermäßigen Reizung…<br />

das Bedürfniß nach Schlaf, <strong>die</strong> Vergöttlichung und Adoration<br />

selbst <strong>des</strong> Begriffs „Schlaf“ in allen pessimistischen Religionen


und Philosophien —<br />

Page Break KGW='VIII-3.150' KSA='13.<strong>358</strong>'<br />

<strong>die</strong> Erschöpfung ist in <strong>die</strong>sem Fall eine Rassen-Erschöpfung;<br />

der Schlaf, physiologisch genommen, nur ein Gleichniß eines viel<br />

tieferen und längeren Ruhen-Müssens… In praxi ist es<br />

der Tod, der hier unter dem Bilde seines Bruders, <strong>des</strong> Schlafes,<br />

so verführerisch wirkt…<br />

Aphorism n=12325 id='VIII.14[172]' kgw='VIII-3.150' ksa='13.<strong>358</strong>'<br />

Die religiöse Monomanie erscheint gewöhnlich in<br />

der Form der folie circulaire, mit zwei contradiktorischen<br />

Zuständen, dem der Depression und dem der Tonicität.<br />

Féré p 123.<br />

Aphorism n=12326 id='VIII.14[173]' kgw='VIII-3.150' ksa='13.<strong>358</strong>'<br />

Der Wille zur <strong>Macht</strong> als Leben<br />

Psychologie <strong>des</strong> Willens zur <strong>Macht</strong>.<br />

Lust Unlust<br />

Der Schmerz ist etwas Anderes als <strong>die</strong> Lust, — ich will sagen,<br />

er ist nicht deren Gegentheil. Wenn das Wesen der Lust<br />

zutreffend bezeichnet worden ist als ein Plus-Gefühl von<br />

<strong>Macht</strong> (somit als ein Differenz-Gefühl, das <strong>die</strong> Vergleichung<br />

voraussetzt), so ist damit das Wesen der Unlust noch nicht definirt.<br />

Die falschen Gegensätze, an <strong>die</strong> das Volk und folglich <strong>die</strong><br />

Sprache glaubt, sind immer gefährliche Fußfesseln für den Gang<br />

der Wahrheit gewesen. Es giebt sogar Fälle, wo eine Art Lust<br />

bedingt ist durch eine gewisse rhythmische Abfolge kleiner<br />

Unlust-Reize: damit wird ein sehr schnelles Anwachsen <strong>des</strong><br />

<strong>Macht</strong>gefühls, <strong>des</strong> Lustgefühls erreicht. Dies ist der Fall z.B.<br />

beim Kitzel, auch beim geschlechtlichen Kitzel im Akt <strong>des</strong> coitus:<br />

wir sehen dergestalt <strong>die</strong> Unlust als Ingre<strong>die</strong>nz der Lust thätig.<br />

Es scheint, eine kleine Hemmung, <strong>die</strong> überwunden wird und der<br />

sofort wieder eine kleine Hemmung folgt, <strong>die</strong> wieder überwunden<br />

wird — <strong>die</strong>ses Spiel von Widerstand und Sieg regt jenes<br />

Gesammtgefühl von überschüssiger überflüssiger <strong>Macht</strong> am stärksten<br />

an, das das Wesen der Lust ausmacht. — Die Umkehrung, eine<br />

Page Break KGW='VIII-3.151' KSA='13.359'<br />

Vermehrung der Schmerzempfindung durch kleine eingeschobene<br />

Lustreize, fehlt: Lust und Schmerz sind eben nichts Umgekehrtes.<br />

— Der Schmerz ist ein intellektueller Vorgang, in dem entschieden<br />

ein Urtheil laut wurde, — das Urtheil „schädlich“, in dem


sich lange Erfahrung aufsummirt hat. An sich giebt es keinen<br />

Schmerz. Es ist nicht <strong>die</strong> Verwundung, <strong>die</strong> weh thut; es ist<br />

<strong>die</strong> Erfahrung, von welchen schlimmen Folgen eine Verwundung<br />

für den Gesammt-Organismus sein kann, welche in Gestalt jener<br />

tiefen Erschütterung redet, <strong>die</strong> Unlust heißt (bei schädigenden<br />

Einflüssen, welche der älteren Menschheit unbekannt geblieben<br />

sind, z.B. von Seiten neu combinirter giftiger Chemikalien, fehlt<br />

auch <strong>die</strong> Aussage <strong>des</strong> Schmerzes, — und wir sind verloren…)<br />

Im Schmerz ist das eigentlich Spezifische immer <strong>die</strong> lange<br />

Erschütterung, das Nachzittern eines schreckenerregenden choc's in<br />

dem cerebralen Heerde <strong>des</strong> Nervensystems: — man leidet eigentlich<br />

nicht an der Ursache <strong>des</strong> Schmerzes (irgend einer Verletzung<br />

zum Beispiel), sondern an der langen Gleichgewichtsstörung,<br />

welche in Folge jenes choc's eintritt. Der Schmerz ist eine<br />

Krankheit der cerebralen Nervenheerde — <strong>die</strong> Lust ist durchaus<br />

keine Krankheit… — Daß der Schmerz <strong>die</strong> Ursache ist zu<br />

Gegenbewegungen, hat zwar den Augenschein und sogar das<br />

Philosophen-Vorurtheil für sich; aber in plötzlichen Fällen<br />

kommt, wenn man genau beobachtet, <strong>die</strong> Gegenbewegung ersichtlich<br />

früher als <strong>die</strong> Schmerzempfindung. Es stünde schlimm um<br />

mich, wenn ich bei einem Fehltritt zu warten hätte, bis das<br />

Faktum an <strong>die</strong> Glocke <strong>des</strong> Bewußtseins schlüge und ein Wink, was<br />

zu thun ist, zurücktelegraphirt würde… Vielmehr unterscheide<br />

ich so deutlich als möglich, daß erst <strong>die</strong> Gegenbewegung <strong>des</strong><br />

Fußes, um den Fall zu verhüten, folgt und dann, in einer<br />

meßbaren Zeitdistanz, eine Art schmerzhafter Welle plötzlich im<br />

vorderen Kopfe fühlbar wird. Man reagirt also nicht auf<br />

den Schmerz. Der Schmerz wird nachher projicirt in <strong>die</strong> verwundete<br />

Stelle: — aber das Wesen <strong>die</strong>ses Lokal-Schmerzes bleibt<br />

trotzdem nicht der Ausdruck der Art der Lokal-Verwundung, es<br />

Page Break KGW='VIII-3.152' KSA='13.360'<br />

ist ein bloßes Ortszeichen, <strong>des</strong>sen Stärke und Tonart der Verwundung<br />

gemäß ist, welches <strong>die</strong> Nerven-Centren davon empfangen<br />

haben. Daß in Folge jenes choc's <strong>die</strong> Muskelkraft <strong>des</strong> Organismus<br />

meßbar heruntergeht, giebt durchaus noch keinen Anhalt dafür,<br />

das Wesen <strong>des</strong> Schmerzes in einer Verminderung <strong>des</strong> <strong>Macht</strong>gefühls<br />

zu suchen… Man reagirt, nochmals gesagt, nicht auf<br />

den Schmerz: <strong>die</strong> Unlust ist keine „Ursache“ von Handlungen,<br />

der Schmerz selbst ist eine Reaktion, <strong>die</strong> Gegenbewegung ist eine<br />

andere und frühere Reaktion, — beide nehmen von verschiedenen<br />

Stellen ihren Ausgangspunkt. —<br />

Aphorism n=12327 id='VIII.14[174]' kgw='VIII-3.152' ksa='13.360'<br />

Der Wille zur <strong>Macht</strong> als Leben<br />

Der Mensch sucht nicht <strong>die</strong> Lust und vermeidet nicht<br />

<strong>die</strong> Unlust: man versteht, welchem berühmten Vorurtheile ich


hiermit widerspreche. Lust und Unlust sind bloße Folge, bloße<br />

Begleiterscheinung, — was der Mensch will, was jeder kleinste<br />

Theil eines lebenden Organismus will, das ist ein plus von <strong>Macht</strong>.<br />

Im Streben danach folgt sowohl Lust als Unlust; aus jenem Willen<br />

heraus sucht er nach Widerstand, braucht er etwas, das sich<br />

entgegenstellt. Die Unlust, als Hemmung seines Willens zur<br />

<strong>Macht</strong>, ist also ein normales Faktum, das normale Ingre<strong>die</strong>nz<br />

je<strong>des</strong> organischen Geschehens, der Mensch weicht ihr nicht aus,<br />

er hat sie vielmehr fortwährend nöthig: jeder Sieg, je<strong>des</strong><br />

Lustgefühl, je<strong>des</strong> Geschehen setzt einen überwundenen Widerstand<br />

voraus.<br />

Nehmen wir den einfachsten Fall, den der primitiven Ernährung:<br />

das Protoplasma streckt seine Pseudopo<strong>die</strong>n aus, um nach<br />

etwas zu suchen, was ihm widersteht — nicht aus Hunger,<br />

sondern aus Willen zur <strong>Macht</strong>. Darauf macht es den Versuch,<br />

dasselbe zu überwinden, sich anzueignen, sich einzuverleiben: — das,<br />

was man „Ernährung“ nennt, ist bloß eine Folge-Erscheinung,<br />

eine Nutzanwendung jenes ursprünglichen Willens, stärker<br />

zu werden<br />

Page Break KGW='VIII-3.153' KSA='13.361'<br />

Es ist nicht möglich, den Hunger als primum mobile zu<br />

nehmen: ebenso wenig als <strong>die</strong> Selbsterhaltung: der Hunger als<br />

Folge der Unterernährung aufgefaßt, heißt: der Hunger als<br />

Folge eines nicht mehr Herr werdenden Willens zur<br />

<strong>Macht</strong><br />

<strong>die</strong> Zweiheit als Folge einer zu schwachen Einheit<br />

es handelt sich durchaus nicht um eine Wiederherstellung<br />

eines Verlustes, — erst spät, in Folge Arbeitstheilung, nachdem<br />

der Wille zur <strong>Macht</strong> ganz andere Wege zu seiner Befriedigung<br />

einschlagen lernt, wird das Aneignungsbedürfniß <strong>des</strong> Organismus<br />

reduzirt auf den Hunger, auf das Wiederersatzbedürfniß<br />

<strong>des</strong> Verlorenen.<br />

Die Unlust hat also so wenig nothwendig eine<br />

Verminderung unseres <strong>Macht</strong>gefühls zur Folge, daß, in<br />

durchschnittlichen Fällen, sie gerade als Reiz auf <strong>die</strong>ses<br />

<strong>Macht</strong>gefühl wirkt, — das Hemmniß ist der Stimulus <strong>die</strong>ses Willens<br />

zur <strong>Macht</strong>.<br />

Man hat <strong>die</strong> unlust verwechselt mit einer Art der Unlust,<br />

mit der der Erschöpfung: letztere stellt in der That eine tiefe<br />

Verminderung und Herabstimmung <strong>des</strong> Willens zur <strong>Macht</strong>, eine<br />

meßbare Einbuße an Kraft dar. Das will sagen: Unlust als<br />

Reizmittel zur Verstärkung der <strong>Macht</strong> und Unlust nach einer<br />

Vergeudung von <strong>Macht</strong>; im ersteren Fall ein stimulus, im letzteren<br />

<strong>die</strong> Folge einer übermäßigen Reizung… Die Unfähigkeit zum<br />

Widerstand ist der letzteren Unlust zu eigen: <strong>die</strong> <strong>Herausforderung</strong><br />

<strong>des</strong> Widerstehenden gehört zur ersteren… Die Lust welche<br />

im Zustande der Erschöpfung allein noch empfunden wird, ist


das Einschlafen; <strong>die</strong> Lust im anderen Fall ist der Sieg…<br />

Die große Verwechslung der Psychologen bestand darin, daß<br />

sie <strong>die</strong>se beiden Lustarten <strong>die</strong> <strong>des</strong> Einschlafens und<br />

<strong>die</strong> <strong>des</strong> Sieges nicht auseinanderhielten<br />

Page Break KGW='VIII-3.154' KSA='13.362'<br />

<strong>die</strong> Erschöpften wollen Ruhe, Gliederausstrecken, Frieden,<br />

Stille —<br />

es ist das Glück der nihilistischen Religionen und<br />

Philosophien<br />

<strong>die</strong> Reichen und Lebendigen wollen Sieg, überwundene<br />

Gegner, Überströmen <strong>des</strong> <strong>Macht</strong>gefühls über weitere Bereiche als<br />

bisher:<br />

alle gesunden Funktionen <strong>des</strong> Organismus haben <strong>die</strong>s<br />

Bedürfniß, — und der ganze Organismus, bis zum Alter der<br />

Pubertät, ist ein solcher nach Wachsthum von <strong>Macht</strong>gefühlen<br />

ringender Complex von Systemen —<br />

Aphorism n=12328 id='VIII.14[175]' kgw='VIII-3.154' ksa='13.362'<br />

Plato: — — —<br />

aber Manu sagt: der Akt, durch den <strong>die</strong> Seele nach dem<br />

Unbekannten aspirirt, ist eine Erinnerung an das Swarga,<br />

von dem sie eine Spur zurückbehalten hat, wie man oft unsicher<br />

beim Erwachen <strong>die</strong> Bilder sieht, <strong>die</strong> uns in den Träumen<br />

getroffen haben<br />

Aphorism n=12329 id='VIII.14[176]' kgw='VIII-3.154' ksa='13.362'<br />

Alcoholismus.<br />

Der Brahmane, der sich berauscht, in Vergessenheit der<br />

göttlichen Substanz, aus der seine Person gebildet ist, sinkt zum<br />

Rang <strong>des</strong> unreinen Sudra hinab.<br />

Der dwidja, der sich gegorenen Getränken hingiebt, wird<br />

durch ihr Feuer innerlich verbrannt werden. Er reinige sich,<br />

indem er kochenden Urin der Kühe trinkt<br />

Aphorism n=12330 id='VIII.14[177]' kgw='VIII-3.154' ksa='13.362'<br />

Möge er eine Kuh retten: <strong>die</strong>se ver<strong>die</strong>nstliche Handlung sühnt<br />

den Mord eines Brahmanen.


Page Break KGW='VIII-3.155' KSA='13.363'<br />

Aphorism n=12331 id='VIII.14[178]' kgw='VIII-3.155' ksa='13.363'<br />

Priester<br />

— Der Brahmane ist eine Autorität in <strong>die</strong>ser Welt und in<br />

der anderen; der Brahmane ist ein Objekt der Verehrung für <strong>die</strong><br />

Götter.<br />

Der Mörder einer Kuh soll drei Monate bedeckt bleiben mit<br />

der Haut <strong>die</strong>ser Kuh und dann drei Monate im Dienste eines<br />

Kuhhirten zubringen. Dann soll er den Brahmanen zehn Kühe<br />

und einen Stier zum Geschenk machen(1730) oder besser noch, Alles,<br />

was er besitzt: dann ist sein Fehler gebüßt.<br />

Wer einen Beschnittenen tödtet, reinigt sich durch eine<br />

einfache Darbringung (während überhaupt ein Thier tödten<br />

sechs Monate Pönitenz im Wald, mit Wachsenlassen von Bart<br />

und Haar fordert.)<br />

Aphorism n=12332 id='VIII.14[179]' kgw='VIII-3.155' ksa='13.363'<br />

Von der christlichen Praxis.<br />

Der Mensch kannte sich nicht physiologisch, <strong>die</strong> ganze Kette<br />

der Jahrtausende entlang: er kennt sich auch heute noch nicht.<br />

Zu wissen z.B., daß man ein Nervensystem habe ( — aber keine<br />

„Seele“) bleibt immer noch das Vorrecht der Unterrichtetsten.<br />

Aber der Mensch beargwöhnt sich nicht, hier nicht zu wissen; —<br />

man muß sehr human sein, um zu sagen „ich weiß das nicht“,<br />

um sich Ignoranzen zu gönnen… gesetzt, er leidet oder er<br />

ist in guter Laune, so zweifelt er nicht, den Grund dafür zu<br />

finden, wenn er nur sucht. Also sucht er ihn… In Wahrheit kann<br />

er den Grund nicht finden, weil er nicht einmal argwöhnt, wo er<br />

zu suchen hätte… Was geschieht?… Er nimmt eine Folge<br />

seines Zustan<strong>des</strong> als <strong>des</strong>sen Ursache<br />

z.B. ein Werk, in guter Laune unternommen (im Grunde<br />

unternommen, weil schon <strong>die</strong> gute Laune Muth dazu gab) geräth:<br />

ecco, das Werk ist der Grund, zur guten Laune…<br />

Thatsächlich war wiederum das Gelingen bedingt durch<br />

Page Break KGW='VIII-3.156' KSA='13.364'<br />

dasselbe, was <strong>die</strong> gute Laune bedingte, — durch <strong>die</strong> glückliche<br />

Coordination der physiologischen Kräfte und Systeme<br />

Er befindet sich schlecht: und folglich wird er mit einer<br />

Sorge, einem Skrupel, einer Selbst-Kritik nicht fertig … In<br />

Wahrheit glaubt der Mensch, sein schlechter Zustand sei <strong>die</strong><br />

Folge seines Skrupels, seiner „Sünde“, seiner „Selbstkritik“…<br />

Aber der Zustand der Wiederherstellung, oft nach einer


tiefen Erschöpfung und Prostration, kehrt zurück. „Wie ist das<br />

möglich, daß ich so frei, so gelöst bin? Das ist ein Wunder, das<br />

kann nur Gott mir gethan haben“ Schluß: „er hat mir meine<br />

Sünde vergeben“ …<br />

Daraus ergiebt sich eine Praktik: um Sündengefühle<br />

anzuregen, um Zerknirschungen vorzubereiten, hat man den<br />

Körper in einen krankhaften und nervösen Zustand zu bringen. Die<br />

Methodik dafür ist bekannt. Wie billig, argwöhnt man nicht, <strong>die</strong><br />

causale Logik der Thatsachen — man hat eine religiöse Deutung<br />

für <strong>die</strong> Kasteiung <strong>des</strong> Fleisches, sie erscheint als<br />

Zweck an sich, während sie sich nur als Mittel ergiebt, um<br />

jene krankhafte Indigestion der Reue möglich zu machen (<strong>die</strong><br />

„Idée fixe“ der Sünde, <strong>die</strong> Hypnotisirung der Henne durch den<br />

Strich „Sünde“)<br />

Die Mißhandlung <strong>des</strong> Leibes erzeugt den Boden für <strong>die</strong> Reihe<br />

der „Schuldgefühle“ … d.h. ein allgemeines Leiden, das<br />

erklärt sein wird…<br />

Andrerseits ergiebt sich ebenso <strong>die</strong> Methodik der „Erlösung“:<br />

man hat jede Ausschweifung <strong>des</strong> Gefühls durch Gebete, Bewegungen,<br />

Gebärden, Schwüre herausgefordert, — <strong>die</strong> Erschöpfung<br />

folgt, oft jäh, oft unter epileptischer Form. Und, hinter dem<br />

Zustand tiefer Somnolenz kommt der Schein der Genesung —<br />

religiös geredet: „Erlösung“<br />

Aphorism n=12333 id='VIII.14[180]' kgw='VIII-3.156' ksa='13.364'<br />

der Muhammedanismus, als eine Religion für Männer,<br />

hat eine tiefe Verachtung für <strong>die</strong> Sentimentalität und Verlogenheit<br />

Page Break KGW='VIII-3.157' KSA='13.365'<br />

<strong>des</strong> Christenthums… einer Weibs-Religion, als welche er sie<br />

fühlt —<br />

Aphorism n=12334 id='VIII.14[181]' kgw='VIII-3.157' ksa='13.365'<br />

Der religiöse Mensch als Typus der décadence<br />

<strong>die</strong> religiösen Zustände in ihrer Verwandtschaft mit dem<br />

Irrsinn, mit der Neurasthenie<br />

der Zeitpunkt, wo <strong>die</strong> religiöse Krisis ein Volk ergreift —<br />

historisch —<br />

<strong>die</strong> Phantasie <strong>des</strong> religiösen Menschen als <strong>die</strong> Phantasie <strong>des</strong><br />

Entnervten und Überreizten<br />

<strong>die</strong> „moralische Nervösität“ <strong>des</strong> Christen.<br />

Wir haben jetzt <strong>die</strong> Aufgabe, das schwierige nicht nur uns<br />

zweideutige Phänomen <strong>des</strong> Christenthums darzustellen.


Das ganze christliche Buß- und Erlösungs-training kann<br />

aufgefaßt werden(1731) als eine willkürlich erzeugte folie<br />

circulaire; wie billig nur in bereits prä<strong>des</strong>tinirten (nämlich<br />

morbid angelegten) Individuen erzeugbar.<br />

Aphorism n=12335 id='VIII.14[182]' kgw='VIII-3.157' ksa='13.365'<br />

Warum <strong>die</strong> Schwachen siegen.<br />

In summa: <strong>die</strong> Kranken und Schwachen haben mehr Mitgefühl,<br />

sind „menschlicher“ —<br />

: <strong>die</strong> Kranken und Schwachen haben mehr Geist, sind<br />

wechselnder, vielfacher, unterhaltender, — boshafter: <strong>die</strong><br />

Kranken allein haben <strong>die</strong> Bosheit erfunden.<br />

(eine krankhafte Frühreife häufig bei Rhachitischen, Skrofulosen<br />

und Tuberkulosen. — )<br />

esprit: Eigenthum später Rassen (Juden, Franzosen, Chinesen)<br />

Die Antisemiten vergeben es den Juden nicht, daß <strong>die</strong> Juden<br />

„Geist“ haben — und Geld: der Antisemitismus, ein Name<br />

der „Schlechtweggekommenen“)<br />

Page Break KGW='VIII-3.158' KSA='13.366'<br />

: der Narr und der Heilige — <strong>die</strong> zwei interessantesten Arten<br />

Mensch…<br />

in enger Verwandtschaft das „Genie“ <strong>die</strong> großen „Abenteurer<br />

und Verbrecher“<br />

: <strong>die</strong> Kranken und Schwachen haben <strong>die</strong> Fascination für<br />

sich gehabt, sie sind interessanter als <strong>die</strong> Gesunden<br />

und alle Menschen, <strong>die</strong> gesün<strong>des</strong>ten voran, sind gewisse Zeiten<br />

ihres Lebens krank: — <strong>die</strong> großen Gemüthsbewegungen,<br />

<strong>die</strong> Leidenschaft der <strong>Macht</strong>, <strong>die</strong> Liebe, <strong>die</strong> Rache sind von tiefen<br />

Störungen begleitet…<br />

Und was <strong>die</strong> décadence betrifft: so stellt sie jeder Mensch,<br />

der nicht zu früh stirbt, in jedem Sinne beinahe dar: — er kennt<br />

also auch <strong>die</strong> Instinkte, welche zu ihr gehören, aus Erfahrung —<br />

: für <strong>die</strong> Hälfte fast je<strong>des</strong> Menschenlebens ist der<br />

Mensch décadent.<br />

Endlich: das Weib! <strong>die</strong> Eine Hälfte der Menschheit<br />

ist schwach, typisch-krank, wechselnd, unbeständig — das<br />

Weib braucht <strong>die</strong> Stärke, um sich an sie zu klammern, — und<br />

eine Religion der Schwäche, welche es als göttlich verherrlicht,<br />

schwach zu(1732) sein, zu lieben, demüthig zu sein…<br />

oder, besser, es macht <strong>die</strong> Starken schwach, — es herrscht,<br />

wenn es gelingt, <strong>die</strong> Starken zu überwältigen…<br />

das Weib hat immer mit den Typen der décadence, den<br />

Priestern zusammen conspirirt gegen <strong>die</strong> „Mächtigen“, <strong>die</strong><br />

„Starken“, <strong>die</strong> Männer —<br />

das Weib bringt <strong>die</strong> Kinder bei Seite für den Cultus der


Pietät, <strong>des</strong> Mitleids, der Liebe — <strong>die</strong> Mutter repräsentirt den<br />

Altruismus überzeugend…<br />

Endlich: <strong>die</strong> zunehmende Civilisation, <strong>die</strong> zugleich nothwendig<br />

auch <strong>die</strong> Zunahme der morbiden Elemente, <strong>des</strong> Neurotisch-Psychiatrischen<br />

und <strong>des</strong> Criminalistischen mit sich bringt…<br />

eine Zwischen-species entsteht, der Artist, von<br />

der Criminalität der That durch Willensschwäche und sociale<br />

Page Break KGW='VIII-3.159' KSA='13.367'<br />

Furchtsamkeit abgetrennt, insgleichen noch nicht reif für das<br />

Irrenhaus, aber mit seinen Fühlhörnern in beide Sphären<br />

neugierig hineingreifend: <strong>die</strong>se spezifische Cultur-Pflanze, der<br />

moderne Artist, Maler, Musiker, vor allem romancier, der für seine<br />

Art zu sein das sehr uneigentliche Wort „naturalisme“<br />

handhabt …<br />

Die Irren, <strong>die</strong> Verbrecher und <strong>die</strong> „Naturalisten“ nehmen zu:<br />

Zeichen einer wachsenden und jäh vorwärts eilenden Cultur<br />

— das heißt der Ausschuß, der Abfall, <strong>die</strong> Auswurfstoffe<br />

gewinnen Importanz, — das Abwärts hält Schritt…<br />

Endlich: der sociale Mischmasch, Folge der Revolution,<br />

der Herstellung gleicher Rechte, <strong>des</strong> Aberglaubens an<br />

„gleiche Menschen“. Dabei mischen sich <strong>die</strong> Träger der<br />

Niedergangs-Instinkte (<strong>des</strong> ressentiment, der unzufriedenheit, <strong>des</strong><br />

Zerstörer-Triebs, <strong>des</strong> Anarchismus und Nihilismus), eingerechnet der<br />

Sklaven-Instinkte, der Feigheits-, Schlauheits- und<br />

Canaillen-Instinkte der lange unten gehaltenen Schichten in alles<br />

Blut aller Stände hinein: zwei, drei Geschlechter darauf ist <strong>die</strong><br />

Rasse nicht mehr zu erkennen — Alles ist verpöbelt. Hieraus<br />

resultirt ein Gesammtinstinkt gegen <strong>die</strong> Auswahl, gegen<br />

das Privilegium jeder Art, von einer <strong>Macht</strong> und Sicherheit,<br />

Härte, Grausamkeit der Praxis, daß in der That sich alsbald<br />

selbst <strong>die</strong> Privilegirten unterwerfen:<br />

— was noch <strong>Macht</strong> festhalten will, schmeichelt dem Pöbel,<br />

muß den Pöbel auf seiner Seite haben —<br />

<strong>die</strong> „Genies“ voran: sie werden Herolde der Gefühle,<br />

mit denen man Massen begeistert — <strong>die</strong> Note <strong>des</strong> Mitleids, der<br />

Ehrfurcht selbst vor Allem, was leidend, niedrig, verachtet,<br />

verfolgt gelebt hat, klingt über alle anderen Noten weg (Typen:<br />

V. Hugo und R. Wagner).<br />

<strong>die</strong> Heraufkunft <strong>des</strong> Pöbels bedeutet noch einmal <strong>die</strong><br />

Heraufkunft der alten Werthe…<br />

* *<br />

Page Break KGW='VIII-3.160' KSA='13.368'<br />

Bei einer solchen extremen Bewegung in Hinsicht auf tempo<br />

und Mittel, wie sie unsere Civilisation darstellt, verlegt sich das<br />

Schwergewicht der Menschen: der Menschen, auf <strong>die</strong> es(1733) am<br />

meisten ankommt, <strong>die</strong> es gleichsam auf sich haben, <strong>die</strong> ganze<br />

große Gefahr einer solchen krankhaften Bewegung zu compensiren; —


es werden <strong>die</strong> Verzögerer par excellence, <strong>die</strong> Langsam-Aufnehmenden,<br />

<strong>die</strong> Schwer-Loslassenden, <strong>die</strong> Relativ-Dauerhaften inmitten<br />

<strong>die</strong>ses ungeheuren Wechselns und Mischens von<br />

Elementen sein. Das Schwergewicht fällt unter solchen<br />

Umständen nothwendig den Mediokren zu: gegen <strong>die</strong><br />

Herrschaft <strong>des</strong> Pöbels und der Excentrischen (beide meist verbündet)<br />

consolidirt sich <strong>die</strong> Mediokrität, als <strong>die</strong> Bürgschaft und<br />

Trägerin der Zukunft. Daraus erwächst für <strong>die</strong> Ausnahme-Menschen<br />

ein neuer Gegner — oder aber eine neue Verführung.<br />

Gesetzt, daß sie sich nicht dem Pöbel anpassen und dem<br />

Instinkte der „Enterbten“ zu Gefallen Lieder singen, werden sie<br />

nöthig haben, „mittelmäßig“ und „ge<strong>die</strong>gen“ zu sein. Sie<br />

wissen: <strong>die</strong> mediocritas ist auch aurea, — sie allein sogar verfügt<br />

über Geld und Gold ( — über Alles was glänzt…) … Und<br />

noch einmal gewinnt <strong>die</strong> alte Tugend, und überhaupt <strong>die</strong> ganze<br />

verlebte Welt <strong>des</strong> Ideals eine begabte Fürsprecherschaft …<br />

Resultat: <strong>die</strong> Mediokrität bekommt Geist, Witz, Genie, — sie<br />

wird unterhaltend, sie verführt…<br />

* *<br />

Resultat. Ich sage noch ein Wort von der dritten Kraft.<br />

Das Handwerk, der Handel, der Ackerbau, <strong>die</strong> Wissenschaft, ein<br />

großer Theil der Kunst — das Alles kann nur stehen auf einem<br />

breiten Boden, auf einer stark und gesund consolidirten<br />

Mittelmäßigkeit. In ihrem Dienste und von ihr be<strong>die</strong>nt arbeitet <strong>die</strong><br />

Wissenschaft — und selbst <strong>die</strong> Kunst. Die Wissenschaft<br />

kann es sich nicht besser wünschen: sie gehört als solche zu einer<br />

mittleren Art Mensch, — sie ist deplacirt unter Ausnahmen, —<br />

sie hat nichts Aristokratisches und noch weniger etwas Anarchistisches<br />

in ihren Instinkten. — Die <strong>Macht</strong> der Mitte wird sodann<br />

Page Break KGW='VIII-3.161' KSA='13.369'<br />

aufrecht gehalten durch den Handel, vor allem den Geldhandel:<br />

der Instinkt der Großfinanciers geht gegen alles Extreme, — <strong>die</strong><br />

Juden sind <strong>des</strong>halb einstweilen <strong>die</strong> conservirendste <strong>Macht</strong><br />

in unserem so bedrohten und unsicheren Europa. Sie können<br />

weder Revolutionen brauchen, noch Socialismus, noch Militarismus:<br />

wenn sie <strong>Macht</strong> haben wollen und brauchen auch über<br />

<strong>die</strong> revolutionäre Partei, so ist <strong>die</strong>s nur eine Folge <strong>des</strong><br />

Vorhergesagten und nicht im Widerspruch dazu. Sie haben nöthig,<br />

gegen andere extreme Richtungen gelegentlich Furcht zu erregen —<br />

dadurch daß sie zeigen, was Alles in ihrer Hand steht. Aber<br />

ihr Instinkt selbst ist unwandelbar conservativ — und<br />

„mittelmäßig“… Sie wissen überall, wo es <strong>Macht</strong> giebt, mächtig<br />

zu sein: aber <strong>die</strong> Ausnützung ihrer <strong>Macht</strong> geht immer in Einer<br />

Richtung. Das Ehren-Wort für mittelmäßig ist bekanntlich(1734)<br />

das Wort „liberal“…<br />

etwas, das nicht witzig und nicht einmal wahr ist…<br />

Besinnung. — Es ist unsinnig, vorauszusetzen(1735), daß<br />

<strong>die</strong>ser ganze Sieg der Werthe antibiologisch sei: man muß


suchen, ihn zu erklären aus einem Interesse <strong>des</strong> Lebens<br />

<strong>die</strong> Aufrechterhaltung <strong>des</strong> Typus „Mensch“ selbst<br />

durch <strong>die</strong>se Methodik der Überherrschaft der Schwachen und<br />

Schlechtweggekommenen —<br />

: im anderen Falle existirte der Mensch nicht mehr?<br />

Problem —<br />

Die Steigerung <strong>des</strong> Typus verhängnißvoll für <strong>die</strong><br />

Erhaltung der Art?<br />

warum?<br />

<strong>die</strong> Erfahrungen der Geschichte:<br />

<strong>die</strong> starken Rassen dezimiren sich gegenseitig:<br />

Krieg, <strong>Macht</strong>begierde, Abenteuer; ihre Existenz ist kostspielig,<br />

kurz, — sie reiben sich unter einander auf —<br />

<strong>die</strong> starken Affekte: <strong>die</strong> Vergeudung — es wird Kraft<br />

nicht mehr kapitalisirt…<br />

Page Break KGW='VIII-3.162' KSA='13.370'<br />

<strong>die</strong> geistige Störung, durch <strong>die</strong> übertriebene Spannung — es<br />

treten Perioden tiefer Abspannung und Schlaffheit ein<br />

alle großen Zeiten werden bezahlt…<br />

<strong>die</strong> Starken sind hinterdrein schwächer, willenloser, absurder<br />

als <strong>die</strong> durchschnittlich-Schwachen<br />

Es sind verschwenderische Rassen. —<br />

Die „Dauer“ an sich hätte ja keinen Werth: man möchte<br />

wohl eine kürzere, aber werthreichere Existenz der Gattung<br />

vorziehen.<br />

Es bliebe übrig, zu beweisen, daß selbst so ein reicherer<br />

Werthertrag erzielt würde, als im Fall der kürzeren Existenz.<br />

d.h. der Mensch als Aufsummirung von Kraft gewinnt ein<br />

viel höheres Quantum von Herrschaft über <strong>die</strong> Dinge, wenn es<br />

so geht, wie es geht…<br />

Wir stehen vor einem Problem der Oekonomie —<br />

Aphorism n=12336 id='VIII.14[183]' kgw='VIII-3.162' ksa='13.370'<br />

Ich gebe meine Argumentation in allen wesentlichen Schritten,<br />

Punkt für Punkt. Mit etwas Logik in dem Leibe und einer<br />

mir verwandten Energie, mit einem Muth zu dem, was man<br />

eigentlich weiß … hätte man <strong>die</strong>se Argumentation auch schon<br />

meinen früheren Schriften entnehmen können. Man hat das<br />

Umgekehrte gethan und sich darüber beschwert, daß es denselben<br />

an Consequenz fehle: <strong>die</strong>ses Mischmasch-Gesindel von heute wagt<br />

das Wort Consequenz in den Mund zu nehmen!<br />

Aphorism n=12337 id='VIII.14[184]' kgw='VIII-3.162' ksa='13.370'


<strong>die</strong> „ Scheinbarkeit“ = spezifische Aktions-Reaktions-thätigkeit<br />

<strong>die</strong> scheinbare Welt d.h. eine Welt, nach Werthen angesehen,<br />

geordnet, ausgewählt nach Werthen d.h. in <strong>die</strong>sem Falle<br />

nach dem Nützlichkeits-Gesichtspunkt in Hinsicht auf <strong>die</strong><br />

Erhaltung und <strong>Macht</strong>-Steigerung einer bestimmten Gattung von<br />

Animal.<br />

Page Break KGW='VIII-3.163' KSA='13.371'<br />

das Perspektivische also giebt den Charakter der<br />

„Scheinbarkeit“ ab!<br />

Als ob eine Welt noch übrig bliebe, wenn man das<br />

Perspektivische abrechnete! Damit hätte man ja <strong>die</strong> Relativität<br />

abgerechnet, das —<br />

je<strong>des</strong> Kraftcentrum hat für den ganzen Rest seine<br />

Perspektive d.h. seine ganz bestimmte Werthung, seine<br />

Aktions-Art, seine Widerstandsart<br />

Die „scheinbare Welt“ reduzirt sich also(1736) auf eine spezifische<br />

Art von Aktion auf <strong>die</strong> Welt, ausgehend von einem Centrum<br />

Nun giebt es gar keine andere Art Aktion: und <strong>die</strong> „Welt“<br />

ist nur ein Wort für das Gesammtspiel <strong>die</strong>ser Aktionen<br />

Die Realität besteht exakt in <strong>die</strong>ser Partikulär-Aktion<br />

und Reaktion je<strong>des</strong> Einzelnen gegen das Ganze…<br />

Es bleibt kein Schatten von Recht mehr übrig, hier von<br />

Schein zu reden…<br />

Die spezifische Art zu reagiren ist <strong>die</strong> einzige<br />

Art <strong>des</strong> Reagirens: wir wissen nicht wie viele und was für Arten<br />

es Alles giebt.<br />

Aber es giebt kein „anderes“, kein „wahres“, kein<br />

wesentliches Sein — damit würde eine Welt ohne Aktion und Reaktion<br />

ausgedrückt sein…<br />

Der Gegensatz der scheinbaren Welt und der wahren Welt<br />

reduzirt sich auf den Gegensatz „Welt“ und „Nichts“ —<br />

Aphorism n=12338 id='VIII.14[185]' kgw='VIII-3.163' ksa='13.371'<br />

Moral<br />

Daß der Werth einer Handlung von dem abhängen soll, was<br />

ihr im Bewußtsein vorausgieng — wie falsch ist das! —<br />

Und man hat <strong>die</strong> Moralität danach bemessen, selbst <strong>die</strong><br />

Criminalität…<br />

Man hat gemeint, man müsse ihre Folgen wissen: und <strong>die</strong><br />

naiven Psychologen von ehedem sagten — — —<br />

Page Break KGW='VIII-3.164' KSA='13.372'<br />

Der Werth einer Handlung muß aus ihren Folgen bemessen


werden — sagen <strong>die</strong> Utilitarier: — sie nach ihrer Herkunft zu<br />

messen, implicirt eine Unmöglichkeit, nämlich <strong>die</strong>se zu<br />

wissen.<br />

Aber weiß man <strong>die</strong> Folgen? Fünf Schritt weit vielleicht. Wer<br />

kann sagen, was eine Handlung anregt, aufregt, wider sich<br />

erregt? Als Stimulans? als Zündfunke vielleicht für einen<br />

Explosivstoff?… Die Utilitarier sind naiv… Und zuletzt müßten<br />

wir erst wissen, was nützlich ist: auch hier geht ihr Blick nur<br />

fünf Schritt weit… Sie haben keinen Begriff von der großen<br />

Ökonomie, <strong>die</strong> <strong>des</strong> Übels nicht zu entrathen weiß —.<br />

Man weiß <strong>die</strong> Herkunft nicht, und weiß <strong>die</strong> Folgen nicht: —<br />

hat folglich eine Handlung überhaupt einen Werth?…<br />

Bleibt <strong>die</strong> Handlung selbst: ihre Begleiterscheinungen im<br />

Bewußtsein, das Ja und das Nein, das ihrer Ausführung folgt: liegt<br />

der Werth einer Handlung in den subjektiven Begleiterscheinungen<br />

—? Sicherlich begleiten sie Werthgefühle, ein <strong>Macht</strong>- ein<br />

Zwang- ein Ohnmachtgefühl z.B., <strong>die</strong> Freiheit, <strong>die</strong> Leichtigkeit,<br />

anders gefragt: könnte man den Werth einer Handlung auf<br />

physiologische Werthe reduziren: ob sie ein Ausdruck <strong>des</strong><br />

vollständigen oder gehemmten Lebens ist? der biologische Werth<br />

einer Handlung?<br />

ist es erlaubt, ihren Werth nach Begleiterscheinungen<br />

abzumessen, nach Lust und Unlust, dem Spiel der Affekte, dem<br />

Gefühl der Entladung, Explosion, Freiheit…<br />

es mag sein, daß sich ihr biologischer Werth darin<br />

ausdrückt …<br />

das hieße den Werth der Musik nach dem Vergnügen oder<br />

Mißvergnügen abmessen, das sie uns macht… das sie ihrem<br />

Componisten macht…<br />

Wenn also <strong>die</strong> Handlung weder nach ihrer Herkunft, noch<br />

nach ihren Folgen, noch nach ihren Begleiterscheinungen<br />

abwerthbar ist, so ist ihr Werth x, unbekannt…<br />

Also: hat eine Handlung keinen Werth.<br />

Page Break KGW='VIII-3.165' KSA='13.373'<br />

In summa, in der Sprache <strong>des</strong> Kirchenlie<strong>des</strong>: „Kreuch fleug<br />

und schleich auf Gottes Wegen“<br />

Aphorism n=12339 id='VIII.14[186]' kgw='VIII-3.165' ksa='13.373'<br />

Philosophie<br />

Die Physiker glauben an eine „wahre Welt“ auf ihre Art:<br />

eine feste, für alle Wesen gleiche Atom-Systematisation in<br />

nothwendigen Bewegungen, — so daß für sie <strong>die</strong> „scheinbare Welt“<br />

sich reduzirt auf <strong>die</strong> jedem Wesen nach seiner Art zugängliche<br />

Seite <strong>des</strong> allgemeinen und allgemein nothwendigen Seins (zugänglich<br />

und auch noch zurechtgemacht — „subjektiv“ gemacht) Aber<br />

damit verirren sie sich: das Atom, das sie ansetzen, ist erschlossen


nach der Logik jenes Bewußtseins-Perspektivism, — ist<br />

somit auch selbst eine subjektive Fiktion. Dieses Weltbild, das sie<br />

entwerfen, ist durchaus nicht wesensverschieden von dem<br />

Subjektiv-Weltbild: es ist nur mit weitergedachten Sinnen<br />

construirt, aber durchaus mit unseren Sinnen… Und zuletzt<br />

haben sie in der Constellation etwas ausgelassen, ohne es zu wissen:<br />

eben den nothwendigen Perspektivismus, vermöge <strong>des</strong>sen je<strong>des</strong><br />

Kraftcentrum — und nicht nur der Mensch — von sich aus <strong>die</strong><br />

ganze übrige Welt construirt d.h. an seiner Kraft mißt, betastet,<br />

gestaltet… Sie haben vergessen, <strong>die</strong>se Perspektiven-setzende<br />

Kraft in das „wahre Sein“ einzurechnen… In der Schulsprache<br />

geredet: das Subjekt-sein. Sie meinen, <strong>die</strong>s sei „entwickelt“,<br />

hinzugekommen —<br />

Aber noch der Chemiker braucht es: es ist ja das<br />

Spezifisch-Sein, das bestimmt So-und-So-Agiren und -Reagiren,<br />

je nachdem<br />

Der Perspektivismus ist nur eine complexe<br />

Form der Spezifität<br />

Meine Vorstellung ist, daß jeder spezifische Körper darnach<br />

strebt, über den ganzen Raum Herr zu werden und seine Kraft<br />

auszudehnen ( — sein Wille zur <strong>Macht</strong>:) und Alles das<br />

zurückzustoßen, was seiner Ausdehnung widerstrebt. Aber er stößt<br />

Page Break KGW='VIII-3.166' KSA='13.374'<br />

fortwährend auf gleiche Bestrebungen anderer Körper und<br />

endet, sich mit denen zu arrangiren („vereinigen“), welche ihm<br />

verwandt genug sind: — so conspiriren sie dann zusammen<br />

zur <strong>Macht</strong>. Und der Prozeß geht weiter…<br />

Aphorism n=12340 id='VIII.14[187]' kgw='VIII-3.166' ksa='13.374'<br />

Philosophie<br />

Es giebt nichts Unveränderliches in der Chemie, das ist nur<br />

Schein, ein bloßes Schulvorurtheil. Wir haben das Unveränderliche<br />

eingeschleppt, immer noch aus der Metaphysik,<br />

meine Herren Physiker. Es ist ganz naiv von der Oberfläche<br />

abgelesen, zu behaupten, daß der Diamant, der Graphit und <strong>die</strong><br />

Kohle identisch sind. Warum? Bloß weil man keinen<br />

Substanz-Verlust durch <strong>die</strong> Wage constatiren kann! Nun gut, damit<br />

haben sie noch etwas gemein, aber <strong>die</strong> Molekül-Arbeit bei der<br />

Verwandlung, <strong>die</strong> wir nicht sehen und wägen können, macht<br />

eben aus dem einen Stoff etwas Anderes, — mit spezifisch anderen<br />

Eigenschaften<br />

Aphorism n=12341 id='VIII.14[188]' kgw='VIII-3.166' ksa='13.374'


Die neue Welt-Conception<br />

1) Die Welt besteht; sie ist nichts, was wird, nichts, was<br />

vergeht. Oder vielmehr: sie wird, sie vergeht, aber sie hat nie<br />

angefangen zu werden und nie aufgehört zu vergehen — sie<br />

erhält sich in Beidem … Sie lebt von sich selber: ihre<br />

Excremente sind ihre Nahrung…<br />

2) Die Hypothese einer geschaffenen Welt soll uns<br />

nicht einen Augenblick bekümmern. Der Begriff „schaffen“ ist<br />

heute vollkommen undefinirbar, unvollziehbar; bloß ein Wort<br />

noch, rudimentär aus Zeiten <strong>des</strong> Aberglaubens; mit einem Wort<br />

erklärt man Nichts. Der letzte Versuch, eine Welt, <strong>die</strong><br />

anfängt, zu concipiren, ist neuerdings mehrfach mit Hülfe einer<br />

logischen Prozedur gemacht worden — zumeist, wie zu errathen<br />

ist, aus einer theologischen Hinterabsicht<br />

Page Break KGW='VIII-3.167' KSA='13.375'<br />

Die ewige Wiederkunft. Philosophie<br />

3) Man hat neuerdings mehrfach in dem Begriff Zeit-Unendlichkeit<br />

der Welt nach hinten einen Widerspruch finden gewollt:<br />

man hat ihn selbst gefunden, um den Preis freilich, dabei<br />

den(1737) Kopf mit dem Schwanz zu verwechseln. Nichts kann mich<br />

hindern, von <strong>die</strong>sem Augenblick an rückwärts rechnend zu sagen<br />

„ich werde nie dabei an ein Ende kommen“: wie ich vom gleichen<br />

Augenblick vorwärts rechnen kann, ins Unendliche hinaus. Erst<br />

wenn ich den Fehler machen wollte — ich werde mich hüten, es<br />

zu thun — <strong>die</strong>sen correkten Begriff eines regressus in infinitum<br />

gleichzusetzen mit einem gar nicht vollziehbaren Begriff<br />

eines unendlichen progressus bis jetzt, wenn ich <strong>die</strong><br />

Richtung (vorwärts oder rückwärts) als logisch indifferent<br />

setzte, würde ich den Kopf, <strong>die</strong>sen Augenblick, als Schwanz zu<br />

fassen bekommen: das bleibe Ihnen überlassen, mein Herr<br />

Dühring! …<br />

4) Ich bin auf <strong>die</strong>sen Gedanken bei früheren Denkern<br />

gestoßen: je<strong>des</strong> Mal war er durch andere Hintergedanken bestimmt<br />

( — meistens theologische, zu Gunsten <strong>des</strong> creator spiritus) Wenn<br />

<strong>die</strong> Welt überhaupt erstarren, vertrocknen, absterben, Nichts<br />

werden könnte, oder wenn sie einen Gleichgewichtszustand<br />

erreichen könnte, oder wenn sie überhaupt irgend ein Ziel hätte,<br />

das <strong>die</strong> Dauer, <strong>die</strong> Unveränderlichkeit, das Ein-für-alle-Mal in<br />

sich schlösse (kurz, metaphysisch geredet: wenn das Werden in<br />

das Sein oder ins Nichts münden könnte) so müßte <strong>die</strong>ser<br />

Zustand erreicht sein. Aber er ist nicht erreicht: woraus folgt…<br />

Das ist unsere einzige Gewißheit, <strong>die</strong> wir in den Händen halten,<br />

um als Correktiv gegen eine große Menge an sich möglicher<br />

Welt-Hypothesen zu <strong>die</strong>nen. Kann z.B. der Mechanismus der<br />

Consequenz eines Finalzustan<strong>des</strong> nicht entgehen, welche<br />

Thompson ihm gezogen hat, so ist damit der Mechanismus<br />

widerlegt.<br />

Page Break KGW='VIII-3.168' KSA='13.376'


Philosophie<br />

5) Wenn <strong>die</strong> Welt als bestimmte Größe von Kraft und als<br />

bestimmte Zahl von Kraftcentren gedacht werden darf — und<br />

jede andere Vorstellung bleibt unbestimmt und folglich<br />

unbrauchbar — so folgt daraus, daß sie eine berechenbare Zahl<br />

von Combinationen, im großen Würfelspiel ihres Daseins,<br />

durchzumachen hat. In einer unendlichen Zeit würde jede mögliche<br />

Combination irgendwann einmal erreicht sein; mehr noch, sie<br />

würde unendliche Male erreicht sein. Und da zwischen jeder<br />

„Combination“ und ihrer nächsten „Wiederkehr“ alle überhaupt<br />

noch möglichen Combinationen abgelaufen sein müßten und jede<br />

<strong>die</strong>ser Combinationen <strong>die</strong> ganze Folge der Combinationen in<br />

derselben Reihe bedingt, so wäre damit ein Kreislauf von absolut<br />

identischen Reihen bewiesen: <strong>die</strong> Welt als Kreislauf der sich<br />

unendlich oft bereits wiederholt hat und der sein Spiel in infinitum<br />

spielt.<br />

Diese Conception ist nicht ohne weiteres eine mechanistische:<br />

denn wäre sie das, so würde sie nicht eine unendliche Wiederkehr<br />

identischer Fälle bedingen, sondern einen Finalzustand. Weil<br />

<strong>die</strong> Welt ihn nicht erreicht hat, muß der Mechanismus uns als<br />

unvollkommene und nur vorläufige Hypothese gelten.<br />

Aphorism n=12342 id='VIII.14[189]' kgw='VIII-3.168' ksa='13.376'<br />

Der Philosoph als Weiter-Entwicklung <strong>des</strong> priesterlichen Typus<br />

— hat <strong>des</strong>sen Erbschaft im Leibe<br />

— ist, selbst noch als Rivale, genöthigt, um dasselbe mit<br />

denselben Mitteln zu ringen, wie der Priester seiner Zeit.<br />

— er aspirirt <strong>die</strong> höchste Autorität<br />

was giebt Autorität, wenn man nicht <strong>die</strong> physische<br />

<strong>Macht</strong> in den Händen hat (keine Heere, keine Waffen<br />

überhaupt…)?<br />

wie gewinnt man namentlich <strong>die</strong> Autorität über <strong>die</strong>, welche<br />

<strong>die</strong> physische Gewalt und <strong>die</strong> Autorität besitzen?<br />

Page Break KGW='VIII-3.169' KSA='13.377'<br />

sie concurriren mit der Ehrfurcht vor dem Fürsten, vor dem<br />

siegreichen Eroberer, dem weisen Staatsmann.<br />

* *<br />

Nur, indem sie den Glauben erwecken, eine höhere, stärkere<br />

Gewalt in den Händen zu haben, — Gott —<br />

Es ist Nichts stark genug: man hat <strong>die</strong> Vermittlung und <strong>die</strong><br />

Dienste <strong>des</strong> Priesters nöthig.<br />

Sie stellen sich als unentbehrlich dazwischen: — sie<br />

haben als Existenzbedingung nöthig,<br />

1) daß an <strong>die</strong> absolute Überlegenheit ihres Gottes, daß an<br />

ihren Gott geglaubt wird


2) daß es keine anderen direkten Zugänge zu Gott giebt<br />

Die zweite Forderung allein schafft den Begriff der<br />

„Heterodoxie“; <strong>die</strong> erste den <strong>des</strong> „Ungläubigen“ (d.h. der an<br />

einen anderen Gott glaubt — )<br />

* *<br />

Was ist denn am Philosophen rückständig?<br />

Daß er seine Qualitäten als nothwendige und einzige<br />

Qualitäten lehrt, um zum „höchsten Gut“ zu gelangen (z.B.<br />

Dialektik, wie Plato<br />

Daß er alle Arten Mensch gradatim aufsteigen läßt zu<br />

seinem Typus als dem höchsten<br />

Daß sie geringschätzen, was sonst geschätzt wird, — daß sie<br />

eine Kluft aufreißen zwischen(1738) den obersten priesterlichen<br />

Werthen und den weltlichen<br />

daß er weiß, was wahr ist, was Gott ist, was das Ziel ist,<br />

was der Weg ist… der typische Philosoph ist hier absolut<br />

Dogmatiker; — wenn er Skepsis nöthig hat, so ist es, um von<br />

seiner Hauptsache dogmatisch reden zu dürfen<br />

Aphorism n=12343 id='VIII.14[190]' kgw='VIII-3.169' ksa='13.377'<br />

Das Problem der Unterdrückten<br />

Ich sehe nicht ab, ob <strong>die</strong> Semiten nicht schon in sehr alten<br />

Zeiten unter der entsetzlichen Knechtschaft der Hindus gewesen sind:<br />

Page Break KGW='VIII-3.170' KSA='13.378'<br />

als Tschandala's, so daß damals einige Eigenthümlichkeiten<br />

bereits festgewurzelt sind, <strong>die</strong> zum Typus <strong>des</strong> Geknechteten<br />

und Verachteten gehören ( — wie später in Aegypten).<br />

Später ennobliren sie sich, in dem Grade, in dem sie<br />

kriegerisch werden… Und eigene Länder, eigene Götter<br />

sich erobern. Die semitische Götterbildung ist historisch<br />

zusammenfallend mit ihrem Eintritt in <strong>die</strong> Geschichte…<br />

Der „Geist“, <strong>die</strong> zähe Geduld, <strong>die</strong> verachteten Gewerbe<br />

Der offizielle Begriff <strong>des</strong> Tschandala ist genau der eines<br />

Auswurfs und Excrements der vornehmen Classen…<br />

Aphorism n=12344 id='VIII.14[191]' kgw='VIII-3.170' ksa='13.378'<br />

Plato ist ganz im Geiste Manu's: man hat ihn in Aegypten<br />

eingeweiht. Die Moral der Kasten, der Gott der Guten, <strong>die</strong><br />

„ewige einzige Seele“<br />

— Plato der Brahmanist<br />

— Pyrrho der Buddhist<br />

copirt: der Typus <strong>des</strong> Philosophen.<br />

<strong>die</strong> Kasten


<strong>die</strong> Trennung der Lehre in Esoterisch und Exoterisch<br />

<strong>die</strong> „große Seele“<br />

<strong>die</strong> Seelenwanderung als umgekehrter Darwinismus ( — ist<br />

nicht griechisch)<br />

Aphorism n=12345 id='VIII.14[192]' kgw='VIII-3.170' ksa='13.378'<br />

Begriff „Egoismus“<br />

Es gehört zum Begriff <strong>des</strong> Lebendigen, daß es wachsen muß,<br />

— daß es seine <strong>Macht</strong> erweitert und folglich fremde Kräfte in<br />

sich hineinnehmen muß. Man redet, unter der Benebelung durch<br />

<strong>die</strong> Moral-Narkose, von einem Recht <strong>des</strong> Individuums, sich zu<br />

vertheidigen: im gleichen Sinne dürfte man auch von seinem<br />

Rechte anzugreifen reden: denn Bei<strong>des</strong> — und das Zweite<br />

noch mehr als das Erste — sind Necessitäten für je<strong>des</strong><br />

Page Break KGW='VIII-3.171' KSA='13.379'<br />

Lebendige — der aggressive und der defensive Egoismus sind nicht<br />

Sache der Wahl oder gar <strong>des</strong> „freien Willens“, sondern <strong>die</strong><br />

Fatalität <strong>des</strong> Lebens selbst.<br />

Hierbei gilt es gleich, ob man ein Individuum oder einen<br />

lebendigen Körper, eine aufwärtsstrebende „Gesellschaft“ ins<br />

Auge faßt. Das Recht zur Strafe (oder <strong>die</strong> gesellschaftliche<br />

Selbstvertheidigung) ist im Grunde nur durch einen Mißbrauch zum<br />

Worte „Recht“ gelangt: ein Recht wird durch Verträge erworben,<br />

— aber das Sich-wehren und Sich-vertheidigen ruht nicht<br />

auf der Basis eines Vertrags. Wenigstens dürfte ein Volk mit<br />

ebensoviel gutem Sinn sein Eroberungsbedürfniß, sein <strong>Macht</strong>gelüst,<br />

sei es mit Waffen, sei es durch Handel, Verkehr und Colonisation<br />

als Recht bezeichnen, — Wachsthums-Recht etwa. Eine<br />

Gesellschaft, <strong>die</strong> endgültig und ihrem Instinkt nach den<br />

Krieg und <strong>die</strong> Eroberung abweist, ist im Niedergang: sie ist reif<br />

für Demokratie und Krämerregiment… In den meisten Fällen<br />

freilich sind <strong>die</strong> Friedensversicherungen bloße Betäubungsmittel<br />

Aphorism n=12346 id='VIII.14[193]' kgw='VIII-3.171' ksa='13.379'<br />

Im alten Strafrecht war ein religiöser Begriff mächtig:<br />

der der sühnenden Kraft der Strafe. Die Strafe reinigt: in der<br />

modernen Welt befleckt sie. Die Strafe ist eine Abzahlung: man<br />

ist wirklich das los, für was man so viel hat leiden wollen.<br />

Gesetzt daß an <strong>die</strong>se Kraft der Strafe geglaubt wird, so giebt es<br />

hinterdrein eine Erleichterung und ein Aufathmen,<br />

das wirklich einer neuen Gesundheit, einer Wiederherstellung<br />

nahe kommt. Man hat nicht nur seinen Frieden wieder mit der<br />

Gesellschaft gemacht, man ist vor sich selbst auch wieder


achtungswürdig geworden, — „rein“… Heute isolirt <strong>die</strong> Strafe noch<br />

mehr als das Vergehen; das Verhängniß hinter einem Vergehen<br />

ist dergestalt gewachsen, daß es unheilbar geworden ist.<br />

Man kommt als Feind der Gesellschaft aus der Strafe heraus<br />

… Von jetzt ab giebt es einen Feind mehr…<br />

Page Break KGW='VIII-3.172' KSA='13.380'<br />

Das jus talionis kann diktirt sein durch den Geist der<br />

Vergeltung (d.h. durch eine Art Mäßigung <strong>des</strong> Rache-Instinkts);<br />

aber bei Manu z.B. ist es das Bedürfniß, ein Äquivalent zu<br />

haben, um zu sühnen, um religiös wieder „frei“ zu sein<br />

Aphorism n=12347 id='VIII.14[194]' kgw='VIII-3.172' ksa='13.380'<br />

Der Philosoph gegen <strong>die</strong> Rivalen, z.B. gegen <strong>die</strong><br />

Wissenschaft<br />

: da wird er Skeptiker<br />

: da behälter sich eine Form der Erkenntniß vor, <strong>die</strong><br />

er dem wissenschaftlichen Menschen abstreitet<br />

: da geht er mit dem Priester Hand in Hand, um nicht(1739) den<br />

Verdacht <strong>des</strong> Atheismus, Materialismus zu erregen<br />

: er betrachtet einen Angriff auf sich als einen Angriff auf <strong>die</strong><br />

Moral, <strong>die</strong> Tugend, <strong>die</strong> Religion, <strong>die</strong> Ordnung — er weiß seine<br />

Gegner als „Verführer“ und „Unterminirer“ in Verruf zu<br />

bringen<br />

— da geht er mit der <strong>Macht</strong> Hand in Hand<br />

Der Philosoph im Kampf mit anderen Philosophen:<br />

: er sucht sie dahin zu drängen, als Anarchisten, Ungläubige,<br />

Gegner der Autorität zu erscheinen<br />

In summa: soweit er kämpft, kämpft er ganz wie ein<br />

Priester, wie eine Priesterschaft.<br />

Aphorism n=12348 id='VIII.14[195]' kgw='VIII-3.172' ksa='13.380'<br />

Wie eine Jasagende arische Religion, <strong>die</strong> Ausgeburt der<br />

herrschenden Classen, aussieht:<br />

das Gesetzbuch Manu's.<br />

Wie eine Jasagende semitische Religion, <strong>die</strong> Ausgeburt<br />

der herrschenden Classen, aussieht:<br />

das Gesetzbuch Muhammeds. Das alte Testament, in den<br />

älteren Theilen<br />

Wie eine Nein-sagende semitische Religion, als Ausgeburt<br />

der unterdrückten Klassen, aussieht:<br />

Page Break KGW='VIII-3.173' KSA='13.381'


nach indisch-arischen Begriffen: das neue Testament — eine<br />

Tschandala-Religion<br />

Wie eine Neinsagende arische Religion aussieht,<br />

gewachsen unter den herrschenden Ständen<br />

.: der Buddhismus.<br />

Es ist vollkommen in Ordnung, daß wir keine Religion<br />

unterdrückter arischer Rassen haben: denn das ist ein<br />

Widerspruch: eine Herrenrasse ist obenauf oder geht zu Grunde.<br />

Aphorism n=12349 id='VIII.14[196]' kgw='VIII-3.173' ksa='13.381'<br />

Egoismus<br />

Grundsatz: nur Einzelne fühlen sich verantwortlich.<br />

Die Vielheiten sind erfunden, um Dinge zu thun, zu denen der<br />

Einzelne nicht den Muth hat.<br />

Eben <strong>des</strong>halb sind alle Gemeinwesen, Gesellschaften hundert<br />

Mal aufrichtiger und belehrender über das Wesen<br />

<strong>des</strong> Menschen als das Individuum, welches zu schwach ist, um den<br />

Muth zu seinen Begierden zu haben…<br />

Der ganze „Altruismus“ ergiebt sich als Privatmann-Klugheit:<br />

<strong>die</strong> Gesellschaften sind nicht „altruistisch“ gegen<br />

einander…<br />

Das Gebot der Nächstenliebe ist noch niemals zu einem<br />

Gebote der Nachbar-Liebe erweitert worden. Vielmehr gilt da noch,<br />

was bei Manu steht…<br />

Die „Toleranz“<br />

Das Studium der Gesellschaft ist <strong>des</strong>halb so unschätzbar, weil<br />

der Mensch als Gesellschaft viel naiver ist als der Mensch als<br />

„Einheit“.<br />

Die „Gesellschaft“ hat <strong>die</strong> Tugend nie anders angesehen<br />

als als Mittel der Stärke, der <strong>Macht</strong>, der Ordnung.<br />

Wie einfältig und würdig sagt es Manu: — — —<br />

Page Break KGW='VIII-3.174' KSA='13.382'<br />

Aphorism n=12350 id='VIII.14[197]' kgw='VIII-3.174' ksa='13.382'<br />

„Lohn und Strafe“… Das lebt miteinander, das verfällt mit<br />

einander. Heute will man nicht belohnt sein, man will Niemanden<br />

anerkennen, der straft…<br />

Man hat den Kriegsfuß hergestellt: man will etwas, man<br />

hat Gegner dabei, man erreicht es vielleicht am vernünftigsten,<br />

wenn man sich verträgt, — wenn man einen Vertrag<br />

macht<br />

Eine moderne Gesellschaft, bei der jeder Einzelne seinen<br />

„Vertrag“ gemacht hat: der Verbrecher ist ein Vertragsbrüchiger…<br />

Das wäre ein klarer Begriff. Aber dann könnte man nicht


Anarchisten und principielle Gegner einer Gesellschaftsform<br />

innerhalb derselben dulden…<br />

Aphorism n=12351 id='VIII.14[198]' kgw='VIII-3.174' ksa='13.382'<br />

„Bei Gott ist kein Ding unmöglich“ denkt der Christ. Aber<br />

der Inder sagt: bei Frömmigkeit und Wissenschaft <strong>des</strong> Veda ist<br />

kein Ding unmöglich: <strong>die</strong> Götter sind denen unterworfen und<br />

gehorsam. Wo ist der Gott, der dem frommen Ernst und Gebet<br />

eines in den Wald zurückgezogenen Yati widerstehen könnte?<br />

Wie ein Stein, den man in den See wirft, im Augenblick<br />

verschwindet, so tauchen <strong>die</strong> Sünden unter und verschwinden in der<br />

Wissenschaft <strong>des</strong> Veda.<br />

Aphorism n=12352 id='VIII.14[199]' kgw='VIII-3.174' ksa='13.382'<br />

Herkunft der Moral<br />

Der Priester will durchsetzen, daß er als höchster<br />

Typus <strong>des</strong> Menschen gilt<br />

daß er herrscht, — auch noch über <strong>die</strong>, welche <strong>die</strong> <strong>Macht</strong><br />

in den Händen haben<br />

daß er unverletzlich ist, unangreifbar…<br />

daß er <strong>die</strong> stärkste <strong>Macht</strong> in der Gemeinde ist, absolut<br />

nicht zu ersetzen und zu unterschätzen<br />

Page Break KGW='VIII-3.175' KSA='13.383'<br />

Mittel.<br />

Er allein ist der Wissende.<br />

Er allein ist der Tugendhafte.<br />

Er allein hat <strong>die</strong> höchste Herrschaft über sich<br />

Er allein ist in einem gewissen Sinn Gott und geht zurück<br />

in <strong>die</strong> Gottheit<br />

Er allein ist <strong>die</strong> Zwischenperson zwischen Gott und den<br />

Anderen<br />

Die Gottheit straft jeden Nachtheil, jeden Gedanken wider<br />

einen Priester gerichtet<br />

Mittel<br />

Die Wahrheit existirt.<br />

Es giebt nur eine Form, sie zu erlangen: Priester werden<br />

Alles, was gut ist, in der Ordnung, in der Natur, in dem<br />

Herkommen, geht auf <strong>die</strong> Weisheit der Priester zurück.<br />

Das heilige Buch ist ihr Werk. Die ganze Natur ist nur eine<br />

Ausführung der Satzungen darin<br />

Es giebt keinen anderen Quell <strong>des</strong> Guten als den Priester


Alle andere Art von Vortrefflichkeit ist rangverschieden<br />

von der <strong>des</strong> Priesters z.B. <strong>die</strong> <strong>des</strong> Kriegers<br />

Consequenz:<br />

wenn der Priester der höchste Typus sein soll: so muß<br />

<strong>die</strong> Gradation zu seinen Tugenden <strong>die</strong> Werthgradation<br />

der Menschen ausmachen.<br />

Das Studium, <strong>die</strong> Entsinnlichung, das Nicht-Aktive,<br />

das Impassible, Affektlose, das Feierliche.<br />

— Gegensatz (<strong>die</strong> tiefste Gattung Mensch: — — —<br />

Das Furchteinflößen<br />

<strong>die</strong> Gebärden, <strong>die</strong> hieratischen Manieren<br />

der Exceß der Verachtung <strong>des</strong> Leibes und der Sinne<br />

— <strong>die</strong> Widernatur als Anzeichen der Übernatur<br />

Page Break KGW='VIII-3.176' KSA='13.384'<br />

Der Priester hat Eine Art Moral gelehrt: um selbst<br />

als höchster Typus empfunden zu werden<br />

Er concipirt einen Gegensatz-Typus: den Tschandala.<br />

Diesen mit allen Mitteln verächtlich zu machen giebt <strong>die</strong><br />

Folie ab für <strong>die</strong> Kasten-Ordnung<br />

seine extreme Angst vor der Sinnlichkeit ist zugleich<br />

bedingt durch <strong>die</strong> Einsicht, daß hier <strong>die</strong> Kasten-Ordnung<br />

(d.h. <strong>die</strong> Ordnung überhaupt) am schlimmsten bedroht ist<br />

… Jede „freiere Tendenz“ in puncto puncti wirft <strong>die</strong><br />

Ehegesetzgebung über den Haufen —<br />

Aphorism n=12353 id='VIII.14[200]' kgw='VIII-3.176' ksa='13.384'<br />

An <strong>die</strong>ser Conception ist Einiges bewunderungswürdig:<br />

z.B. <strong>die</strong> absolute Abtrennung der Auswurf-Stoffe<br />

der Gesellschaft, mit der Tendenz, sie zu Grunde zu richten.<br />

Sie begriffen, was ein lebendiger Körper nöthig hat, — <strong>die</strong><br />

kranken Glieder ausschneiden…<br />

1) Sie ist auf eine bewunderungswürdige Weise fern von der<br />

schlaffen Instinkt-Entartung, welche man jetzt „Humanität“<br />

nennt…<br />

Sodann <strong>die</strong> Degradation aus einer Kaste in <strong>die</strong> andere…<br />

Sodann <strong>die</strong> Formulirung der Ehe: <strong>die</strong> Stellung der<br />

„Liebesheirath“ (<strong>die</strong> Art der „himmlischen Musiker“: — — —<br />

2) der Kampf gegen den Alcoholismus… p. 332.<br />

3) ihre vollkommene Würdigung <strong>des</strong> hohen Alters, <strong>des</strong><br />

Weibes p 127<br />

4) sie gehen davon aus, den Menschen ehrwürdig zu<br />

machen, vor sich selber: sie haben nöthig, selbst das Natürlichste


zu transfiguriren, dadurch daß sie <strong>die</strong> Pflicht, als heilige<br />

Observanz dem Gefühl entgegenführen<br />

Page Break KGW='VIII-3.177' KSA='13.385'<br />

Aphorism n=12354 id='VIII.14[201]' kgw='VIII-3.177' ksa='13.385'<br />

Die Kasten begriffen als eine Arbeitstheilung,<br />

andrerseits als einzige Form, <strong>die</strong> vollkommene Leistung<br />

instinktiv zu machen…<br />

das Wesentliche ist <strong>die</strong> Tradition der Arbeit, <strong>die</strong> Mechanik,<br />

welche ebendamit, durch Geschlechter hindurch, vollkommen<br />

wird…<br />

Aphorism n=12355 id='VIII.14[202]' kgw='VIII-3.177' ksa='13.385'<br />

Wenn <strong>die</strong> Einigung eines jungen Mannes und eines jungen<br />

Mädchens <strong>die</strong> Frucht einer gegenseitigen Wahl ist, so heißt <strong>die</strong>se<br />

Einigung, geboren, wie sie ist, aus der Liebe und <strong>die</strong> Liebe zum<br />

Zweck habend:<br />

<strong>die</strong> Art der „himmlischen Musiker“<br />

Die 4 letzteren Arten Ehe bringen nur Verschwender,<br />

Händelsuchende, Lügner als Kinder hervor, <strong>die</strong> <strong>die</strong> heilige Schrift<br />

und <strong>die</strong> Pflichten, welche sie vorschreibt, nicht kennen<br />

Aus honnetten und lobenswerthen Ehen entstehen honnette<br />

und lobenswerthe Kinder; aber <strong>die</strong> schlechten Ehen sehen nur eine<br />

verächtliche Nachkommenschaft.<br />

Das Lob der Jungfrau: p. 225<br />

Aphorism n=12356 id='VIII.14[203]' kgw='VIII-3.177' ksa='13.385'<br />

Kritik Manus:<br />

Reduktion der Natur auf <strong>die</strong> Moral: einen Strafzustand<br />

<strong>des</strong> Menschen: es giebt keine natürlichen Wirkungen — <strong>die</strong><br />

Ursache ist das Brahman.<br />

Reduktion der menschlichen Triebfedern auf <strong>die</strong><br />

Furcht vor der Strafe und <strong>die</strong> Hoffnung auf<br />

Lohn: d.h. vor dem Gesetz, das Bei<strong>des</strong> in der Hand<br />

hat…<br />

Man hat absolut conform dem Gesetz zu leben: das<br />

Vernünftige wird gethan, weil es befohlen ist; der naturgemäßeste<br />

Instinkt wird befriedigt, weil das Gesetz es vorgeschrieben hat.<br />

Page Break KGW='VIII-3.178' KSA='13.386'


Das ist eine Schule der Verdummung: in einer solchen<br />

Theologen-Brutanstalt (wo auch der junge Militär und Ackerbauer<br />

einen neunjährigen Cursus Theologie durchmachen muß,<br />

um „constant“ zu werden — den neunjährigen „Militär<strong>die</strong>nst“<br />

der 3 obersten Kasten) müssen <strong>die</strong> Tschandala's <strong>die</strong> Intelligenz<br />

und selbst das Interessante für sich gehabt haben. Sie waren <strong>die</strong><br />

einzigen, welche <strong>die</strong> wahre Quelle <strong>des</strong> Wissens, <strong>die</strong> Empirie<br />

zugänglich hatten… Hinzugerechnet <strong>die</strong> Inzucht der<br />

Kasten…<br />

Es fehlt <strong>die</strong> Natur, <strong>die</strong> Technik, <strong>die</strong> Geschichte, <strong>die</strong> Kunst, <strong>die</strong><br />

Wissenschaft, — — —<br />

Aphorism n=12<strong>357</strong> id='VIII.14[204]' kgw='VIII-3.178' ksa='13.386'<br />

Man redet heute viel von dem semitischen Geiste <strong>des</strong><br />

neuen Testaments: aber was man so nennt, ist bloß<br />

priesterlich, — und im arischen Gesetzbuche reinster Rasse, im<br />

Manu, ist <strong>die</strong>se Art „Semitismus“ d.h. Priester-Geist<br />

schlimmer als irgendwo.<br />

* * *<br />

Die Entwicklung <strong>des</strong> jüdischen Priesterstaates ist nicht<br />

original: sie haben das Schema in Babylon kennen gelernt: das<br />

Schema ist arisch. Wenn dasselbe später wieder, unter dem<br />

Übergewicht <strong>des</strong> germanischen Bluts, in Europa dominirte, so war<br />

<strong>die</strong>s dem Geiste der herrschenden Rasse gemäß: ein großer<br />

Atavismus. Das germanische Mittelalter war auf<br />

Wiederherstellung der arischen Kasten-Ordnung aus.<br />

* * *<br />

Muhammedanismus hat von den Christen wiederum gelernt:<br />

<strong>die</strong> Benutzung <strong>des</strong> „Jenseits“ als Straf-Organ.<br />

* *<br />

Das Schema eines unveränderlichen Gemeinwesens,<br />

mit Priestern an der Spitze: das älteste große Cultur-Produkt<br />

Asiens im Gebiete der Organisation — muß natürlich<br />

Page Break KGW='VIII-3.179' KSA='13.387'<br />

in jeder Beziehung zum Nachdenken und Nachmachen<br />

aufgefordert haben.<br />

Noch Plato: aber vor allen <strong>die</strong> Aegypter.<br />

Aphorism n=12<strong>358</strong> id='VIII.14[205]' kgw='VIII-3.179' ksa='13.387'<br />

Eins wird am schwersten verziehen: daß man sich selbst achtet.<br />

Ein solches Wesen ist einfach abominabel: er bringt ja an's Licht,<br />

was es mit der Toleranz, der einzigen Tugend der Übrigen und<br />

Aller auf sich hat…


Ich wollte, man fienge damit an, sich selbst zu achten:<br />

Alles Andere folgt daraus. Freilich hört man eben damit für<br />

<strong>die</strong> Anderen auf: denn das gerade verzeihen sie am letzten. Wie?<br />

Ein Mensch der sich selbst achtet?<br />

Das ist etwas Anderes als der blinde Trieb, sich selbst zu<br />

lieben: nichts ist gewöhnlicher, in der Liebe der Geschlechter,<br />

wie in der Zweiheit, welche „ich“ genannt wird, als<br />

Verachtung gegen das, was man liebt, der Fatalismus in der<br />

Liebe —<br />

Aphorism n=12359 id='VIII.14[206]' kgw='VIII-3.179' ksa='13.387'<br />

Gegen das Contagium der Neurose<br />

Wahl der Orte, Sachen, Bücher,<br />

Der Alkoholismus<br />

und <strong>die</strong> Musik…<br />

das klimatische und meteorologische optimum wählen;<br />

insgleichen das Culinarische<br />

Verminderung der Zahl der Eindrücke:<br />

Zeiten reserviren wo kein Buch und kein Ding zu uns<br />

redet, — geschweige ein Mensch…<br />

Wiederherstellungs-Zeiten, régime Genua; der Gesün<strong>des</strong>te<br />

hat solche Zeiten heute nöthig: — Fasten-Zeiten —<br />

Gegen den Vegetarismus: — — —<br />

Page Break KGW='VIII-3.180' KSA='13.388'<br />

Aphorism n=12360 id='VIII.14[207]' kgw='VIII-3.180' ksa='13.388'<br />

Wir sind Tschandala: und unsere Künstler und Artisten<br />

voran…<br />

Aphorism n=12361 id='VIII.14[208]' kgw='VIII-3.180' ksa='13.388'<br />

weshalb Alles Schauspielerei wird?<br />

dem modernen Menschen fehlt:<br />

der sichere Instinkt (Folge einer langen gleichartigen<br />

Thätigkeitsform einer Art Mensch)<br />

<strong>die</strong> Unfähigkeit etwas Vollkommenes zu leisten ist<br />

bloß <strong>die</strong> Folge davon: — man kann als Einzelner <strong>die</strong> Schule nie<br />

nachholen


Aphorism n=12362 id='VIII.14[209]' kgw='VIII-3.180' ksa='13.388'<br />

Die Zeiten, wo man mit Lohn und Strafe den Menschen<br />

lenkt, haben eine niedere noch primitive Art Mensch im Auge:<br />

das ist wie bei Kindern…<br />

Inmitten unserer späten Cultur ist <strong>die</strong> Fatalität und <strong>die</strong><br />

Degenerescenz etwas, das vollkommen den Sinn von Lohn und<br />

Strafe aufhebt…<br />

— es setzt junge, starke, kräftige Rassen voraus, <strong>die</strong>ses<br />

wirkliche Bestimmen der Handlung durch Lohn- und Straf-Aussicht…<br />

in alten Rassen sind <strong>die</strong> Impulse so unwiderstehlich,<br />

daß eine bloße Vorstellung ganz ohnmächtig ist…<br />

nicht Widerstand leisten können, wo ein Reiz gegeben ist,<br />

sondern ihm folgen müssen: <strong>die</strong>se extreme Irritabilität der<br />

décadents macht solche Straf- und Besserungs-Systeme<br />

vollkommen sinnlos…<br />

* *<br />

Der Begriff „Besserung“ beruht(1740) auf der Voraussetzung<br />

eines normalen und starken Menschen, <strong>des</strong>sen Einzel-Handlung<br />

irgendwie wieder ausgeglichen werden soll, um ihn nicht<br />

zu verlieren, um ihn nicht als Feind zu haben…<br />

Page Break KGW='VIII-3.181' KSA='13.389'<br />

Aphorism n=12363 id='VIII.14[210]' kgw='VIII-3.181' ksa='13.389'<br />

Die Decadence-Moralen haben das eigenthümlich, daß sie<br />

eine Praxis, ein Regime, empfehlen, welche <strong>die</strong> décadence<br />

beschleunigt…<br />

— sowohl physiologisch, als psychologisch: der Instinkt der<br />

Reparation und Plastik fungirt nicht mehr…<br />

— sie glauben Heilung, Erlösung auch welche, an<br />

<strong>die</strong> das Nichts, <strong>die</strong> tiefste Erschöpfung stößt<br />

— sie suchen das Gleichartige zusammen aus allen Dingen,<br />

Zuständen und Zeiten: Beispiel <strong>die</strong> Gebrüder Goncourt…<br />

Aphorism n=12364 id='VIII.14[211]' kgw='VIII-3.181' ksa='13.389'<br />

Die Energie der Gesundheit verräth sich bei Kranken<br />

in dem brüsken Widerstande gegen <strong>die</strong> krankmachenden Elemente…<br />

einer Reaktion <strong>des</strong> Instinkts, z.B. gegen Musik bei mir —<br />

Aphorism n=12365 id='VIII.14[212]' kgw='VIII-3.181' ksa='13.389'<br />

Die Bestimmung <strong>des</strong> Weibes ist, <strong>die</strong> Familie durch Kinder


fortzusetzen, <strong>die</strong> <strong>des</strong> Mannes <strong>die</strong>se zu zeugen: <strong>die</strong>se doppelte<br />

Pflicht, für <strong>die</strong> Mann und Weib zusammen thätig sind, hat ihre<br />

Heiligung durch <strong>die</strong> Schrift.<br />

Welche sind zu betrachten als <strong>die</strong> Schuldigsten? Der Mörder<br />

eines Brahmanen, der Trinker von Spirituosen, der, welcher das<br />

Weib seines geistlichen Rathgebers verführt<br />

Nach der vorgeschriebenen Sühnung soll er <strong>die</strong>se zum Tode<br />

oder zu anderen körperlichen Strafen verurtheilen. Er soll <strong>die</strong><br />

Stirn <strong>des</strong>sen, der <strong>die</strong> Frau seines Rathgebers verführt hat, mit<br />

dem Bild <strong>des</strong> weiblichen Geschlechtstheils stigmatisiren, den Trinker<br />

von Spirituosen mit dem Zeichen <strong>des</strong> Destillations-Instrumentes,<br />

den Mörder eines Brahmanen mit dem Bilde eines Leibes ohne<br />

Kopf.<br />

Page Break KGW='VIII-3.182' KSA='13.390'<br />

Aphorism n=12366 id='VIII.14[213]' kgw='VIII-3.182' ksa='13.390'<br />

Ein solches Gesetzbuch resümirt <strong>die</strong> Erfahrung, Klugheit und<br />

experimentelle Moral von langen Jahrhunderten: es schließt ab,<br />

es beendet eine Epoche, es schafft Nichts mehr —<br />

Die Mittel, einer schwer und kostspielig erworbenen Wahrheit<br />

Autorität zu schaffen, sind grundverschieden von den Mitteln,<br />

mit denen man sie beweisen würde. Ein Gesetzbuch<br />

beweist niemals den Nutzen und den Nachtheil einer Vorschrift:<br />

es zeigt nur <strong>die</strong> schlimmen Folgen für das Individuum, wenn es<br />

ein Gesetz als Gesetz nicht hält, — wenn es ungehorsam ist.<br />

Alle natürlichen schlimmen Folgen einer Gesetzes-Übertretung<br />

werden nie in Hinsicht auf <strong>die</strong>se Natürlichkeit in Betracht<br />

gezogen: sondern <strong>die</strong> schlimme Folge ist eine übernatürliche<br />

Strafe, für <strong>die</strong> Nicht-Befolgung einer Vorschrift.<br />

Das Problem ist <strong>die</strong>s: in einem gewissen Moment der<br />

Geschichte <strong>des</strong> Volks erklärt <strong>die</strong> intelligenteste Schicht <strong>des</strong>selben <strong>die</strong><br />

Erfahrung, wonach gelebt oder nicht gelebt werden darf, für<br />

abgeschlossen. Ihr Ziel geht darauf, <strong>die</strong> Ernte möglichst reich und<br />

vollständig heimzubringen von den langen Perioden <strong>des</strong> Experiments<br />

und der schlimmen Erfahrung…<br />

Was jetzt vor allem zu verhüten ist, das ist das<br />

Neu-Experimentiren, das Fortfahren-Wollen in der Prüfung und<br />

Auswahl: dem wird eine doppelte Mauer entgegengestellt 1) <strong>die</strong><br />

Offenbarung 2) <strong>die</strong> Tradition. Bei<strong>des</strong> sind heilige Lügen:<br />

der intelligente Stand der sie erfindet, versteht sie so gut<br />

als Plato sie verstand.<br />

Die Offenbarung: das ist <strong>die</strong> Behauptung, daß <strong>die</strong> Vernunft<br />

jener Gesetze nicht menschlichen Ursprungs, nicht langsam<br />

und mit Fehlgriffen gesucht und gefunden ist, sondern daß sie mit<br />

Einem Mal von der Gottheit mitgetheilt wurde…


Die Tradition: das ist <strong>die</strong> Behauptung, daß es bereits<br />

seit uralten Zeiten so gewesen wäre. Genug, eine principielle<br />

Umfälschung der ganzen Geschichte eines Volks. (Beispiel <strong>die</strong> jüdische<br />

Page Break KGW='VIII-3.183' KSA='13.391'<br />

Umdeutung nach dem Exil, — das Mißverstehen wollen<br />

ihrer Vergangenheit)<br />

1) es ist gottlos, das Gesetz zu kritisiren<br />

2) es ist pietätlos, — es ist ein Verbrechen an den<br />

Vorfahren — man reizt sie gegen sich auf —<br />

Aphorism n=12367 id='VIII.14[214]' kgw='VIII-3.183' ksa='13.391'<br />

Das Weib, das seinen Gatten von sich stößt, weil er <strong>die</strong> Passion<br />

<strong>des</strong> Spiels oder der geistigen Getränke hat, an Stelle, daß sie ihn<br />

wie einen Kranken pflegt, soll drei Monate in <strong>die</strong> inneren<br />

Gemächer eingesperrt werden, ohne jedweden Putz und Zierat (avis<br />

an George Eliot!)<br />

Aphorism n=12368 id='VIII.14[215]' kgw='VIII-3.183' ksa='13.391'<br />

Transfiguration der natürlichen Folgen einer Handlung<br />

es giebt keine natürlichen Folgen mehr: sondern der<br />

Ungehorsam wird bestraft, und <strong>die</strong> Tugend wird belohnt.<br />

das Glück, das lange Leben, <strong>die</strong> Nachkommenschaft — alles<br />

sind Folgen der Tugend, vermittelt durch <strong>die</strong> ewige Ordnung der<br />

Dinge —<br />

<strong>die</strong> Unreinlichkeit z.B. wird verboten, nicht, weil ihre Folgen<br />

der Gesundheit schaden: sondern, weil sie verboten ist,<br />

schadet sie der Gesundheit…<br />

* *<br />

Also, principiell: <strong>die</strong> natürliche Folge einer Handlung<br />

wird dargestellt, als Lohn oder Strafe, je nachdem etwas geboten<br />

oder verboten ist…<br />

dazu ist nöthig, daß <strong>die</strong> größte Menge der Strafen eben<br />

nicht natürliche sind, sondern übernatürliche, jenseitige, bloß<br />

zukünftige…<br />

* *<br />

Also, principiell: jeder Nachtheil, je<strong>des</strong> Unglück ist Beweis von<br />

Verschuldung: selbst jede niedrige Existenzform (<strong>die</strong><br />

Thiere z.B.)<br />

Page Break KGW='VIII-3.184' KSA='13.392'<br />

Die Welt ist vollkommen: vorausgesetzt, daß dem Gesetz<br />

Genüge geschieht. Die ganze Unvollkommenheit


kommt vom Ungehorsam gegen das Gesetz.<br />

* * *<br />

Die oberste Kaste hat, als <strong>die</strong> vollkommene, auch das Glück<br />

darzustellen: <strong>des</strong>halb ist nichts unangemessener als der<br />

Pessimismus und <strong>die</strong> Entrüstung…<br />

kein Zorn, keine Entgegnung im Schlimmen —<br />

<strong>die</strong> Askese nur als Mittel zu höherem Glück, zur Erlösung von<br />

Vielem<br />

<strong>die</strong> oberste Klasse hat ein Glück aufrecht zu erhalten,<br />

unter dem Preis, den unbedingten Gehorsam, jede Art von Härte,<br />

Selbstbezwingung und Strenge gegen sich darzustellen — sie will<br />

als <strong>die</strong> ehrwürdigste Art Mensch empfunden werden, — auch als<br />

<strong>die</strong> bewundernswertheste: folglich kann sie nicht jede Art Glück<br />

brauchen —<br />

Aphorism n=12369 id='VIII.14[216]' kgw='VIII-3.184' ksa='13.392'<br />

Kritik <strong>des</strong> Gesetzes.<br />

Die höhere Vernunft einer solchen Prozedur ist, das<br />

Bewußtsein Schritt für Schritt von dem als richtig erkannten<br />

Leben zurückzudrängen: so daß ein vollkommener Automatismus<br />

<strong>des</strong> Instinktes erreicht wird<br />

— d.h. <strong>die</strong> Voraussetzung jeder Art Meisterschaft<br />

Es ist fromm, es ist üblich, es ist das Abzeichen braver und<br />

hochsinniger Menschen, so und so zu handeln: — das bleibt übrig:<br />

<strong>die</strong> Herkunft, <strong>die</strong> Nützlichkeit, <strong>die</strong> Vernunft der Vorschrift<br />

wird aus dem Bewußtsein verdrängt.<br />

Das wesentlichste Mittel zu <strong>die</strong>ser Verdrängung ist, daß<br />

zwei andere Begriffe mit ungeheurer Gewalt in den Vordergrund<br />

treten: beide das eigentliche Nachdenken über <strong>die</strong> Herkunft und<br />

<strong>die</strong> Kritik <strong>des</strong> Gesetzes ausschließend…<br />

1) der Lohn<br />

2) <strong>die</strong> Strafe<br />

Page Break KGW='VIII-3.185' KSA='13.393'<br />

„Jeder Mensch, der eine Strafe für ein Vergehen empfangen<br />

hat auf Befehl <strong>des</strong> Königs, geht zum Himmel frei von jeder<br />

Befleckung, eben so rein wie der, der immer nur das Gute geübt hat.“<br />

Es wird eine Sache der obersten Selbsterhaltung, <strong>des</strong> „Eins<br />

ist Noth“, hier absolut zu gehorchen… Es wird zur höchsten<br />

Unklugheit umgestempelt, hier nicht zu gehorchen —<br />

Der Egoismus wird in's Spiel gezogen, dergestalt, daß<br />

Gehorchen und Nichtgehorchen wie Glück und tiefste<br />

Selbstbenachtheiligung sich gegenüber treten<br />

Zu <strong>die</strong>sem Zwecke wird das ganze Leben in eine Jenseits-Perspektive<br />

gesetzt, so daß es als folgenreich im allererschreckendsten<br />

Sinne begriffen wird…<br />

— <strong>die</strong> relative Unsterblichkeit ist das große


Vergrößerungsglas, um den Begriff Strafe… Lohn unerhört zu<br />

steigern.<br />

Diese Weisen glauben nicht daran: — sonst würden sie es<br />

nicht erfinden…<br />

Aphorism n=12370 id='VIII.14[217]' kgw='VIII-3.185' ksa='13.393'<br />

Eine Kaste, welche alle Wehr- und Angriffs-Arbeit, selbst in<br />

der Gesinnung von sich abgelehnt hat, — und den Begriff „gut“<br />

streng nimmt…<br />

Aphorism n=12371 id='VIII.14[218]' kgw='VIII-3.185' ksa='13.393'<br />

Der „gute Mensch“, als ein Gebilde der décadence, der „sich<br />

ergiebt“, der den Nachtheil alles Feind-seins, alles Zürnens und<br />

Sich-rächenwollens begreift, — der zu schwach ist, zu<br />

nervenschwach dazu…<br />

Der „gute Mensch“, aus Stärke, aus <strong>Macht</strong>fülle, als herrschender<br />

Typus, der sich eine Existenz ausgewählt hat, <strong>die</strong> ihn<br />

der Nöthigung enthebt, aggressive und defensive Affekte zu<br />

haben…; der eine eigene Kaste mit <strong>die</strong>se Affekten beauftragt<br />

hat… Ein solcher schafft sich nun auch einen „Gott“ nach seinem<br />

Bilde —<br />

Page Break KGW='VIII-3.186' KSA='13.394'<br />

— für ihn ist auch <strong>die</strong> Welt gerechtfertigt: das Übel hat einen<br />

pädagogischen Zweck, d.h. einen Straf-Zweck…<br />

Aphorism n=12372 id='VIII.14[219]' kgw='VIII-3.186' ksa='13.394'<br />

Schwäche <strong>des</strong> Willens: das ist ein Gleichniß, das irreführen<br />

kann. Denn es giebt keinen Willen, und folglich weder einen<br />

starken, noch schwachen Willen. Die Vielheit und Disgregation<br />

der Antriebe, der Mangel an System unter ihnen resultirt als<br />

„schwacher Wille“; <strong>die</strong> Coordination derselben unter der<br />

Vorherrschaft eines einzelnen resultirt als „starker Wille“; — im<br />

ersteren Falle ist es das Oscilliren und der Mangel an Schwergewicht;<br />

im letzteren <strong>die</strong> Präcision und Klarheit der Richtung<br />

Aphorism n=12373 id='VIII.14[220]' kgw='VIII-3.186' ksa='13.394'<br />

Die Ja-sagende Religion.


Die höchste Ehrfurcht vor dem Zeugungsakt und der<br />

Familie:<br />

Man hat <strong>die</strong> Schulden seiner(1741) Vorfahren zu bezahlen…<br />

der Instinkt der Tradition, <strong>die</strong> tiefste Verachtung<br />

gegen alles was <strong>die</strong> Tradition unterbrach…<br />

Der Instinkt gegen <strong>die</strong> Degenerescenz…<br />

Das ist zu studiren: was Alles zusammengerechnet wurde als<br />

degenerirt.<br />

Die Lasterhaften<br />

Die Geisteskranken.<br />

Die Schwer-Aussätzigen<br />

Die Huren.<br />

Die Künstler.<br />

Aphorism n=12374 id='VIII.14[221]' kgw='VIII-3.186' ksa='13.394'<br />

Die Ordnung der Kasten beruht auf der Beobachtung,<br />

daß es drei oder vier Arten Mensch giebt, zu anderer Thätigkeit<br />

bestimmt und am besten entwickelt, wie <strong>die</strong>se Thätigkeit durch<br />

Arbeitstheilung ihnen allen zusteht…<br />

Page Break KGW='VIII-3.187' KSA='13.395'<br />

eine Art Sein als Vorrecht, eine Art Thätigkeit ebenfalls<br />

<strong>die</strong> Ordnung der Kasten ist nur <strong>die</strong> Sanktionirung<br />

eines Naturabstan<strong>des</strong> zwischen mehreren physiologischen<br />

Typen (Charakteren, Temperamenten usw.)<br />

— sie ist nur <strong>die</strong> Sanktion der Erfahrung, sie geht ihr nicht<br />

voraus, noch weniger hebt sie <strong>die</strong>selbe auf…<br />

a) <strong>die</strong> geistigeren Menschen, ( — <strong>die</strong> Gelehrten, <strong>die</strong><br />

Rathgeber, <strong>die</strong> Richter, <strong>die</strong> Philosophen — ) — Lehrstand<br />

b) <strong>die</strong> muskulären Menschen, der Kriegerstand —<br />

Wehrstand<br />

c) <strong>die</strong> Handel, Landbau und Viehzucht treibenden(1742) —<br />

Nährstand<br />

d) endlich eine niedrige (unterworfene Art) von<br />

Eingeborenen, als Dienstboten-Rasse anerkannt.<br />

Hier ist überall <strong>die</strong> Voraussetzung eine wirkliche<br />

Natur-Abscheidung: der Begriff Kaste sanktionirt nur <strong>die</strong><br />

Natur-Abscheidung.<br />

Die Heiligkeit der Familie, <strong>die</strong> Solidarität von<br />

Geschlecht mit Geschlecht ist <strong>die</strong> Voraussetzung <strong>des</strong> ganzen Baues:<br />

— folglich muß sie gerade ganz und gar ins Jenseitige<br />

übersetzt werden.<br />

Man hat einen Sohn nöthig, weil nur ein Sohn erlöst…<br />

man verheirathet sich, „um <strong>die</strong> Schuld der Vorfahren zu zahlen“


Aphorism n=12375 id='VIII.14[222]' kgw='VIII-3.187' ksa='13.395'<br />

Die modernen Pessimisten als décadents:<br />

Schopenhauer<br />

Leopardi Baudelaire<br />

Mainländer Goncourt<br />

Dostoiewsky<br />

man hat den geschmacklosen Versuch gemacht, Wagner und<br />

Schopenhauer unter <strong>die</strong> Geisteskranken zu subsumiren: was der<br />

Wahrheit ganz entsprach, war <strong>die</strong> scharfe Betonung der<br />

physiologischen décadence in ihrem Typus hervorzuheben…<br />

Page Break KGW='VIII-3.188' KSA='13.396'<br />

Aphorism n=12376 id='VIII.14[223]' kgw='VIII-3.188' ksa='13.396'<br />

Die Juden machen den Versuch, sich durchzusetzen, nachdem<br />

ihnen zwei Kasten, <strong>die</strong> der Krieger und <strong>die</strong> der Ackerbauer,<br />

verloren gegangen sind<br />

sie sind in <strong>die</strong>sem Sinne <strong>die</strong> „Verschnittenen“<br />

— sie haben den Priester — und dann sofort den<br />

Tschandala…<br />

Wie billig, kommt es bei ihnen zu einem Bruch, zu einem<br />

Aufstand der Tschandala: der Ursprung <strong>des</strong> Christenthums.<br />

Damit daß sie den Krieger nur als ihren Herrn kannten,<br />

brachten sie in ihre Religion <strong>die</strong> Feindschaft gegen <strong>die</strong><br />

Vornehmen, gegen den Edeln, Stolzen, gegen <strong>die</strong> <strong>Macht</strong>, gegen<br />

<strong>die</strong> herrschenden Stände —: sie sind Entrüstungs-Pessimisten…<br />

Damit schufen sie eine wichtige neue Position: der Priester an<br />

der Spitze der Tschandala —<br />

gegen <strong>die</strong> vornehmen Stände…<br />

das Christenthum zog <strong>die</strong> letzte Consequenz <strong>die</strong>ser Bewegung:<br />

auch im jüdischen Priesterthum empfand es noch <strong>die</strong> Kaste,<br />

den Privilegirten, den Vornehmen —<br />

es strich den Priester aus —<br />

Christ ist der Tschandala, der den Priester ablehnt… Der<br />

Tschandala, der sich selbst erlöst…<br />

Deshalb ist <strong>die</strong> französische Revolution <strong>die</strong><br />

Tochter und Fortsetzerin <strong>des</strong> Christenthums… sie hat den<br />

Instinkt gegen <strong>die</strong> Kirche, gegen <strong>die</strong> Vornehmen, gegen <strong>die</strong> letzten<br />

Privilegien — —<br />

Aphorism n=12377 id='VIII.14[224]' kgw='VIII-3.188' ksa='13.396'<br />

Man muß <strong>die</strong>s nicht verwechseln: <strong>die</strong> Sudras, eine<br />

Dienstboten-Rasse: wahrscheinlich eine niedrigere Art Volk, welche<br />

vorgefunden wurde auf dem Boden, wo <strong>die</strong>se Arier Fuß faßten…


Page Break KGW='VIII-3.189' KSA='13.397'<br />

Aber der Begriff Tschandala drückt <strong>die</strong> Degenerirten aller<br />

Kasten aus: <strong>die</strong> Auswurfstoffe in Permanenz, <strong>die</strong> wiederum<br />

unter sich sich fortpflanzen<br />

wider sie redet der tiefste Instinkt der Gesundheit einer<br />

Rasse. Hier hart zu sein ist synonym mit „gesund“ sein: es ist der<br />

Ekel vor der Entartung, der hier eine Menge moralischer und<br />

religiöser Formeln findet…<br />

Nichts ist lehrreicher als <strong>die</strong> Bestandtheile <strong>die</strong>ses Auswurfs:<br />

— <strong>die</strong> alten feinen und tiefen Weisen haben gewußt, was man<br />

nicht gewußt hat — bis heute!!)<br />

: daß Laster<br />

Krankheit Symptome der<br />

Geistesstörung physiologischen<br />

Hyper-Nervosität gewisser décadence sind.<br />

geistiger Anlagen<br />

Sie rechnen <strong>die</strong> Künstler unter <strong>die</strong> décadents…<br />

Aphorism n=12378 id='VIII.14[225]' kgw='VIII-3.189' ksa='13.397'<br />

Gesetzt, es fallen <strong>die</strong> Gründe weg, um jene metaphysischen<br />

Hypothesen machen zu müssen, gesetzt, man will<br />

nicht mehr regieren, erziehen, seinen Typus als höchsten<br />

und ersten aufrecht erhalten:<br />

gesetzt, man denkt als Tschandala über <strong>die</strong> Dinge, so findet<br />

man vielleicht <strong>die</strong> ganze Kette von Erfahrungen und Schlüssen<br />

wieder zusammen, <strong>die</strong> jenen Alten zur Voraussetzung <strong>die</strong>nte,<br />

ihre Hypothesen zu machen: ich will sagen, man findet <strong>die</strong><br />

„Wahrheit“ — aber genau in der Auflösung aller Autorität, alles<br />

Respekts aller Traditionen, aller moralischen Vorurtheile — wir<br />

verbrauchen unseren Rest ererbter Moralität(1743) bei <strong>die</strong>ser<br />

Arbeit…<br />

das, was jetzt Wissenschaft ist, ist ein genauer Gradmesser<br />

für den Niedergang <strong>des</strong> moralischen und religiösen Glaubens:<br />

— wir sind aufgelöst, wenn wir am Ende unserer „Weisheit“<br />

sind, — wir haben alle positiven Kräfte verbraucht, zur<br />

Page Break KGW='VIII-3.190' KSA='13.398'<br />

Erkenntniß… Das Wissen an sich ist ja ohnmächtig: und<br />

was den „Egoismus“ betrifft, so sind wir in einer décadence-Zeit<br />

durchaus nicht sicher, unseren Vortheil zu wollen: <strong>die</strong><br />

Antriebe sind viel zu mächtig, als daß der Nutzen der leitende<br />

Gesichtspunkt bliebe — Der „Altruismus“, das Mitleben und<br />

Zusammenfühlen von aller Art Gefühlen und Zuständen ist in<br />

<strong>die</strong>sem Falle eine große Krankheit mehr: es ist das<br />

Tschandala-Gewissen, eine Schwäche, <strong>die</strong> mit Lust verknüpft ist…


Aphorism n=12379 id='VIII.14[226]' kgw='VIII-3.190' ksa='13.398'<br />

das, was eine Moral, ein Gesetzbuch schafft, der tiefe Instinkt<br />

dafür, daß erst der Automatismus <strong>die</strong> Vollkommenheit<br />

möglich macht in Leben und Schaffen…<br />

Aber jetzt haben wir den entgegengesetzten Punkt erreicht,<br />

ja, wir haben ihn erreichen gewollt — <strong>die</strong> extremste Bewußtheit,<br />

<strong>die</strong> Selbstdurchschauung <strong>des</strong> Menschen und der Geschichte…<br />

— damit sind wir praktisch am fernsten von der Vollkommenheit<br />

in Sein, Thun und Wollen: unsere Begierde, unser Wille selbst<br />

zur Erkenntniß ist ein Symptom einer ungeheuren décadence…<br />

Wir streben nach dem Gegentheil von dem, was starke<br />

Rassen, starke Naturen —wollen<br />

— das Begreifen ist ein Ende…<br />

Daß Wissenschaft möglich ist in <strong>die</strong>sem Sinne, wie sie heute<br />

geübt wird, ist der Beweis dafür, daß alle elementaren Instinkte,<br />

Nothwehr- und Schutz-Instinkte <strong>des</strong> Lebens nicht mehr<br />

fungiren —<br />

wir sammeln nicht mehr, wir verschwenden <strong>die</strong> Capitalien<br />

der Vorfahren, auch noch in der Art, wie wir erkennen —<br />

Aphorism n=12380 id='VIII.14[227]' kgw='VIII-3.190' ksa='13.398'<br />

Man hat mit einem willkürlichen und in jedem Betracht<br />

zufälligen Wort, dem Worte „Pessimismus“ einen Mißbrauch<br />

getrieben, der wie ein Contagium um sich greift: man hat das<br />

Problem dabei übersehen in dem wir leben, das wir sind —<br />

Page Break KGW='VIII-3.191' KSA='13.399'<br />

es handelt sich nicht darum, wer Recht hat, — es fragt<br />

sich, wohin wir gehören, ob zu den Verurtheilten, den<br />

Niedergangs-Gebilden… In <strong>die</strong>sem Fall urtheilen wir nihilistisch.<br />

Man hat zwei Denkweisen gegen einander gestellt, wie als<br />

ob sie miteinander über <strong>die</strong> Wahrheit zu streiten hätten: während<br />

sie beide nur Symptome von Zuständen sind, während ihr<br />

Kampf das Vorhandensein eines cardinalen Lebens-Problems<br />

— und nicht eines Philosophen-Problems beweist. Wohin<br />

gehören wir? — sind wir — — —<br />

Page Break KGW='VIII-3.192' KSA='13.400'<br />

Page Break KGW='VIII-3.193' KSA='13.401'<br />

[ 15 = W II 6a. Frühjahr 1888 ]


Aphorism n=12381 id='VIII.15[1]' kgw='VIII-3.193' ksa='13.401'<br />

Kritik der modernen Werthe.<br />

Die liberalen Institutionen(1744)<br />

der Altruismus der Moral.<br />

<strong>die</strong> Sociologie.<br />

<strong>die</strong> Prostitution<br />

<strong>die</strong> Ehe<br />

der Verbrecher<br />

Aphorism n=12382 id='VIII.15[2]' kgw='VIII-3.193' ksa='13.401'<br />

Das „aufsteigende“ Leben und das absteigende Leben: beide<br />

formuliren sich ihre obersten Bedürfnisse zu Werthtafeln.<br />

Wie kommt es, daß <strong>die</strong> obersten Werthe, an <strong>die</strong> man glaubt,<br />

allesammt — — —<br />

Aphorism n=12383 id='VIII.15[3]' kgw='VIII-3.193' ksa='13.401'<br />

In allen Fällen, wo ein Kind ein Verbrechen sein würde:<br />

bei chronisch Kranken und Neurasthenikern dritten Gra<strong>des</strong>, wo<br />

andererseits dem Geschlechtstrieb überhaupt ein Veto entgegenzusetzen<br />

bloß auf fromme Wünsche hinauslaufen würde ( — <strong>die</strong>ser<br />

Trieb hat bei derartig Schlechtweggekommenen sogar oft eine<br />

widerliche Erregbarkeit) ist <strong>die</strong> Forderung zu stellen, daß <strong>die</strong><br />

Zeugung verhindert wird. Die Gesellschaft kennt wenig<br />

dergestalt dringliche und grundsätzliche Forderungen. Hier<br />

Page Break KGW='VIII-3.196' KSA='13.402'<br />

genügt nicht nur <strong>die</strong> Verachtung, <strong>die</strong> gesellschaftliche<br />

Ehrlosigketis-Erklärung als Mittel, eine niederträchtige Schwächlichkeit<br />

<strong>des</strong> Charakters im Zaum zu halten: man dürfte, ohne Rücksicht auf<br />

Stand, Rang und Cultur, mit den härtesten Vermögensstrafen,<br />

unter Umständen mit dem Verlust der „Freiheit“, mit Clausur<br />

gegen derartige Verbrechen vorgehn. Ein Kind in <strong>die</strong> Welt setzen,<br />

in der man selbst kein Recht zu sein hat, ist schlimmer als ein<br />

Leben nehmen. Der Syphilitiker, der ein Kind macht, giebt <strong>die</strong><br />

Ursache zu einer ganzen Kette verfehlter Leben ab, er schafft<br />

einen Einwand gegen das Leben, er ist ein Pessimist der That:<br />

wirklich wird durch ihn der Werth <strong>des</strong> Lebens aufs Unbestimmte<br />

hin verringert. —


Aphorism n=12384 id='VIII.15[4]' kgw='VIII-3.196' ksa='13.402'<br />

Die Prostitution schafft man nicht ab; es giebt Gründe selbst<br />

zu wünschen, daß man sie nicht abschafft. Folglich — sollte man<br />

sie ennobliren: — ich hoffe man versteht <strong>die</strong>s Folglich?<br />

Woran hängt es aber, daß etwas verächtlich wird? Daran, daß es<br />

lange verachtet wurde. Man höre damit auf, <strong>die</strong> Huren zu verachten:<br />

dann werden sie keinen Grund mehr haben, sich zu verachten.<br />

Zuletzt steht es überall in <strong>die</strong>sem Punkte bereits besser als bei uns:<br />

<strong>die</strong> Prostitution ist in der ganzen Welt etwas Unschuldiges und<br />

Naives. Es giebt Culturen Asiens, wo sie sogar hohe Ehren<br />

genießt. Die Infamie liegt durchaus nicht in der Sache, sie ist erst<br />

durch <strong>die</strong> Widernatur <strong>des</strong> Christenthums hineingelegt jener<br />

Religion, welche selbst noch den Geschlechtstrieb beschmutzt hat! …<br />

La fille canaille ist eine christliche Spezialität: Europa aber ist der<br />

Boden, der ihrem Wachsen günstig ist, und <strong>die</strong> Großstädte Europas<br />

<strong>die</strong> Stätten, wo deren Superlativ gedeiht … — Problem:<br />

welche Bedingungen geben der Hauptstadt <strong>des</strong> neu-deutschen<br />

Reichs eine Überlegenheit in der Kunst, <strong>die</strong> Dirne zu encanailliren?<br />

… Eine erlaubte Frage: aber man schämt sich, deutsch<br />

darauf zu antworten …<br />

Page Break KGW='VIII-3.197' KSA='13.403'<br />

Aphorism n=12385 id='VIII.15[5]' kgw='VIII-3.197' ksa='13.403'<br />

Kritik der Philosophie.<br />

In wiefern <strong>die</strong> Philosophie ein décadence-Phänomen ist:<br />

Sokrates. Pyrrho.<br />

Die Idiosynkrasie der Philosophen gegen <strong>die</strong> Sinne:<br />

ihre „wahre Welt“<br />

Was <strong>die</strong> Furcht vor den Sinnen und der Leidenschaft ist …<br />

Die Philosophen als Moralisten: sie untergraben den<br />

Naturalismus der Moral<br />

Kritik der moralischen Besserung.<br />

der Reue<br />

der Philosophie <strong>des</strong> Mitleidens<br />

Der Philosoph und <strong>die</strong> Überzeugung.<br />

Wie <strong>die</strong> wahre Welt zur Fabel wurde.<br />

Kritik der Kunst.<br />

Kritik der Religion.<br />

Religion.<br />

Ihr Ursprung. Das gefährliche Mißverständniß<br />

Zur Geschichte <strong>des</strong> Gottesbegriffs.<br />

Heidenthum. Christenthum.<br />

Das christliche Ideal<br />

Das Gefährliche im Christenthum.


Aphorism n=12386 id='VIII.15[6]' kgw='VIII-3.197' ksa='13.403'<br />

1.<br />

Die Eruption der Kunst Wagners: sie bleibt unser letztes<br />

großes Ereigniß in der Kunst. Wie vulkanisch geht es überall<br />

seitdem zu! Sehr laut vor allem: man hat heute <strong>die</strong> Ohren nicht mehr<br />

wie ehemals, um zu verstehen! … Man hat sie beinahe, um<br />

Nichts mehr zu verstehen! … Wagner selbst vor Allem bleibt<br />

unverstanden. Er ist immer noch eine terra incognita. Man betet ihn<br />

einstweilen an. Will man auch ihn verstehen? Der typische<br />

Wagnerianer, ein in jedem Betreff viereckiges Wesen, glaubt an<br />

Wagner: ersichtlich auch an einen viereckigen Wagner … aber Wagner<br />

Page Break KGW='VIII-3.198' KSA='13.404'<br />

war Alles Andere als viereckig: Wagner war „Wagnerisch“. Ich<br />

habe mich gefragt, ob überhaupt schon Jemand dagewesen ist,<br />

modern, morbid, vielfach und krumm genug, um als vorbereitet<br />

für das Problem Wagner zu gelten? Höchstens in Frankreich: Ch.<br />

Baudelaire z.B. Vielleicht auch <strong>die</strong> Gebrüder Goncourt. Die<br />

Verfasser der „Faustine“ würden sicherlich Einiges an Wagner<br />

errathen … aber es fehlte ihnen <strong>die</strong> Musik im Leibe. — Hat man<br />

begriffen, daß <strong>die</strong> Musiker allesammt keine Psychologen sind?<br />

Das Hier-Nicht-wissen-wollen gehört bei ihnen zum Handwerk,<br />

sagen wir, zum Genie ihres Handwerks … sie würden sich<br />

nicht mehr trauen, wenn sie sich verstünden … Man sagt nicht<br />

umsonst den Begriffen und den Worten Valete: man will ins<br />

Unbewußte … Daraus folgt etwas Betrüben<strong>des</strong>: entweder ist Jemand<br />

Musiker: und dann versteht er <strong>die</strong> Herren Musiker nicht (sich<br />

selbst eingerechnet) — wohl aber <strong>die</strong> Musik. Oder aber er ist<br />

Psycholog: und dann versteht er wahrscheinlich <strong>die</strong> Musik nicht<br />

genug und folglich auch nicht <strong>die</strong> Herren Musiker … Das ist <strong>die</strong><br />

Antinomie. Und <strong>des</strong>halb giebt es über Beethoven so gut wie<br />

über Wagner den Musiker bisher nur Geschwätz. —<br />

2.<br />

Glücklicher Weise ist Wagner nur zu einem Bruchtheil Musiker<br />

gewesen: der ganze Wagner war etwas anderes als ein Musiker<br />

und sogar eher noch <strong>des</strong>sen Gegensatz. In ihm haben <strong>die</strong><br />

Deutschen das außerordentlichste Schauspiel- und Theater-Genie<br />

geschenkt bekommen, das es bisher gegeben hat. Man versteht<br />

nichts von Wagner, wenn man ihn nicht von <strong>die</strong>ser Seite aus<br />

versteht. Ob Wagner gerade mit <strong>die</strong>sen Instinkten deutsch war? …<br />

Aber das Gegentheil liegt auf der Hand. Die Deutschen bekommen<br />

ihre großen Männer als Ausnahme und Gegensatz selbst zu<br />

ihrer Regel: Beethoven, Goethe, Bismarck, Wagner — unsere<br />

vier letzten großen Männer —: man kann aus ihnen zusammen<br />

auf das Strengste deduziren, was von Grund aus nicht deutsch,<br />

undeutsch, antideutsch ist …


Page Break KGW='VIII-3.199' KSA='13.405'<br />

3.<br />

Wagner war so wenig Musiker, daß er alle musikalischen<br />

Gesetze und bestimmter geredet, den Stil überhaupt in der<br />

Musik geopfert hat, um aus ihr eine Art Rhetorik, ein Mittel<br />

<strong>des</strong> Ausdrucks, der Verstärkung, der Suggestion, <strong>des</strong><br />

Psychologisch-Pittoresken zu machen. Wagner's Musik, nicht von<br />

der Theater-Optik und -Massivität aus abgeschätzt, sondern als Musik<br />

an sich, ist einfach schlechte Musik, Unmusik: ich habe<br />

keinen Menschen kennen gelernt, der das nicht wußte. Die<br />

Naiven glauben ihm etwas zu Ehren zu sagen, wenn sie dekretiren:<br />

Wagner habe den dramatischen Stil der Musik geschaffen.<br />

Dieser „dramatische Stil“ ist, ohne umschweife geredet,<br />

<strong>die</strong> Stil-losigkeit, Stil-widrigkeit, Stil-Impotenz zum Prinzip<br />

gemacht: dramatische Musik, so verstanden, ist nur ein<br />

Synonym für <strong>die</strong> „schlechteste aller möglichen Musiken“ … Man<br />

thut Wagner unrecht, wenn man aus ihm einen Musiker machen<br />

will.<br />

4.<br />

Die Musik Wagners als solche ist unerträglich: man braucht<br />

das Drama, zur Erlösung von <strong>die</strong>ser Musik. Und dann versteht<br />

man mit Einem Mal <strong>die</strong> Magie, welche noch mit einer gleichsam<br />

zerschnittenen und elementarisch gemachten Kunst ausgeübt<br />

werden kann! Wagner hat ein beinahe unheimliches Bewußtsein von<br />

allem Elementarischen in der Wirkung der Musik: man darf<br />

ihn ohne Übertreiben den größten Meister der Hypnotisirung,<br />

selbst noch für unser Zeitalter der Hühner und Zauberer, nennen.<br />

Er bewegt sich, er sucht, er streicht, er macht Gebärden: — er<br />

wird verstanden … <strong>die</strong> Weiblein sind bereits kalt … Wagner<br />

rechnet nie als Musiker von irgend einem Musiker-Gewissen aus:<br />

er will eine Wirkung, er rechnet aus der Optik <strong>des</strong> Theaters …<br />

Nichts ist ihm gegensätzlicher als <strong>die</strong> monologische heimliche<br />

Göttlichkeit der Musik Beethovens, das Selbsterklingen der<br />

Einsamkeit, <strong>die</strong> Scham noch im Lautwerden … Wagner ist unbedenklich,<br />

Page Break KGW='VIII-3.200' KSA='13.406'<br />

wie Schiller unbedenklich war, wie alle Theatermenschen<br />

unbedenklich sind: unter Umständen braucht er den Glauben <strong>des</strong><br />

Zuhörers, eben eine solche andere Musik zu hören — er macht<br />

sie. Es scheint uns, daß er sie macht: wir Unthiere selbst<br />

werden betrogen … Hinterdrein begreifen wir gut genug, daß wir<br />

betrogen sind: aber was geht einen Theater-Künstler das<br />

„Hinterdrein“ an! … Er hat den Augenblick für sich: Wagner<br />

überredet unbedingt. „Es giebt nirgendswo ächten Contrapunkt bei<br />

Wagner“ — so spricht das Hinterdrein. Aber wozu auch! wir<br />

sind im Theater, und es genügt zu glauben, daß es ihn giebt …


5.<br />

Die Wirkung der Wagnerischen Kunst ist tief, sie ist vor<br />

allem schwer: woran liegt das? Zunächst nicht, wie<br />

angedeutet, an der Musik: man hielte <strong>die</strong>se Musik nicht einmal aus,<br />

wenn man nicht bereits durch etwas Anderes überwältigt und<br />

gleichsam unfrei geworden wäre. Das Andere ist das Wagnerische<br />

Pathos, zu dem er sich seine Musik nur hinzuerfunden<br />

hat. Es ist <strong>die</strong> ungeheure Überzeugungskraft <strong>die</strong>ses Pathos, sein<br />

Athemanhalten, sein Nicht-Mehr-loslassenwollen eines extremen<br />

Gefühls, es ist <strong>die</strong> erschreckende Länge <strong>die</strong>ses Pathos, mit der<br />

Wagner über uns siegt und immer siegen wird: — so daß er uns<br />

zuletzt noch gar zu seiner Musik überredet … Ob man mit einem<br />

solchen Pathos ein Genie ist? Oder auch nur sein kann? … Man<br />

hat bisweilen unter Genie eines Künstlers seine höchste Freiheit<br />

unter dem Gesetz, seine göttliche Leichtigkeit, Leichtfertigkeit im<br />

Schwersten verstanden. Dürfte man sagen: „Wagner ist schwer,<br />

centnerschwer: folglich — kein Genie?“ Aber vielleicht hat man<br />

ein Unrecht, <strong>die</strong> leichten Füße zum Typ <strong>des</strong> Gottes zu machen. —<br />

Eine andere Frage, auf <strong>die</strong> eine bestimmtere Antwort auf der<br />

Hand liegt, ist <strong>die</strong>: ob Wagner gerade mit einem solchen Pathos<br />

deutsch ist? ein Deutscher ist? Nie und nimmermehr!<br />

Vielmehr eine Ausnahme aller Ausnahmen …!<br />

Page Break KGW='VIII-3.201' KSA='13.407'<br />

6.<br />

Die Sensibilität Wagners ist nicht deutsch: um so deutscher<br />

ist seine Art Geist und Geistigkeit. Ich weiß es sehr gut, warum<br />

es deutschen Jünglingen auf eine unvergleichliche Weise wohl bei<br />

ihm zu Muthe wurde, inmitten der Wagnerischen Tiefe, Vielheit,<br />

Fülle, Willkür, Ungewißheit im Geistigen: damit sind sie bei<br />

sich selbst zu Hause! Sie hören mit Entzücken, wie <strong>die</strong> großen<br />

Symbole und Räthsel aus ungeheurer Ferne her mit sanftem<br />

Donner laut werden. Sie werden nicht ungehalten, wenn es<br />

bisweilen grau, gräßlich und kalt hergeht: sind sie doch sammt und<br />

sonders verwandt mit dem schlechten Wetter, dem deutschen<br />

Wetter! … Sie vermissen nicht, was wir Anderen vermissen:<br />

Witz, Feuer, Anmuth; <strong>die</strong> große Logik; <strong>die</strong> übermüthige Geistigkeit;<br />

das halkyonische Glück; den glänzenden Himmel mit seinen<br />

Sternbildern und Lichtschaudern …<br />

7.<br />

Die Sensibilität Wagner's gehört nicht nach Deutschland: man<br />

trifft sie wieder unter den Nächstverwandten Wagner's, den<br />

französischen Romantikern. Die Leidenschaft, so wie sie Wagner<br />

versteht, ist jedenfalls das Gegenstück der „Freigeisterei der<br />

Leidenschaft“, mit Schiller zu reden, der deutsch-romantischen<br />

Sensibilität. Schiller ist ebenso deutsch als Wagner Franzose. Seine<br />

Helden, seine Rienzi, Tannhäuser, Lohengrin, Tristan, Parsival<br />

— das hat Blut im Leibe, kein Zweifel —, und gewiß kein<br />

deutsches Blut! Und wenn sie lieben, <strong>die</strong>se Helden — werden sie


deutsche Mädchen lieben? … Ich zweifle daran: aber noch mehr<br />

bezweifle ich, daß sie gerade Wagnerische Heldinnen lieben<br />

würden: was ein armes Volk ist und ein Präparat zu allerlei<br />

neurotisch-hypnotisch-erotischen Experimenten Pariser Psychologen!<br />

Hat man wohl schon bemerkt, daß keine je ein Kind gebar? —<br />

Sie können's nicht! …<br />

Page Break KGW='VIII-3.202' KSA='13.408'<br />

8.<br />

Man will es heute noch am Wenigsten Wort haben, wie viel<br />

Wagner Frankreich verdankt, wie sehr er selbst nach Paris gehört.<br />

Der Ehrgeiz großen Stils bei einem Künstler — selbst der ist noch<br />

französisch an Wagner … Und <strong>die</strong> große Oper! Und der Wettlauf<br />

mit Meyerbeer! Und sogar mit Meyerbeerschen Mitteln! Was<br />

ist daran deutsch? … Zuletzt erwägen wir doch das Entscheidende:<br />

was charakterisirt <strong>die</strong> Wagnersche Künstlerschaft? der<br />

Histrionismus, das in-Scene-Setzen, <strong>die</strong> Kunst der étalage, der<br />

Wille zur Wirkung um der Wirkung(1745) willen, das Genie <strong>des</strong><br />

Vortragens, Vorstellens, Nachmachens, Darstellens, Bedeutens,<br />

Scheinens: ist das in irgend einem Genre eine deutsche Art<br />

Begabung? … Wir haben an <strong>die</strong>ser Stelle wir wissen es zu gut!<br />

bisher unsere Schwäche gehabt — und wir wollen uns keinen<br />

Stolz aus <strong>die</strong>ser Schwäche zurechtmachen! … Aber es ist das<br />

Genie Frankreichs! …<br />

Aphorism n=12387 id='VIII.15[7]' kgw='VIII-3.202' ksa='13.408'<br />

Die Romantik<br />

Der Naturalism<br />

Aphorism n=12388 id='VIII.15[8]' kgw='VIII-3.202' ksa='13.408'<br />

Fortschritt. VI<br />

Daß wir uns nicht täuschen! Die Zeit läuft vorwärts, — wir<br />

möchten glauben, daß auch Alles, was in ihr ist, vorwärts läuft …<br />

daß <strong>die</strong> Entwicklung eine Vorwärts-Entwicklung ist … Das ist<br />

der Augenschein, von dem <strong>die</strong> Besonnensten verführt werden:<br />

aber das neunzehnte Jahrhundert ist kein Fortschritt gegen das<br />

sechszehnte: und der deutsche Geist von 1888 ist ein Rückschritt<br />

gegen den deutschen Geist von 1788 … Die „Menschheit“<br />

avancirt nicht, sie existirt nicht einmal … Der Gesamtaspekt ist der<br />

einer ungeheuren Experimentir-Werkstätte, wo Einiges gelingt,<br />

zerstreut durch alle Zeiten, und Unsägliches mißräth, wo alle<br />

Page Break KGW='VIII-3.203' KSA='13.409'


Ordnung, Logik, Verbindung und Verbindlichkeit fehlt … Wie<br />

dürften wir verkennen, daß <strong>die</strong> Heraufkunft <strong>des</strong> Christenthums<br />

eine décadence-Bewegung ist? … Daß <strong>die</strong> deutsche Reformation<br />

eine Recru<strong>des</strong>cenz der christlichen Barbarei ist? … Daß <strong>die</strong><br />

Revolution den Instinkt zur großen Organisation, <strong>die</strong> Möglichkeit<br />

einer Gesellschaft zerstört hat? … Der Mensch ist kein<br />

Fortschritt gegen das Thier: der Cultur-Zärtling ist eine Mißgeburt<br />

im Vergleich zum Araber und Corsen; der Chinese ist ein<br />

wohlgerathener Typus, nämlich dauerfähiger als der Europäer …<br />

Aphorism n=12389 id='VIII.15[9]' kgw='VIII-3.203' ksa='13.409'<br />

Jesus: Dostoiewsky<br />

Ich kenne nur Einen Psychologen, der in der Welt gelebt hat,<br />

wo das Christenthum möglich ist, wo ein Christus jeden Augenblick<br />

entstehen kann … Das ist Dostoiewsky. Er hat Christus<br />

errathen: — und instinktiv ist er vor allem behütet geblieben<br />

<strong>die</strong>sen Typus sich mit der Vulgarität Renans vorzustellen … Und<br />

in Paris glaubt man, daß Renan an zu vielen finesses leidet! …<br />

Aber kann man ärger fehlgreifen, als wenn man aus Christus,<br />

der ein Idiot war, ein Genie macht? Wenn man aus Christus, der<br />

den Gegensatz eines heroischen Gefühls darstellt, einen Helden<br />

herauslügt?<br />

Aphorism n=12390 id='VIII.15[10]' kgw='VIII-3.203' ksa='13.409'<br />

Was ist tragisch.<br />

Ich habe zu wiederholten Malen den Finger auf das große<br />

Mißverständniß <strong>des</strong> Aristoteles gelegt, als er in zwei<br />

deprimirenden Affekten, im Schrecken und im Mitleiden, <strong>die</strong><br />

tragischen Affekte zu erkennen glaubte. Hätte er Recht, so wäre <strong>die</strong><br />

Tragö<strong>die</strong> eine lebensgefährliche Kunst: man müßte vor ihr wie<br />

vor etwas Gemeinschädlichem und Anrüchigem warnen. Die<br />

Kunst, sonst das große Stimulans <strong>des</strong> Lebens, ein Rausch am<br />

Leben, ein Wille zum Leben, würde hier, im Dienste einer<br />

Abwärtsbewegung, gleichsam als Dienerin <strong>des</strong> Pessimismus,<br />

Page Break KGW='VIII-3.204' KSA='13.410'<br />

gesundheitsschädlich. (Denn daß man durch Erregung <strong>die</strong>ser<br />

Affekte sich von ihnen „purgirt“, wie Aristoteles zu glauben<br />

scheint, ist einfach nicht wahr) Etwas, was habituell Schrecken<br />

oder Mitleid erregt, <strong>des</strong>organisirt, schwächt, entmuthigt: — und<br />

gesetzt, Schopenhauer behielte Recht, daß man der Tragö<strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

Resignation zu entnehmen habe d.h. eine sanfte Verzichtleistung<br />

auf Glück, auf Hoffnung, auf Willen zum Leben, so wäre hiermit


eine Kunst concipirt, in der <strong>die</strong> Kunst sich selbst verneint.<br />

Tragö<strong>die</strong> bedeutete dann einen Auflösungs-prozeß, <strong>die</strong> Instinkte <strong>des</strong><br />

Lebens sich im Instinkt der Kunst selbst zerstörend. Christenthum,<br />

Nihilismus, tragische Kunst, physiologische décadence:<br />

das hielte sich an den Händen, das käme zur selben Stunde zum<br />

Übergewicht, das triebe sich gegenseitig vorwärts — abwärts!<br />

… Tragö<strong>die</strong> wäre ein Symptom <strong>des</strong> Verfalls.<br />

Man kann <strong>die</strong>se Theorie in der kaltblütigsten Weise<br />

widerlegen: nämlich indem man vermöge <strong>des</strong> Dynamometers <strong>die</strong><br />

Wirkung einer tragischen Emotion mißt. Und man bekommt<br />

als Ergebniß, was psychologisch zuletzt nur <strong>die</strong> absolute<br />

Verlogenheit eines Systematikers verkennen kann —: daß <strong>die</strong><br />

Tragö<strong>die</strong> ein tonicum ist. Wenn Schopenhauer hier nicht<br />

begreifen wollte, wenn er <strong>die</strong> Gesammt-Depression als tragischen<br />

Zustand ansetzt, wenn er den Griechen ( — <strong>die</strong> zu seinem<br />

Verdruß nicht „resignirten“ …) zu verstehen gab, sie hätten sich<br />

nicht auf der Höhe der Weltanschauung befunden: so ist das parti<br />

pris, Logik <strong>des</strong> Systems, Falschmünzerei <strong>des</strong> Systematikers: eine<br />

jener schlimmen Falschmünzereien welche Schopenhauern(1746)<br />

Schritt für Schritt seine ganze Psychologie verdorben hat (: er, der<br />

das Genie, <strong>die</strong> Kunst selbst, <strong>die</strong> Moral, <strong>die</strong> heidnische Religion,<br />

<strong>die</strong> Schönheit, <strong>die</strong> Erkenntniß und ungefähr Alles willkürlich-gewaltsam<br />

mißverstanden hat<br />

Aristoteles(1747)<br />

Aristoteles wollte <strong>die</strong> Tragö<strong>die</strong> als Purgativ von Mitleid und<br />

Schrecken betrachtet wissen, — als eine nützliche Entladung von<br />

zwei unmäßig aufgestauten krankhaften Affekten …<br />

Page Break KGW='VIII-3.205' KSA='13.411'<br />

Die anderen Affekte wirken tonisch: aber nur zwei depressive<br />

Affekte — und <strong>die</strong>se sind folglich besonders nachtheilige und<br />

ungesunde — das Mitleiden und der Schrecken sollten nach<br />

Aristoteles durch <strong>die</strong> Tragö<strong>die</strong> wie durch ein Purgativ aus dem<br />

Menschen hinausgeschafft werden: <strong>die</strong> Tragö<strong>die</strong> indem sie <strong>die</strong>se<br />

gefährlichen Zustände im Übermaß erregt, erlöst den Menschen<br />

davon — macht ihn besser. Die Tragö<strong>die</strong> als eine Cur gegen das<br />

Mitleid.<br />

Aphorism n=12391 id='VIII.15[11]' kgw='VIII-3.205' ksa='13.411'<br />

Sie sind heute der einzige Musiker, der mir Musik nach<br />

meinem Herzen macht: billigerweise kommt Ihnen Alles zu, was ich<br />

gegen <strong>die</strong> heutige Musik auf dem Herzen habe?<br />

Der Geschmack an der Musik Wagners compromittirt. Ich<br />

sage das als einer, der sich ausnimmt, — ich habe mich<br />

compromittirt.


Aphorism n=12392 id='VIII.15[12]' kgw='VIII-3.205' ksa='13.411'<br />

Zur Kritik Wagners.<br />

Die Musik Wagners ist antigoethisch.<br />

In der That fehlt Goethe in der deutschen Musik, wie er<br />

in der deutschen Politik fehlt. Dagegen: wie viel Schiller,<br />

genauer geredet wie viel Thekla ist in Beethoven!<br />

Viel Biedermännerei, viel Salbung:<br />

Wagner hat keine Gedanken, ganz wie V. Hugo: aber er<br />

weiß mit einem Zeichen an Stelle eines Gedankens uns dermaaßen<br />

zu terrorisiren — — —<br />

ich suche <strong>die</strong> Ursachen für <strong>die</strong> extreme Erschöpfung,<br />

welche Wagners Kunst mit sich bringt<br />

<strong>die</strong> veränderliche Optik:<br />

der physiologische Widerstand:<br />

Athem<br />

Gang<br />

<strong>die</strong> beständige Übertreibung:<br />

Page Break KGW='VIII-3.206' KSA='13.412'<br />

<strong>die</strong> tyrannische Hinterabsicht:<br />

<strong>die</strong> Reizung der morbiden Nerven und<br />

der Centren durch terroristische Mittel:<br />

sein Zeit-Sinn<br />

Aphorism n=12393 id='VIII.15[13]' kgw='VIII-3.206' ksa='13.412'<br />

Eine Vorrede<br />

Ich habe das Glück und sei's <strong>die</strong> Ehre selbst noch mit, nach<br />

ganzen Jahrtausenden der Verirrung und Verwirrung, den Weg<br />

wiedergefunden zu haben, der zu einem Ja und einem Nein<br />

führt.<br />

Ich lehre das Nein zu(1748) Allem, was schwach macht — was<br />

erschöpft.<br />

Ich lehre das Ja zu Allem, was stärkt, was Kraft aufspeichert,<br />

was den Stolz — — —<br />

Man hat weder das Eine noch das Andre bisher gelehrt: man<br />

hat Tugend, Entselbstung, Mitleiden, man hat selbst Verneinung<br />

<strong>des</strong> Lebens gelehrt … Dies sind alles Werthe der Erschöpften<br />

Ein langes Nachdenken über <strong>die</strong> Physiologie der Erschöpfung<br />

zwang mich zu der Frage, wie weit <strong>die</strong> Urtheile Erschöpfter in<br />

<strong>die</strong> Welt der Werthe eingedrungen seien.<br />

Mein Ergebniß war so überraschend wie möglich, selbst für<br />

mich, der in mancher fremden Welt schon zu Hause war: ich<br />

fand alle obersten Werthurtheile, alle, <strong>die</strong> Herr geworden sind<br />

über <strong>die</strong> Menschheit, min<strong>des</strong>tens zahm gewordene Menschheit,<br />

zurückführbar auf <strong>die</strong> Urtheile Erschöpfter.


Ich habe erst nöthig zu lehren, daß das Verbrechen, das<br />

Coelibat, <strong>die</strong> Krankheit Folgen der Erschöpfung sind …<br />

Unter den heiligsten Namen zog ich <strong>die</strong> zerstörerischen<br />

Tendenzen heraus; man hat Gott genannt, was schwächt,<br />

Schwäche lehrt, Schwäche inficirt … ich fand, daß der „gute<br />

Mensch“ eine Selbstbejahungs-Form der décadence ist.<br />

Jene Tugend, von der noch Schopenhauer gelehrt hat, daß sie<br />

<strong>die</strong> oberste, <strong>die</strong> einzige und das Fundament aller Tugenden sei:<br />

Page Break KGW='VIII-3.207' KSA='13.413'<br />

eben jenes Mitleiden erkannte ich(1749) als gefährlicher als irgend<br />

ein Laster. Die Auswahl in der Gattung, ihre Reinigung vom<br />

Abfall grundsätzlich kreuzen — das hieß bisher Tugend par<br />

excellence …<br />

Die Rasse ist verdorben — nicht durch ihre Laster, sondern<br />

ihre Ignoranz: sie ist verdorben, weil sie <strong>die</strong> Erschöpfung nicht<br />

als Erschöpfung verstand: <strong>die</strong> physiologischen Verwechslungen<br />

sind <strong>die</strong> Ursache alles Übels weil(1750) ihr Instinkt durch <strong>die</strong><br />

Erschöpften verleitet wurde, ihr Bestes(1751) zu verbergen und das<br />

Schwergewicht zu verlieren … Hinunter stürzen — das Leben<br />

verneinen — das sollte auch als Aufgang, als Verklärung, als<br />

Vergöttlichung empfunden werden<br />

Die Tugend ist unser großes Mißverständniß.<br />

Problem: wie kamen <strong>die</strong> Erschöpften dazu, <strong>die</strong> Gesetze der<br />

Werthe zu machen?<br />

Anders gefragt: wie kamen <strong>die</strong> zur <strong>Macht</strong>, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Letzten<br />

sind? … Erkenne <strong>die</strong> Geschichte! Wie kommt der Instinkt <strong>des</strong><br />

Thieres Mensch auf den Kopf zu stehn? …<br />

Ich wünsche, den Begriff „Fortschritt“ zu präcisiren und<br />

fürchte, daß ich dazu nöthig habe den modernen Ideen ins<br />

Gesicht zu schlagen ( — mein Trost ist, daß sie keine Gesichter<br />

haben, sondern nur Larven …<br />

Man soll kranke Glieder amputiren: erste Moral der Gesellschaft.<br />

Eine Correktur der Instinkte: ihre Loslösung von der Ignoranz<br />

Ich verachte <strong>die</strong>, welche es von der Gesellschaft verlangen<br />

daß sie sich sicher stellt gegen ihre Schädiger. Das ist bei weitem<br />

nicht genug. Die Gesellschaft ist ein Leib an dem kein Glied<br />

krank sein darf, wenn er nicht überhaupt Gefahr laufen will:<br />

ein krankes Glied, das verdirbt, muß amputirt werden: ich<br />

werde <strong>die</strong> amputablen Typen der Gesellschaft bei Namen<br />

nennen…<br />

Page Break KGW='VIII-3.208' KSA='13.414'<br />

Man soll das Verhängniß in Ehren halten: das<br />

Verhängniß, das zum Schwachen sagt: geh zu Grunde …<br />

Man hat es Gott genannt, daß man dem Verhängniß<br />

widerstrebte, — daß man <strong>die</strong> Menschheit verdarb und verfaulen<br />

machte … Man soll den Namen Gottes nicht unnützlich<br />

führen …


Wir haben fast alle psychologischen Begriffe, an denen <strong>die</strong><br />

bisherige Geschichte der Psychologie — was heißt der<br />

Philosophie! — hing, annullirt<br />

wir leugnen, daß es Willen giebt (gar nicht zu reden vom<br />

„freien Willen“)<br />

wir leugnen Bewußtsein, wie als Einheit und Vermögen<br />

wir leugnen, daß gedacht wird (: denn es fehlt uns das was<br />

denkt und insgleichen das was gedacht wird<br />

wir leugnen, daß zwischen den Gedanken eine reale<br />

Causalität besteht wie sie <strong>die</strong> Logik glaubt<br />

Meine Schrift wendet sich gegen alle natürlichen Typen der<br />

décadence: ich habe <strong>die</strong> Phänomene <strong>des</strong> Nihilismus am<br />

umfänglichsten durchdacht<br />

d.h. der geborene Vernichter — — —<br />

Aphorism n=12394 id='VIII.15[14]' kgw='VIII-3.208' ksa='13.414'<br />

Vergeben Sie mir! Das ist Alles das alte Spiel von 1830.<br />

Wagner hat an <strong>die</strong> Liebe geglaubt, wie alle Romantiker <strong>die</strong>ses<br />

tollen und zuchtlosen Jahrzehnds. Was blieb davon zurück?<br />

Diese unsinnige Vergötterung der Liebe, und, nebenbei, auch<br />

der Ausschweifung und selbst <strong>des</strong> Verbrechens — wie falsch<br />

scheint uns das heute! Wie verbraucht vor Allem, wie<br />

überflüssig! Wir sind strenger geworden, härter, ungeduldiger gegen<br />

solche Vulgär-Psychologie, welche sich gar noch damit<br />

„idealistisch“ glaubte, — wir sind cynisch selbst gegen <strong>die</strong>se<br />

Verlogenheit und Romantik <strong>des</strong> „schönen Gefühls“ —<br />

Page Break KGW='VIII-3.209' KSA='13.415'<br />

Aphorism n=12395 id='VIII.15[15]' kgw='VIII-3.209' ksa='13.415'<br />

Man muß nur zurückgeblieben (oder zurückgegangen)<br />

sein, um heute noch an <strong>die</strong> Probleme Wagner's zu glauben!<br />

Gar nicht zu reden von Wagnerischen Weibern!<br />

Das ist alles krankhaftes Volk, mit all seiner prahlerischen<br />

Muskulatur … Haben Sie bemerkt, daß keine je ein Kind<br />

gebiert? … Sie können's nicht … Und wenn es eine<br />

Ausnahme giebt, wozu greift Wagner, um <strong>die</strong> Ausnahme glaublich<br />

zu machen? … Sie wissen es — — an <strong>die</strong>sem Punkt allein hat<br />

Wagner <strong>die</strong> alte Sage corrigirt …<br />

Oder halten Sie <strong>die</strong> Wagnerschen Helden aus? alle <strong>die</strong>se<br />

Unmöglichen, wie er sie auf <strong>die</strong> Scene gestellt und in Musik<br />

gesetzt hat? Mit Muskeln aus Vorzeiten und mit Nerven von<br />

Übermorgen? heroisch zugleich und — nervös! Jeder<br />

Physiologe sagt dazu: das ist falsch!


Freilich — er hat sich dadurch <strong>die</strong> alten und <strong>die</strong> jungen<br />

Frauen bei Seite gebracht: das liebt solche Helden, — das liebt<br />

vielleicht auch das Unmögliche …<br />

Das liebt jedenfalls <strong>die</strong> blonden Heiligen, den Typus Parsifal,<br />

— Alles, worin es präexistente Sinnlichkeit giebt …<br />

Wie viel zarte Neugierde inspirirt doch solch ein Fall! Wie viel<br />

Entgegenkommen erlaubt er! … Kurz Beaumarchais<br />

machte den Frauen seinen Cherubin zum Geschenk, Wagner —<br />

seinen Parsifal … der Klügere —<br />

Aphorism n=12396 id='VIII.15[16]' kgw='VIII-3.209' ksa='13.415'<br />

Wagner als Vorbild.<br />

Wagner als Gefahr.<br />

Wagner und <strong>die</strong> Juden<br />

Wagners „Weib“: er kennt nur das hysterische<br />

Frauenzimmer. Warum gerade hier <strong>die</strong> Illusion immer<br />

unmöglicher wird?<br />

Wagner und <strong>die</strong> dramatische Form<br />

Wagners Verhältniß zu Frankreich — „europäisch“<br />

Page Break KGW='VIII-3.210' KSA='13.416'<br />

Wagners Verhältniß zu Christenthum und Cultur:<br />

— der Romantiker und der Nihilist —<br />

typische Verwandlung, mit dem normalen schließlichen<br />

Zurückkehren zum Christenthum.<br />

Aphorism n=12397 id='VIII.15[17]' kgw='VIII-3.210' ksa='13.416'<br />

Christenthum …<br />

absolute Bestimmtheit <strong>des</strong> Nein …<br />

Daß ich Wagner seinen Parsifal aus einem anderen<br />

Grunde nicht verzeihe, wissen Sie. Das ist eine Frage der<br />

Redlichkeit — und wenn Sie wollen der Rangordnung. Man gehört<br />

hierher, man gehört dort, je nachdem.<br />

Wer mir in seinem Verhältniß zum Christenthum heute<br />

zweideutig wird, dem gebe ich nicht erst den letzten Finger<br />

meiner zwei Hände. Hier giebt es nur Eine Rechtschaffenheit:<br />

ein unbedingtes Nein, ein Nein <strong>des</strong> Willens und der That …<br />

Wer zeigt mir noch etwas Widerlegteres, etwas von allen höheren<br />

Werthgefühlen so endgültig Gerichtetes als das Christenthum?<br />

In ihm <strong>die</strong> Verführung als Verführung erkannt zu<br />

haben, in ihm <strong>die</strong> große Gefahr, den Weg zum Nichts, der sich<br />

als Weg zur Gottheit zu geben wußte — <strong>die</strong>se ewigen Werthe<br />

als Verleumder-Werthe erkannt zu haben — was anders macht<br />

unseren Stolz, unsere Auszeichnung vor zwei Jahrtausenden


aus? …<br />

Aphorism n=12398 id='VIII.15[18]' kgw='VIII-3.210' ksa='13.416'<br />

Philosoph<br />

Ernst.<br />

* *<br />

Und aller großer Ernst — ist er nicht selbst schon<br />

Krankheit? Und eine erste Verhäßlichung?<br />

Der Sinn für das Häßliche erwacht zu gleicher Zeit, wo der<br />

Ernst erwacht; man deformirt bereits <strong>die</strong> Dinge, wenn<br />

man sie ernst nimmt …<br />

Page Break KGW='VIII-3.211' KSA='13.417'<br />

Man nehme das Weib ernst: wie häßlich wird alsbald das<br />

schönste Weib! …<br />

* *<br />

Es ist schwer, hier ernst zu bleiben. Inmitten <strong>die</strong>ser<br />

Probleme wird man nicht zum Leichenbitter … Die Tugend in<br />

Sonderheit hat Gebärden am Leibe, daß man dyspeptisch sein<br />

muß, um trotzdem seine Würde aufrecht zu erhalten.<br />

* *<br />

Lachen — das ist ungefähr, wenn nicht <strong>die</strong> klügste, so doch<br />

<strong>die</strong> weiseste Antwort auf solche Fragen …<br />

Aphorism n=12399 id='VIII.15[19]' kgw='VIII-3.211' ksa='13.417'<br />

Christenthum<br />

Man hat bisher das Christenthum immer auf eine falsche<br />

und nicht bloß schüchterne Weise angegriffen. So lange man<br />

nicht <strong>die</strong> Moral <strong>des</strong> Christenthums als Capital-Verbrechen<br />

am Leben empfindet, haben <strong>des</strong>sen Vertheidiger<br />

gutes Spiel. Die Frage der bloßen „Wahrheit“ <strong>des</strong> Christenthums,<br />

sei es in Hinsicht auf <strong>die</strong> Existenz seines Gottes, oder<br />

<strong>die</strong> Geschichtlichkeit seiner Entstehungs-Legende, gar nicht zu<br />

reden von der christlichen Astronomie und Naturwissenschaft<br />

— ist eine ganz nebensächliche Angelegenheit, solange <strong>die</strong><br />

Werthfrage der christlichen Moral nicht berührt ist. Taugt<br />

<strong>die</strong> Moral <strong>des</strong> Christenthums etwas oder ist sie eine Schändung<br />

und Schmach trotz aller Heiligkeit der Verführungskünste?<br />

Es giebt Schlupfwinkel jeder Art für das Problem von<br />

der Wahrheit; und <strong>die</strong> Gläubigsten können zuletzt sich der Logik<br />

der Ungläubigsten be<strong>die</strong>nen, um sich ein Recht zu schaffen,<br />

gewisse Dinge als unwiderlegbar zu affirmiren — nämlich als<br />

jenseits der Mittel aller Widerlegung ( — <strong>die</strong>ser Kunstgriff<br />

heißt sich heute „Kantischer Kriticismus“ —


Page Break KGW='VIII-3.212' KSA='13.418'<br />

Aphorism n=12400 id='VIII.15[20]' kgw='VIII-3.212' ksa='13.418'<br />

Zum Plan.<br />

1. Die wahre und <strong>die</strong> scheinbare Welt.<br />

2. Die Philosophen als Typen der décadence<br />

3. Die Religion als Ausdruck der décadence<br />

4. Die Moral als Ausdruck der décadence.<br />

5. Die Gegenbewegungen: warum sie unterlegen sind.<br />

6. Wohin gehört unsere moderne Welt, in <strong>die</strong> Erschöpfung oder<br />

in den Aufgang? — ihre Vielheit und Unruhe bedingt durch<br />

<strong>die</strong> höchste Form <strong>des</strong> Bewußtwerdens<br />

7. Der Wille zur <strong>Macht</strong>: Bewußtwerden <strong>des</strong> Willens zum<br />

Leben …<br />

8. Die Heilkunst der Zukunft.<br />

8:600 70 Seiten<br />

56<br />

----<br />

40<br />

Zu 1) „wahre und scheinbare Welt“<br />

1) ein solches Nebeneinanderstellen degradirt <strong>die</strong> „scheinbare<br />

Welt“<br />

2) nochmals überlegt: es wäre nicht nothwendig, daß damit<br />

<strong>die</strong> scheinbare Welt degradirt würde.<br />

Aphorism n=12401 id='VIII.15[21]' kgw='VIII-3.212' ksa='13.418'<br />

Keuschheit. VII<br />

Im Falle der indischen Priester ist nicht nur <strong>die</strong> allen<br />

Priestern eignende Rancune gegen <strong>die</strong> Sinnlichkeit in Betracht zu<br />

ziehen ( — darin nämlich stimmen sie überein: sie nehmen so<br />

<strong>die</strong> Sinnlichkeit als persönlichen Feind.) Das Wesentliche ist,<br />

daß nur eine extreme Rigorosität in <strong>die</strong>ser Hinsicht das<br />

Fundament aller Ordnung, <strong>die</strong> sie geschaffen haben, aufrecht erhält,<br />

den Begriff der Kaste, <strong>die</strong> Distanz der Kasten, <strong>die</strong> Reinheit der<br />

Kasten …<br />

Sie verlangen <strong>die</strong> Ehe, mit aller Strenge, sie sind, ähnlich<br />

wie <strong>die</strong> Chinesen, am entgegengesetzten Ende der europäischen<br />

Page Break KGW='VIII-3.213' KSA='13.419'<br />

Schlaffheit: — sie halten es für eine religiöse Pflicht,<br />

einen Sohn zu haben, sie machen das persönliche Heil im<br />

Jenseits davon abhängig, daß man einen Sohn hat. Man kann nicht<br />

genug Werth auf eine solche Gesinnung legen, eine um hundert


Grad würdigere und ernsthaftere Gesinnung, als sie z.B. das<br />

Christenthum hat. In letzterem kommt <strong>die</strong> Ehe als coitus in<br />

Betracht und nicht weiter — als eine Concession an <strong>die</strong><br />

menschliche Schwachheit und als pis aller der Hurerei.<br />

Aphorism n=12402 id='VIII.15[22]' kgw='VIII-3.213' ksa='13.419'<br />

Mit <strong>die</strong>ser schlechtesten aller möglichen schlechten Musik,<br />

mit <strong>die</strong>ser von Takt zu Takt vorwärts abenteuernden Unruhe<br />

und Unform, welche Leidenschaft bedeuten will und in Wahrheit<br />

<strong>die</strong> niedrigste Stufe der aesthetischen Verrohung ist, habe<br />

ich kein Erbarmen: hier muß man ein Ende machen.<br />

Aphorism n=12403 id='VIII.15[23]' kgw='VIII-3.213' ksa='13.419'<br />

Renaissance und Reformation<br />

Was beweist <strong>die</strong> Renaissance? Daß das Reich <strong>des</strong> „Individuums“<br />

nur kurz sein kann. Die Verschwendung ist zu groß;<br />

es fehlt <strong>die</strong> Möglichkeit selbst, zu sammeln, zu capitalisiren,<br />

und <strong>die</strong> Erschöpfung folgt auf dem Fuße. Es sind Zeiten, wo<br />

Alles verthan wird, wo <strong>die</strong> Kraft selbst verthan wird,<br />

mit der man sammelt, capitalisirt, Reichthum auf Reichthum<br />

häuft … Selbst <strong>die</strong> Gegner solcher Bewegungen sind zu einer<br />

unsinnigen Kraft-Vergeudung gezwungen; auch sie werden alsbald<br />

erschöpft, ausgebraucht, öde.<br />

Wir haben in der Reformation ein wüstes und pöbelhaftes<br />

Gegenstück zur Renaissance Italiens, verwandten Antrieben<br />

entsprungen, nur daß <strong>die</strong>se im zurückgebliebenen, gemeingebliebenen<br />

Norden sich religiös verkleiden mußten, — dort hatte<br />

sich der Begriff <strong>des</strong> höheren Lebens von dem <strong>des</strong> religiösen<br />

Lebens noch nicht abgelöst.<br />

Page Break KGW='VIII-3.214' KSA='13.420'<br />

Auch mit der Reformation will das Individuum zur Freiheit;<br />

„jeder sein eigner Priester“ ist auch nur eine Formel der<br />

Libertinage. In Wahrheit genügte Ein Wort — „evangelische<br />

Freiheit“ — und alle Instinkte, <strong>die</strong> Grund hatten, im Verborgenen<br />

zu bleiben, brachen wie wilde Hunde heraus, <strong>die</strong> brutalsten<br />

Bedürfnisse bekamen mit Einem Male den Muth zu sich,<br />

Alles schien gerechtfertigt … Man hütete sich zu begreifen,<br />

welche Freiheit man im Grunde gemeint hatte, man schloß <strong>die</strong><br />

Augen vor sich … Aber daß man <strong>die</strong> Augen zumachte und <strong>die</strong><br />

Lippen mit schwärmerischen Reden netzte, hinderte nicht,<br />

daß <strong>die</strong> Hände zugriffen wo etwas zu greifen war, daß der<br />

Bauch der Gott <strong>des</strong> „freien Evangeliums“ wurde, daß alle<br />

Rache- und Neidgelüste sich in unersättlicher Wuth befriedigten


… Dies dauerte eine Weile: dann kam <strong>die</strong> Erschöpfung,<br />

ganz so wie sie im Süden Europas gekommen war; und auch<br />

hier wieder eine gemeine Art der Erschöpfung, ein allgemeines<br />

ruere in servitium … Es kam das unanständige<br />

Jahrhundert Deutschlands …<br />

Aphorism n=12404 id='VIII.15[24]' kgw='VIII-3.214' ksa='13.420'<br />

Eine Vergleichung <strong>des</strong> indischen Gesetzbuches mit dem<br />

christlichen ist nicht zu umgehen; es giebt kein besseres Mittel,<br />

um sich das Unreife und Dilettantische in der ganzen christlichen<br />

Tentative zu Gemüthe zu führen.<br />

Aphorism n=12405 id='VIII.15[25]' kgw='VIII-3.214' ksa='13.420'<br />

IX<br />

Wenn durch Übung in einer ganzen Reihe von Geschlechtern<br />

<strong>die</strong> Moral gleichsam einmagazinirt worden ist — also <strong>die</strong><br />

Feinheit, <strong>die</strong> Vorsicht, <strong>die</strong> Tapferkeit, <strong>die</strong> Billigkeit — so<br />

strahlt <strong>die</strong> Gesammtkraft <strong>die</strong>ser aufgehäuften Tugend selbst<br />

noch in <strong>die</strong> Sphäre aus, wo <strong>die</strong> Rechtschaffenheit am seltensten,<br />

in <strong>die</strong> geistige Sphäre.<br />

Page Break KGW='VIII-3.215' KSA='13.421'<br />

In allem Bewußtwerden drückt sich ein Unbehagen <strong>des</strong><br />

Organismus aus: es soll etwas Neues versucht werden, es ist nichts<br />

genügend zurecht dafür, es giebt Mühsal, Spannung, Überreiz<br />

— das alles ist eben Bewußtwerden … Das Genie sitzt im<br />

Instinkt; <strong>die</strong> Güte ebenfalls. Man handelt nur vollkommen,<br />

sofern man instinktiv handelt. Auch moralisch betrachtet, ist<br />

alles Denken, das bewußt verläuft, eine bloße Tentative,<br />

zumeist das Widerspiel der Moral. Die wissenschaftliche<br />

Rechtschaffenheit ist immer ausgehängt, wenn der Denker anfängt<br />

zu räsonniren: man mache <strong>die</strong> Probe, man lege <strong>die</strong> Weisesten<br />

auf <strong>die</strong> Goldwage, indem man sie Moral reden macht …<br />

Das läßt sich beweisen, daß alles Denken, das bewußt<br />

verläuft, auch einen viel niedrigeren Grad von Moralität darstellen<br />

wird, als das Denken <strong>des</strong>selben, so fern es von seinen Instinkten<br />

geführt wird.<br />

Nichts ist seltener unter den Philosophen als<br />

intellektuelle Rechtschaffenheit: vielleicht sagen sie das<br />

Gegentheil, vielleicht glauben sie es selbst. Aber ihr ganzes<br />

Handwerk bringt es mit sich, daß sie nur gewisse Wahrheiten<br />

zulassen; sie wissen, was sie beweisen müssen, sie erkennen<br />

sich beinahe daran als Philosophen, daß sie über <strong>die</strong>se „Wahrheiten“<br />

einig sind. Da sind z.B. <strong>die</strong> moralischen Wahrheiten.


Aber der Glaube an Moral ist noch kein Beweis von Moralität:<br />

es giebt Fälle — und der Fall der Philosophen gehört hierher,<br />

wo ein solcher Glaube einfach eine Unmoralität ist.<br />

Aphorism n=12406 id='VIII.15[26]' kgw='VIII-3.215' ksa='13.421'<br />

Heute, wo in dem Weinberg <strong>des</strong> deutschen Geistes <strong>die</strong><br />

Rhinoxera haust<br />

Aphorism n=12407 id='VIII.15[27]' kgw='VIII-3.215' ksa='13.421'<br />

an deren Busen <strong>die</strong> gelehrte Jugend heute <strong>die</strong> Milch der<br />

Wissenschaft trinkt, Professoren und andere höhere Ammen<br />

Page Break KGW='VIII-3.216' KSA='13.422'<br />

Aphorism n=12408 id='VIII.15[28]' kgw='VIII-3.216' ksa='13.422'<br />

Man hat zu allen Zeiten <strong>die</strong> „schönen Gefühle“ für<br />

Argumente genommen, den „gehobenen Busen“ für den Blasebalg<br />

der Gottheit, <strong>die</strong> Überzeugung als „Kriterium der Wahrheit“,<br />

das Bedürfniß <strong>des</strong> Gegners als Fragezeichen zur Weisheit: <strong>die</strong>se<br />

Falschheit, Falschmünzerei geht durch <strong>die</strong> ganze Geschichte der<br />

Philosophie. Die achtbaren, aber nur spärlichen Skeptiker<br />

abgerechnet, zeigt sich nirgends ein Instinkt von intellektueller<br />

Rechtschaffenheit. Zuletzt hat noch Kant in aller Unschuld<br />

<strong>die</strong>se Denker-Corruption mit dem Begriff „praktische Vernunft“<br />

zu verwissenschaftlichen gesucht: er erfand eigens eine Vernunft<br />

dafür, in welchen Fällen man sich nicht um <strong>die</strong> Vernunft zu<br />

kümmern brauche(1752): nämlich wenn das Bedürfniß <strong>des</strong> Herzens,<br />

wenn <strong>die</strong> Moral, wenn <strong>die</strong> Pflicht redet<br />

Aphorism n=12409 id='VIII.15[29]' kgw='VIII-3.216' ksa='13.422'<br />

Décadence X<br />

Zwei Typen der Moral sind nicht zu verwechseln: eine<br />

Moral, mit der sich der gesund gebliebene Instinkt gegen <strong>die</strong><br />

beginnende décadence wehrt — und eine andere Moral, mit der<br />

eben <strong>die</strong>se décadence sich formulirt, rechtfertigt und selber<br />

abwärts führt … Die erstere pflegt stoisch, hart, tyrannisch zu<br />

sein — der Stoicismus selbst war eine solche Hemmschuh-Moral<br />

— <strong>die</strong> andere ist schwärmerisch, sentimental, voller Geheimnisse,<br />

sie hat <strong>die</strong> Weiber und <strong>die</strong> „schönen Gefühle“ für sich.


Aphorism n=12410 id='VIII.15[30]' kgw='VIII-3.216' ksa='13.422'<br />

Décadence<br />

„Die Erlösung von aller Schuld.“<br />

Man spricht von der „tiefen Ungerechtigkeit“ <strong>des</strong> socialen<br />

Pakts: wie als ob <strong>die</strong> Thatsache, daß <strong>die</strong>ser unter günstigen,<br />

jener unter ungünstigen Verhältnissen geboren wird, von<br />

vornherein eine Ungerechtigkeit sei; oder gar schon, daß <strong>die</strong>ser mit<br />

<strong>die</strong>sen Eigenschaften, jener mit jenen geboren wird. Von Seiten<br />

Page Break KGW='VIII-3.217' KSA='13.423'<br />

der Aufrichtigsten unter <strong>die</strong>sen Gegnern der Gesellschaft wird<br />

dekretirt: „wir selber sind mit allen unseren schlechten,<br />

krankhaften, verbrecherischen Eigenschaften, <strong>die</strong> wir eingestehen,<br />

nur <strong>die</strong> unvermeidlichen Folgen einer seculären Unterdrückung<br />

der Schwachen durch <strong>die</strong> Starken“; sie schieben ihren Charakter<br />

den herrschenden Ständen in's Gewissen. Und man droht,<br />

man zürnt, man verflucht; man wird tugendhaft vor Entrüstung<br />

—, man will nicht umsonst ein schlechter Mensch, eine<br />

canaille geworden sein … Diese Attitüde, eine Erfindung<br />

unsrer letzten Jahrzehnte, heißt sich, soviel ich höre, auch<br />

Pessimismus, und zwar Entrüstungs-Pessimismus. Hier wird der<br />

Anspruch gemacht, <strong>die</strong> Geschichte zu richten, sie ihrer Fatalität zu<br />

entkleiden, eine Verantwortlichkeit hinter ihr, Schuldige<br />

in ihr zu finden. Denn darum handelt es sich: man braucht<br />

Schuldige. Die Schlechtweggekommenen, <strong>die</strong> décadents jeder<br />

Art sind in Revolte über sich und brauchen Opfer, um nicht an<br />

sich selbst ihren Vernichtungs-Durst zu löschen (was an sich<br />

vielleicht <strong>die</strong> Vernunft für sich hätte). Dazu haben sie einen<br />

Schein von Recht nöthig, das heißt eine Theorie, auf welche<br />

hin sie <strong>die</strong> Thatsache ihrer Existenz, ihres So-und-so-seins auf<br />

irgend einen Sündenbock abwälzen können. Dieser Sündenbock<br />

kann Gott sein — es fehlt in Rußland nicht an solchen<br />

Atheisten aus ressentiment — oder <strong>die</strong> gesellschaftliche<br />

Ordnung, oder <strong>die</strong> Erziehung und der Unterricht, oder <strong>die</strong> Juden,<br />

oder <strong>die</strong> Vornehmen oder überhaupt Gutweggekommene<br />

irgend welcher Art. „Es ist ein Verbrechen, unter<br />

günstigen Bedingungen geboren zu werden: denn damit hat man<br />

<strong>die</strong> Anderen enterbt, bei Seite gedrückt, zum Laster, selbst zur<br />

Arbeit verdammt“ … „Was kann ich dafür, miserabel zu<br />

sein! Aber irgendwer muß etwas dafür können, sonst wäre<br />

es nicht auszuhalten!“ … Kurz, der Entrüstungs-Pessimismus<br />

erfindet Verantwortlichkeiten, um sich ein<br />

angenehmes Gefühl zu schaffen — <strong>die</strong> Rache … „Süßer<br />

als Honig“ nennt sie schon der alte Homer. —<br />

Page Break KGW='VIII-3.218' KSA='13.424'


2.<br />

Daß eine solche Theorie nicht mehr Verständniß, will sagen<br />

Verachtung findet, das macht das Stück Christenthum,<br />

das uns Allen noch im Blute steckt: so daß wir tolerant gegen<br />

Dinge sind, bloß weil sie von fern etwas christlich riechen …<br />

Die Socialisten appelliren an <strong>die</strong> christlichen Instinkte, das ist<br />

noch ihre feinste Klugheit … Vom Christenthum her sind wir<br />

an den abergläubischen Begriff der „Seele“ gewöhnt, an <strong>die</strong><br />

„unsterbliche Seele“, an <strong>die</strong> Seelen-Monade, <strong>die</strong> eigentlich ganz wo<br />

anders zu Hause ist und nur zufällig in <strong>die</strong>se oder jene<br />

Umstände, ins „Irdische“ gleichsam hineingefallen ist, „Fleisch“<br />

geworden ist: doch ohne daß ihr Wesen dadurch berührt,<br />

geschweige denn bedingt wäre. Die gesellschaftlichen,<br />

verwandtschaftlichen, historischen Verhältnisse sind für <strong>die</strong> Seele nur<br />

Gelegenheiten, Verlegenheiten vielleicht; jedenfalls ist sie nicht<br />

deren Werk. Mit <strong>die</strong>ser Vorstellung ist das Individuum<br />

transscendent gemacht; es darf auf sie hin sich eine unsinnige<br />

Wichtigkeit beilegen. In der That hat erst das Christenthum das<br />

Individuum herausgefordert, sich zum Richter über Alles und<br />

Je<strong>des</strong> aufzuwerfen, der Größenwahn ist ihm beinahe zur Pflicht<br />

gemacht: es hat ja ewige Rechte gegen alles Zeitliche und<br />

Bedingte geltend zu machen! Was Staat! Was Gesellschaft! Was<br />

historische Gesetze! Was Physiologie! Hier redet ein Jenseits<br />

<strong>des</strong> Werdens, ein Unwandelbares in aller Historie, hier redet<br />

etwas unsterbliches, etwas Göttliches, eine Seele! Ein<br />

anderer christlicher nicht weniger verrückter Begriff hat sich noch<br />

weit tiefer ins Fleisch der Modernität vererbt: der Begriff von<br />

der Gleichheit der Seelen vor Gott. In ihm ist das<br />

Prototyp aller Theorien der gleichen Rechte gegeben:<br />

man hat <strong>die</strong> Menschheit den Satz von der Gleichheit erst<br />

religiös stammeln gelehrt, man hat ihr später eine Moral daraus<br />

gemacht: und was Wunder, daß der Mensch damit endet, ihn<br />

ernst zu nehmen, ihn praktisch zu nehmen! will sagen politisch,<br />

demokratisch, socialistisch, entrüstungs-pessimistisch …<br />

Page Break KGW='VIII-3.219' KSA='13.425'<br />

Überall, wo Verantwortlichkeiten gesucht worden sind, ist<br />

es der Instinkt der Rache gewesen, der da suchte. Dieser<br />

Instinkt der Rache wurde in Jahrtausenden dermaßen über<br />

<strong>die</strong> Menschheit Herr, daß <strong>die</strong> ganze Metaphysik, Psychologie,<br />

Geschichtsvorstellung, vor Allem aber <strong>die</strong> Moral mit ihm<br />

abgezeichnet worden ist. So weit auch nur der Mensch gedacht<br />

hat, so weit hat er den Bacillus der Rache in <strong>die</strong> Dinge geschleppt.<br />

Er hat Gott selbst damit krank gemacht, er hat das Dasein<br />

überhaupt um seine Unschuld gebracht: nämlich dadurch, daß er<br />

je<strong>des</strong> So-und-So-sein auf Willen, auf Absichten, auf Akte der<br />

Verantwortlichkeit zurückführte. Die ganze Lehre vom Willen,<br />

<strong>die</strong>se verhängnißvollste Fälschung in der bisherigen Psychologie,<br />

wurde wesentlich erfunden zum Zweck der Rache. Es


war <strong>die</strong> gesellschaftliche Nützlichkeit der Strafe, <strong>die</strong><br />

<strong>die</strong>sem Begriff seine Würde, seine <strong>Macht</strong>, seine Wahrheit<br />

verbürgte. Die Urheber der älteren Psychologie — der<br />

Willens-Psychologie — hat man in den Ständen zu suchen, welche das<br />

Strafrecht in den Händen hatten, voran in dem der Priester an<br />

der Spitze der ältesten Gemeinwesen: sie wollten sich ein Recht<br />

schaffen, Rache zu nehmen — oder sie wollten Gott ein Recht<br />

zur Rache schaffen. Zu <strong>die</strong>sem Zwecke wurde der Mensch „frei“<br />

gedacht; zu <strong>die</strong>sem Zwecke mußte jede Handlung als gewollt,<br />

mußte der Ursprung jeder Handlung als im Bewußtsein liegend<br />

gedacht werden. Allein in <strong>die</strong>sen Sätzen ist <strong>die</strong> alte Psychologie<br />

conservirt. — Heute, wo Europa in <strong>die</strong> umgekehrte Bewegung<br />

eingetreten scheint, wo wir Halkyonier zumal mit aller Kraft<br />

den Schuldbegriff und Strafbegriff aus der Welt<br />

wieder zurückzuziehen, herauszunehmen, auszulöschen suchen,<br />

wo unser größter Ernst darauf aus ist, <strong>die</strong> Psychologie, <strong>die</strong> Moral,<br />

<strong>die</strong> Geschichte, <strong>die</strong> Natur, <strong>die</strong> gesellschaftlichen Institutionen<br />

und Sanktionen, Gott selbst von <strong>die</strong>sem Schmutz zu reinigen<br />

— in wem müssen wir unsre natürlichsten Antagonisten<br />

sehen? Eben in jenen Aposteln der Rache und <strong>des</strong> Ressentiments,<br />

in jenen Entrüstungs-Pessimisten par excellence, welche<br />

Page Break KGW='VIII-3.220' KSA='13.426'<br />

eine Mission daraus machen, ihren Schmutz unter dem Namen<br />

„Entrüstung“ zu heiligen … Wir Anderen, <strong>die</strong> wir dem<br />

Werden seine Unschuld zurückzugewinnen wünschen, möchten <strong>die</strong><br />

Missionare eines reinlicheren Gedankens sein; daß Niemand<br />

dem Menschen seine Eigenschaften gegeben hat, weder Gott,<br />

noch <strong>die</strong> Gesellschaft, noch seine Eltern und Vorfahren, noch er<br />

selbst, — daß Niemand schuld an ihm ist … Es fehlt ein<br />

Wesen, das dafür verantwortlich gemacht werden könnte, daß<br />

Jemand überhaupt da ist, daß Jemand so und so ist, daß<br />

Jemand unter <strong>die</strong>sen Umständen, in <strong>die</strong>ser Umgebung geboren<br />

ist. — Es ist ein großes Labsal, daß solch ein<br />

Wesen fehlt … Wir sind nicht das Resultat einer ewigen<br />

Absicht, eines Willens, eines Wunsches: mit uns wird<br />

nicht der Versuch gemacht, ein „Ideal von Vollkommenheit“<br />

oder ein „Ideal von Glück“ oder ein „Ideal von Tugend“ zu<br />

erreichen, — wir sind ebensowenig der Fehlgriff Gottes, vor<br />

dem ihm selber angst werden müßte ( — mit welchem Gedanken<br />

bekanntlich das alte Testament beginnt). Es fehlt jeder Ort,<br />

jeder Zweck, jeder Sinn, wohin wir unser Sein, unser So-und-so-sein<br />

abwälzen könnten. Vor allem: Niemand könnte es:<br />

man kann das Ganze nicht richten, messen, vergleichen oder<br />

gar verneinen. Warum nicht? — Aus fünf Gründen, allesammt<br />

selbst, bescheidenen Intelligenzen zugänglich: zum Beispiel,<br />

weil es nichts giebt außer dem Ganzen. — Und<br />

nochmals gesagt, das ist ein großes Labsal, darin liegt <strong>die</strong><br />

Unschuld alles Daseins.


Aphorism n=12411 id='VIII.15[31]' kgw='VIII-3.220' ksa='13.426'<br />

XI<br />

Grundeinsicht über das Wesen der décadence:<br />

was man bisher als deren Ursachen angesehen<br />

hat, sind deren Folgen.<br />

Damit verändert sich <strong>die</strong> ganze Perspektive der<br />

moralischen Probleme.<br />

Page Break KGW='VIII-3.221' KSA='13.427'<br />

Laster:<br />

Luxus:<br />

Verbrechen:<br />

selbst Krankheit:<br />

: der ganze Moral-Kampf gegen Laster, Luxus usw. erscheint<br />

als Naivetät, als überflüssig …:<br />

: es giebt keine „Besserung“ — gegen <strong>die</strong> Reue<br />

Die décadence selbst ist nichts, was zu bekämpfen<br />

wäre: sie ist absolut nothwendig und jeder Zeit und jedem<br />

Volk eigen. Was mit aller Kraft zu bekämpfen, das ist <strong>die</strong><br />

Einschleppung <strong>des</strong> Contagiums in <strong>die</strong> gesunden Theile <strong>des</strong><br />

Organismus.<br />

Thut man das? Man thut das Gegentheil.<br />

Genau darum bemüht man sich seitens der Humanität<br />

Wie verhalten sich zu <strong>die</strong>ser biologischen Grundfrage<br />

<strong>die</strong> bisherigen obersten Werthe?<br />

1) Die Philosophie<br />

<strong>die</strong> Religion<br />

<strong>die</strong> Moral<br />

<strong>die</strong> Kunst<br />

usw.<br />

<strong>die</strong> Kur: z.B. der Militarism, von Napoleon an, der in<br />

der Civilisation seine natürliche Feindin sah …<br />

Aphorism n=12412 id='VIII.15[32]' kgw='VIII-3.221' ksa='13.427'<br />

Die Frage der décadence: zu begreifen, welche<br />

Phänomene zueinander gehören und hier ihren gemeinsamen Heerd<br />

haben<br />

Anarchismus<br />

Weibs-Emancipation<br />

Abnahme der Krankheit, Seuchen usw.<br />

Defensiv-Kräfte<br />

Übergewicht <strong>des</strong> ressentiment der Entrüstungs-pessimismus<br />

Page Break KGW='VIII-3.222' KSA='13.428'


das Mitgefühl mit allem<br />

Leidenden das Mitleiden<br />

der Mangel an Laster, Corruption (Kritik<br />

Hemmungs-Apparaten der Sinne, der Leidenschaften)<br />

<strong>die</strong> Verhäßlichung <strong>die</strong> Zunahme der Häßlichkeit<br />

(<strong>die</strong> Schönheit als<br />

erarbeitet<br />

<strong>die</strong> „Toleranz“ <strong>die</strong> Skepsis, <strong>die</strong> „Objektivität“<br />

Übergewicht der <strong>die</strong> Pessimisten (physiologisch<br />

Schwäche-Gefühle décadents<br />

<strong>die</strong> auflösenden Instinkte <strong>die</strong> liberalen Institutionen<br />

Talent, mehrere Personen Heuchelei, Schauspielerei:<br />

darzustellen <strong>die</strong> Schwächung der Person<br />

das „Umsonst“, <strong>die</strong> der Nihilismus.<br />

„Sinnlosigkeit“<br />

übermäßige Reizbarkeit <strong>die</strong> Hyperirritabilität<br />

<strong>die</strong> Weibs-Emancipation „Musik“<br />

der „Artist“<br />

der „romancier“<br />

Bedürfniß nach Reizmitteln Luxus als — — —<br />

das Bedürfniß der narcotica,<br />

<strong>die</strong> Ausschweifung in Musik<br />

und Alkohol (auch Buch)<br />

<strong>die</strong> Tyrannei <strong>des</strong> milieu<br />

Aphorism n=12413 id='VIII.15[33]' kgw='VIII-3.222' ksa='13.428'<br />

Die Philosophien.<br />

Die Religionen. Sterilität, Coelibat (Haß gegen <strong>die</strong><br />

Die Moralen. Sinne: bei Schopenhauer z.B.<br />

Page Break KGW='VIII-3.223' KSA='13.429'<br />

Aphorism n=12414 id='VIII.15[34]' kgw='VIII-3.223' ksa='13.429'<br />

Die Philosophien <strong>des</strong> Pessimismus:<br />

physiologisch décadents<br />

z.B. Baudelaire<br />

Schopenhauer<br />

Leopardi: geschlechtliche Irrungen am Anfang,<br />

Impotenz bei Zeiten als Folge<br />

Aphorism n=12415 id='VIII.15[35]' kgw='VIII-3.223' ksa='13.429'


man hat den unwürdigen Versuch gemacht, in Wagner und<br />

Schopenhauer Typen der geistig-Gestörten zu sehen: eine<br />

ungleich wesentlichere Einsicht wäre gewonnen, den Typus der<br />

décadence, den beide darstellen, wissenschaftlich zu präcisiren.<br />

Aphorism n=12416 id='VIII.15[36]' kgw='VIII-3.223' ksa='13.429'<br />

Das gegenwärtige Deutschland, das mit Anspannung aller<br />

Kräfte arbeitet und eine Überladung und frühzeitiges Alter zu<br />

seinen normalen Folgen zählt, wird sich schon in 2 Generationen<br />

abzahlen mit einer tiefen Degenerescenz-Erscheinung …<br />

Einstweilen constatiren wir nur <strong>die</strong> zunehmende Entgeistigung<br />

und Verpöbelung <strong>des</strong> Geschmacks — ein immer vulgäreres<br />

Erholungs-Bedürfniß: <strong>die</strong> späteren Zeiten werden <strong>die</strong> krankhaften<br />

Bedürfnisse im Vordergrunde finden, <strong>die</strong> Steigerung der<br />

Reizmittel, <strong>die</strong> alkoholischen und Musik-Opiate.<br />

Aphorism n=12417 id='VIII.15[37]' kgw='VIII-3.223' ksa='13.429'<br />

Féré p. 89. XII<br />

<strong>die</strong> Unfähigkeit zur fortgesetzten Arbeit<br />

Folge excessiver Arbeit unter ungenügender Ernährung,<br />

namentlich einer immer tieferen und dauerhafteren(1753) Erschöpfung,<br />

welche in der nächsten Generation morbide Erscheinungen<br />

zu Tage bringt<br />

wir kennen auch eine hereditäre Überarbeitung: Hauptursache<br />

Page Break KGW='VIII-3.224' KSA='13.430'<br />

für <strong>die</strong> Degeneration(1754) einer Rasse, — damit wird sie<br />

immer unfähiger für produktive Anstrengungen<br />

Die Faulheit, als Unfähigkeit zu anhaltender Anstrengung,<br />

der Degeneration zu eigen. Solche Individuen, <strong>die</strong> nicht nur<br />

Nahrung, sondern spezielle Reizmittel brauchen, um ihre<br />

niedergehende Lebenskraft zu steigern, wollen sich erhalten<br />

lassen durch <strong>die</strong> Arbeit Anderer. Sie be<strong>die</strong>nen sich dazu der List oder<br />

der Gewaltthat. (d.h. der einmaligen Anstrengung)<br />

Dreiviertel der Degenerirten sind aus Dürftigkeit,<br />

<strong>die</strong> Hälfte sind ohne Arbeit. Aber <strong>die</strong> Dürftigkeit ist<br />

bereits eine Folge der Arbeits-Unfähigkeit, <strong>des</strong> typischen<br />

Müßiggangs <strong>des</strong> Degenerirten …<br />

— <strong>die</strong> einmalige Anstrengung: Symptom.<br />

Faulheit, Armut, Verbrechen, Parasitismus,<br />

Der Unterricht vermehrt <strong>die</strong> Bedürfnisse und <strong>die</strong> Begehrlichkeit,<br />

ohne <strong>die</strong> Mittel zu vermehren, sie zu befriedigen.<br />

Mit dem obligatorischen(1755) Unterricht erschöpft man <strong>die</strong>


Reserven einer Rasse.<br />

<strong>die</strong> Criminalität ist dort am größten, wo <strong>die</strong> Erschöpfung<br />

am größten d.h. wo am unsinnigsten gearbeitet, in der<br />

Sphäre <strong>des</strong> Handels und der Industrie<br />

Überarbeitung, Erschöpfung, Stimulirungs-Bedürfniß<br />

(Laster), Steigerung der Irritabilität und der<br />

Schwäche (so daß sie explosiv werden)<br />

Die Mißstalteten, <strong>die</strong> Degenerirten, und Impotenten jeder<br />

Art haben eine Art Instinkt für einander: aus ihm wachsen <strong>die</strong><br />

antisocialen Wesen<br />

(weil ihre Eltern unfähig waren, sich an Gesellschaften<br />

anzupassen)<br />

sie suchen, <strong>die</strong> Irren z.B.<br />

in neuropathischen Familien giebt es eine degenerative<br />

Selection (Goethe „Wahlverwandtschaften“)<br />

Page Break KGW='VIII-3.225' KSA='13.431'<br />

das Geschlecht aus dem Laster und dem Verbrechen geboren<br />

ist antisocial — auch das Dienstboten-Thier (eine<br />

leichte Arbeit und relatives(1756) Wohlbefinden) bereitet<br />

antisociale Elemente vor (Huren, Diebe, Verbrecher jeder Art)<br />

Der Trunk und <strong>die</strong> Ausschweifung steigern <strong>die</strong><br />

Degenerescenz<br />

Vermehrung der Krankheiten durch Verlangsamung<br />

der Ernährung<br />

Neurose, Psychose und Recru<strong>des</strong>cenz der Criminalität<br />

Das Unvermögen zum Kampf: das ist Degenerescenz<br />

„man muß den Kampf abschaffen<br />

<strong>die</strong> Kämpfenden zuerst!“<br />

Der Mord und der Selbstmord gehören zusammen und<br />

folgen sich im Verhältniß der Lebensalter und der Jahreszeiten<br />

der Pessimismus und der Selbstmord gehören zusammen<br />

Bedürfniß nach Aufregungen und Reizen:<br />

Luxus — einer der ersten Schritte der décadence. Die<br />

Reizung macht <strong>die</strong> Schwäche …<br />

Die Degenerirten fühlen eine Anziehungskraft von einem<br />

Regime, das ihnen schädlich ist, das den Gang der Degenerescenz<br />

beschleunigt (<strong>die</strong> Anämischen, <strong>die</strong> Hysterischen, <strong>die</strong> Diabetiker,<br />

<strong>die</strong> Dystrophyker)<br />

Aphorism n=12418 id='VIII.15[38]' kgw='VIII-3.225' ksa='13.431'<br />

Und, inmitten <strong>die</strong>ser décadence, <strong>die</strong> Kriege um das<br />

„Vaterland“, um <strong>die</strong>se lächerliche Nachgeburt <strong>des</strong> Patriotismus,<br />

welche, aus wirthschaftlichen Gründen, schon in hundert Jahren,


eine Komö<strong>die</strong> sein wird …<br />

<strong>die</strong>se Austilgung der bestgerathenen Männer durch<br />

den Krieg —<br />

Page Break KGW='VIII-3.226' KSA='13.432'<br />

Aphorism n=12419 id='VIII.15[39]' kgw='VIII-3.226' ksa='13.432'<br />

XIII<br />

Dem Wohlgerathenen, der meinem Herzen wohlthut,<br />

aus einem Holz geschnitzt, welches hart, zart und wohlriechend<br />

ist, — an dem selbst <strong>die</strong> Nase noch ihre Freude hat —<br />

sei <strong>die</strong>s Buch geweiht.<br />

ihm schmeckt, was ihm zuträglich ist<br />

sein Gefallen an etwas hört auf, wo das Maaß <strong>des</strong> Zuträglichen<br />

überschritten wird<br />

er erräth <strong>die</strong> Heilmittel gegen partielle Schädigungen, er<br />

hat Krankheiten als große Stimulantia seines Lebens<br />

er versteht seine schlimmen Zufälle auszunützen<br />

er wird stärker, durch <strong>die</strong> <strong>Unglücks</strong>fälle, <strong>die</strong> ihn zu<br />

vernichten drohen<br />

er sammelt instinktiv aus allem, was er sieht, hört, erlebt,<br />

zu Gunsten seiner Hauptsache — er folgt einem auswählenden<br />

Princip, — er läßt viel durchfallen<br />

er reagirt mit der Langsamkeit, welche eine lange Vorsicht<br />

und ein gewollter Stolz angezüchtet haben, — er prüft den<br />

Reiz, woher er kommt, wohin er will, er unterwirft sich nicht<br />

er ist immer in seiner Gesellschaft, ob er mit Büchern,<br />

Menschen oder Landschaften verkehrt: er ehrt, indem er<br />

wählt, indem er zuläßt, indem er vertraut …<br />

Aphorism n=12420 id='VIII.15[40]' kgw='VIII-3.226' ksa='13.432'<br />

Daß <strong>die</strong> Civilisation den physiologischen Niedergang<br />

einer Rasse nach sich zieht.<br />

Der Bauer von den großen Städten aufgefressen: eine<br />

unnatürliche Überreizung <strong>des</strong> Kopfes und der Sinne. Die<br />

Ansprüche an ihr Nervensystem sind zu groß; Skropheln,<br />

Schwindsucht, Nervenkrankheiten, je<strong>des</strong> neue Reizmittel steigert<br />

nur das rasche Verschwinden der Schwachen: <strong>die</strong> Epidemien<br />

raffen <strong>die</strong> Schwachen fort …<br />

Die Unproduktiven<br />

Page Break KGW='VIII-3.227' KSA='13.433'<br />

<strong>die</strong> Faulheit ist eigen den Nervenschwachen, den Hysterischen,<br />

den Melancholikern, den Epileptikern, den Verbrechern


Aphorism n=12421 id='VIII.15[41]' kgw='VIII-3.227' ksa='13.433'<br />

Nicht <strong>die</strong> Natur ist unmoralisch, wenn sie ohne Mitleid für<br />

<strong>die</strong> Degenerirten ist: das Wachsthum der physiologischen und<br />

moralischen Übel im menschlichen Geschlecht ist umgekehrt <strong>die</strong><br />

Folge einer krankhaften und unnatürlichen<br />

Moral<br />

<strong>die</strong> Sensibilität der Mehrzahl der(1757) Menschen ist krankhaft<br />

und unnatürlich<br />

woran hängt es, daß <strong>die</strong> Menschheit corrupt ist in<br />

moralischer und physiologischer Beziehung?<br />

Der Leib geht zu Grunde, wenn ein Organ alterirt ist …<br />

man kann nicht das Recht <strong>des</strong> Altruismus auf <strong>die</strong> Physiologie<br />

zurückführen<br />

ebensowenig das Recht auf Hülfe, auf Gleichheit der Loose:<br />

das sind alles Prämien für <strong>die</strong> Degenerirten und<br />

Schlechtweggekommenen.<br />

Es giebt keine Solidarität in einer Gesellschaft, wo<br />

es unfruchtbare, unproduktive und zerstörerische Elemente<br />

giebt, <strong>die</strong> übrigens noch entartetere Nachkommen haben<br />

werden als sie selbst.<br />

Aphorism n=12422 id='VIII.15[42]' kgw='VIII-3.227' ksa='13.433'<br />

„Besserung“ XIV<br />

Kritik der heiligen Lüge.<br />

Daß zu frommen Zwecken <strong>die</strong> Lüge erlaubt ist, das gehört<br />

zur Theorie aller Priesterschaften, — wie weit es zu ihrer<br />

Praxis gehört, soll der Gegenstand <strong>die</strong>ser Untersuchung sein.<br />

Aber auch <strong>die</strong> Philosophen, sobald sie mit priesterlichen<br />

Hinterabsichten <strong>die</strong> Leitung der Menschen in <strong>die</strong> Hände zu<br />

nehmen beabsichtigen, haben sofort auch sich ein Recht zur Lüge<br />

Page Break KGW='VIII-3.228' KSA='13.434'<br />

zurecht gemacht: Plato voran. Am großartigsten ist <strong>die</strong><br />

doppelte durch <strong>die</strong> typisch-arischen Philosophen <strong>des</strong> Vedanta<br />

entwickelte: zwei Systeme, in allen Hauptpunkten widersprüchlich,<br />

aber aus Erziehungszwecken sich ablösend, ausfüllend,<br />

ergänzend. Die Lüge <strong>des</strong> Einen soll einen Zustand schaffen, in<br />

dem <strong>des</strong> anderen Wahrheit überhaupt hörbar wird …<br />

Wie weit geht <strong>die</strong> fromme Lüge der Priester und der<br />

Philosophen? — Man muß hier fragen, welche Voraussetzungen<br />

zur Erziehung sie haben, welche Dogmen sie erfinden<br />

müssen, um <strong>die</strong>sen Voraussetzungen genug zu thun?<br />

Erstens: sie müssen <strong>die</strong> <strong>Macht</strong>, <strong>die</strong> Autorität, <strong>die</strong> unbedingte


Glaubwürdigkeit auf ihrer Seite haben<br />

Zweitens: sie müssen den ganzen Naturverlauf in Händen<br />

haben, so daß alles, was den Einzelnen trifft, als bedingt durch<br />

ihr Gesetz erscheint<br />

Drittens: sie müssen auch einen weiter reichenden <strong>Macht</strong>bereich<br />

haben, <strong>des</strong>sen Controle sich den Blicken ihrer Unterworfenen<br />

entzieht: das Strafmaaß für das Jenseits, das „Nach-dem-Tode“,<br />

— wie billig auch <strong>die</strong> Mittel, zur Seligkeit den Weg zu<br />

wissen<br />

Sie haben den Begriff <strong>des</strong> natürlichen Verlaufs zu entfernen:<br />

da sie aber kluge und nachdenkliche Leute sind, so können sie<br />

eine Menge Wirkungen versprechen, natürlich als bedingt<br />

durch Gebete oder durch strikte Befolgung ihres Gesetzes …<br />

sie können insgleichen eine Menge Dinge verordnen,<br />

<strong>die</strong> absolut vernünftig sind, — nur daß sie nicht <strong>die</strong> Erfahrung,<br />

<strong>die</strong> Empirie als Quelle <strong>die</strong>ser Weisheit nennen dürfen, sondern<br />

eine Offenbarung, oder <strong>die</strong> Folge „härtester Bußübungen“<br />

<strong>die</strong> heilige Lüge bezieht sich also principiell: auf den<br />

Zweck der Handlung ( — der Naturzweck, <strong>die</strong> Vernunft<br />

wird unsichtbar gemacht, ein Moral-Zweck, eine Gesetzeserfüllung,<br />

eine Gottes<strong>die</strong>nstlichkeit erscheint als Zweck<br />

: auf <strong>die</strong> Folge der Handlung ( — <strong>die</strong> natürliche Folge wird<br />

als übernatürliche ausgelegt, und, um sicher zu wirken, es<br />

Page Break KGW='VIII-3.229' KSA='13.435'<br />

werden uncontrolirbare andre übernatürliche Folgen in Aussicht<br />

gestellt.<br />

auf <strong>die</strong>se Weise wird ein Begriff von Gut und Böse<br />

geschaffen, der ganz und gar losgelöst von dem Naturbegriff<br />

„nützlich“ „schädlich“ lebenfördernd, „lebenvermindernd“<br />

erscheint — er kann, insofern ein andres Leben erdacht ist,<br />

sogar direkt feindselig dem Naturbegriff von Gut und<br />

Böse werden<br />

auf <strong>die</strong>se Weise wird endlich das berühmte „Gewissen“<br />

geschaffen: eine innere Stimme, welche bei jeder Handlung nicht<br />

den Werth der Handlung an ihren Folgen mißt, sondern in<br />

Hinsicht auf <strong>die</strong> Absicht und Conformität <strong>die</strong>ser Absicht mit<br />

dem „Gesetz“<br />

Die heilige Lüge hat also<br />

einen strafenden und belohnenden Gott erfunden,<br />

der exakt das Gesetzbuch der Priester anerkennt und<br />

exakt sie als seine Mundstücke und Bevollmächtigten in <strong>die</strong><br />

Welt schickt<br />

ein Jenseits <strong>des</strong> Lebens, in dem <strong>die</strong> große Straf-Maschine<br />

erst wirksam gedacht wird, — zu <strong>die</strong>sem Zwecke <strong>die</strong><br />

„Unsterblichkeit der Seele“<br />

das Gewissen im Menschen, als das Bewußtsein davon,<br />

daß Gut und Böse feststeht, — daß Gott selbst hier redet, wenn<br />

es <strong>die</strong> Conformität mit der priesterlichen Vorschrift anräth<br />

<strong>die</strong> Moral als Leugnung alles natürlichen Verlaufs,


als Reduktion alles Geschehens auf ein moralisch-bedingtes<br />

Geschehen, <strong>die</strong> Moralwirkung (d.h. <strong>die</strong> Straf- und Lohn-Idee) als<br />

<strong>die</strong> Welt durchgringend, als einzige Gewalt, als creator von<br />

allem Wechsel<br />

<strong>die</strong> Wahrheit als gegeben, als geoffenbart, als zusammenfallend<br />

mit der Lehre der Priester: als Bedingung alles Heils<br />

und Glücks in <strong>die</strong>sem und jenem Leben<br />

In summa: womit ist <strong>die</strong> moralische Besserung bezahlt?<br />

Page Break KGW='VIII-3.230' KSA='13.436'<br />

Aushängung der Vernunft, Reduktion aller Motive<br />

auf Furcht und Hoffnung (Strafe und Lohn)<br />

Abhängigkeit von einer priesterlichen Vormundschaft,<br />

von einer Formalien-Genauigkeit, welche den Anspruch macht,<br />

einen göttlichen Willen auszudrücken<br />

<strong>die</strong> Einpflanzung eines „Gewissens“, welches ein falsches<br />

Wissen an Stelle der Prüfung und <strong>des</strong> Versuchs setzt<br />

: wie als ob es bereits feststünde, was zu thun und was zu<br />

lassen wäre — eine Art Castration <strong>des</strong> suchenden und vorwärts<br />

strebenden Geistes<br />

: in summa, <strong>die</strong> ärgste Verstümmelung <strong>des</strong> Menschen,<br />

<strong>die</strong> man sich vorstellen kann(1758), angeblich als „der gute<br />

Mensch“<br />

In praxi ist <strong>die</strong> ganze Vernunft, <strong>die</strong> ganze Erbschaft von<br />

Klugheit, Feinheit, Vorsicht, welche <strong>die</strong> Voraussetzung <strong>des</strong><br />

priesterlichen Kanons ist, willkürlich hinterdrein auf eine bloße<br />

Mechanik reduzirt<br />

<strong>die</strong> Conformität mit dem Gesetz gilt bereits als Ziel, als<br />

oberstes Ziel, — das Leben hat keine Probleme<br />

mehr —<br />

<strong>die</strong> ganze Welt-Conception ist beschmutzt mit der Strafidee …<br />

das Leben selbst ist, mit Hinsicht darauf, das priesterliche<br />

Leben als das non plus ultra der Vollkommenheit darzustellen,<br />

in eine Verleumdung und Beschmutzung <strong>des</strong> Lebens<br />

umgedacht …<br />

der Begriff „Gott“ stellt eine Abkehr vom Leben, eine<br />

Kritik, eine Verachtung selbst <strong>des</strong> Lebens dar …<br />

<strong>die</strong> Wahrheit ist umgedacht als <strong>die</strong> priesterliche<br />

Lüge, das Streben nach Wahrheit als Studium der<br />

Schrift, als Mittel, Theolog zu werden …<br />

Page Break KGW='VIII-3.231' KSA='13.437'<br />

Aphorism n=12423 id='VIII.15[43]' kgw='VIII-3.231' ksa='13.437'<br />

Die Verführung der Menschheit unter dem Mantel der<br />

heiligsten Absicht<br />

der verbrecherische Gebrauch, der bisher mit dem Worte


„Wahrheit“ getrieben worden ist<br />

Ich habe eine schlimme und verhängnißvolle Geschichte zu<br />

erzählen, <strong>die</strong> Geschichte <strong>des</strong> längsten Verbrechens, der unseligsten<br />

Verführung, der überlegtesten Giftmischerei, das eigentlich<br />

schwarze Ereigniß der Menschheit, unter <strong>des</strong>sen Bann <strong>die</strong><br />

tiefsten Instinkte <strong>des</strong> Lebens verketzert und in Frage gestellt<br />

worden sind …<br />

Priester(1759): sie verwechseln Ursache und Wirkung<br />

Priester(1760): sie verwechseln <strong>die</strong> Ruhe als Stärke und <strong>die</strong><br />

Ruhe als Ohnmacht<br />

Sollte man glauben, daß es möglich wäre, über Ursache<br />

und Wirkung einen Irrthum zu verbreiten, so daß man <strong>die</strong><br />

Wirkung als Ursache empfindet? Es scheint unmöglich: aber<br />

unter der Verführung der Moral ist es gelungen …<br />

Man hat zu allen Zeiten, seitens der Priester, den Verfall<br />

eines Geschlechts, eines Volks, als Strafe für seine Laster, für<br />

seine Ungläubigkeit und Freigeisterei, dargestellt man hat<br />

insgleichen Krankheit, Seuchen, Geisteskrankheiten als Folgen von<br />

Entfremdung vom Glauben dargestellt,<br />

umgekehrt hat man langes Leben und Glück der Familie<br />

und Nachkommenschaft als Lohn für <strong>die</strong> Frömmigkeit<br />

und Gesetzes-Erfüllung in Aussicht gestellt<br />

heute sagen wir umgekehrt: <strong>die</strong> Tüchtigkeit eines Menschen<br />

seine „Rechtschaffenheit“ ist <strong>die</strong> Folge langer glücklicher Ehen<br />

und der Ausdruck einer vernünftigen Wahl der Zu-Paarenden, —<br />

dadurch können Kräfte aufsummirt werden …, ein Ausdruck<br />

vom Glück der Vorfahren<br />

Laster, Verbrechen, Krankhaftigkeit, Irrsinn, Libertinage<br />

auch <strong>die</strong> geistige, sind Folgen der décadence,<br />

Symptome derselben, — sie sind folglich unheilbar …<br />

Page Break KGW='VIII-3.232' KSA='13.438'<br />

Die Frömmigkeit der Familien verbürgt so wenig eine<br />

gesunde und glückliche Nachkommenschaft, daß gerade unter den<br />

frömmsten, hereditär frömmsten Familien im jetzigen Europa<br />

<strong>die</strong> geistigen Störungen, <strong>die</strong> Melancholie erblich sind … Es ist<br />

der Ausdruck eines leidenden und bedrängten Typus, <strong>die</strong><br />

Frömmigkeit so sehr nöthig zu haben, um das Leben zu ertragen:<br />

unsere Pietisten sind nicht aus Belieben Christen …<br />

Aphorism n=12424 id='VIII.15[44]' kgw='VIII-3.232' ksa='13.438'<br />

Die Umkehrung der Rangordnung:<br />

<strong>die</strong> frommen Falschmünzer, <strong>die</strong> Priester werden unter uns<br />

zu Tschandala:<br />

— sie nehmen <strong>die</strong> Stellung der Charlatans, der Quacksalber,<br />

der Falschmünzer, der Zauberer ein: wir halten sie für<br />

Willens-Verderber, für <strong>die</strong> großen Verleumder und Rachsüchtigen


<strong>des</strong> Lebens, für <strong>die</strong> Empörer unter den Schlechtweggekommenen<br />

Dagegen ist der Tschandala von Ehemals obenauf: voran<br />

<strong>die</strong> Gotteslästerer, <strong>die</strong> Immoralisten, <strong>die</strong> Freizügigen je,<br />

der Art, <strong>die</strong> Artisten, <strong>die</strong> Juden, <strong>die</strong> Spielleute — im Grunde<br />

alle verrufenen Menschenklassen —<br />

— wir haben uns zu ehrenhaften Gedanken emporgehoben,<br />

mehr noch, wir bestimmen <strong>die</strong> Ehre auf Erden,<br />

<strong>die</strong> „Vornehmheit“ …<br />

— wir Alle sind heute <strong>die</strong> Fürsprecher <strong>des</strong> Lebens —<br />

— wir Immoralisten sind heute <strong>die</strong> stärkste<br />

<strong>Macht</strong>: <strong>die</strong> großen anderen Mächte brauchen uns … wir<br />

construiren <strong>die</strong> Welt nach unserem Bilde —<br />

Wir haben den Begriff Tschandala auf <strong>die</strong> Priester,<br />

Jenseits-Lehrer und <strong>die</strong> mit ihnen verwachsene, <strong>die</strong><br />

christliche Gesellschaft übertragen, hinzugenommen,<br />

was gleichen Ursprungs ist, <strong>die</strong> Pessimisten, Nihilisten,<br />

Mitleids-Romantiker, Verbrecher, Lasterhaften, — <strong>die</strong><br />

Page Break KGW='VIII-3.233' KSA='13.439'<br />

gesammte Sphäre, wo der Begriff „Gott“ als Heiland<br />

imaginirt wird …<br />

* *<br />

Wir sind stolz darauf, keine Lügner mehr sein zu müssen,<br />

keine Verleumder, keine Verdächtiger <strong>des</strong> Lebens …<br />

NB. Selbst wenn man uns Gott bewiese, wir würden ihn<br />

nicht zu glauben wissen.<br />

Aphorism n=12425 id='VIII.15[45]' kgw='VIII-3.233' ksa='13.439'<br />

Zur Kritik <strong>des</strong> Manu-Gesetzbuchs. — XV<br />

Das ganze Buch ruht auf der heiligen Lüge:<br />

— ist es das Wohl der Menschheit, welches <strong>die</strong>ses ganze<br />

System inspirirt hat? <strong>die</strong>se Art Mensch, welche an <strong>die</strong><br />

Interessirtheit jeder Handlung glaubt, war sie interessirt oder<br />

nicht, <strong>die</strong>ses System durchzusetzen?<br />

— <strong>die</strong> Menschheit zu verbessern — woher ist <strong>die</strong>se<br />

Absicht inspirirt? Woher ist der Begriff <strong>des</strong> Bessern genommen?<br />

— wir finden eine Art Mensch, <strong>die</strong> priesterliche,<br />

<strong>die</strong> sich als Norm, als Spitze, als höchsten Ausdruck <strong>des</strong> Typus<br />

Mensch fühlt: von sich aus nimmt sie den Begriff <strong>des</strong> „Bessern“<br />

— sie glaubt an ihre Überlegenheit, sie will sie auch in<br />

der That: <strong>die</strong> Ursache der heiligen Lüge ist der Wille zur<br />

<strong>Macht</strong> …<br />

* * *<br />

Aufrichtung der Herrschaft: zu <strong>die</strong>sem Zwecke <strong>die</strong> Herrschaft<br />

von Begriffen, welche in der Priesterschaft ein non plus


ultra von <strong>Macht</strong> ansetzen<br />

<strong>die</strong> <strong>Macht</strong> durch <strong>die</strong> Lüge, in Einsicht darüber, daß man sie<br />

nicht physisch, militärisch, besitzt …<br />

<strong>die</strong> Lüge als Supplement der <strong>Macht</strong>, — ein neuer Begriff der<br />

„Wahrheit“<br />

* *<br />

Page Break KGW='VIII-3.234' KSA='13.440'<br />

Man irrt sich, wenn man hier unbewußte und naive<br />

Entwicklung voraussetzt, eine Art Selbstbetrug … Die Fanatiker<br />

sind nicht <strong>die</strong> Erfinder solcher durchdachten Systeme der<br />

Unterdrückung …<br />

Hier hat <strong>die</strong> kaltblütigste Besonnenheit gearbeitet, <strong>die</strong>selbe<br />

Art Besonnenheit, wie sie ein Plato hatte, als er sich seinen<br />

„Staat“ ausdachte<br />

„Man muß <strong>die</strong> Mittel wollen, wenn man das Ziel will“ —<br />

über <strong>die</strong>se Politiker-Einsicht waren alle Gesetzgeber bei sich<br />

klar<br />

* *<br />

Wir haben das klassische Muster als spezifisch arisch:<br />

wir dürfen also <strong>die</strong> bestausgestattete und besonnenste Art<br />

Mensch verantwortlich machen für <strong>die</strong> grundsätzlichste Lüge,<br />

<strong>die</strong> je gemacht worden ist … Man hat das nachgemacht, überall<br />

beinahe: der arische Einfluß hat alle Welt verdorben …<br />

Aphorism n=12426 id='VIII.15[46]' kgw='VIII-3.234' ksa='13.440'<br />

Daß irgend Etwas geglaubt wird — XVI<br />

Der Irrthum und <strong>die</strong> Unwissenheit sind verhängnißvoll.<br />

Die Behauptung, daß <strong>die</strong> Wahrheit da sei und daß<br />

es ein Ende habe mit der Unwissenheit und dem Irrthum, ist<br />

eine der größten Verführungen, <strong>die</strong> es giebt.<br />

Gesetzt, sie wird geglaubt, so ist damit der Wille zur<br />

Prüfung, Forschung, Vorsicht, Versuchung, lahm gelegt: er kann<br />

selbst als frevelhaft, nämlich als Zweifel an der Wahrheit<br />

gelten …<br />

Die „Wahrheit“ ist folglich verhängnißvoller als der<br />

Irrthum und <strong>die</strong> Unwissenheit, weil sie <strong>die</strong> Kräfte unterbindet,<br />

mit denen an der Aufklärung und Erkenntniß gearbeitet wird.<br />

Der Affekt der Faulheit nimmt jetzt Partei für <strong>die</strong><br />

„Wahrheit“;<br />

— „Denken ist eine Noth, ein Elend!“<br />

Page Break KGW='VIII-3.235' KSA='13.441'<br />

insgleichen <strong>die</strong> Ordnung, <strong>die</strong> Regel, das Glück <strong>des</strong> Besitzes,<br />

der Stolz der Weisheit — <strong>die</strong> Eitelkeit in summa<br />

— es ist bequemer, zu gehorchen als zu prüfen … es ist


schmeichelhafter, zu denken „ich habe <strong>die</strong> Wahrheit“ als um<br />

sich herum nur Dunkel zu sehn …<br />

— vor allem: es beruhigt, es giebt Vertrauen, es erleichtert<br />

das Leben — es „verbessert“ den Charakter, insofern es<br />

das Mißtrauen verringert …<br />

„der Frieden der Seele“, „<strong>die</strong> Ruhe <strong>des</strong> Gewissens“ alles<br />

Erfindungen, <strong>die</strong> nur unter der Voraussetzung möglich sind, daß<br />

<strong>die</strong> Wahrheit da ist …<br />

„An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“ … Die<br />

„Wahrheit“ ist Wahrheit, denn sie macht <strong>die</strong> Menschen besser …<br />

… der Prozeß setzt sich fort: alles Gute, allen Erfolg der<br />

„Wahrheit“ auf's Conto zu setzen …<br />

Das ist der Beweis der Kraft: das Glück, <strong>die</strong> Zufriedenheit,<br />

der Wohlstand <strong>des</strong> Gemeinwesens und <strong>des</strong> Einzelnen werden<br />

nunmehr als Folge <strong>des</strong> Glaubens an <strong>die</strong> Moral verstanden …<br />

— <strong>die</strong> Umkehrung: der schlimme Erfolg ist aus dem<br />

Mangel an Glauben abzuleiten —<br />

Aphorism n=12427 id='VIII.15[47]' kgw='VIII-3.235' ksa='13.441'<br />

Die Priester-Moral<br />

Die Herren-Moral<br />

Die Tschandala-Moral<br />

Die Mittelstand-Moral (<strong>die</strong> „Heerdenthier-Moral“)<br />

Philosophen<br />

Gelehrte Berufe<br />

Künstler<br />

Staatsmänner<br />

Page Break KGW='VIII-3.236' KSA='13.442'<br />

Aphorism n=12428 id='VIII.15[48]' kgw='VIII-3.236' ksa='13.442'<br />

Was ist <strong>die</strong> Falschmünzerei an der Moral? XVII<br />

Sie giebt vor, etwas zu wissen, nämlich was gut und<br />

böse sei.<br />

Das heißt, wissen wollen, wozu der Mensch da ist, sein Ziel,<br />

seine Bestimmung zu kennen.<br />

Das heißt wissen wollen, daß der Mensch ein Ziel, eine<br />

Bestimmung habe —<br />

Aphorism n=12429 id='VIII.15[49]' kgw='VIII-3.236' ksa='13.442'<br />

Der Sieg über <strong>die</strong> „Wahrheit“.


Was rückständig ist: der Vorrang der unmoralischen<br />

Werthe über <strong>die</strong> moralischen.<br />

Dies zu beweisen: 1) <strong>die</strong> moralischen Werthe selbst sind<br />

nicht „moralisch“<br />

a) weder der Herkunft nach<br />

b) noch den <strong>Macht</strong>mitteln nach, mit<br />

denen sie sich durchsetzten<br />

Aphorism n=12430 id='VIII.15[50]' kgw='VIII-3.236' ksa='13.442'<br />

Kant, eine Begriffsmaschine, volles 18tes Jahrhundert, mit<br />

einem Souterrain von Theologen-Arglist und ein — — —<br />

Aphorism n=12431 id='VIII.15[51]' kgw='VIII-3.236' ksa='13.442'<br />

Nicht der Sieg der Wissenschaft ist das, was unser 19tes<br />

Jahrhundert auszeichnet, sondern der Sieg der wissenschaftlichen<br />

Methode über <strong>die</strong> Wissenschaft<br />

Aphorism n=12432 id='VIII.15[52]' kgw='VIII-3.236' ksa='13.442'<br />

Wille zur Wahrheit. XVIII<br />

Märtyrer<br />

alles, was auf Ehrfurcht sich gründet, bedarf, um bekämpft<br />

zu werden, seitens der Angreifenden eine gewisse verwegene,<br />

Page Break KGW='VIII-3.237' KSA='13.443'<br />

rücksichtslose, selbst schamlose Gesinnung … Erwägt man nun,<br />

daß <strong>die</strong> Menschheit seit Jahrtausenden nur Irrthümer als Wahrheiten<br />

geheiligt hat, daß sie selbst jede Kritik derselben als<br />

Zeichen der schlechten Gesinnung brandmarkte, so muß man mit<br />

Bedauern sich eingestehen, daß eine gute Anzahl Immoralitäten<br />

nöthig war, um <strong>die</strong> Initiative zum Angriff, will sagen<br />

zur Vernunft zu geben … Daß <strong>die</strong>se Immoralisten<br />

sich selbst immer als „Märtyrer der Wahrheit“ aufgespielt<br />

haben soll ihnen verziehen sein: <strong>die</strong> Wahrheit ist, daß nicht der<br />

Trieb zur Wahrheit, sondern <strong>die</strong> Auflösung, <strong>die</strong> frevelhafte<br />

Skepsis, <strong>die</strong> Lust <strong>des</strong> Abenteuers der Trieb war, aus dem sie<br />

negirten — Im anderen Falle sind es persönliche Rancunen, <strong>die</strong> sie<br />

ins Gebiet der Probleme treiben, — sie kämpfen gegen Probleme,<br />

um gegen Personen Recht zu behalten — Vor allem aber ist es<br />

<strong>die</strong> Rache, welche wissenschaftlich nutzbar geworden ist, — <strong>die</strong><br />

Rache Unterdrückter, solcher, <strong>die</strong> durch <strong>die</strong> herrschenden<br />

Wahrheiten bei Seite gedrängt und selbst unterdrückt waren …


Die Wahrheit, will sagen, <strong>die</strong> wissenschaftliche Methodik<br />

ist von solchen erfaßt und gefördert worden, <strong>die</strong> in ihr ein<br />

Werkzeug <strong>des</strong> Kampfes erriethen, — eine Waffe zur<br />

Vernichtung … Um ihre Gegnerschaft zu Ehren zu bringen,<br />

brauchten sie im Übrigen einen Apparat nach Art derer, <strong>die</strong> sie<br />

angriffen: — sie affichirten den Begriff „Wahrheit“ ganz so<br />

unbedingt, wie ihre Gegner, — sie wurden Fanatiker, zum<br />

Min<strong>des</strong>ten in der Attitüde, weil keine andere Attitüde ernst<br />

genommen wurde. Das Übrige that dann <strong>die</strong> Verfolgung, <strong>die</strong><br />

Leidenschaft und Unsicherheit <strong>des</strong> Verfolgten, — der Haß<br />

wuchs und folglich nahm <strong>die</strong> Voraussetzung ab, um auf dem<br />

Boden der Wissenschaft zu bleiben. Sie wollten zuletzt<br />

allesammt auf eine eben so absurde Weise Recht haben, wie ihre<br />

Gegner … Das Wort „Überzeugung“, „Glaube“, der<br />

Stolz <strong>des</strong> Märtyrerthums — das sind alles <strong>die</strong> ungünstigsten<br />

Zustände für <strong>die</strong> Erkenntniß. Die Gegner der Wahrheiten<br />

haben zuletzt <strong>die</strong> ganze subjektive Manier, um über Wahrheit<br />

Page Break KGW='VIII-3.238' KSA='13.444'<br />

zu entscheiden, nämlich mit Attitüden, Opfern, heroischen<br />

Entschließungen, von selbst wieder acceptirt, — d.h. <strong>die</strong><br />

Herrschaft der antiwissenschaftlichen Methode verlängert.<br />

— als Märtyrer compromittirten sie ihre eigene That —<br />

Aphorism n=12433 id='VIII.15[53]' kgw='VIII-3.238' ksa='13.444'<br />

Die beiden abscheulichsten Ausgeburten <strong>des</strong> 18. Jahrhunderts<br />

das Subjekt schafft <strong>die</strong> Welt, <strong>die</strong> uns etwas angeht —<br />

<strong>die</strong> Vernunft schafft <strong>die</strong> Gesellschaft, in der — — —<br />

<strong>die</strong> beiden verhängnißvollen Farcen, <strong>die</strong> Revolution und<br />

<strong>die</strong> Kantische Philosophie, <strong>die</strong> Praxis der revolutionären<br />

Vernunft und <strong>die</strong> Revolution der „praktischen“ Vernunft<br />

<strong>die</strong> Natur verleugnet, dualistische(1761) Moral| bei Kant<br />

daß ein Begriff angebliches(1762) Wissen an Stelle der Natur<br />

treten soll, als Bildner, gestalten, bauen will<br />

der Haß gegen das Werden, gegen <strong>die</strong> sorgfältige<br />

Betrachtung <strong>des</strong> Werdens<br />

ist gemein aller Moral und der Revolution:<br />

Aphorism n=12434 id='VIII.15[54]' kgw='VIII-3.238' ksa='13.444'<br />

Der Wille zur Wahrheit.<br />

Der Philosoph als Problem.<br />

Der Priester: Erfindung der Moral.<br />

Der Sieg über <strong>die</strong> „Wahrheit“ (<strong>die</strong> bisherigen<br />

„Wahrheiten“ Symptome der décadence)


Der Begriff und Umfang der décadence.<br />

Aphorism n=12435 id='VIII.15[55]' kgw='VIII-3.238' ksa='13.444'<br />

Um billig von der Moral zu denken, müssen wir zwei<br />

zoologische Begriffe an ihre Stelle setzen: Zähmung der<br />

Bestie und Züchtung einer bestimmten Art.<br />

Page Break KGW='VIII-3.239' KSA='13.445'<br />

Die Priester gaben zu allen Zeiten vor, daß sie „bessern“<br />

wollen … Aber wir andern lachen, wenn ein Thierbändiger von<br />

seinen „gebesserten“ Thieren reden wollte. — Die Zähmung der<br />

Bestie wird in den meisten Fällen durch eine Schädigung der<br />

Bestie erreicht: auch der vermoralisirte Mensch ist kein besserer<br />

Mensch, sondern nur ein geschwächter, ein gründlich verschnittener<br />

und verhunzter Mensch. Aber er ist weniger schädlich …<br />

Aphorism n=12436 id='VIII.15[56]' kgw='VIII-3.239' ksa='13.445'<br />

der Kampf gegen <strong>die</strong> brutalen Instinkte ist ein anderer<br />

als der Kampf gegen <strong>die</strong> krankhaften Instinkte<br />

: es kann selbst ein Mittel sein, um über <strong>die</strong> Brutalität Herr<br />

zu werden, krank zu machen<br />

: <strong>die</strong> psychologische Behandlung im Christenthum läuft oft<br />

darauf hinaus, aus einem Vieh ein krankes und folglich<br />

zahmes Thier zu machen<br />

der Kampf gegen rohe und wüste Naturen muß ein Kampf<br />

mit Mitteln sein, <strong>die</strong> auf sie wirken: <strong>die</strong> abergläubischen<br />

Mittel sind unersetzlich und unerläßlich …<br />

Aphorism n=12437 id='VIII.15[57]' kgw='VIII-3.239' ksa='13.445'<br />

— an sich verlangen, daß nur „Wahres“ gesagt wird, würde<br />

voraussetzen daß man <strong>die</strong> Wahrheit hätte; soll es aber nur<br />

heißen, daß man sagt, was einem wahr gilt, so giebt es Fälle,<br />

wo es wichtig ist, dasselbe so zu sagen, daß es einem<br />

Anderen auch wahr gilt: daß es auf ihn wirkt<br />

Sobald wir selbst <strong>die</strong> Moral absolut nehmen und z.B.<br />

das Verbot der Lüge im religiösen Verstande, so wird<br />

<strong>die</strong> ganze Geschichte der Moral, wie <strong>die</strong> der Politik, eine<br />

Nichtswürdigkeit. Wir leben von Lügen und Falschmünzereien<br />

— <strong>die</strong> herrschenden Stände haben immer gelogen …


Page Break KGW='VIII-3.240' KSA='13.446'<br />

Aphorism n=12438 id='VIII.15[58]' kgw='VIII-3.240' ksa='13.446'<br />

Kapitel: der Wille zur Wahrheit<br />

<strong>die</strong> psychologischen Verwechslungen:<br />

das Verlangen nach Glauben — verwechselt<br />

mit dem „Willen zur Wahrheit“ (z.B. bei Carlyle)<br />

aber ebenso ist das Verlangen nach Unglauben<br />

verwechselt worden mit dem „Willen zur Wahrheit“<br />

( — ein Bedürfniß, loszukommen von einem Glauben, aus<br />

hundert Gründen, Recht zu bekommen gegen irgend welche<br />

„Gläubigen“)<br />

was inspirirt <strong>die</strong> Skeptiker? der Haß gegen <strong>die</strong><br />

Dogmatiker — oder ein Ruhe-Bedürfniß, eine Müdigkeit wie bei<br />

Pyrrho<br />

— <strong>die</strong> Vortheile, welche man von der Wahrheit erwartete,<br />

waren <strong>die</strong> Vortheile <strong>des</strong> Glaubens an sie: — an sich<br />

nämlich könnte ja <strong>die</strong> Wahrheit durchaus peinlich, schädlich,<br />

verhängnißvoll sein —<br />

man hat <strong>die</strong> „Wahrheiten“ auch nur wieder bekämpft, als<br />

man Vortheile sich vom Siege versprach … z.B. Freiheit von<br />

den herrschenden Gewalten<br />

<strong>die</strong> Methodik der Wahrheit ist nicht aus Motiven der<br />

Wahrheit gefunden worden, sondern aus Motiven der<br />

<strong>Macht</strong>, <strong>des</strong> Überlegen-sein-wollens<br />

womit beweist sich <strong>die</strong> Wahrheit? mit dem Gefühl der erhöhten<br />

<strong>Macht</strong> („ein Gewißheit-Glaube“) — mit der Nützlichkeit<br />

— mit der Unentbehrlichkeit — kurz mit Vortheilen<br />

nämlich Voraussetzungen, welcher Art <strong>die</strong> Wahrheit beschaffen<br />

sein sollte, um von uns anerkannt zu werden<br />

aber das ist ein Vorurtheil: ein Zeichen, daß es sich gar<br />

nicht um Wahrheit handelt …<br />

was bedeutet z.B. der „Wille zur Wahrheit“ bei den<br />

Goncourt's? bei den Naturalisten? Kritik der „Objektivität“<br />

warum erkennen? warum nicht lieber sich täuschen? …<br />

Page Break KGW='VIII-3.241' KSA='13.447'<br />

was man wollte, war immer der Glaube, — und nicht <strong>die</strong><br />

Wahrheit …<br />

Der Glaube wird durch entgegengesetzte Mittel<br />

geschaffen als <strong>die</strong> Methodik der Forschung —: er schließt<br />

letztere selbst aus —<br />

Aphorism n=12439 id='VIII.15[59]' kgw='VIII-3.241' ksa='13.447'<br />

Die Idee der „wahren Welt“ oder „Gottes“ als absolut


unsinnlich, geistig, gütig ist eine Nothmaßregel im<br />

Verhältniß dazu, als <strong>die</strong> Gegen-Instinkte noch allmächtig<br />

sind …<br />

<strong>die</strong> Mäßigkeit und erreichte Humanität zeigt sich exakt in<br />

der Vermenschlichung der Götter: <strong>die</strong> Griechen der stärksten<br />

Zeit, <strong>die</strong> vor sich selber keine Furcht hatten, sondern Glück an<br />

sich hatten, näherten ihre Götter an alle ihre Affekte — …<br />

Die Vergeistigung(1763) der Gottes-Idee ist <strong>des</strong>halb fern davon,<br />

einen Fortschritt zu bedeuten: man fühlt <strong>die</strong>s recht<br />

herzlich bei der Berührung mit Goethe — wie da <strong>die</strong> Verdunstung<br />

Gottes in Tugend und Geist sich als eine rohere Stufe<br />

fühlbar macht …<br />

Aphorism n=12440 id='VIII.15[60]' kgw='VIII-3.241' ksa='13.447'<br />

Wenn irgend etwas unsre Vermenschlichung, einen<br />

wahren thatsächlichen Fortschritt bedeutet, so ist es, daß<br />

wir keine excessiven Gegensätze, überhaupt keine Gegensätze<br />

mehr brauchen …<br />

wir dürfen <strong>die</strong> Sinne lieben, wir haben sie in jedem Grade<br />

vergeistigt und artistisch gemacht<br />

wir haben ein Recht auf alle <strong>die</strong> Dinge, <strong>die</strong> am schlimmsten<br />

bisher verrufen waren<br />

Page Break KGW='VIII-3.242' KSA='13.448'<br />

Aphorism n=12441 id='VIII.15[61]' kgw='VIII-3.242' ksa='13.448'<br />

A. In dem Maaße, in dem heute das Christenthum noch<br />

nöthig erscheint, ist der Mensch noch wüst und verhängnißvoll …<br />

B. in anderem Betracht ist es nicht nöthig, sondern extrem<br />

schädlich, wirkt aber als anziehend und verführend, weil es dem<br />

morbiden Charakter ganzer Schichten, ganzer Typen der<br />

jetzigen Menschheit(1764) entspricht … sie geben ihrem Hange nach,<br />

indem sie christlich aspiriren — <strong>die</strong> décadents aller Art —<br />

man hat hier zwischen A und B streng zu scheiden. Im<br />

Fall A ist Christenthum ein Heilmittel, min<strong>des</strong>tens ein<br />

Bändigungsmittel ( — es <strong>die</strong>nt unter Umständen krank zu machen:<br />

was nützlich sein kann, um <strong>die</strong> Wüstheit und Roheit zu<br />

brechen)<br />

Im Fall B ist es ein Symptom der Krankheit selbst,<br />

vermehrt <strong>die</strong> décadence; hier wirkt es einem corroborirenden<br />

System der Behandlung entgegen, hier ist es der<br />

Kranken-Instinkt gegen das, was ihm heilsam ist —


Aphorism n=12442 id='VIII.15[62]' kgw='VIII-3.242' ksa='13.448'<br />

Die Partei der Ernsten, Würdigen, Nachdenklichen<br />

: und ihr gegenüber <strong>die</strong> wüste, unsaubere, unberechenbare<br />

Bestie<br />

: ein bloßes Problem der Thierbändgung:<br />

— wobei der Thierbändiger hart, furchtbar und<br />

schreckeneinflößend sein muß für seine Bestie<br />

alle wesentlichen Forderungen müssen mit einer brutalen<br />

Deutlichkeit d.h. tausendfach übertrieben gestellt werden<br />

: <strong>die</strong> Erfüllung der Forderung selbst muß in einer<br />

Vergröberung dargestellt werden, daß sie Ehrfurcht erregt<br />

z.B. <strong>die</strong> Entsinnlichung seitens der Brahmanen.<br />

* * *<br />

Page Break KGW='VIII-3.243' KSA='13.449'<br />

Der Kampf mit der Canaille und dem Vieh:<br />

ist eine gewisse Bändigung und Ordnung erreicht, so muß <strong>die</strong><br />

Kluft zwischen <strong>die</strong>sen Gereinigten und Wiedergeborenen<br />

und dem Rest so furchtbar wie möglich aufgerissen<br />

werden …<br />

<strong>die</strong>se Kluft vermehrt <strong>die</strong> Selbstachtung, den Glauben an<br />

das, was von ihnen dargestellt wird, bei den höheren Kasten<br />

daher der Tschandala. Die Verachtung und deren<br />

Übermaß ist vollkommen psychologisch correkt, nämlich<br />

hundertfach übertrieben, um überhaupt nachgefühlt zu werden<br />

* * *<br />

Im Kampf mit der Bestie ist Krank-machen oft das<br />

einzige Mittel, um schwach zu machen. Und genau so wie sich<br />

<strong>die</strong> Brahmanen gegen <strong>die</strong> Tschandalas wehren (indem sie<br />

<strong>die</strong>selben krank machen), verurtheilen sie auch <strong>die</strong> Verbrecher und<br />

Aufständischen aller Art zu Schwächungen ( — <strong>die</strong>s der<br />

Sinn der Büßungen usw.)<br />

Aphorism n=12443 id='VIII.15[63]' kgw='VIII-3.243' ksa='13.449'<br />

Im Großen gerechnet, ist in unsrer jetzigen Menschheit ein<br />

ungeheures Quantum von Humanität erreicht. Daß <strong>die</strong>s<br />

im allgemeinen nicht empfunden wird, ist selber ein Beweis<br />

dafür: wir sind für <strong>die</strong> kleinen Nothstände so empfindlich<br />

geworden, daß wir das, was erreicht ist, unbillig übersehen.<br />

: hier ist abzurechnen, daß es viel décadence giebt: und daß<br />

mit solchen Augen gesehen, unsere Welt schlecht und miserabel<br />

aussehen muß. Aber <strong>die</strong>se Augen haben zu allen Zeiten das<br />

Gleiche gesehen …<br />

1) eine gewisse Überreizung selbst der moralischen<br />

Empfindung<br />

2) das Quantum Verbitterung und Verdüsterung, das der<br />

Pessimismus mit sich in <strong>die</strong> Beurtheilung trägt


: bei<strong>des</strong> zusammen hat der entgegengesetzten<br />

Page Break KGW='VIII-3.244' KSA='13.450'<br />

Vorstellung, daß es schlecht mit unserer Moralität<br />

steht, zum Übergewicht verholfen.<br />

Die Thatsache <strong>des</strong> Credits, <strong>des</strong> ganzen Welthandels, der<br />

Verkehrsmittel, — ein ungeheures mil<strong>des</strong> Vertrauen auf<br />

den Menschen drückt sich darin aus … Dazu trägt auch bei<br />

3) <strong>die</strong> Loslösung der Wissenschaft von moralischen und<br />

religiösen Absichten: ein sehr gutes Zeichen, das aber<br />

meistens falsch verstanden ist.<br />

Ich versuche auf meine Weise eine Rechtfertigung der<br />

Geschichte<br />

Aphorism n=12444 id='VIII.15[64]' kgw='VIII-3.244' ksa='13.450'<br />

Moral ein nützlicher Irrthum, deutlicher, in Hinsicht auf<br />

<strong>die</strong> größten und vorurtheilsfreiesten ihrer Förderer, eine<br />

nothwendig erachtete Lüge<br />

Aphorism n=12445 id='VIII.15[65]' kgw='VIII-3.244' ksa='13.450'<br />

Was ich mit aller Kraft deutlich zu machen wünsche:<br />

a) daß es keine schlimmere Verwechslung giebt als wenn<br />

man Zähmung mit Schwächung verwechselt<br />

: was man gethan hat …<br />

Die Zähmung ist, wie ich sie verstehe, ein Mittel der<br />

ungeheuren Kraft-Aufspeicherung der Menschheit, so daß <strong>die</strong><br />

Geschlechter auf der Arbeit ihrer Vorfahren fortbauen können —<br />

nicht nur äußerlich, sondern innerlich, organisch aus ihnen<br />

herauswachsend, ins Stärkere …<br />

b) daß es eine außerordentliche Gefahr giebt, wenn man<br />

glaubt, daß <strong>die</strong> Menschheit als Ganzes fortwüchse und stärker<br />

würde, wenn <strong>die</strong> Individuen schlaff, gleich, durchschnittlich<br />

werden … Menschheit ist ein Abstraktum: das Ziel der<br />

Zähmung kann auch im einzelsten Fall immer nur der stärkere<br />

Mensch sein ( — der ungezähmte ist schwach, vergeuderisch,<br />

unbeständig …<br />

Page Break KGW='VIII-3.245' KSA='13.451'<br />

Aphorism n=12446 id='VIII.15[66]' kgw='VIII-3.245' ksa='13.451'<br />

daß <strong>die</strong> corrupten Pariser romanciers jetzt nach Weihrauch


duften, macht sie meiner Nase nicht wohlriechender: Mystik<br />

und katholisch-heilige Falten im Gesicht sind nur eine Form<br />

der Sinnlichkeit mehr<br />

Aphorism n=12447 id='VIII.15[67]' kgw='VIII-3.245' ksa='13.451'<br />

Wovor ich warne: <strong>die</strong> décadence-Instinkte nicht mit der<br />

Humanität zu verwechseln<br />

: <strong>die</strong> auflösenden und nothwendig zur décadence<br />

treibenden Mittel der Civilisation nicht<br />

mit der Cultur zu verwechseln<br />

: <strong>die</strong> libertinage, das Princip <strong>des</strong> „laisser aller“ nicht mit<br />

dem Willen zur <strong>Macht</strong> zu verwechseln ( — er ist<br />

<strong>des</strong>sen Gegenprincip)<br />

Aphorism n=12448 id='VIII.15[68]' kgw='VIII-3.245' ksa='13.451'<br />

Die beiden großen Tentativen, <strong>die</strong> gemacht<br />

worden sind das 18te Jahrhundert zu überwinden:<br />

Napoleon, indem er den Mann, den Soldaten und den<br />

großen Kampf um <strong>Macht</strong> wieder aufweckte — Europa als<br />

politische Einheit concipirend<br />

Goethe, indem er eine europäische Cultur imaginirte, <strong>die</strong><br />

<strong>die</strong> volle Erbschaft der schon erreichten Humanität<br />

macht.<br />

Aphorism n=12449 id='VIII.15[69]' kgw='VIII-3.245' ksa='13.451'<br />

Die deutsche Cultur <strong>die</strong>ses Jahrhunderts erweckt<br />

Mißtrauen —<br />

in der Musik fehlt jenes volle, erlösende und bindende<br />

Element Goethe<br />

<strong>die</strong> Österreicher sind nur durch ihre Musik deutsch geblieben<br />

Page Break KGW='VIII-3.246' KSA='13.452'<br />

Aphorism n=12450 id='VIII.15[70]' kgw='VIII-3.246' ksa='13.452'<br />

Wir mißtrauen allen jenen entzückten und extremen<br />

Zuständen, in denen man „<strong>die</strong> Wahrheit mit Händen zu greifen“<br />

wähnt —


Aphorism n=12451 id='VIII.15[71]' kgw='VIII-3.246' ksa='13.452'<br />

Wie <strong>die</strong> Tugend zur <strong>Macht</strong> kommt<br />

Die Priester — und mit ihnen <strong>die</strong> Halbpriester, <strong>die</strong><br />

Philosophen — haben zu allen Zeiten eine Lehre Wahrheit genannt,<br />

deren erzieherische Wirkung wohlthätig war oder wohlthätig<br />

schien — <strong>die</strong> „besserte“. Sie gleichen damit einem naiven<br />

Heilkünstler und Wundermann aus dem Volke, der, weil er<br />

ein Gift als Heilmittel erprobt hat, es verleugnet, daß dasselbe ein<br />

Gift ist … „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“ —<br />

nämlich unsere „Wahrheiten“: das ist das Priester-Raisonnement bis<br />

heute noch. Sie haben selbst verhängnißvoll genug ihren Scharfsinn<br />

dahin verschwendet, dem „Beweis der Kraft“ (oder „aus<br />

den Früchten“) den Vorrang, ja <strong>die</strong> Entscheidung über alle<br />

Formen <strong>des</strong> Beweises zu geben. „Was gut macht, muß gut sein; was<br />

gut ist, kann nicht lügen“ — so schließen sie unerbittlich —:<br />

„was gute Früchte trägt, das muß folglich wahr sein: es giebt<br />

kein anderes Kriterium der Wahrheit“ …<br />

Sofern aber das „Besser-machen“ als Argument gilt, muß<br />

das Schlechter-machen als Widerlegung gelten. Man beweist den<br />

Irrthum damit als Irrthum, daß man das Leben derer prüft, <strong>die</strong><br />

ihn vertreten: ein Fehltritt, ein Laster widerlegt … Diese<br />

unanständigste Art der Gegnerschaft, <strong>die</strong> von Hinten und Unten,<br />

<strong>die</strong> Hunde-Art, ist insgleichen niemals ausgestorben: <strong>die</strong> Priester,<br />

sofern sie Psychologen sind, haben nie etwas interessanter<br />

gefunden, als an den Heimlichkeiten ihrer Gegner zu schnüffeln.<br />

— Dies allein macht ihre Optik der Welt-Kenntniß: — sie<br />

beweisen damit ihr Christenthum, daß sie bei der „Welt“ nach<br />

Schmutz suchen. Voran bei den Ersten der Welt, bei den<br />

„Genies“: man erinnere sich, wie jeder Zeit in Deutschland gegen<br />

Page Break KGW='VIII-3.247' KSA='13.453'<br />

Goethe angekämpft worden ist (: Klopstock und Herder giengen<br />

hierin mit „gutem Beispiel“ voran — Art läßt nicht von Art.)<br />

Aphorism n=12452 id='VIII.15[72]' kgw='VIII-3.247' ksa='13.453'<br />

Man muß sehr unmoralisch sein, um durch <strong>die</strong> That Moral<br />

zu machen … Die Mittel der Moralisten sind <strong>die</strong> furchtbarsten<br />

Mittel, <strong>die</strong> je gehandhabt worden sind; wer den Muth nicht<br />

zur Unmoralität der That hat, taugt zu allem Übrigen, er taugt<br />

nicht zum Moralisten.<br />

2.<br />

Die Moral ist eine Menagerie; ihre Voraussetzung, daß<br />

eiserne Stäbe nützlicher sein können als Freiheit, selbst für den<br />

Eingefangenen; ihre andere Voraussetzung, daß es Thierbändiger


giebt, <strong>die</strong> sich vor furchtbaren Mitteln nicht fürchten,<br />

— <strong>die</strong> glühen<strong>des</strong> Eisen zu handhaben wissen. Diese schreckliche<br />

Species, <strong>die</strong> den Kampf mit dem wilden Thier aufnimmt, heißt<br />

sich „Priester“.<br />

Aphorism n=12453 id='VIII.15[73]' kgw='VIII-3.247' ksa='13.453'<br />

Der Mensch, eingesperrt in einen eisernen Käfig von<br />

Irrthümern, eine Carikatur <strong>des</strong> Menschen geworden, krank,<br />

kümmerlich, gegen sich selbst böswillig, voller Haß auf <strong>die</strong> Antriebe<br />

zum Leben, voller Mißtrauen gegen alles, was schön und glücklich<br />

ist am Leben, ein wandeln<strong>des</strong> Elend: <strong>die</strong>se künstliche,<br />

willkürliche, nachträgliche Mißgeburt, welche <strong>die</strong> Priester<br />

aus ihrem Boden gezogen haben, der „Sünder“: wie werden<br />

wir es erlangen, <strong>die</strong>ses Phänomen trotz alledem zu rechtfertigen?<br />

Aphorism n=12454 id='VIII.15[74]' kgw='VIII-3.247' ksa='13.453'<br />

Das Mittel, Priester und Religionen zu widerlegen, ist<br />

immer nur <strong>die</strong>s: zeigen daß ihre Irrthümer aufgehört haben,<br />

Page Break KGW='VIII-3.248' KSA='13.454'<br />

wohlthätig zu sein, — daß sie mehr schaden, kurz daß ihr<br />

eigener „Beweis der Kraft“ nicht mehr Stich hält …<br />

Aphorism n=12455 id='VIII.15[75]' kgw='VIII-3.248' ksa='13.454'<br />

Niebuhr: „<strong>die</strong> moralische Achtungswürdigkeit der Neueren,<br />

verglichen gegen <strong>die</strong> Griechen, ist außerordentlich“.<br />

„Geht es Dir nicht auch so, daß nichts leicht einen<br />

schmerzlicheren Eindruck macht, als wenn ein großer Geist sich<br />

seiner Flügel beraubt und eine Virtuosität in etwas weit<br />

Geringerem sucht, indem er dem Höheren entsagt?“ (Mit<br />

Bezug auf Wilhelm Meister)<br />

Aphorism n=12456 id='VIII.15[76]' kgw='VIII-3.248' ksa='13.454'<br />

Vorrede.<br />

Dies Buch wendet sich nur an Wenige, — an <strong>die</strong><br />

freigewordenen Menschen, denen nichts mehr verboten ist: wir<br />

haben Schritt für Schritt das Recht auf alles Verbotene<br />

zurückgewonnen.


Den Beweis für <strong>die</strong> erreichte <strong>Macht</strong> und Selbstgewißheit<br />

damit geben, daß man sich „zu fürchten verlernt hat“; das<br />

Vertrauen zu seinen Instinkten eintauschen dürfen gegen das<br />

Mißtrauen und den Verdacht; daß man sich liebt und achtet in<br />

seinem Sinn — in seinem Unsinn noch — ein wenig Hanswurst,<br />

ein wenig Gott; kein Düsterling, keine Eule; keine<br />

Blindschleiche …<br />

Aphorism n=12457 id='VIII.15[77]' kgw='VIII-3.248' ksa='13.454'<br />

Daß Nichts von dem wahr ist, was ehemals als wahr galt:<br />

daß, was uns als unheilig, verboten, verächtlich, verhängnißvoll<br />

ehemals verwehrt wurde — alle <strong>die</strong>se Blumen wachsen heute<br />

am lieblichen Pfade der Wahrheit<br />

Diese ganze alte Moral geht uns nichts mehr an: es ist kein<br />

Begriff darin, der noch Achtung ver<strong>die</strong>nte. Wir haben sie überlebt,<br />

— wir sind nicht mehr grob und naiv genug, um in <strong>die</strong>ser<br />

Page Break KGW='VIII-3.249' KSA='13.455'<br />

Weise uns belügen lassen zu müssen … Artiger gesagt: wir sind<br />

zu tugendhaft dazu …<br />

Und wenn Wahrheit im alten Sinne nur <strong>des</strong>halb „Wahrheit“<br />

war, weil <strong>die</strong> alte Moral zu ihr Ja sagte, Ja sagen durfte: so<br />

folgt daraus, daß wir auch keine Wahrheit von Ehedem mehr<br />

übrig haben … Unser Kriterium der Wahrheit ist durchaus<br />

nicht <strong>die</strong> Moralität: wir widerlegen eine Behauptung<br />

damit, daß wir sie als abhängig von der Moral, als inspirirt<br />

durch edle Gefühle beweisen.<br />

Aphorism n=12458 id='VIII.15[78]' kgw='VIII-3.249' ksa='13.455'<br />

Der Begriff „starker und schwacher Mensch“<br />

reduzirt sich darauf, daß im ersten Fall viel Kraft vererbt ist<br />

— er ist eine Summe: im anderen noch wenig —<br />

— unzureichende Vererbung, Zersplitterung <strong>des</strong> Ererbten<br />

<strong>die</strong> Schwäche kann ein Anfangs-Phänomen sein: „noch<br />

wenig“; oder ein End-Phänomen: „nicht mehr“<br />

Der Ansatz-Punkt, wo große Kraft ist, wo Kraft auszugeben<br />

ist: — <strong>die</strong> Masse, als <strong>die</strong> Summe der Schwachen,<br />

reagirt langsam …<br />

‚ wehrt sich gegen Vieles, für das sie zu schwach ist … von<br />

dem sie keinen Nutzen haben kann<br />

‚ schafft nicht, geht nicht voran …<br />

Dies gegen <strong>die</strong> Theorie, welche das starke Individuum<br />

leugnet und meint, „<strong>die</strong> Masse thut's“<br />

Es ist <strong>die</strong> Differenz, wie zwischen getrennten Geschlechtern:


es können 4, 5 Generationen zwischen dem Thätigen und der<br />

Masse liegen … eine chronologische Differenz …<br />

Aphorism n=12459 id='VIII.15[79]' kgw='VIII-3.249' ksa='13.455'<br />

NB NB. Die Werthe der Schwachen sind obenan,<br />

weil <strong>die</strong> Starken sie übernommen haben, um damit zu<br />

leiten …<br />

Page Break KGW='VIII-3.250' KSA='13.456'<br />

Aphorism n=12460 id='VIII.15[80]' kgw='VIII-3.250' ksa='13.456'<br />

Erworbene, nicht ererbte Erschöpfung<br />

unzureichende Ernährung, oft aus Unwissenheit über<br />

Ernährung; z.B. bei Gelehrten<br />

<strong>die</strong> erotische Präcocität: der Fluch vornehmlich der<br />

französischen Jugend, der Pariser voran: welche aus den Lyceen<br />

bereits verhunzt und beschmutzt in <strong>die</strong> Welt tritt, — und nicht<br />

wieder von der Kette verächtlicher Neigungen loskommt, gegen<br />

sich selbst ironisch und schnöde — Galeerensklaven, mit aller<br />

Verfeinerung und<br />

: übrigens in den häufigsten Fällen bereits Symptom der<br />

Rassen- und Familien-décadence, wie alle Hyper-Reizbarkeit;<br />

insgleichen als Contagium <strong>des</strong> milieu —: auch bestimmbar zu<br />

sein durch <strong>die</strong> Umgebung, gehört zur décadence —<br />

Der Alcoholismus, nicht der Instinkt, sondern <strong>die</strong><br />

Gewöhnung, <strong>die</strong> stupide Nachahmung, <strong>die</strong> feige oder eitle Anpassung<br />

an ein herrschen<strong>des</strong> régime: — Welche Wohlthat ist ein<br />

Jude unter Deutschen! wie viel Stumpfheit, wie flächsern der<br />

Kopf, wie blau das Auge; der Mangel an esprit in Gesicht,<br />

Wort, Haltung; das faule Sichstrecken, das deutsche<br />

Erholungs-Bedürfniß, das nicht aus Überarbeitung, sondern aus der<br />

widrigen Reizung und Überreizung durch Alcoholica herkommt …<br />

Aphorism n=12461 id='VIII.15[81]' kgw='VIII-3.250' ksa='13.456'<br />

Die Naivetät ist, daß der Pessimismus sich damit zu<br />

begründen meint: während er sich nur damit beweist …<br />

Aphorism n=12462 id='VIII.15[82]' kgw='VIII-3.250' ksa='13.456'<br />

Der Mangel an Philologie: man verwechselt beständig


<strong>die</strong> Erklärung mit dem Text — und was für eine<br />

„Erklärung“!<br />

Page Break KGW='VIII-3.251' KSA='13.457'<br />

Aphorism n=12463 id='VIII.15[83]' kgw='VIII-3.251' ksa='13.457'<br />

Frauen, stark gerathen, von altem Schrot und Korn, mit<br />

dem Temperament einer Kuh, denen selbst Unfälle wenig<br />

anhaben: aber sie nennen es ihr „Gottvertrauen“. — Sie merken<br />

nichts davon, daß ihr „Gottvertrauen“ nur der Ausdruck ihrer<br />

starken und sicheren Gesammtverfassung ist — eine Formulirung,<br />

keine Ursache …<br />

Aphorism n=12464 id='VIII.15[84]' kgw='VIII-3.251' ksa='13.457'<br />

Die Thatsache ist „daß ich so traurig bin“; das Problem<br />

„ich weiß nicht was das zu bedeuten hat“ … „Das Märchen<br />

aus alten Zeiten“<br />

„ein alter Sünder“ würde ein Christ sagen: im anderen<br />

Falle, im Falle Heines, hat es „<strong>die</strong> Lorelei gethan“.<br />

Aphorism n=12465 id='VIII.15[85]' kgw='VIII-3.251' ksa='13.457'<br />

Die „innere Welt“ und ihr berühmter „innerer<br />

Sinn“.<br />

Der innere Sinn verwechselt <strong>die</strong> Folge mit der Ursache<br />

<strong>die</strong> „Ursache“ wird projicirt, nachdem <strong>die</strong> Wirkung erfolgt<br />

ist: Grundthatsache der „inneren Erfahrung“.<br />

Aphorism n=12466 id='VIII.15[86]' kgw='VIII-3.251' ksa='13.457'<br />

Die Goncourt fanden Flaubert campagnardisé, zu gesund,<br />

zu robust für sie — sie bemerken, daß sich sein Talent für sie<br />

vergröberte …<br />

Was muß sich für <strong>die</strong> das Talent Heines vergröbert haben<br />

… Daher der Haß …<br />

Ungefähr der Haß <strong>des</strong> Novalis gegen Goethe —<br />

Aphorism n=12467 id='VIII.15[87]' kgw='VIII-3.251' ksa='13.457'


Man bemerke, daß <strong>die</strong> delikaten Naturen in ihren Abneigungen<br />

vergröbern, <strong>die</strong> starken in ihren Abneigungen<br />

Page Break KGW='VIII-3.252' KSA='13.458'<br />

verdünnen, verzärteln, verkränkeln — z.B. Goethe gegen<br />

Kleist, gegen Hölderlin<br />

Aphorism n=12468 id='VIII.15[88]' kgw='VIII-3.252' ksa='13.458'<br />

Die typischen décadents, <strong>die</strong> sich nothwendig fühlen<br />

in ihrer Verderbniß <strong>des</strong> Stils, <strong>die</strong> damit einen höheren<br />

Geschmack in Anspruch nehmen und den Anderen ein Gesetz<br />

auflegen möchten, <strong>die</strong> Goncourts, <strong>die</strong> Richard Wagner, sind<br />

zu unterscheiden von den décadents mit schlechtem Gewissen,<br />

<strong>die</strong> widerspänstigen décadents —<br />

Aphorism n=12469 id='VIII.15[89]' kgw='VIII-3.252' ksa='13.458'<br />

Die Unwissenheit in physiologicis — der Christ hat kein<br />

Nervensystem —; <strong>die</strong> Verachtung und das willkürliche<br />

Wegsehen-wollen von den Forderungen <strong>des</strong> Leibes, von der<br />

Entdeckung <strong>des</strong> Leibes; <strong>die</strong> Voraussetzung, daß es so der<br />

höheren Natur <strong>des</strong> Menschen gemäß sei, — daß es der Seele<br />

nothwendig zu Gute komme — <strong>die</strong> grundsätzliche<br />

Reduktion aller Gesammt-Gefühle <strong>des</strong> Leibes auf moralische<br />

Werthe; <strong>die</strong> Krankheit selbst bedingt gedacht durch <strong>die</strong> Moral,<br />

etwa als Strafe, oder als Prüfung oder auch als Heils-Zustand,<br />

in dem der Mensch vollkommener wird als er es in der Gesundheit<br />

sein könnte ( — der Gedanke Pascals), unter Umständen<br />

das freiwillige Sich-krank-machen<br />

Aphorism n=12470 id='VIII.15[90]' kgw='VIII-3.252' ksa='13.458'<br />

Der Phänomenalismus der „inneren Welt“<br />

<strong>die</strong> chronologische Umdrehung, so daß <strong>die</strong><br />

Ursache später ins Bewußtsein tritt, als <strong>die</strong> Wirkung.<br />

wir haben gelernt, daß der Schmerz an eine Stelle <strong>des</strong><br />

Leibes projicirt wird, ohne dort seinen Sitz zu haben<br />

wir haben gelernt, daß <strong>die</strong> Sinnesempfindung, welche man<br />

naiv als bedingt durch <strong>die</strong> Außenwelt ansetzt, vielmehr durch<br />

<strong>die</strong> Innenwelt bedingt ist: daß jede eigentliche Aktion der<br />

Page Break KGW='VIII-3.253' KSA='13.459'


Außenwelt immer unbewußt verläuft … Das Stück Außenwelt,<br />

das uns bewußt wird, ist nachgeboren nach der Wirkung <strong>die</strong><br />

von außen auf uns geübt ist, ist nachträglich projicirt als deren<br />

„Ursache“ …<br />

In dem Phänomenalismus der „inneren Welt“ kehren wir<br />

<strong>die</strong> Chronologie von Ursache und Wirkung um.<br />

Die Grundthatsache der „inneren Erfahrung“ ist, daß <strong>die</strong><br />

Ursache imaginirt wird, nachdem <strong>die</strong> Wirkung erfolgt ist …<br />

Dasselbe gilt auch von der Abfolge der Gedanken … wir<br />

suchen den Grund zu einem Gedanken, bevor er uns noch<br />

bewußt ist: und dann tritt zuerst der Grund und dann <strong>des</strong>sen<br />

Folge ins Bewußtsein …<br />

Unser ganzes Träumen ist <strong>die</strong> Auslegung von Gesammt-Gefühlen<br />

auf mögliche Ursachen: und zwar so, daß ein Zustand<br />

erst bewußt wird, wenn <strong>die</strong> dazu erfundene Causalitäts-Kette<br />

ins Bewußtsein getreten ist …<br />

<strong>die</strong> ganze „innere Erfahrung“ beruht darauf, daß zu einer<br />

Erregung der Nerven-Centren eine Ursache gesucht und<br />

vorgestellt wird — und daß erst <strong>die</strong> gefundene Ursache ins<br />

Bewußtsein tritt: <strong>die</strong>se Ursache ist schlechterdings nicht adäquat<br />

der wirklichen Ursache, — es ist ein Tasten auf Grund der<br />

ehemaligen „inneren Erfahrungen“ — d.h. <strong>des</strong> Gedächtnisses.<br />

Das Gedächtniß erhält aber auch <strong>die</strong> Gewohnheiten der alten<br />

Interpretation, d.h. deren irrthümliche Ursächlichkeiten … so daß<br />

<strong>die</strong> „innere Erfahrung“ in sich noch <strong>die</strong> Folgen aller ehemaligen<br />

falschen Causal-Fiktionen zu tragen hat<br />

unsere „Außenwelt“, wie wir sie jeden Augenblick<br />

projiciren, ist versetzt und unauflöslich gebunden an den alten<br />

Irrthum vom Grunde: wir legen sie aus mit dem Schematismus <strong>des</strong><br />

„Dings“<br />

so wenig der Schmerz in einem einzelnen Falle bloß den<br />

einzelnen Fall darstellt, vielmehr eine lange Erfahrung über <strong>die</strong><br />

Folgen gewisser Verletzungen, eingerechnet <strong>die</strong> Irrthümer in<br />

der Abschätzung <strong>die</strong>ser Folgen<br />

Page Break KGW='VIII-3.254' KSA='13.460'<br />

Die „innere Erfahrung“ tritt uns ins Bewußtsein, erst<br />

nachdem sie eine Sprache gefunden hat, <strong>die</strong> das Individuum<br />

versteht … d.h. eine Übersetzung eines Zustan<strong>des</strong> in ihm<br />

bekanntere Zustände —<br />

„verstehen“ das heißt naiv bloß: etwas Neues ausdrücken<br />

können in der Sprache von etwas Altem, Bekanntem<br />

z.B. „ich befinde mich schlecht“ — ein solches Urtheil<br />

setzt eine große und späte Neutralität <strong>des</strong> Beobachtenden<br />

voraus —: der naive Mensch sagt immer: das und das<br />

macht, daß ich mich schlecht befinde — er wird über<br />

sein Schlechtbefinden erst klar, wenn er einen Grund sieht, sich<br />

schlecht zu befinden …<br />

Das nenne ich den Mangel an Philologie: einen<br />

Text als Text ablesen können, ohne eine Interpretation dazwischen


zu mengen, ist <strong>die</strong> späteste Form der „inneren Erfahrung“,<br />

— vielleicht eine kaum mögliche …<br />

Aphorism n=12471 id='VIII.15[91]' kgw='VIII-3.254' ksa='13.460'<br />

Die Ursachen <strong>des</strong> Irrthums liegen ebensosehr im guten<br />

Willen <strong>des</strong> Menschen als im schlechten —: er verbirgt sich in<br />

tausend Fällen <strong>die</strong> Realität, er fälscht sie, um in seinem guten<br />

Willen nicht zu leiden<br />

Gott z.B. als Lenker <strong>des</strong> menschlichen Schicksals: oder <strong>die</strong><br />

Auslegung seines kleinen Geschicks, wie als ob Alles zum Heil<br />

der Seele geschickt und ausgedacht sei — <strong>die</strong>ser Mangel an<br />

„Philologie“, der einem feineren Intellekt als Unsauberkeit und<br />

Falschmünzerei gelten muß, wird durchschnittlich unter der<br />

Inspiration <strong>des</strong> guten Willens gemacht …<br />

Der gute Wille, <strong>die</strong> „edlen Gefühle“, <strong>die</strong> „hohen Zustände“<br />

sind in ihren Mitteln ebensolche Falschmünzer und Betrüger<br />

als <strong>die</strong> moralisch abgelehnten und egoistisch genannten Affekte,<br />

wie Liebe, Haß, Rache.<br />

* * *<br />

Page Break KGW='VIII-3.255' KSA='13.461'<br />

Die Irrthümer sind das, was <strong>die</strong> Menschheit am kostspieligsten<br />

zu bezahlen hat: und, ins Große gerechnet, sind es <strong>die</strong> Irrthümer<br />

<strong>des</strong> „guten Willens“, <strong>die</strong> sie am tiefsten geschädigt haben.<br />

Der Wahn, der glücklich macht, ist verderblicher als der,<br />

welcher direkt schlimme Folgen hat: letzterer schärft, macht<br />

mißtrauisch, reinigt <strong>die</strong> Vernunft, — ersterer schläfert sie<br />

ein …<br />

<strong>die</strong> schönen Gefühle, <strong>die</strong> „erhabenen Wallungen“, gehören,<br />

physiologisch geredet, unter <strong>die</strong> narkotischen Mittel: ihr<br />

Mißbrauch hat ganz <strong>die</strong>selbe Folge, wie der Mißbrauch eines<br />

anderen Opiums, — <strong>die</strong> Nervenschwäche …<br />

Aphorism n=12472 id='VIII.15[92]' kgw='VIII-3.255' ksa='13.461'<br />

Kritik der subjektiven Werthgefühle.<br />

Das Gewissen. Ehemals schloß man: das Gewissen verwirft<br />

<strong>die</strong>se Handlung: folglich ist <strong>die</strong>se Handlung verwerflich.<br />

Thatsächlich verwirft das Gewissen eine Handlung, weil<br />

<strong>die</strong>selbe lange verworfen worden ist. Es spricht bloß nach: es<br />

schafft keine Werthe.<br />

Das, was ehedem dazu bestimmte, gewisse Handlungen zu<br />

verwerfen, war nicht das Gewissen: sondern <strong>die</strong> Einsicht<br />

(oder das Vorurtheil) hinsichtlich ihrer Folgen …<br />

Die Zustimmung <strong>des</strong> Gewissens, das Wohlgefühl <strong>des</strong> „Friedens


mit sich“ ist von gleichem Range als <strong>die</strong> Lust eines Künstlers<br />

an seinem Werke — sie beweist gar nichts … Die<br />

Selbstzufriedenheit ist so wenig ein Werthmaß für das, worauf sie<br />

sich bezieht als ihr Mangel ein Gegenargument gegen den Werth<br />

einer Sache. Wir wissen bei weitem nicht genug, um den Werth<br />

unserer Handlungen messen zu können: es fehlt uns zu alledem<br />

<strong>die</strong> Möglichkeit, objektiv dazu zu stehn: auch wenn wir eine<br />

Handlung verwerfen, sind wir nicht Richter, sondern Partei …<br />

Die edlen Wallungen, als Begleiter von Handlungen, beweisen<br />

nichts für deren Werth: ein Künstler kann mit dem<br />

Page Break KGW='VIII-3.256' KSA='13.462'<br />

allerhöchsten Pathos <strong>des</strong> Zustan<strong>des</strong> eine Armseligkeit zur Welt<br />

bringen. Eher sollte man sagen, daß <strong>die</strong>se Wallungen verführerisch<br />

seien: sie locken unseren Blick, unsere Kraft ab von der Kritik,<br />

von der Vorsicht, von dem Verdacht, daß wir eine Dummheit<br />

machen … sie machen uns dumm —<br />

Aphorism n=12473 id='VIII.15[93]' kgw='VIII-3.256' ksa='13.462'<br />

Ehedem hat man jene Zustände und Folgen der<br />

physiologischen Erschöpfung, weil sie reich an Plötzlichem,<br />

Schrecklichem, Unerklärlichem und Unberechenbarem sind,<br />

für wichtiger genommen, als <strong>die</strong> gesunden Zustände und deren<br />

Folgen. Man fürchtete sich: man setzte hier eine höhere<br />

Welt an. Man hat den Schlaf und Traum, man hat den Schatten,<br />

<strong>die</strong> Nacht, den Naturschrecken verantwortlich gemacht für das<br />

Entstehen zweiter Welten: vor allem sollte man <strong>die</strong> Symptome<br />

der physiologischen Erschöpfung darauf hin betrachten. Die<br />

alten Religionen discipliniren ganz eigentlich den Frommen zu<br />

einem Zustande der Erschöpfung, wo er solche Dinge erleben<br />

muß … Man glaubte in eine höhere Ordnung eingetreten zu<br />

sein, wo Alles aufhörte, bekannt zu sein. — Der Schein<br />

einer höheren <strong>Macht</strong> …<br />

Aphorism n=12474 id='VIII.15[94]' kgw='VIII-3.256' ksa='13.462'<br />

siehe im ersten braunen großen Heft<br />

sein Leben lassen für eine Sache — großer Effekt. Aber man<br />

läßt für Vieles sein Leben: <strong>die</strong> Affekte sammt und sonders wollen<br />

ihre Befriedigung. Ob es das Mitleid ist oder der Zorn oder <strong>die</strong><br />

Rache — daß das Leben daran gesetzt wird, verändert nichts am<br />

Werthe. Wie viele haben ihr Leben für <strong>die</strong> hübschen Weiblein<br />

geopfert — und selbst, was schlimmer ist, ihre Gesundheit.<br />

Wenn man das Temperament hat, so wählt man instinktiv <strong>die</strong><br />

gefährlichen Dinge: z.B. <strong>die</strong> Abenteuer der Spekulation, wenn


man Philosoph; oder der Immoralität, wenn man tugendhaft<br />

ist. Die eine Art Mensch will nichts riskiren, <strong>die</strong> andre will<br />

Page Break KGW='VIII-3.257' KSA='13.463'<br />

riskiren. Sind wir Anderen Verächter <strong>des</strong> Lebens? Im<br />

Gegentheil, wir suchen instinktiv ein potenzirtes Leben, das<br />

Leben in der Gefahr … damit, nochmals gesagt, wollen wir<br />

nicht tugendhafter sein als <strong>die</strong> Anderen. Pascal z.B. wollte<br />

nichts riskiren und blieb Christ: das war vielleicht tugendhafter.<br />

— Man opfert immer …<br />

Aphorism n=12475 id='VIII.15[95]' kgw='VIII-3.257' ksa='13.463'<br />

„Die großen Gedanken kommen aus dem Herzen“. — Aber<br />

das soll man Vauvenargues nicht glauben usw. usw.<br />

Aphorism n=12476 id='VIII.15[96]' kgw='VIII-3.257' ksa='13.463'<br />

Die beste moderne Oper ist <strong>die</strong> Oper meines Freun<strong>des</strong> Heinrich<br />

Köselitz, <strong>die</strong> einzige, <strong>die</strong> von Wagner-Deutschland frei ist:<br />

eine Neucomposition <strong>des</strong> „matrimonio segreto“. Die zweitbeste<br />

Oper ist Bizets Carmen — <strong>die</strong> beinahe davon frei ist; <strong>die</strong><br />

drittbeste Wagners Meistersinger: ein Meisterstück <strong>des</strong> Dilettantismus<br />

in der Musik. Versuch einer Umwerthung der Werthe.<br />

Aphorism n=12477 id='VIII.15[97]' kgw='VIII-3.257' ksa='13.463'<br />

Was man früher nicht wußte, eine Rückbildung ist<br />

nicht möglich. Aber alle Moralisten und Priester suchen<br />

<strong>die</strong> Menschen auf ein früheres Schema zurückzubringen und<br />

Tugenden an ihnen zu entwickeln, <strong>die</strong> ehemals Tugenden<br />

gewesen sind. Selbst <strong>die</strong> Politiker sind nicht frei davon, —<br />

namentlich <strong>die</strong> Conservativen. Man kann eine Entwicklung hemmen,<br />

und durch Hemmung, selbst eine Entartung und Vernichtung<br />

herbeiführen — mehr kann man nicht.<br />

Die ganze Romantik <strong>des</strong> Ideals ist darin falsch, daß sie<br />

rückbilden für möglich hält. Thatsächlich stellen <strong>die</strong> Romantiker<br />

eine krankhafte décadence-Form vor: sie sind sehr weit<br />

voraus, sehr spät und ganz und gar unfruchtbar … Das Verlangen<br />

nach ehedem ist selbst ein Zeugniß für eine tiefe Unlust und<br />

Zukunftslosigkeit<br />

Page Break KGW='VIII-3.258' KSA='13.464'


also <strong>die</strong> regressiven Tendenzen beweisen das Gegentheil,<br />

daß man sehr spät, zu spät ist, daß man alt ist …<br />

Aphorism n=12478 id='VIII.15[98]' kgw='VIII-3.258' ksa='13.464'<br />

Ein kleiner tüchtiger Bursch wird ironisch blicken, wenn<br />

man ihn fragt: willst du tugendhaft werden? aber er macht <strong>die</strong><br />

Augen auf, wenn man ihn fragt willst du stärker werden als<br />

deine Kameraden<br />

Wie wird man stärker<br />

sich langsam entscheiden; und zähe festhalten an dem, was<br />

man entschieden hat. Alles Andere folgt.<br />

Die Plötzlichen und <strong>die</strong> Veränderlichen: <strong>die</strong><br />

beiden Arten der Schwachen. Sich nicht mit ihnen verwechseln,<br />

<strong>die</strong> Distanz fühlen — bei Zeiten!<br />

Vorsicht vor den Gutmüthigen! Der Umgang mit ihnen<br />

erschlafft<br />

Jeder Umgang ist gut, bei dem <strong>die</strong> Wehr und Waffen, <strong>die</strong><br />

man in den Instinkten hat, geübt werden.<br />

<strong>die</strong> ganze Erfindsamkeit darin, seine Willenskraft auf <strong>die</strong><br />

Probe zu stellen … Hier das Unterscheidende sehn, nicht<br />

im Wissen, Scharfsinn, Witz …<br />

Man muß befehlen lernen, bei Zeiten —, ebensogut als<br />

gehorchen.<br />

Man muß Bescheidenheit, Takt in der Bescheidenheit lernen:<br />

nämlich auszeichnen, ehren, wo man bescheiden ist …<br />

ebenso mit Vertrauen — auszeichnen, ehren …<br />

Was büßt man am schlimmsten? Seine Bescheidenheit; seinen<br />

eigensten Bedürfnissen kein Gehör geschenkt zu haben; sich<br />

verwechseln; sich niedrig nehmen; <strong>die</strong> Feinheit <strong>des</strong> Ohrs für<br />

seine Instinkte einbüßen; — <strong>die</strong>ser Mangel an Ehrerbietung<br />

gegen sich rächt sich durch jede Art von Einbuße,<br />

Gesundheit, Wohlgefühl, Stolz, Heiterkeit, Freiheit, Festigkeit,<br />

Muth, Freundschaft. Man vergiebt sich später <strong>die</strong>sen Mangel an<br />

Page Break KGW='VIII-3.259' KSA='13.465'<br />

ächtem Egoismus nie: man nimmt ihn als Einwand, als Zweifel<br />

an einem wirklichen ego …<br />

Aphorism n=12479 id='VIII.15[99]' kgw='VIII-3.259' ksa='13.465'<br />

Wagner hat lauter Krankheitsgeschichten in Musik gesetzt,<br />

lauter interessante Fälle, lauter ganz moderne Typen der Degenerescenz,<br />

<strong>die</strong> uns gerade <strong>des</strong>halb verständlich sind. Nichts ist von<br />

den jetzigen Ärzten und Physiologen besser studirt als der<br />

hysterisch-hypnotische Typus der Wagnerschen Heldin: Wagner ist hier


Kenner, er ist naturwahr bis zum Widerlichen darin — seine<br />

Musik ist vor allem eine psychologisch-physiologische Analyse<br />

kranker Zustände — sie dürfte als solche ihren Werth noch<br />

behalten, selbst wenn ein Geschmack ganz [ — — — ] und sie als<br />

Musik nicht mehr erschölle. Daß <strong>die</strong> lieben Deutschen(1765) dabei von<br />

Urgefühlen germanischer Tüchtigkeit und Kraft zu schwärmen<br />

verstehen, gehört zu den scherzhaften Anzeichen der psychologischen<br />

Cultur der Deutschen: — wir Anderen sind bei Wagners(1766)<br />

Musik im Hospital und, nochmals gesagt, sehr interessirt … Die<br />

Krankhaftigkeit ist bei Wagner nicht gewollt, nicht Zufall, nicht<br />

Ausnahme — sie ist <strong>die</strong> Essenz seiner Kunst, ihr Instinkt, ihr<br />

„Unbewußtes“, sie ist ihre Unschuld: <strong>die</strong> Sensibilität, das<br />

tempo <strong>des</strong> Affekts, Alles hat an ihr Theil, das Reich der [ — ]<br />

ist von ungeheurer Breite<br />

Senta, Elsa, Isolde, Brünnhilde, Kundry: eine artige Galerie<br />

von Krankheitsfällen — wie instinktiv Wagner das Weib als<br />

krankes Weib versteht, giebt <strong>die</strong> sonst natürlicher gerathene Eva<br />

aus den Meistersingern(1767) zu verstehen: — Wagner kann nicht<br />

umhin ihr eine zwanzig Minuten lange Attitüde zu geben, deren<br />

wegen wir das artige Geschöpf unfehlbar unter psychiatrische<br />

Aufsicht stellen würden. Gegen <strong>die</strong> Helden Wagners ist zunächst<br />

einzuwenden, daß sie allesammt einen krankhaften Geschmack<br />

haben — sie lieben lauter Weiber, <strong>die</strong> ihnen zuwider sein müßten<br />

… Sie lieben lauter unfüchtbare Weiber — alle <strong>die</strong>se „Heldinnen“<br />

verstehen sich nicht darauf ein Kind zu machen — <strong>die</strong><br />

Page Break KGW='VIII-3.260' KSA='13.466'<br />

Ausnahme ist interessant genug: um Sieglinde(1768) zu einem Kinde<br />

zu verhelfen, hat Wagner der Sage Gewalt angethan — und<br />

vielleicht nicht nur der Sage: nach Wagnerscher Physiologie(1769) ist<br />

nur <strong>die</strong> Blutschande eine Gewährschaft für Kinder … Brünnhilde<br />

selbst — — —<br />

Aphorism n=12480 id='VIII.15[100]' kgw='VIII-3.260' ksa='13.466'<br />

Der Wille zur <strong>Macht</strong>.<br />

Versuch<br />

einer Umwerthung aller Werthe.<br />

Erstes Buch. Kritik der großen<br />

Die Niedergangswerthe. Worte<br />

der selbstlose Mensch<br />

Zweites Buch. „heroisch“<br />

Warum bloß Niedergangswerthe „Mitleiden“<br />

zur Herrschaft kamen. vom „Frieden der Seele“<br />

Drittes Buch. der Märtyrer.


Modernität Bescheidenheit (wie man<br />

als Zweideutigkeit der Werthe. sie büßt …)<br />

Viertes Buch.<br />

Der Werth der Zukunft<br />

(als Ausdruck einer stärkeren Art Mensch)<br />

: <strong>die</strong> zuerst dasein muß …<br />

Aphorism n=12481 id='VIII.15[101]' kgw='VIII-3.260' ksa='13.466'<br />

Bild der décadence: ihre Symptome.<br />

Überwachsung der höheren Werthe mit <strong>die</strong>sen Symptomen.<br />

Page Break KGW='VIII-3.261' KSA='13.467'<br />

Philosophie als décadence<br />

Moral als décadence.<br />

Religion als décadence.<br />

Kunst als décadence.<br />

Politik als décadence<br />

Aphorism n=12482 id='VIII.15[102]' kgw='VIII-3.261' ksa='13.467'<br />

I.<br />

Die Niedergangs-Werthe<br />

II.<br />

Die Gegenbewegung und deren Schicksal.<br />

III.<br />

Problem der Modernität.<br />

IV.<br />

Der grosse Mittag.<br />

Aphorism n=12483 id='VIII.15[103]' kgw='VIII-3.261' ksa='13.467'<br />

la méditation affaiblit comme feraient <strong>des</strong> évacuations<br />

excessives (Tissot, De la santé <strong>des</strong> gens de lettres p. 43) 1784<br />

unter dem Einflusse schwieriger Rechnungen nimmt <strong>die</strong><br />

Sensibilität ab, insgleichen <strong>die</strong> freiwillige Contraktibilität; der<br />

Umfang der Glieder vermindert sich.


Aphorism n=12484 id='VIII.15[104]' kgw='VIII-3.261' ksa='13.467'<br />

Was es mit der Vergeistigung der Begehrlichkeit jeder Art<br />

auf sich hat: dafür ist ein klassisches Beispiel <strong>die</strong> satura<br />

Menippea <strong>des</strong> Petronius. Man lese <strong>die</strong>selbe Hand in Hand mit einem<br />

Kirchenvater und man frage sich, wo <strong>die</strong> reinlichere Luft<br />

weht … Hier steht nichts, was nicht einen alten Priester in<br />

Verzweiflung brächte durch Unsittlichkeit und lasciven<br />

Übermuth<br />

Page Break KGW='VIII-3.262' KSA='13.468'<br />

Aphorism n=12485 id='VIII.15[105]' kgw='VIII-3.262' ksa='13.468'<br />

NB NB <strong>die</strong> Lehre vom Milieu eine décadence-Theorie,<br />

aber eingedrungen und Herr geworden in der Physiologie<br />

Aphorism n=12486 id='VIII.15[106]' kgw='VIII-3.262' ksa='13.468'<br />

Die Theorie vom Milieu, heute <strong>die</strong> Pariser Theorie par<br />

excellence, ist selbst ein Beweis von einer verhängnißvollen<br />

Disgregation der Persönlichkeit: wenn das Milieu anfängt zu<br />

formen und es dem Thatbestand entspricht, <strong>die</strong> Vordergrunds-Talente<br />

als bloße Concrescenzen ihrer Umgebung verstehen zu dürfen,<br />

da ist <strong>die</strong> Zeit vorbei, wo noch gesammelt, gehäuft, geerntet<br />

werden kann — <strong>die</strong> Zukunft ist vorbei … Der Augenblick<br />

frißt auf, was er hervorbringt — und, wehe, er bleibt<br />

dabei noch hungrig …<br />

Aphorism n=12487 id='VIII.15[107]' kgw='VIII-3.262' ksa='13.468'<br />

In summa: der Heroismus ist kein Eigennutz — denn man<br />

geht daran zu Grunde … Oft ist <strong>die</strong> Verwendung der Kraft<br />

bedingt durch den Zufall der Zeit, in <strong>die</strong> der große Mensch fällt:<br />

und <strong>die</strong>s bringt den Aberglauben mit sich, als ob er der<br />

Ausdruck <strong>die</strong>ser Zeit wäre … aber <strong>die</strong>selbe Kraft könnte sich in<br />

vielen anderen Formen ausgeben und zwischen ihm und der<br />

Zeit bleibt immer der Unterschied, daß <strong>die</strong> „öffentliche<br />

Meinung“ den Instinkt der Heerde, d.h. der Schwachen, anzubeten<br />

gewohnt ist und daß er der Starke, das Starke ist …<br />

Aphorism n=12488 id='VIII.15[108]' kgw='VIII-3.262' ksa='13.468'


Die Gläubigen sind sich bewußt, dem Christenthum Unendliches<br />

zu verdanken und schließen folglich daß <strong>des</strong>sen Urheber<br />

eine Personnage ersten Ranges sei … Dieser Schluß ist falsch,<br />

aber es ist der typische Schluß der Verehrenden. Objektiv<br />

angesehn, wäre möglich, erstens, daß sie sich irrten über den<br />

Werth <strong>des</strong>sen, was sie dem Christenthum verdanken: Überzeugungen<br />

Page Break KGW='VIII-3.263' KSA='13.469'<br />

beweisen nichts für das, wovon man überzeugt ist, bei<br />

Religionen begründen sie eher noch einen Verdacht dagegen …<br />

Es wäre zweitens möglich, daß was dem Christenthum<br />

verdankt werde, nicht seinem Urheber zugeschrieben werden<br />

dürfte, sondern eben dem fertigen Gebilde, dem Ganzen, der<br />

Kirche aus ihm. Der Begriff „Urheber“ ist so vieldeutig, daß er<br />

selbst <strong>die</strong> bloße Gelegenheits-Ursache für eine Bewegung bedeuten<br />

kann: man hat <strong>die</strong> Gestalt <strong>des</strong> Gründers in dem Maaße vergrößert,<br />

als <strong>die</strong> Kirche wuchs; aber eben <strong>die</strong>se Optik der Verehrung<br />

erlaubt den Schluß, daß irgend wann <strong>die</strong>ser Gründer etwas<br />

sehr Unsicheres und Unfestgestelltes war, — am Anfang … Man<br />

denke, mit welcher Freiheit Paulus das Personal-Problem<br />

Jesus behandelt, beinahe eskamotirt — Jemand der gestorben<br />

ist, den man nach seinem Tode wieder gesehen hat, Jemand, der<br />

von den Juden zum Tode überantwortet wurde … Ein bloßes<br />

„Motiv“: <strong>die</strong> Musik macht er dann dazu … Eine Null am<br />

Anfang —<br />

Aphorism n=12489 id='VIII.15[109]' kgw='VIII-3.263' ksa='13.469'<br />

Die Herren-Moral<br />

<strong>die</strong> Priester-Moral<br />

<strong>die</strong> Tschandala-Moral<br />

(Die Dienstboten-Moral)<br />

Die Herdenthier-Moral<br />

Die Décadence-Moral<br />

Die Völker-Moral<br />

Aphorism n=12490 id='VIII.15[110]' kgw='VIII-3.263' ksa='13.469'<br />

Altruismus<br />

Damit daß das Christenthum <strong>die</strong> Lehre von der<br />

Uneigennützigkeit und Liebe in den Vordergrund gerückt hat, hat<br />

es durchaus noch nicht das Gattungs-Interesse für höherwerthig<br />

angesetzt als das Individual-Interesse. Seine eigentlich<br />

historische Wirkung, das Verhängniß von Wirkung bleibt<br />

Page Break KGW='VIII-3.264' KSA='13.470'


umgekehrt gerade <strong>die</strong> Steigerung <strong>des</strong> Egoismus, <strong>des</strong><br />

Individual-Egoismus bis ins Extrem ( — bis zum Extrem der<br />

Individual-Unsterblichkeit.) Der Einzelne wurde durch das<br />

Christenthum so wichtig genommen, so absolut gesetzt daß man<br />

ihn nicht mehr opfern konnte: aber <strong>die</strong> Gattung besteht<br />

nur durch Menschenopfer … Vor Gott werden alle „Seelen“<br />

gleich: aber das ist gerade <strong>die</strong> gefährlichste aller möglichen<br />

Werthschätzungen! Setzt man <strong>die</strong> Einzelnen gleich, so stellt man<br />

<strong>die</strong> Gattung in Frage, so begünstigt man eine Praxis, welche auf<br />

den Ruin der Gattung hinausläuft: das Christenthum ist das<br />

Gegenprincip gegen <strong>die</strong> Selektion. Wenn der Entartende<br />

und Kranke („der Christ“) so viel Werth haben soll<br />

wie der Gesunde („der Heide“), oder gar noch mehr, nach<br />

Pascal's Urtheil über Krankheit und Gesundheit, so ist der<br />

natürliche Gang der Entwicklung gekreuzt und <strong>die</strong> Unnatur<br />

zum Gesetz gemacht … Diese allgemeine Menschenliebe ist in<br />

Praxi <strong>die</strong> Bevorzugung alles Leidenden, Schlechtweggekommenen,<br />

Degenerirten: sie hat thatsächlich <strong>die</strong> Kraft, <strong>die</strong><br />

Verantwortlichkeit, <strong>die</strong> hohe Pflicht, Menschen zu opfern,<br />

heruntergebracht und abgeschwächt. Es blieb, nach dem Schema<br />

<strong>des</strong> christlichen Werthmaaßes, nur noch übrig, sich selbst zu<br />

opfern: aber <strong>die</strong>ser Rest von Menschenopfer, den das<br />

Christenthum concedirte und selbst anrieth, hat, vom Standpunkte der<br />

Gesammt-Züchtung aus, gar keinen Sinn. Es ist für das Gedeihen<br />

der Gattung gleichgültig, ob irgend welche Einzelne<br />

sich selbst opfern ( — sei es in mönchischer und asketischer<br />

Manier oder mit Hülfe von Kreuzen, Scheiterhaufen und Schaffotten,<br />

als „Märtyrer“ <strong>des</strong> Irrthums) Die Gattung braucht den<br />

Untergang der Mißrathenen, Schwachen, Degenerirten: aber<br />

gerade an sie wendete sich das Christenthum, als conservirende<br />

Gewalt, sie steigerte noch jenen an sich schon so mächtigen<br />

Instinkt der Schwachen, sich zu schonen, sich zu erhalten, sich<br />

gegenseitig zu halten. Was ist <strong>die</strong> „Tugend“, was „Menschenliebe“<br />

im Christenthum, wenn nicht eben <strong>die</strong>se Gegenseitigkeit<br />

Page Break KGW='VIII-3.265' KSA='13.471'<br />

der Erhaltung, <strong>die</strong>se Solidarität der Schwachen, <strong>die</strong>se<br />

Verhinderung der Selektion? Was ist der christliche Altruismus,<br />

wenn nicht der Massen-Egoismus der Schwachen, welcher<br />

erräth, daß wenn alle für einander sorgen, jeder Einzelne am<br />

längsten erhalten bleibt? … Wenn man eine solche Gesinnung<br />

nicht als eine extreme Unmoralität, als ein Verbrechen<br />

am Leben empfindet, so gehört man zur kranken Bande und hat<br />

selber deren Instinkte … Die ächte Menschenliebe verlangt das<br />

Opfer zum Besten der Gattung — sie ist hart, sie ist voll<br />

Selbstüberwindung, weil sie das Menschenopfer braucht. Und<br />

<strong>die</strong>se Pseudo-Humanität, <strong>die</strong> Christenthum heißt, will gerade<br />

durchsetzen, daß Niemand geopfert wird …


Aphorism n=12491 id='VIII.15[111]' kgw='VIII-3.265' ksa='13.471'<br />

Über <strong>die</strong> Wirkung der Musik Wagners<br />

Eine Musik, bei der man nicht im Takte athmen kann, ist<br />

ungesund. Wenn <strong>die</strong> Musik mit einer heiteren Göttlichkeit und<br />

Gewißheit daherkommt, feiern auch unsere Muskeln ein Fest:<br />

— wir werden stärker, es ist erlaubt, <strong>die</strong>s Wachsthum von Kraft<br />

sogar zu messen. Wie kommt es eigentlich, daß Wagners Musik<br />

mich depotenzirt, daß sie mir eine physiologische Ungeduld<br />

erregt, welche sich zuletzt in einem sanften Schweiße kundgiebt?<br />

Nach einem, höchstens nach zwei Akten Wagner laufe ich davon.<br />

— Man halte fest, daß jede Kunst, welche <strong>die</strong> Physiologie<br />

gegen sich hat, eine widerlegte Kunst ist … Die Musik<br />

Wagners kann man physiologisch widerlegen …<br />

Aphorism n=12492 id='VIII.15[112]' kgw='VIII-3.265' ksa='13.471'<br />

Kritik der modernen Seele.<br />

Die drei Jahrhunderte.<br />

Aphorism n=12493 id='VIII.15[113]' kgw='VIII-3.265' ksa='13.471'<br />

Der gute Mensch. Oder: <strong>die</strong> Hemiplegie der<br />

Tugend. — Für jede starke und Natur gebliebene Art<br />

Page Break KGW='VIII-3.266' KSA='13.472'<br />

Mensch gehört Liebe und Haß, Dankbarkeit und Rache, Güte<br />

und Zorn, Ja-thun und Nein-thun zu einander. Man ist gut,<br />

um den Preis, daß man auch böse zu sein weiß; man ist böse,<br />

weil man sonst nicht gut zu sein verstünde. Woher nun jene<br />

Erkrankung und ideologische Unnatur, welche <strong>die</strong>se Doppelheit<br />

ablehnt —, welche als das Höhere lehrt, nur halbseitig<br />

tüchtig zu sein? Woher <strong>die</strong> Hemiplegie der Tugend, <strong>die</strong> Erfindung<br />

<strong>des</strong> guten Menschen? Die Forderung geht dahin, daß der<br />

Mensch sich an jenen Instinkten verschneidet, mit denen er<br />

Feind sein kann, schaden kann, zürnen kann, Rache heischen<br />

kann … Dieser Unnatur entspricht dann jene dualistische<br />

Conception eines bloß guten und eines bloß bösen Wesens (Gott,<br />

Geist, Mensch), in ersterem alle positiven, in letzterem alle<br />

negativen Kräfte, Absichten, Zustände summirend. — Eine solche<br />

Werthungsweise glaubt sich damit „idealistisch“; sie zweifelt nicht<br />

daran, eine höchste Wünschbarkeit in der Conception „<strong>des</strong><br />

Guten“ angesetzt zu haben. Geht sie auf ihren Gipfel, so denkt<br />

sie sich einen Zustand aus, wo alles Böse annullirt ist und wo in


Wahrheit nur <strong>die</strong> guten Wesen übrig geblieben sind. Sie hält es<br />

also nicht einmal für ausgemacht, daß jener Gegensatz von Gut<br />

und Böse sich gegenseitig bedinge; umgekehrt, letzteres soll<br />

verschwinden und ersteres soll übrig bleiben, das Eine hat ein Recht<br />

zu sein, das Andere sollte gar nicht da sein … Was<br />

wünscht da eigentlich? — —<br />

Man hat sich zu allen Zeiten und sonderlich zu den<br />

christlichen Zeiten viel Mühe gegeben, den Menschen auf <strong>die</strong>se<br />

halbseitige Tüchtigkeit, auf „den Guten“ zu reduziren:<br />

noch heute fehlt es nicht an kirchlich Verbildeten und<br />

Geschwächten, denen <strong>die</strong>se Absicht mit der „Vermenschlichung“<br />

überhaupt oder mit dem „Willen Gottes“ oder mit<br />

dem „Heil der Seele“ zusammenfällt. Hier wird als wesentliche<br />

Forderung gestellt, daß der Mensch nichts Böses thue; daß er<br />

unter keinen Umständen schade, schaden wolle … Als Weg dazu<br />

gilt: <strong>die</strong> Verschneidung aller Möglichkeiten zur Feindschaft, <strong>die</strong><br />

Page Break KGW='VIII-3.267' KSA='13.473'<br />

Aushängung aller Instinkte <strong>des</strong> ressentiment, der „Frieden der<br />

Seele“ als chronisches Übel.<br />

Diese Denkweise, mit der ein bestimmter Typus Mensch<br />

gezüchtet wird, geht von jener absurden Voraussetzung aus: sie<br />

nimmt das Gute und das Böse als Realitäten, <strong>die</strong> mit sich im<br />

Widerspruch sind (nicht als complementäre Werthbegriffe,<br />

was <strong>die</strong> Wahrheit wäre), sie räth <strong>die</strong> Partei <strong>des</strong> Guten zu<br />

nehmen, sie verlangt, daß der Gute dem Bösen bis in <strong>die</strong> letzte<br />

Wurzel entsagt und widerstrebt, — sie verneint<br />

thatsächlich damit das Leben, welches in allen seinen<br />

Instinkten sowohl das Ja wie das Nein hat. Nicht daß sie <strong>die</strong>s<br />

begriffe: sie träumt umgekehrt davon, zur Ganzheit, zur<br />

Einheit, zur Stärke <strong>des</strong> Lebens zurückzukehren: sie denkt es sich<br />

als Zustand der Erlösung, wenn endlich der eignen innern<br />

Anarchie, der Unruhe zwischen zwei entgegengesetzten Werth-Antrieben<br />

ein Ende gemacht wird. — Vielleicht gab es bisher keine<br />

gefährlichere Ideologie, keinen größeren Unfug in psychologicis<br />

als <strong>die</strong>sen Willen zum Guten: man zog den widerlichsten<br />

Typus den unfreien Menschen groß, den Mucker, man<br />

lehrte, eben nur als Mucker sei man auf dem rechten Wege zur<br />

Gottheit, nur ein Mucker-Wandel sei ein göttlicher Wandel …<br />

— Und selbst hier noch behält das Leben recht — das<br />

Leben welches das Ja nicht vom Nein zu trennen weiß —: was<br />

hilft es, mit allen Kräften den Krieg für böse zu halten, nicht<br />

schaden, nicht Nein thun zu wollen! man führt doch Krieg! man<br />

kann gar nicht anders! Der gute Mensch, der dem Bösen<br />

entsagt hat, behaftet, wie es ihm wünschbar scheint, mit jener<br />

Hemiplegie der Tugend, hört durchaus nicht auf, Krieg zu führen,<br />

Feinde zu haben, Nein zu sagen, Nein zu thun. Der Christ zum<br />

Beispiel haßt <strong>die</strong> „Sünde“ … Und was ist ihm nicht alles<br />

„Sünde“! Gerade durch jenen Glauben an einen Moral-Gegensatz<br />

von Gut und Böse ist ihm <strong>die</strong> Welt vom Hassenswerthen,


vom Ewig-zu-Bekämpfenden übervoll geworden. „Der Gute“<br />

sieht sich wie umringt vom Bösen und unter dem beständigen<br />

Page Break KGW='VIII-3.268' KSA='13.474'<br />

Ansturm <strong>des</strong> Bösen, er verfeinert sein Auge, er entdeckt unter<br />

all seinem Tichten und Trachten noch das Böse: — und so endet<br />

er, wie es folgerichtig ist, <strong>die</strong> Natur für böse, den Menschen für<br />

verderbt, das Gutsein als Gnade (das heißt als menschenunmöglich)<br />

zu verstehen. — In summa: er verneint das Leben,<br />

er begreift, wie das Gute als oberster Werth das Leben<br />

verurtheilt … Damit sollte seine Ideologie von Gut und Böse ihm<br />

als widerlegt gelten. Aber eine Krankheit widerlegt man nicht …<br />

Und so concipirt er ein anderes Leben! …<br />

Aphorism n=12494 id='VIII.15[114]' kgw='VIII-3.268' ksa='13.474'<br />

Die typischen Selbstgestaltungen. Oder:<br />

<strong>die</strong> acht Hauptfragen<br />

1) Ob man sich vielfacher haben will oder einfacher.<br />

2) Ob man glücklicher werden will oder gleichgültiger gegen<br />

Glück und Unglück.<br />

3) ob man zufriedner mit sich werden will oder anspruchsvoller<br />

und unerbittlicher?<br />

4) ob man weicher, nachgebender, menschlicher werden will<br />

oder „unmenschlicher“.<br />

5) ob man klüger werden will oder rücksichtsloser.<br />

6) ob man ein Ziel erreichen will oder allen Zielen ausweichen<br />

( — wie es zum Beispiel der Philosoph thut, der in jedem<br />

Ziel eine Grenze, einen Winkel, ein Gefängniß, eine Dummheit<br />

riecht …)<br />

7) ob man geachteter werden will oder gefürchteter? Oder<br />

verachteter!<br />

8) ob man Tyrann oder Verführer oder Hirt oder Heerdenthier<br />

werden will?<br />

Aphorism n=12495 id='VIII.15[115]' kgw='VIII-3.268' ksa='13.474'<br />

Was ist vornehm?<br />

Daß man sich beständig zu repräsentiren hat. Daß man<br />

Lagen sucht, wo man beständig Gebärden nöthig hat. Daß man<br />

Page Break KGW='VIII-3.269' KSA='13.475'<br />

das Glück der großen Zahl überläßt: Glück als Frieden<br />

der Seele, Tugend, comfort (englisch-engelhaftes Krämerthum<br />

à la Spencer) Daß man instinktiv für sich schwere Verantwortungen


sucht. Daß man sich überall Feinde zu schaffen weiß,<br />

schlimmsten Falls noch aus sich selbst. Daß man der großen<br />

Zahl nicht durch Worte, sondern durch Handlungen beständig<br />

widerspricht.<br />

Aphorism n=12496 id='VIII.15[116]' kgw='VIII-3.269' ksa='13.475'<br />

Die Kriegerischen und <strong>die</strong> Friedlichen<br />

Bist du ein Mensch, der <strong>die</strong> Instinkte <strong>des</strong> Krieges im Leibe<br />

hat? Und in <strong>die</strong>sem Falle bliebe noch eine zweite Frage: bist du<br />

ein Angriffskrieger oder ein Widerstandskrieger von Instinkt?<br />

— Der Rest von Menschen, alles, was nicht kriegerisch<br />

von Instinkt ist, will Frieden, will Eintracht, will „Freiheit“,<br />

will „gleiche Rechte“ —: das sind nur Namen und Stufen für<br />

Ein und dasselbe.<br />

— Dorthin gehen, wo man nicht nöthig hat, sich zu wehren.<br />

Solche Menschen werden unzufrieden mit sich, wenn sie<br />

genöthigt sind, Widerstand zu leisten<br />

— Zustände schaffen, wo es überhaupt keinen Krieg mehr<br />

giebt.<br />

— Schlimmsten Falls sich unterwerfen, gehorchen, einordnen.<br />

Immer noch besser als Krieg führen. So räth es zum Beispiel<br />

dem Christen sein Instinkt.<br />

Bei den geborenen Kriegern gibt es etwas wie Bewaffnung<br />

im Charakter, in der Wahl der Zustände, in der Ausbildung<br />

jeder Eigenschaft: <strong>die</strong> „Waffe“ ist im ersten Typus, <strong>die</strong> Wehr<br />

im zweiten am besten entwickelt.<br />

Die unbewaffneten, <strong>die</strong> Unbewehrten: welche Hülfsmittel<br />

und Tugenden sie nöthig haben, um es auszuhalten, — um selbst<br />

obzusiegen.<br />

Page Break KGW='VIII-3.270' KSA='13.476'<br />

Aphorism n=12497 id='VIII.15[117]' kgw='VIII-3.270' ksa='13.476'<br />

Vom Asketismus der Starken.<br />

Aufgabe <strong>die</strong>ses Ascetismus, der nur eine Durchgangs-Schulung<br />

ist, kein Ziel: sich frei machen von den alten Gefühls-Impulsen<br />

der überlieferten Werthe. Schritt für Schritt seinen Weg<br />

gehen lernen zum „Jenseits von Gut und Böse“.<br />

Erste Stufe: Atrocitäten aushalten<br />

Atrocitäten thun<br />

Zweite Stufe, <strong>die</strong> schwerere: Miserabilitäten aushalten<br />

Miserabilitäten thun:<br />

eingerechnet als Vorübung:<br />

lächerlich werden.<br />

sich lächerlich machen.


— Die Verachtung herausfordern und durch ein<br />

(unerrathbares) Lächeln aus der Höhe <strong>die</strong> Distanz trotzdem<br />

festhalten<br />

— eine Anzahl Verbrechen, welche erniedrigen, auf sich<br />

nehmen, z.B. Geld<strong>die</strong>bstahl, um sein Gleichgewicht auf <strong>die</strong><br />

Probe zu stellen<br />

eine Zeitlang nichts thun, reden, erstreben, was nicht Furcht<br />

oder Verachtung erregt, was nicht <strong>die</strong> Anständigen und Tugendhaften<br />

nothwendig in Kriegszustand versetzt, — was nicht ausschließt …<br />

das Gegentheil davon darstellen, was man ist (und besser<br />

noch: nicht gerade das Gegentheil, sondern bloß ein Anderssein:<br />

letzteres ist schwerer)<br />

— auf jedem Seile gehn, auf jeder Möglichkeit tanzen: sein<br />

Genie in <strong>die</strong> Füße bekommen<br />

— seine Ziele zeitweilig durch seine Mittel verleugnen, —<br />

selbst verleumden<br />

— ein für alle Mal einen Charakter darstellen, der es<br />

verbirgt, daß man fünf sechs andere hat<br />

— sich vor den fünf schlimmen Dingen nicht fürchten, der<br />

Feigheit, dem schlechten Ruf, dem Laster, der Lüge, dem Weibe —<br />

Page Break KGW='VIII-3.271' KSA='13.477'<br />

Aphorism n=12498 id='VIII.15[118]' kgw='VIII-3.271' ksa='13.477'<br />

Sprüche eines Hyperboreers.<br />

Wir Hyperboreer, wir wissen gut genug, wie abseits wir<br />

leben. „Weder zu Wasser, noch zu Lande kannst du den Weg zu<br />

den Hyperboreern finden“: das hat Pindar schon von uns<br />

gewußt.<br />

Jenseits <strong>des</strong> Nordens, <strong>des</strong> Eises, <strong>des</strong> To<strong>des</strong> — unser Leben!<br />

unser Glück! …<br />

Große Dinge verlangen, daß man von ihnen schweigt oder<br />

groß redet: groß, das heißt cynisch und mit Unschuld.<br />

Auch der Muthigste von uns hat nur selten den Muth zu<br />

dem, was er eigentlich — weiß …<br />

Man erholt sich in seiner wilden Natur am besten von<br />

seiner Unnatur, — von seiner Geistigkeit …<br />

Wie? ist der Mensch nur ein Fehlgriff Gottes? oder Gott nur<br />

ein Fehlgriff <strong>des</strong> Menschen?<br />

Wir mißtrauen allen Systematikern, wir gehen ihnen aus<br />

dem Weg. Der Wille zum System ist, für uns Denker wenigstens,


etwas, das compromittirt, eine Form der Unmoralität.<br />

Das Weib, das ewig Weibliche: ein bloß imaginärer Werth,<br />

an den allein der Mann glaubt.<br />

Der Mann hat das Weib geschaffen — woraus doch? Aus<br />

einer Rippe seines Gottes, seines „Ideals“ …<br />

Man hält das Weib für tief — warum? Weil man nie bei<br />

ihr auf den Grund kommt. Aber das Weib hat gar keinen<br />

Grund: Es ist das Faß der Danaiden.<br />

Das Weib ist noch nicht einmal flach.<br />

Wer am besten lacht, der lacht auch zuletzt.<br />

Page Break KGW='VIII-3.272' KSA='13.478'<br />

„Um allein zu leben, muß man ein Tier oder ein Gott sein“<br />

— sagt Aristoteles. Beweisen wir, daß man Bei<strong>des</strong> sein<br />

muß …<br />

Müßiggang ist aller Philosophie Anfang. Folglich — ist<br />

Philosophie ein Laster?<br />

Wie wenig gehört zum Glück! Der Ton eines Dudelsacks …<br />

Ohne Musik wäre das Leben ein Irrthum.<br />

Daß man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht!<br />

Daß man sie nicht hinterdrein in Stich läßt! — Der Gewissensbiß<br />

ist unanständig.<br />

Die Ehe hat <strong>die</strong> längste Zeit das schlechte Gewissen gegen<br />

sich gehabt. Sollte man's glauben? — Ja, man soll es glauben.<br />

Alles, womit der Mensch nicht fertig zu werden weiß, Alles,<br />

was kein Mensch noch verdaut hat, der Koth <strong>des</strong> Daseins —<br />

war er bisher nicht unser bester Dünger? …<br />

Von Zeit zu Zeit eine Dummheit — oh wie einem sofort<br />

wieder <strong>die</strong> eigne Weisheit schmeckt!<br />

Man muß Muth im Leibe haben, um sich eine Schlechtigkeit<br />

zu gestatten. Die „Guten“ sind zu feige dazu.<br />

Der Mann ist feige vor allem Ewig-Weiblichen: das wissen<br />

<strong>die</strong> Weiblein.<br />

Was uns nicht umbringt — das bringen wir um, das macht<br />

uns stärker. Il faut tuer le Wagnerisme.<br />

„Das waren Stufen für mich. Ich bin über sie hinaufgestiegen.


Dazu mußte ich über sie hinweg. Aber sie meinten, ich<br />

wollte mich auf ihnen zur Ruhe setzen“.<br />

„Alle Wahrheit ist einfach“: das ist eine zwiefache Lüge.<br />

Alles, was einfach ist, ist bloß imaginär, ist nicht „wahr“.<br />

Page Break KGW='VIII-3.273' KSA='13.479'<br />

Was aber wirklich, was wahr ist, ist weder Eins, noch auch nur<br />

reduzirbar auf Eins.<br />

Kann ein Packesel tragisch sein? — Daß man unter einer<br />

Last zu Grunde geht, <strong>die</strong> man weder tragen, noch abwerfen<br />

kann? …<br />

Unter Weibern. — „Die Wahrheit? Oh Sie kennen <strong>die</strong><br />

Wahrheit nicht! … Ist sie nicht ein Attentat auf alle unsere<br />

pudeurs?“<br />

„Den Gleichen Gleiches, den Ungleichen Ungleiches — so<br />

spricht uns <strong>die</strong> Gerechtigkeit. Und was daraus folgt, Ungleiches<br />

niemals gleich machen.“<br />

Wer seinen Willen nicht in <strong>die</strong> Dinge zu legen vermag, der<br />

legt wenigstens noch einen Sinn hinein: das heißt, er glaubt,<br />

daß ein Sinn bereits drin ist.<br />

Der große Stil tritt auf in Folge der großen Leidenschaft.<br />

Er verschmäht es, zu gefallen, er vergißt es, zu überreden. Er<br />

befiehlt. Er will.<br />

Künstler, wie sie zu sein pflegen, wenn sie ächt sind,<br />

bescheiden in ihren Bedürfnissen: sie wollen eigentlich nur<br />

Zweierlei ihr Brod und ihre Kunst — panem et Circen …<br />

Die posthumen Menschen werden schlechter verstanden,<br />

aber besser gehört als <strong>die</strong> zeitgemäßen. Oder, strenger: sie<br />

werden nie verstanden — und eben daher ihre Autorität!<br />

Der gute Geschmack in psychologicis: wenn alle<br />

Moral-Maskerade unserer Natürlichkeit uns Widerstand macht,<br />

wenn auch im Seelischen nur <strong>die</strong> nackte Natur gefällt.<br />

Man soll nicht unbescheiden sein: wählt man <strong>die</strong> Tugend<br />

und den gehobenen Busen, so soll man nicht auch zugleich <strong>die</strong><br />

Vortheile der Langfinger haben wollen.<br />

Page Break KGW='VIII-3.274' KSA='13.480'<br />

Die Tugend bleibt das kostspieligste Laster: sie soll es


leiben!<br />

Der Mensch ist ein mittelmäßiger Egoist: auch der Klügste<br />

nimmt seine Gewohnheit wichtiger als seinen Vortheil.<br />

Die Krankheit ist ein mächtiges Stimulans. Nur muß man<br />

gesund genug für das Stimulans sein.<br />

Der vornehme Geschmack zieht auch der Erkenntniß Grenzen.<br />

Er will, Ein für alle Mal, Vieles nicht wissen.<br />

Was ist Keuschheit am Mann? Daß sein Geschlechts-Geschmack<br />

vornehm geblieben ist; daß er in eroticis weder das<br />

Brutale, noch das Krankhafte, noch das Kluge mag.<br />

Hat man sein Warum? <strong>des</strong> Lebens, so verträgt man sich<br />

fast mit jedem Wie? Der Mensch strebt nicht nach Glück,<br />

wie <strong>die</strong> Engländer glauben. —<br />

Wie dürfte man den Mittelmäßigen ihre Mittelmäßigkeit<br />

verleiden! Ich thue, man sieht es, das Gegentheil: jeder Schritt<br />

weg von ihr führt — so lehre ich — ins Unmoralische …<br />

Unsere heiligsten Überzeugungen, unser Unwandelbares in<br />

Hinsicht auf oberste Werthe sind Urtheile unsrer Muskeln.<br />

„Weißt du noch nicht, was man nöthig hat, um seine Kraft zu<br />

verzehnfachen?“ — Anhänger? — Nullen!!<br />

— Und wie Jeder, der zu viel Recht hat, mache ich mir<br />

nichts daraus, Recht zu behalten. (Schluss der Vorrede)<br />

Aphorism n=12499 id='VIII.15[119]' kgw='VIII-3.274' ksa='13.480'<br />

biologische Isothermen<br />

Aphorism n=12500 id='VIII.15[120]' kgw='VIII-3.274' ksa='13.480'<br />

Was ist gut? — Alles, was das Gefühl der <strong>Macht</strong>, den Willen<br />

zur <strong>Macht</strong>, <strong>die</strong> <strong>Macht</strong> selbst im Menschen steigert.<br />

Page Break KGW='VIII-3.275' KSA='13.481'<br />

Was ist schlecht? — Alles, was aus der Schwäche stammt.<br />

Was ist Glück? — Das Gefühl davon, daß wieder <strong>die</strong> <strong>Macht</strong><br />

gewachsen, — daß wieder ein Widerstand überwunden ward.<br />

Nicht Zufriedenheit, sondern mehr <strong>Macht</strong>; nicht Frieden


überhaupt, sondern mehr Krieg; nicht Tugend, sondern Tüchtigkeit<br />

(Tugend im Renaissance-Stile, virtù, moralinfreie Tugend).<br />

Das was schwach und mißrathen ist soll zu Grunde gehn:<br />

oberster Imperativ <strong>des</strong> Lebens. Und man soll keine Tugend aus<br />

dem Mitleiden machen.<br />

Was ist gefährlicher als irgend ein Laster? — Das Mitleiden<br />

der That mit allem Mißrathenen und Schwachen, — das Christenthum …<br />

* * *<br />

Was für ein Typus <strong>die</strong> Menschheit einmal ablösen wird? Aber<br />

das ist bloße Darwinisten-Ideologie. Als ob je Gattung abgelöst<br />

wurde! Was mich angeht, das ist das Problem der Rangordnung<br />

innerhalb der Gattung Mensch, an deren Vorwärtskommen im<br />

Ganzen und Großen ich nicht glaube, das Problem der Rangordnung<br />

zwischen menschlichen Typen, <strong>die</strong> immer dagewesen sind<br />

und immer dasein werden.<br />

Ich unterscheide einen Typus <strong>des</strong> aufsteigenden Lebens und<br />

einen anderen <strong>des</strong> Verfalls, der Zersetzung, der Schwäche.<br />

Sollte man glauben, daß <strong>die</strong> Rangfrage zwischen beiden<br />

Typen überhaupt noch zu stellen ist? …<br />

Dieser stärkere Typus ist oft genug schon dagewesen: aber<br />

als ein Glücksfall, als eine Ausnahme, — niemals als gewollt.<br />

Vielmehr ist er gerade am besten bekämpft worden, verhindert<br />

worden, — er hatte immer <strong>die</strong> große Zahl, den Instinkt<br />

jeder Art Mittelmaß, mehr noch er hatte <strong>die</strong> List, <strong>die</strong> Feinheit,<br />

den Geist der Schwachen gegen sich und — folglich — <strong>die</strong><br />

„Tugend“ … er war beinahe bisher das Furchtbare: und aus der<br />

Furcht heraus hat man den umgekehrten Typus gewollt, gezüchtet,<br />

erreicht, das Hausthier, das Heerdenthier, das kranke<br />

Thier, den Christen …<br />

* * *<br />

Page Break KGW='VIII-3.276' KSA='13.482'<br />

Page Break KGW='VIII-3.277' KSA='13.483'<br />

[ 16 = W II 7a. Frühjahr — Sommer 1888 ]<br />

Aphorism n=12501 id='VIII.16[1]' kgw='VIII-3.277' ksa='13.483'<br />

Turin, 21. April, unterwegs<br />

„Meine Brüder, sagte der älteste Zwerg, wir sind in<br />

Gefahr. Ich verstehe <strong>die</strong> Attitüde <strong>die</strong>ses Riesen. Er ist im Begriff,<br />

uns anzurieseln. Wenn ein Riese rieselt, giebt es eine Sündfluth.<br />

Wir sind verloren, wenn er rieselt. Ich rede nicht davon, in<br />

welch affreusem Elemente wir da ertrinken.“<br />

„Problem — sagte der zweite Zwerg — wie verhindert man<br />

einen Riesen am Rieseln?“<br />

„Problem — sagte der dritte Zwerg — wie verhindert man<br />

einen Großen, daß er etwas Großes groß thut?“


„Ich danke, antwortete der älteste Zwerg mit Würde. Hiermit<br />

ist das Problem philosophischer genommen, sein Interesse<br />

verdoppelt, seine Lösung vorbereitet.“<br />

„Man muß ihn erschrecken, sagte der vierte Zwerg.<br />

„Man muß ihn kitzeln, sagte der fünfte Zwerg.<br />

„Man muß ihm in <strong>die</strong> Fußzehn beißen, sagte der sechste<br />

Zwerg.<br />

„Thun wir Alles zugleich, entschied der Älteste. Ich sehe,<br />

wir sind <strong>die</strong>ser Lage gewachsen. Dieser Riese wird nicht<br />

rieseln.“<br />

Aphorism n=12502 id='VIII.16[2]' kgw='VIII-3.277' ksa='13.483'<br />

Das Risquirte und Phantomatische in der Existenz —<br />

Nachts 27 April<br />

Page Break KGW='VIII-3.280' KSA='13.484'<br />

Aphorism n=12503 id='VIII.16[3]' kgw='VIII-3.280' ksa='13.484'<br />

Imaginäre Ursachen<br />

Aphorism n=12504 id='VIII.16[4]' kgw='VIII-3.280' ksa='13.484'<br />

Alles Furchtbare in Dienst nehmen, einzeln, versuchsweise,<br />

schrittweise — so will es <strong>die</strong> Aufgabe der Cultur. Aber bis sie<br />

stark genug dazu ist, muß sie es bekämpfen, mäßigen,<br />

verschleiern, unter Umständen verfluchen und vernichten. Überall,<br />

wo eine Cultur ihr Böses ansetzt, bringt sie damit ein<br />

Furchtverhältniß zum Ausdruck: ihre Schwäche verräth sich. An<br />

sich ist alles Gute ein <strong>die</strong>nstbar gemachtes Böse von Ehedem.<br />

Aphorism n=12505 id='VIII.16[5]' kgw='VIII-3.280' ksa='13.484'<br />

Dies giebt einen Maaßstab ab: je furchtbarer und größer <strong>die</strong><br />

Leidenschaften sind, <strong>die</strong> eine Zeit, ein Volk, ein Einzelner sich<br />

gestatten kann, weil er sie als Mittel zu gebrauchen weiß, um so<br />

höher steht seine Cultur. Umgekehrt: je mittelmäßiger,<br />

schwächer, unterwürfiger und feiger — tugendhafter — ein<br />

Mensch ist, um so weiter wird er das Reich <strong>des</strong> Bösen ansetzen.<br />

Der niedrigste Mensch muß das Reich <strong>des</strong> Bösen (das heißt <strong>des</strong><br />

ihm Verbotenen und Feindlichen) überall sehn. —


Aphorism n=12506 id='VIII.16[6]' kgw='VIII-3.280' ksa='13.484'<br />

Erziehung: ein System von Mitteln, um <strong>die</strong> Ausnahmen<br />

zu Gunsten der Regel zu ruiniren. Bildung: ein System<br />

von Mitteln, um den Geschmack gegen <strong>die</strong> Ausnahme zu<br />

richten, zu Gunsten der Durchschnittlichen. So ist es hart; aber,<br />

ökonomisch betrachtet, vollkommen vernünftig. Min<strong>des</strong>tens für<br />

eine lange Zeit, wo eine Cultur noch mit Mühe sich aufrecht<br />

erhält, und jede Ausnahme eine Art von Vergeudung von Kraft<br />

darstellt (etwas, das ablenkt, verführt, ankränkelt, isolirt) Eine<br />

Cultur der Ausnahme, <strong>des</strong> Versuchs, der Gefahr, der Nuance<br />

— eine Treibhauscultur für <strong>die</strong> ungewöhnlichen<br />

Gewächse hat erst ein Recht auf Dasein, wenn Kraft genug<br />

Page Break KGW='VIII-3.281' KSA='13.485'<br />

vorhanden ist, daß nunmehr selbst <strong>die</strong> Verschwendung ökonomisch<br />

wird.<br />

Aphorism n=12507 id='VIII.16[7]' kgw='VIII-3.281' ksa='13.485'<br />

Die Herrschaft über <strong>die</strong> Leidenschaften, nicht deren<br />

Schwächung oder Ausrottung! Je größer <strong>die</strong> Herren-Kraft<br />

unseres Willens ist, so viel mehr Freiheit darf den Leidenschaften<br />

gegeben werden. Der große Mensch ist groß durch den<br />

Freiheits-Spielraum seiner Begierden: er aber ist stark genug, daß<br />

er aus <strong>die</strong>sen Unthieren seine Hausthiere macht…<br />

Aphorism n=12508 id='VIII.16[8]' kgw='VIII-3.281' ksa='13.485'<br />

Der „gute Mensch“ auf jeder Stufe der Civilisation der<br />

Ungefährliche und Nützliche zugleich: eine Art Mitte, der<br />

Ausdruck im gemeinen Bewußtsein davon, vor wem man sich nicht<br />

zu fürchten hat und wen man trotzdem nicht verachten<br />

darf…<br />

Aphorism n=12509 id='VIII.16[9]' kgw='VIII-3.281' ksa='13.485'<br />

Im Kampfe gegen <strong>die</strong> großen Menschen liegt viel<br />

Vernunft. Dieselben sind gefährlich, Zufälle, Ausnahmen,<br />

Unwetter, stark genug, um Langsam-Gebautes und -Begründetes<br />

in Frage zu stellen, Fragezeichen-Menschen in Hinsicht auf<br />

Fest-Geglaubtes. Solche Explosiv-Stoffe nicht nur unschädlich


zu entladen, sondern wenn es irgend angeht, ihrer Entstehung<br />

und Häufung schon vorbeugen: dazu räth der Instinkt<br />

jeder civilisirten Gesellschaft.<br />

Aphorism n=12510 id='VIII.16[10]' kgw='VIII-3.281' ksa='13.485'<br />

Die Höhepunkte der Cultur und der Civilisation liegen<br />

auseinander: man soll sich über den abgründlichen Antagonismus<br />

von Cultur und Civilisation nicht irre führen lassen. Die<br />

großen Momente der Cultur waren immer, moralisch geredet,<br />

Zeiten der Corruption; und wiederum waren <strong>die</strong> Epochen der<br />

Page Break KGW='VIII-3.282' KSA='13.486'<br />

gewollten und erzwungenen Thierzähmung („Civilisation“<br />

— ) <strong>des</strong> Menschen Zeiten der Unduldsamkeit für <strong>die</strong><br />

geistigsten und kühnsten Naturen. Civilisation will etwas Anderes<br />

als Cultur will: vielleicht etwas Umgekehrtes…<br />

Aphorism n=12511 id='VIII.16[11]' kgw='VIII-3.282' ksa='13.486'<br />

— Entschiedenheit und Folge: nach Goethe das Verehrungswürdigste<br />

am Menschen —<br />

Aphorism n=12512 id='VIII.16[12]' kgw='VIII-3.282' ksa='13.486'<br />

Das Leben selbst ist kein Mittel zu Etwas; es ist bloß<br />

Wachsthums-Form der <strong>Macht</strong>.<br />

Aphorism n=12513 id='VIII.16[13]' kgw='VIII-3.282' ksa='13.486'<br />

Bescheiden, fleißig, wohlwollend, mäßig, voller Friede und<br />

Freundlichkeit: so wollt ihr den Menschen? so denkt ihr euch<br />

den guten Menschen? Aber was ihr damit erreicht, ist nur<br />

der Chinese der Zukunft, das „Schaf Christi“, der vollkommene<br />

Socialist…<br />

Aphorism n=12514 id='VIII.16[14]' kgw='VIII-3.282' ksa='13.486'<br />

Wer sich nicht als Zweck ansetzen, noch überhaupt von sich<br />

aus Zwecke ansetzen kann, der giebt der Moral der Entselbstung


<strong>die</strong> Ehre. Zu ihr überredet ihn Alles, seine Klugheit, seine<br />

Erfahrung, seine Eitelkeit…<br />

Aphorism n=12515 id='VIII.16[15]' kgw='VIII-3.282' ksa='13.486'<br />

Der Kampf gegen den „alten Glauben“, wie ihn Epicur<br />

unternahm, war, im strengen Sinne, der Kampf gegen das<br />

präexistente Christenthum, — der Kampf gegen <strong>die</strong> bereits<br />

verdüsterte, vermoralisirte mit Schuldgefühlen durchsäuerte alt<br />

und krank gewordene alte Welt.<br />

Page Break KGW='VIII-3.283' KSA='13.487'<br />

Nicht <strong>die</strong> „Sittenverderbniß“ <strong>des</strong> Alterthums, sondern<br />

gerade seine Vermoralisirung ist <strong>die</strong> Voraussetzung, unter der<br />

allein das Christenthum über dasselbe Herr werden konnte. Der<br />

Moral-Fanatismus (kurz: Plato) hat das Heidenthum zerstört,<br />

indem er seine Werthe umwerthete und seiner Unschuld Gift<br />

zu trinken gab. — Wir sollten endlich begreifen, daß was da<br />

zerstört wurde, das Höhere war, im Vergleich mit dem, was<br />

Herr wurde! — das Christenthum ist aus der physiologischen<br />

Verderbniß gewachsen, hat nur auf verderbtem Boden Wurzel<br />

gefaßt…<br />

Aphorism n=12516 id='VIII.16[16]' kgw='VIII-3.283' ksa='13.487'<br />

Wir Wenigen oder Vielen, <strong>die</strong> wir wieder in einer<br />

entmoralisirten Welt zu leben wagen, wir Heiden dem<br />

Glauben nach: wir sind wahrscheinlich auch <strong>die</strong> Ersten, <strong>die</strong> es<br />

begreifen, was ein heidnischer Glaube ist: sich höhere<br />

Wesen als der Mensch ist, vorstellen müssen, aber <strong>die</strong>se Wesen<br />

jenseits von Gut und Böse; alles Höher-sein auch als<br />

Unmoralisch-sein abschätzen müssen. Wir glauben an den Olymp —<br />

und nicht an den „Gekreuzigten“…<br />

Aphorism n=12517 id='VIII.16[17]' kgw='VIII-3.283' ksa='13.487'<br />

Man scheint sich der Historie zu Nichts zu be<strong>die</strong>nen als<br />

immer zu dem einen und gleichen Fehlschluß: „<strong>die</strong>se und jene<br />

Form gieng zu Grunde, folglich ist sie widerlegt.“ Als ob<br />

das Zugrundegehn ein Einwand, oder gar eine Widerlegung<br />

wäre! — Was ist mit dem Zugrundegehen der letzten aristokratischen<br />

Gesellschafts-Ordnung bewiesen? Etwa, daß wir eine<br />

solche Ordnung nicht mehr nöthig hätten?…


Aphorism n=12518 id='VIII.16[18]' kgw='VIII-3.283' ksa='13.487'<br />

Unter Deutschen ist es nicht genug, Geist zu haben: man<br />

muß ihn noch sich nehmen, sich Geist herausnehmen.<br />

Unter Franzosen muß man Muth haben, deutsch zu sein.<br />

Page Break KGW='VIII-3.284' KSA='13.488'<br />

Aphorism n=12519 id='VIII.16[19]' kgw='VIII-3.284' ksa='13.488'<br />

Sei nun auch klug, nachdem du weise geworden bist! Ein<br />

grober Affekt, ein Laster, eine Tollheit — das ist nunmehr deine<br />

Art Erlösung!<br />

Aphorism n=12520 id='VIII.16[20]' kgw='VIII-3.284' ksa='13.488'<br />

— und wenn meine Philosophie eine Hölle ist, so will ich<br />

wenigstens den Weg zu ihr mit guten Sentenzen pflastern.<br />

Aphorism n=12521 id='VIII.16[21]' kgw='VIII-3.284' ksa='13.488'<br />

Wenn der Charakter <strong>des</strong> Daseins falsch sein sollte, wenn<br />

das Dasein einen „schlechten Charakter“ hätte — und gerade<br />

das wäre möglich — was wäre dann <strong>die</strong> Wahrheit, alle unsre<br />

Wahrheit? Eine Falschheit mehr?<br />

Aphorism n=12522 id='VIII.16[22]' kgw='VIII-3.284' ksa='13.488'<br />

Hat man eine Dummheit gemacht, so soll man ihr flugs<br />

zwei Klugheiten nachschicken: so holt man sie wieder zurück.<br />

Aphorism n=12523 id='VIII.16[23]' kgw='VIII-3.284' ksa='13.488'<br />

Wie arm der Wille geworden sein muß, um <strong>die</strong> Welt in<br />

Schopenhauers Weise als „Wille“ mißzuverstehn! Im Philosophen<br />

fehlt der Wille, so viel auch vom Willen geredet wird<br />

( — wie im neuen Testament der Geist fehlt, trotz selbst<br />

„<strong>des</strong> heiligen Geistes“ — )


Aphorism n=12524 id='VIII.16[24]' kgw='VIII-3.284' ksa='13.488'<br />

Ohne Musik wäre das Leben ein Irrthum.<br />

Aphorism n=12525 id='VIII.16[25]' kgw='VIII-3.284' ksa='13.488'<br />

Der Mensch, eine kleine überspannte Thierart, <strong>die</strong> — glücklicher<br />

Weise — ihre Zeit hat; das Leben auf der Erde überhaupt<br />

ein Augenblick, ein Zwischenfall, eine Ausnahme ohne Folge,<br />

Etwas, das für den Gesamt-Charakter der Erde belanglos bleibt;<br />

Page Break KGW='VIII-3.285' KSA='13.489'<br />

<strong>die</strong> Erde selbst, wie je<strong>des</strong> Gestirn, ein Hiatus zwischen zwei<br />

Nichtsen, ein Ereigniß ohne Plan, Vernunft, Wille,<br />

Selbstbewußtsein, <strong>die</strong> schlimmste Art <strong>des</strong> Nothwendigen, <strong>die</strong> dumme<br />

Nothwendigkeit… Gegen <strong>die</strong>se Betrachtung empört sich etwas<br />

in uns; <strong>die</strong> Schlange Eitelkeit redet uns zu „das Alles muß<br />

falsch sein: denn es empört… Könnte das nicht Alles nur<br />

Schein sein? Und der Mensch, trotzalledem, mit Kant zu<br />

reden, — — —<br />

Aphorism n=12526 id='VIII.16[26]' kgw='VIII-3.285' ksa='13.489'<br />

Daß „das Übel“ ein Einwand gegen das Dasein sein soll!<br />

Aber was hat uns am längsten Widerwillen gemacht? Ist es<br />

nicht der Aspekt „<strong>des</strong> Guten“, ist es nicht <strong>die</strong> Unmöglichkeit,<br />

„dem Guten“ nicht ausweichen zu können? Ist es nicht der<br />

Gedanke „Gott“?<br />

Aphorism n=12527 id='VIII.16[27]' kgw='VIII-3.285' ksa='13.489'<br />

Wenn man krank ist, so soll man sich verkriechen: so allein<br />

ist es philosophisch, so allein ist es thierisch…<br />

Aphorism n=12528 id='VIII.16[28]' kgw='VIII-3.285' ksa='13.489'<br />

Es giebt(1770) Morgen-Denker, es giebt Nachmittags-Denker,<br />

es giebt Nachteulen. Nicht zu vergessen <strong>die</strong> vornehmste species:<br />

<strong>die</strong> Mittäglichen, — <strong>die</strong>, in denen beständig der große<br />

Pan schläft. Da fällt alles Licht senkrecht…


Aphorism n=12529 id='VIII.16[29]' kgw='VIII-3.285' ksa='13.489'<br />

Wir entbehren in der Musik einer Ästhetik, <strong>die</strong> den Musikern<br />

Gesetze aufzuerlegen verstünde und ein Gewissen schüfe;<br />

wir entbehren, was eine Folge davon ist, eines eigentlichen<br />

Kampfes um „Principien“ — denn als Musiker lachen wir über<br />

<strong>die</strong> Herbartschen Velleitäten auf <strong>die</strong>sem Gebiete ebenso sehr,<br />

als über <strong>die</strong> Schopenhauers. Thatsächlich ergiebt sich hieraus<br />

eine große Schwierigkeit: wir wissen <strong>die</strong> Begriffe „Muster“,<br />

Page Break KGW='VIII-3.286' KSA='13.490'<br />

„Meisterschaft“, „Vollkommenheit“ nicht mehr zu begründen<br />

— wir tasten mit dem Instinkte alter Liebe und Bewunderung<br />

blind herum im Reich der Werthe, wir glauben beinahe<br />

„gut ist was uns gefällt“ … Es erweckt mein<br />

Mißtrauen, wenn ganz unschuldig Beethoven allerwärts als<br />

„Classiker“ bezeichnet wird: ich würde streng aufrecht erhalten,<br />

daß man in anderen Künsten unter einem Classiker einen<br />

umgekehrten Typus als der Beethovens ist, begreift. Aber wenn gar<br />

noch <strong>die</strong> vollkommene und in <strong>die</strong> Augen springende Stil-Auflösung<br />

Wagners, sein sogenannter dramatischer Stil als „Vorbild“,<br />

als „Meisterschaft“, als „Fortschritt“, gelehrt und<br />

verehrt wird, so kommt meine Ungeduld auf ihren Gipfel. Der<br />

dramatische Stil in der Musik, wie ihn Wagner versteht, ist <strong>die</strong><br />

Verzichtleistung auf Stil überhaupt unter der Voraussetzung<br />

daß etwas Anderes(1771) hundert Mal wichtiger ist als Musik,<br />

nämlich das Drama. Wagner kann malen, er benutzt <strong>die</strong> Musik<br />

nicht zur Musik, er verstärkt Attitüden, er ist Poet; endlich, er<br />

hat an <strong>die</strong> „schönen Gefühle“ und „gehobenen Busen“ appellirt<br />

gleich allen Theaterkünstlern — mit dem Allen hat er <strong>die</strong><br />

Frauen und selbst <strong>die</strong> Bildungs-Bedürftigen zu sich überredet:<br />

aber was geht Frauen und Bildungs-Bedürftige <strong>die</strong> Musik an!<br />

Das hat Alles kein Gewissen für <strong>die</strong> Kunst; das leidet nicht,<br />

wenn, alle ersten und unerläßlichsten Tugenden einer Kunst zu<br />

Gunsten von Nebenabsichten, als ancilla dramaturgica, mit<br />

Füßen getreten und verhöhnt werden. — Was liegt an aller<br />

Erweiterung der Ausdrucks-Mittel, wenn das, was da ausdrückt,<br />

<strong>die</strong> Kunst selbst für sich selbst das Gesetz verloren hat? Die<br />

malerische Pracht und Gewalt <strong>des</strong> Tons, <strong>die</strong> Symbolik von<br />

Klang, Rhythmus, Farbentönen der Harmonie und Disharmonie,<br />

<strong>die</strong> suggestive Bedeutung der Musik, in Hinsicht auf andere<br />

Künste, <strong>die</strong> ganze mit Wagner zur Herrschaft gebrachte<br />

Sinnlichkeit der Musik — das Alles hat Wagner an der Musik<br />

erkannt, herausgezogen, entwickelt. Victor Hugo hat etwas<br />

Verwandtes für <strong>die</strong> Sprache gethan: aber schon heute fragt<br />

Page Break KGW='VIII-3.287' KSA='13.491'


man sich in Frankreich im Fall Victor Hugo's, ob nicht zum<br />

Verderb der Sprache… ob nicht, mit der Steigerung der<br />

Sinnlichkeit in der Sprache, <strong>die</strong> Vernunft, <strong>die</strong> Geistigkeit, <strong>die</strong> tiefe<br />

Gesetzlichkeit in der Sprache heruntergedrückt worden ist? Daß<br />

<strong>die</strong> Dichter in Frankreich Plastiker, daß <strong>die</strong> Musiker in<br />

Deutschland Schauspieler und Cultur-Anpinseler geworden sind<br />

— sind das nicht Zeichen der décadence?<br />

Wagner macht alles Mögliche mit Hülfe der Musik, was nicht<br />

Musik ist: er giebt Schwellungen, Tugenden, Leidenschaften zu<br />

verstehen.<br />

Musik ist ihm Mittel<br />

Ist ihr nicht alle geistigere Schönheit abhanden gekommen, <strong>die</strong><br />

hohe übermüthige Vollkommenheit, welche im Wagniß noch <strong>die</strong><br />

Anmuth umarmt, der hinreißende Sprung und Tanz der Logik,<br />

der — — —<br />

Aphorism n=12530 id='VIII.16[30]' kgw='VIII-3.287' ksa='13.491'<br />

Für einen Kriegsmann der Erkenntniß, der immer im Kampf<br />

mit häßlichen Wahrheiten liegt, ist der Glaube, daß es gar<br />

keine Wahrheit giebt, ein großes Bad und Gliederstrecken.<br />

— Der Nihilismus ist unsre Art Müssiggang …<br />

Aphorism n=12531 id='VIII.16[31]' kgw='VIII-3.287' ksa='13.491'<br />

Die Tugend ist unter Umständen bloß eine ehrwürdige<br />

Form der Dummheit: wer dürfte ihr darum übelwollen? Und<br />

<strong>die</strong>se Art Tugend ist auch heute noch nicht überlebt. Eine Art<br />

von wackerer Bauern-Einfalt, welche aber in allen Ständen<br />

möglich ist und der man nicht anders als mit Verehrung und<br />

Lächeln zu begegnen hat, glaubt auch heute noch, daß Alles in<br />

guten Händen ist, nämlich in der „Hand Gottes“: und wenn<br />

sie <strong>die</strong>sen Satz mit jener bescheidenen Sicherheit aufrecht erhalten,<br />

wie als ob sie sagten, daß zwei mal zwei vier ist, so werden<br />

Page Break KGW='VIII-3.288' KSA='13.492'<br />

wir Andern uns hüten, zu widersprechen. Wozu <strong>die</strong>se reine<br />

Thorheit trüben? Wozu sie mit unseren Sorgen in Hinsicht auf<br />

Mensch, Volk, Ziel, Zukunft verdüstern? Und wollten wir es,<br />

wir könnten es nicht. Sie spiegeln ihre eigne ehrwürdige<br />

Dummheit und Güte in <strong>die</strong> Dinge hinein (bei ihnen lebt ja der alte<br />

Gott, deus myops, noch!); wir Anderen — wir sehen etwas


Anderes in <strong>die</strong> Dinge hinein: unsre Räthsel-Natur, unsre<br />

Widersprüche, unsre tiefere, schmerzlichere, argwöhnischere<br />

Weisheit.<br />

Aphorism n=12532 id='VIII.16[32]' kgw='VIII-3.288' ksa='13.492'<br />

Woran ich meines Gleichen erkenne. — Philosophie,<br />

wie ich sie bisher verstanden und gelebt habe, ist das<br />

freiwillige Aufsuchen auch der verwünschten und verruchten<br />

Seiten <strong>des</strong> Daseins. Aus der langen Erfahrung, welche mir eine<br />

solche Wanderung durch Eis und Wüste gab, lernte ich Alles,<br />

was bisher philosophirt hat, anders ansehn: — <strong>die</strong> verborgene<br />

Geschichte der Philosophie, <strong>die</strong> Psychologie ihrer großen<br />

Namen kam für mich ans Licht. „Wie viel Wahrheit erträgt,<br />

wie viel Wahrheit wagt ein Geist?“ — <strong>die</strong>s wurde für mich<br />

der eigentliche Werthmesser. Der Irrthum ist eine Feigheit…<br />

jede Errungenschaft der Erkenntniß folgt aus dem<br />

Muth, aus der Härte gegen sich, aus der Sauberkeit gegen sich…<br />

Eine solche Experimental-Philosophie, wie ich sie lebe, nimmt<br />

versuchsweise selbst <strong>die</strong> Möglichkeiten <strong>des</strong> grundsätzlichen<br />

Nihilismus vorweg: ohne daß damit gesagt wäre, daß sie bei einem<br />

Nein, bei einer Negation, bei einem Willen zum Nein stehen<br />

bliebe. Sie will vielmehr bis zum Umgekehrten hindurch — bis<br />

zu einem dionysischen Jasagen zur Welt, wie sie<br />

ist, ohne Abzug, Ausnahme und Auswahl — sie will den ewigen<br />

Kreislauf, — <strong>die</strong>selben Dinge, <strong>die</strong>selbe Logik und Unlogik der<br />

Knoten. Höchster Zustand, den ein Philosoph erreichen kann:<br />

dionysisch zum Dasein stehn —: meine Formel dafür ist amor<br />

fati…<br />

Page Break KGW='VIII-3.289' KSA='13.493'<br />

— Hierzu gehört, <strong>die</strong> bisher verneinten Seiten <strong>des</strong><br />

Daseins nicht nur als nothwendig zu begreifen, sondern als<br />

wünschenswerth: und nicht nur als wünschenswerth in Hinsicht<br />

auf <strong>die</strong> bisher bejahten Seiten (etwa als deren Complemente<br />

oder Vorbedingungen), sondern um ihrer selber willen, als der<br />

mächtigeren, fruchtbareren, wahreren Seiten <strong>des</strong> Daseins,<br />

in denen sich sein Wille deutlicher ausspricht. Insgleichen<br />

gehört hierzu, <strong>die</strong> bisher allein bejahte Seite <strong>des</strong> Daseins<br />

abzuschätzen; zu begreifen, woher <strong>die</strong>se Werthung stammt und wie<br />

wenig sie verbindlich für eine dionysische Werthabmessung <strong>des</strong><br />

Daseins ist: ich zog heraus und begriff, was hier eigentlich Ja<br />

sagt (der Instinkt der Leidenden einmal, der Instinkt der<br />

Heerde andrerseits und jener Dritte der Instinkt der<br />

Meisten im Widerspruch zu den Ausnahmen — ) Ich errieth<br />

damit, in wiefern eine andere stärkere Art Mensch nothwendig<br />

nach einer anderen Seite hin sich <strong>die</strong> Erhöhung und Steigerung<br />

<strong>des</strong> Menschen ausdenken müßte: höhere Wesen als jenseits


von Gut und Böse, als jenseits von jenen Werthen, <strong>die</strong> den<br />

Ursprung aus der Sphäre <strong>des</strong>(1772) Leidens, der Heerde und der<br />

Meisten nicht verleugnen können — ich suchte nach den Ansätzen<br />

<strong>die</strong>ser umgekehrten Idealbildung in der Geschichte (<strong>die</strong><br />

Begriffe „heidnisch“, „klassisch“, „vornehm“ neu entdeckt und<br />

hingestellt — )<br />

Aphorism n=12533 id='VIII.16[33]' kgw='VIII-3.289' ksa='13.493'<br />

Richard Wagner bleibt, bloß in Hinsicht auf seinen Werth<br />

für Deutschland und deutsche Cultur abgeschätzt ein großes<br />

Fragezeichen, ein deutsches Unglück vielleicht, ein Schicksal in<br />

jedem Falle: aber was liegt daran? Ist er nicht sehr viel mehr,<br />

— als bloß ein deutsches Ereigniß?… Es will mir sogar scheinen,<br />

daß er nirgendswo weniger hingehört als nach Deutschland;<br />

nichts ist daselbst auf ihn vorbereitet, sein ganzer Typus steht<br />

unter Deutschen einfach fremd, wunderlich, unverstanden,<br />

unverständlich da. Aber man hütet sich, das sich einzugestehen:<br />

Page Break KGW='VIII-3.290' KSA='13.494'<br />

dazu ist man zu gutmüthig, zu viereckig, zu deutsch. „Credo<br />

quia absurdus est“: so will es und wollte es auch in <strong>die</strong>sem Fall<br />

deutscher Geist — und so glaubt er einstweilen Alles, was Wagner<br />

über sich selbst geglaubt haben wollte. Der deutsche Geist hat zu<br />

allen Zeiten in psychologicis der Feinheit und Divination<br />

ermangelt. Heute, wo er unter dem Hochdruck der Vaterländerei und<br />

Selbstbewunderung steht, verdickt und vergröbert er sich zusehends:<br />

wie sollte er dem Problem Wagner gewachsen sein!<br />

Aphorism n=12534 id='VIII.16[34]' kgw='VIII-3.290' ksa='13.494'<br />

Im Grunde ist auch Wagners Musik noch Litteratur, so gut<br />

es <strong>die</strong> ganze französische Romantik ist(1773); der Zauber <strong>des</strong><br />

Exotismus, fremder Zeiten, Sitten, Leidenschaften, ausgeübt auf<br />

empfindsame Eckensteher; das Entzücken beim Hineintreten in<br />

das ungeheure ferne ausländische vorzeitliche Land, zu dem der<br />

Zugang durch Bücher führt, wodurch der ganze Horizont mit<br />

neuen Farben und Möglichkeiten bemalt war… Die Ahnung<br />

von noch ferneren unaufgeschlossenen Welten; der Dédain<br />

gegen <strong>die</strong> Boulevards… Der Nationalismus nämlich, man lasse<br />

sich nicht täuschen, ist auch nur eine Form <strong>des</strong> Exotismus…<br />

Die romantischen Musiker erzählen, was <strong>die</strong> exotischen<br />

Bücher aus ihnen gemacht haben: man möchte gern Exotica erleben,<br />

Leidenschaften im florentinischen oder venetianischen<br />

Geschmack: zuletzt begnügt man sich, sie im Bilde zu<br />

suchen … Das Wesentliche ist <strong>die</strong> Art von neuer Begierde,


ein Nachmachen-wollen, Nachleben-wollen, <strong>die</strong> Verkleidung,<br />

<strong>die</strong> Verstellung der Seele… Die romantische Kunst ist nur ein<br />

Nothbehelf für eine manquirte „Realität“…<br />

Napoleon, <strong>die</strong> Leidenschaft neuer Möglichkeiten der<br />

Seele… Die Raumerweiterung der Seele…<br />

Der Versuch, Neues zu thun: Revolution, Napoleon…<br />

Ermattung <strong>des</strong> Willens; umso größere Ausschweifung in der<br />

Begierde, Neues zu fühlen, vorzustellen, zu träumen…<br />

Folge der excessiven Dinge, <strong>die</strong> man erlebt hatte: Heißhunger<br />

Page Break KGW='VIII-3.291' KSA='13.495'<br />

nach excessiven Gefühlen… Die fremden Litteraturen boten<br />

<strong>die</strong> stärksten Würzen…<br />

Aphorism n=12535 id='VIII.16[35]' kgw='VIII-3.291' ksa='13.495'<br />

Zur Zukunft der Ehe:<br />

eine Steuer-Mehrbelastung bei Erbschaften usw.<br />

auch Kriegs<strong>die</strong>nst-Mehrbelastung der Junggesellen von einem<br />

bestimmten Alter an und anwachsend (innerhalb der Gemeinde)<br />

Vortheile aller Art für Väter, welche reichlich Knaben<br />

in <strong>die</strong> Welt setzen: unter Umständen eine Mehrheit von<br />

Stimmen<br />

ein ärztliches Protokoll, jeder Ehe vorangehend<br />

und von den Gemeinde-Vorständen unterzeichnet: worin mehrere<br />

bestimmte Fragen seitens der Verlobten und der Ärzte<br />

beantwortet sein müssen („Familien-Geschichte“ —<br />

als Gegenmittel gegen <strong>die</strong> Prostitution (oder als<br />

deren Veredelung): Ehen auf Frist, legalisirt (auf Jahre, auf<br />

Monate, auf Tage), mit Garantie für <strong>die</strong> Kinder<br />

jede Ehe verantwortet und befürwortet durch eine<br />

bestimmte Anzahl Vertrauens-Männer einer Gemeinde: als<br />

Gemeinde-Angelegenheit<br />

Aphorism n=12536 id='VIII.16[36]' kgw='VIII-3.291' ksa='13.495'<br />

<strong>die</strong> Romantiker, welche alle, wie ihr deutscher Meister<br />

Friedrich Schlegel, in Gefahr sind (mit Goethe zu reden) „am<br />

Wiederkäuen sittlicher und religiöser Absurditäten zu<br />

ersticken“<br />

das Schillersche an Wagner: er bringt „leidenschaftliche<br />

Beredsamkeit, Pracht der Worte, als Schwung edler Gesinnungen“<br />

— Legirung mit geringerem Metall<br />

„Hätte Schiller länger gelebt, er wäre der Abgott der<br />

Zeitgenossen, auch derer, <strong>die</strong> in Iffland und Kotzebue, in Nikolai<br />

und Merkel ihr Fühlen und Denken wiederfanden, geworden und


auch Ehren und Reichthümer wären ihm in Fülle zugeflossen.“<br />

Victor Hehn, Gedanken(1774) über(1775) Goethe(1776) p 109.<br />

Page Break KGW='VIII-3.292' KSA='13.496'<br />

„<strong>die</strong> durchgehende Herzlosigkeit“ „<strong>die</strong> Nichtswürdigkeit<br />

oder Geringfügigkeit der Helden“ — man denke Niebuhr, der<br />

sich in Hinsicht auf den Wilhelm Meister zu sagen erlaubt: „er<br />

ärgere sich an der Menagerie von zahmem Vieh“<br />

in den vornehmen Kreisen war man darüber einig, daß, um<br />

mit Jakobi zu reden „ein unsauberer Geist darin herrsche“<br />

Für was war Goethe Schiller dankbar? Daß ihn der<br />

Wilhelm Meister „hinriß und tief ergriff, ja mit dem Gefühl eigner<br />

Unzulänglichkeit schmerzlich erfüllte. So war ihm endlich,<br />

mitten aus dem feindlichen Lager heraus, ein Geist begegnet, der<br />

ihm bis auf <strong>die</strong>se Höhe nachsteigen konnte“.<br />

an Körner 1796 „gegen Goethe bin und bleib' ich eben<br />

ein poetischer Lump“.<br />

Goethes Sternbild erblaßte in dem Maaße auch in Schillers<br />

Augen, in dem sein eigner Ruhm wuchs. Er wurde der Rival.<br />

der typische Haß der Kranken gegen <strong>die</strong> Vollkommenen<br />

— z.B. Novalis gegen Wilhelm Meister, der das Buch odiös<br />

findet. „Mit Stroh und Läppchen ist der Garten der Poesie<br />

nachgemacht.“ „Der Verstand darin ist wie ein naiver Teufel.“<br />

„Künstlerischer Atheismus ist der Geist <strong>des</strong> Buchs.“ — Das zu<br />

einer Zeit, wo er für Tieck rasete, der damals gerade einen<br />

Schüler Jakob Böhmes abzugeben schien<br />

Aphorism n=12537 id='VIII.16[37]' kgw='VIII-3.292' ksa='13.496'<br />

Die Wirkung der Wagnerschen Kunst ist tief, sie ist vor allem<br />

schwer centnerschwer: woran liegt das? Zunächst gewiß nicht an<br />

der Wagnerschen Musik: man hält <strong>die</strong>se Musik sogar erst aus,<br />

wenn man bereits durch etwas Anderes überwältigt und gleichsam<br />

unfrei geworden ist. Dies Andere ist das Wagnersche<br />

Pathos, zu dem er sich seine Kunst bloß hinzuerfunden hat, es ist<br />

<strong>die</strong> ungeheure Überzeugungskraft <strong>die</strong>ses Pathos, sein Atemanhalten,<br />

sein Nichtmehrloslassenwollen eines extremen Gefühls, es ist<br />

<strong>die</strong> erschreckende Länge <strong>die</strong>ses Pathos, mit dem Wagner siegt<br />

und siegen wird, so daß er uns zuletzt selbst noch zu seiner Musik<br />

Page Break KGW='VIII-3.293' KSA='13.497'<br />

überredet… Ob man mit einem solchen Pathos ein „Genie“ ist?<br />

Oder auch nur sein kann? Wenn man unter Genie eines Künstlers<br />

<strong>die</strong> höchste Freiheit unter dem Gesetz, <strong>die</strong> göttliche Leichtigkeit,<br />

Leichtfertigkeit im Schwersten versteht, so hat Offenbach<br />

(Edmond(1777) Audran) noch mehr Anrecht auf den Namen „Genie“ als<br />

Wagner. Wagner ist schwer, schwerfällig: nichts ist ihm fremder


als Augenblicke übermüthigster Vollkommenheit, wie sie <strong>die</strong>ser<br />

Hanswurst Offenbach fünf, sechs Mal fast in jeder seiner<br />

bouffonneries(1778) erreicht. — Aber vielleicht darf man unter Genie<br />

etwas Anderes verstehen. — Eine andere Frage, auf <strong>die</strong> ich<br />

ebenfalls erst zu(1779) antworten gedenke: ob Wagner, gerade mit einem<br />

solchen Pathos, deutsch ist? ein Deutscher ist?… Oder nicht<br />

vielmehr <strong>die</strong> Ausnahme der Ausnahmen?…<br />

Wagner ist schwer, centnerschwer, folglich kein Genie?…<br />

Aphorism n=12538 id='VIII.16[38]' kgw='VIII-3.293' ksa='13.497'<br />

Wagner vor allen Dingen tüchtig zusammenstreichen, so daß<br />

drei Viertel übrig bleibt: vor allem sein recitativo, das den<br />

Geduldigsten zur Verzweiflung bringt… Es ist ein bloßer<br />

Ehrgeiz Wagner's, seine Werke als nothwendig bis ins Kleine und<br />

Einzelne zu lehren … das Gegentheil ist wahr, es ist <strong>des</strong><br />

Überflüßigen, Willkürlichen, Entbehrlichen viel zu viel… Es<br />

fehlt ihm <strong>die</strong> Fähigkeit selbst der Nothwendigkeit: wie sollte<br />

er sie uns auferlegen können?<br />

Aphorism n=12539 id='VIII.16[39]' kgw='VIII-3.293' ksa='13.497'<br />

Bis zu welchem Grade <strong>die</strong> Unfähigkeit eines pöbelhaften<br />

Agitators der Menge geht, sich den Begriff „höhere Natur“ klar<br />

zu machen, dafür giebt Buckle das beste Beispiel ab. Die Meinung,<br />

welche er so leidenschaftlich bekämpft — daß „große<br />

Männer“, Einzelne, Fürsten, Staatsmänner, Genies, Feldherrn<br />

<strong>die</strong> Hebel und Ursachen aller großen Bewegungen sind — wird<br />

von ihm instinktiv dahin mißverstanden, als ob mit ihr<br />

behauptet würde, das Wesentliche und Werthvolle an einem<br />

Page Break KGW='VIII-3.294' KSA='13.498'<br />

solchen „höheren Menschen“ liege eben in der Fähigkeit, Massen<br />

in Bewegung zu setzen, kurz in ihrer Wirkung… Aber <strong>die</strong><br />

„höhere Natur“ <strong>des</strong> großen Mannes liegt im Anderssein, in der<br />

Unmittheilbarkeit, in der Rangdistanz — nicht in irgend<br />

welchen Wirkungen: und ob er auch den Erdball erschütterte. —<br />

Aphorism n=12540 id='VIII.16[40]' kgw='VIII-3.294' ksa='13.498'<br />

Aesthetica(1780)<br />

Grundeinsicht: was ist schön und hässlich.<br />

Nichts ist bedingter, sagen wir bornirter als unser Gefühl


<strong>des</strong> Schönen. Wer es losgelöst denken wollte von der Lust <strong>des</strong><br />

Menschen am Menschen, verlöre sofort Grund und Boden unter<br />

den Füßen. Im Schönen bewundert sich der Mensch als Typus: in<br />

extremen Fällen betet er sich selbst an. Es gehört zum Wesen eines<br />

Typus, daß er nur an seinem Anblick glücklich wird, — daß<br />

er sich und nur sich bejaht. Der Mensch, wie sehr er auch <strong>die</strong> Welt<br />

mit Schönheiten überhäuft sieht, er hat sie immer nur mit seiner<br />

eignen „Schönheit“ überhäuft: das heißt, er hält Alles für schön,<br />

was ihn an das Vollkommenheits-Gefühl erinnert, mit dem er<br />

als Mensch zwischen allen Dingen steht. Ob er wirklich damit<br />

<strong>die</strong> Welt verschönert hat?… Und sollte zuletzt in den<br />

Augen eines höheren Geschmacksrichters der Mensch vielleicht<br />

gar nicht schön sein?… Ich will nicht hiermit sagen unwürdig,<br />

aber ein wenig komisch?…<br />

* * *<br />

2<br />

— Oh Dionysos, Göttlicher, warum ziehst Du mich an den<br />

Ohren? Ich finde eine Art Humor in deinen Ohren, Ariadne:<br />

warum sind sie nicht noch länger?…<br />

* * *<br />

3.(1781)<br />

„Nichts ist schön: nur der Mensch ist schön“ Auf <strong>die</strong>ser<br />

Naivetät ruht alle unsere Aesthetik: sie sei deren erste<br />

„Wahrheit“.<br />

Page Break KGW='VIII-3.295' KSA='13.499'<br />

Fügen wir <strong>die</strong> complementäre „Wahrheit“ sofort hinzu, sie<br />

ist nicht weniger naiv: daß nichts häßlich ist als der<br />

mißrathene Mensch.<br />

Wo der Mensch am Häßlichen leidet, leidet er am Abortiren<br />

seines Typus; und wo er auch am Entferntesten an ein solches<br />

Abortiren erinnert wird, da setzt er das Prädikat „häßlich“ an.<br />

Der Mensch hat <strong>die</strong> Welt mit Häßlichem überhäuft: das will<br />

sagen immer nur mit seiner eignen Häßlichkeit… Hat er <strong>die</strong> Welt<br />

wirklich dadurch verhäßlicht?…<br />

* * *<br />

4.(1782)<br />

Alles Häßliche schwächt und betrübt den Menschen: es erinnert<br />

ihn an Verfall, Gefahr, Ohnmacht. Man kann den Eindruck<br />

<strong>des</strong> Häßlichen mit dem Dynamometer messen. Wo er niedergedrückt<br />

wird, da wirkt irgend ein Häßliches. Das Gefühl der<br />

<strong>Macht</strong>, der Wille zur <strong>Macht</strong> — das wächst mit dem Schönen, das<br />

fällt mit dem Häßlichen.<br />

* * *<br />

5.(1783)<br />

Im Instinkt und Gedächtniß ist ein ungeheures Material<br />

aufgehäuft: wir haben tausenderlei Zeichen, an denen sich uns <strong>die</strong>


Degenerescenz <strong>des</strong> Typus verräth. Wo an Erschöpfung, Müdigkeit,<br />

Schwere, Alter, oder an Unfreiheit, Krampf, Zersetzung,<br />

Fäulniß auch nur angespielt wird, da redet sofort unser unterstes<br />

Werthurtheil: da haßt der Mensch das Häßliche…<br />

Was er da haßt, es ist immer der Niedergang seines<br />

Typus. In <strong>die</strong>sem Haß besteht <strong>die</strong> ganze Philosophie der<br />

Kunst.<br />

* * *<br />

6.(1784)<br />

Wenn meine Leser darüber zur Genüge eingeweiht sind, daß<br />

auch „der Gute“ im großen Gesammt-Schauspiel <strong>des</strong> Lebens<br />

eine Form der Erschöpfung darstellt: so werden sie der<br />

Consequenz <strong>des</strong> Christenthums <strong>die</strong> Ehre geben, welche den<br />

Page Break KGW='VIII-3.296' KSA='13.500'<br />

Guten als den Häßlichen concipirte. Das Christenthum hatte<br />

damit Recht. —<br />

An einem Philosophen ist es eine Nichtswürdigkeit zu<br />

sagen: das Gute und das Schöne sind Eins: fügt er gar noch hinzu<br />

„auch das Wahre“, so soll man ihn prügeln. Die Wahrheit ist<br />

häßlich: wir haben <strong>die</strong> Kunst, damit wir nicht an der<br />

Wahrheit zu Grunde gehn.<br />

* * *<br />

7.<br />

Über das Verhältniß der Kunst zur Wahrheit bin ich am<br />

frühesten ernst geworden: und noch jetzt stehe ich mit einem<br />

heiligen Entsetzen vor <strong>die</strong>sem Zwiespalt. Mein erstes Buch<br />

war(1785) ihm geweiht; <strong>die</strong> Geburt der Tragö<strong>die</strong> glaubt an <strong>die</strong><br />

Kunst auf dem Hintergrund eines anderen Glaubens: daß es<br />

nicht möglich ist mit der Wahrheit zu leben;<br />

daß der „Wille zur Wahrheit“ bereits ein Symptom der<br />

Entartung ist…<br />

Ich stelle <strong>die</strong> absonderlich düstere und unangenehme<br />

Conception jenes Buches hier noch einmal hin. Sie hat den Vorrang<br />

vor anderen Pessimistischen Conceptionen, daß sie unmoralisch<br />

ist(1786): — sie ist nicht wie <strong>die</strong>se von der Circe der Philosophen,<br />

von der Tugend, inspirirt. —<br />

Die Kunst in der „Geburt der Tragö<strong>die</strong>“<br />

— — —<br />

Aphorism n=12541 id='VIII.16[41]' kgw='VIII-3.296' ksa='13.500'<br />

Wagner ist ein capitales Faktum in der Geschichte <strong>des</strong><br />

„europäischen Geistes“ der „modernen Seele“: wie Heinrich<br />

Heine ein solches Faktum war. Wagner und Heine: <strong>die</strong> beiden


größten Betrüger, mit denen Deutschland Europa beschenkt hat.<br />

Aphorism n=12542 id='VIII.16[42]' kgw='VIII-3.296' ksa='13.500'<br />

Ich habe mich von Wagner entfernt, als er seinen Rückzug<br />

zum deutschen Gott zur deutschen Kirche und zum deutschen<br />

Reich nahm: Andere hat er eben damit an sich gezogen.<br />

Page Break KGW='VIII-3.297' KSA='13.501'<br />

Aphorism n=12543 id='VIII.16[43]' kgw='VIII-3.297' ksa='13.501'<br />

NB Anfang der Vorrede<br />

Der Goldmacher ist der einzige wahre Wohlthäter der<br />

Menschheit.<br />

Daß man Werthe umwerthet, daß man aus Wenigem Viel,<br />

aus Geringem Gold macht: <strong>die</strong> einzige Art Wohlthäter der<br />

Menschheit<br />

es sind <strong>die</strong> einzigen Bereicherer<br />

<strong>die</strong> Anderen sind bloß Wechsler<br />

Denken wir einen extremen Fall: daß es etwas am meisten<br />

Gehaßtes, Verurtheiltes gäbe — und daß gerade das in Gold<br />

verwandelt werde: Das ist mein Fall…<br />

Aphorism n=12544 id='VIII.16[44]' kgw='VIII-3.297' ksa='13.501'<br />

Ich bin mitunter beinahe neugierig danach, zu hören, wie<br />

ich bin. Meinen eigenen Gewohnheiten liegt <strong>die</strong>se Frage auf eine<br />

absurde Weise fern<br />

Mein typisches Erlebniß ( — man hat dergleichen — — —<br />

In meinem Leben giebt es wirklich Überraschungen: das<br />

kommt daher, daß ich(1787) nicht gern mit dem, was möglich sein<br />

könnte, beschäftigt bin: Beweis, wie sehr ich in Gedanken lebe…<br />

Ein Zufall brachte mir das vor einigen Tagen zu Bewußtsein: in<br />

mir fehlt der Begriff „Zukunft“, ich sehe vorwärts wie über eine<br />

glatte Fläche: kein Wunsch, kein Wünschchen selbst, kein Pläne-machen,<br />

kein Anders-haben-wollen. Vielmehr bloß das, was von<br />

jenem heiligen Epicureer uns verboten ist: <strong>die</strong> Sorge für den<br />

nächsten Tag, für Morgen… das ist mein einziger Kunstgriff:<br />

ich weiß heute, was morgen geschehen soll.<br />

naufragium feci: bene navigavi, — — —<br />

Aphorism n=12545 id='VIII.16[45]' kgw='VIII-3.297' ksa='13.501'


das Klapperschlangen-Glück <strong>des</strong> großen Zauberers, dem <strong>die</strong><br />

Unschuldigsten in den Rachen laufen…<br />

Page Break KGW='VIII-3.298' KSA='13.502'<br />

Aphorism n=12546 id='VIII.16[46]' kgw='VIII-3.298' ksa='13.502'<br />

<strong>die</strong> Cultur-Cretins, <strong>die</strong> „Ewig-Weiblichen“, — — —<br />

Aphorism n=12547 id='VIII.16[47]' kgw='VIII-3.298' ksa='13.502'<br />

in Deutschland, wo der Vaporismus <strong>des</strong> Ideals nicht einen<br />

Einwand gegen einen Künstler begründet, sondern beinahe<br />

<strong>des</strong>sen Rechtfertigung ( — er wird Schiller zu Gute gerechnet!…<br />

und wenn man sagt Schiller und Goethe, meint man, der Erstere<br />

sei als Idealist der Höhere gewesen, der Ächte: <strong>die</strong>ser<br />

Attitüden-Held!<br />

Aphorism n=12548 id='VIII.16[48]' kgw='VIII-3.298' ksa='13.502'<br />

Was das hysterisch-heroische Weib betrifft, das Richard<br />

Wagner erfunden und(1788) in Musik gesetzt hat, ein Zwittergebilde<br />

zweideutigsten Geschmacks:<br />

daß <strong>die</strong>ser Typus selbst in Deutschland nicht gänzlich<br />

degoutirt hat, hat darin seinen Grund wenn auch durchaus noch<br />

nicht sein Recht, daß bereits ein unvergleichlich größerer<br />

Dichter als Wagner, der edle Heinrich von Kleist, ihm daselbst <strong>die</strong><br />

Fürsprache <strong>des</strong> Genies gegeben hatte. Ich bin fern davon,<br />

Wagner selbst hier abhängig von Kleist zu denken: Elsa, Senta,<br />

Isolde, Brünnhilde, Kundry sind vielmehr Kinder der französischen<br />

Romantik und haben ein — — —<br />

Aphorism n=12549 id='VIII.16[49]' kgw='VIII-3.298' ksa='13.502'<br />

Die Größe eines Musikers mißt sich nicht nach den schönen<br />

Gefühlen, <strong>die</strong> er(1789) erregt: das glauben <strong>die</strong> Weiber — sie mißt<br />

sich nach der Spannkraft seines Willens, nach der Sicherheit,<br />

mit der das Chaos seinem künstlerischen(1790) Befehl gehorcht und<br />

Form wird, nach der(1791) Nothwendigkeit, welche seine Hand<br />

in eine Abfolge von Formen legt. Die Größe eines Musikers<br />

— mit Einem Worte wird gemessen an seiner Fähigkeit zum<br />

großen Stil.


Page Break KGW='VIII-3.299' KSA='13.503'<br />

Aphorism n=12550 id='VIII.16[50]' kgw='VIII-3.299' ksa='13.503'<br />

Ich suche mir ein Thier, das mir nach tanzt und ein ganz<br />

klein Bischen mich — liebt…<br />

Aphorism n=12551 id='VIII.16[51]' kgw='VIII-3.299' ksa='13.503'<br />

Entwurf.<br />

1. Die wahre und <strong>die</strong> scheinbare Welt.<br />

2. Der Philosoph als Typus der décadence<br />

3. Der religiöse Mensch als Typus der décadence<br />

4. der gute Mensch als Typus der décadence<br />

5. Die Gegenbewegung: <strong>die</strong> Kunst!<br />

6. Das Heidnische in der Religion.<br />

7. Die Wissenschaft gegen Philosophie.<br />

8. Die Politiker gegen Priester — gegen <strong>die</strong> Herauslösung<br />

aus den Instinkten, das Unheimischwerden. (Volk,<br />

Vaterland, Weib — alle <strong>die</strong> concentrirenden Mächte gegen das<br />

„Unheimisch-sein“)<br />

9. Kritik der Gegenwart: wohin gehört sie?<br />

10. Der Nihilismus und sein Gegenstück: <strong>die</strong> Jünger<br />

der „Wiederkunft“<br />

11. Der Wille zur <strong>Macht</strong> als Leben: Höhepunkt <strong>des</strong> historischen<br />

Selbstbewußtseins (letzteres bedingt <strong>die</strong> kranke<br />

Form der modernen Welt…)<br />

12. Der Wille zur <strong>Macht</strong>: als Disciplin.<br />

Aphorism n=12552 id='VIII.16[52]' kgw='VIII-3.299' ksa='13.503'<br />

Die décadents als Excremente der Gesellschaft<br />

betrachtet<br />

nichts kann ungesünder sein als <strong>die</strong>selben als Nahrungsmittel<br />

gebrauchen —<br />

Aphorism n=12553 id='VIII.16[53]' kgw='VIII-3.299' ksa='13.503'<br />

Theorie der Erschöpfung:<br />

das Laster<br />

Page Break KGW='VIII-3.300' KSA='13.504'


<strong>die</strong> Geisteskranken (resp. <strong>die</strong> Artisten…<br />

<strong>die</strong> Verbrecher<br />

<strong>die</strong> Anarchisten<br />

das sind nicht <strong>die</strong> unterdrückten Rassen, sondern<br />

der Auswurf der bisherigen Gesellschaft aller Classen…<br />

Mit der Einsicht, daß alle unsere Stände durchdrungen sind<br />

von <strong>die</strong>sen Elementen, haben wir begriffen, daß <strong>die</strong> moderne<br />

Gesellschaft keine „Gesellschaft“, kein „Körper“ ist,<br />

sondern ein krankes Conglomerat von Tschandala<br />

— eine Gesellschaft, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Kraft nicht mehr hat, zu<br />

exkretiren<br />

In wiefern durch das Zusammenleben seit Jahrhunderten<br />

<strong>die</strong> Krankhaftigkeit vieltiefer geht:<br />

<strong>die</strong> moderne Tugend<br />

<strong>die</strong> moderne Geistigkeit als Krankheits-Formen<br />

unsere Wissenschaft<br />

Aphorism n=12554 id='VIII.16[54]' kgw='VIII-3.300' ksa='13.504'<br />

Der Irrthum ist der kostspieligste Luxus, den sich der<br />

Mensch gestatten kann; und wenn der Irrthum gar ein physiologischer<br />

Irrthum ist, dann wird er lebensgefährlich. Wofür hat<br />

folglich <strong>die</strong> Menschheit bisher am meisten gezahlt, am schlimmsten<br />

gebüßt? Für ihre „Wahrheiten“: denn <strong>die</strong>selben waren<br />

allesammt Irrthumer in physiologicis…<br />

Aphorism n=12555 id='VIII.16[55]' kgw='VIII-3.300' ksa='13.504'<br />

Physiologisch nachgerechnet, ist „Kritik der reinen<br />

Vernunft“ bereits <strong>die</strong> Präexistenz-Form <strong>des</strong> Cretinismus: und das<br />

System Spinozas eine Phänomenologie der Schwindsucht<br />

Aphorism n=12556 id='VIII.16[56]' kgw='VIII-3.300' ksa='13.504'<br />

Mein Satz, in eine Formel gedrängt, <strong>die</strong> alterthümlich riecht,<br />

nach Christenthum, Scholastik und anderem Moschus: im<br />

Begriff „Gott als Geist“ ist Gott als Vollkommenheit negirt…<br />

Page Break KGW='VIII-3.301' KSA='13.505'<br />

Aphorism n=12557 id='VIII.16[57]' kgw='VIII-3.301' ksa='13.505'


Das hat keine Kinder; kaum Sinne.<br />

Aphorism n=12558 id='VIII.16[58]' kgw='VIII-3.301' ksa='13.505'<br />

Für <strong>die</strong> Spinne ist <strong>die</strong> Spinne das vollkommenste Wesen;<br />

für den Metaphysiker ist Gott ein Metaphysiker: das heißt, er<br />

spinnt…<br />

Aphorism n=12559 id='VIII.16[59]' kgw='VIII-3.301' ksa='13.505'<br />

Das Volk glaubt an apokryphe „Wahrheiten“ —<br />

Aphorism n=12560 id='VIII.16[60]' kgw='VIII-3.301' ksa='13.505'<br />

Weiber, Gold, Edelsteine, Tugend, Reinheit, Wissenschaft,<br />

einen guten Rath, kurz Alles, was nützlich und schön ist, darf<br />

man nehmen, woher es auch kommt.<br />

* *<br />

Für seinen Respekt vor seiner Mutter wird der Jünger erst<br />

seine irdische Hülle los: für seinen Respekt vor seinem Vater<br />

wird er jene noch subtilere Gestalt los, <strong>die</strong> ihn in der Luft<br />

umkleidet; für seinen Respekt vor seinem Lehrer wird er noch<br />

leichter, noch reiner und steigt empor zu der Wohnung<br />

Brahma's.<br />

* *<br />

Daß er niemals im Schweigen <strong>des</strong> Wal<strong>des</strong>, oder am Rande<br />

klarer Quellen oder in der tiefen, tiefen Mitternacht das Gebet<br />

vernachlässige, <strong>des</strong>sen unendlicher Inhalt inbegriffen ist in der<br />

Einsilbe „Om“<br />

Nachdem sie ihre theologischen Stu<strong>die</strong>n absolvirt haben,<br />

dürfen <strong>die</strong> jungen Brahmanen, <strong>die</strong> jungen Xchatria und Vaysia<br />

in <strong>die</strong> Kategorie der Familienväter eintreten. Der<br />

„Zweimalgeborene“ soll dann seinen Stab nehmen und sich auf <strong>die</strong><br />

Suche machen nach einem Weib aus seiner Kaste, <strong>die</strong> durch ihre<br />

Qualitäten glänzt und den Vorschriften Genüge thut.<br />

Page Break KGW='VIII-3.302' KSA='13.506'<br />

Er hüte sich vor der Verbindung mit einem Weibe aus einer<br />

Familie, <strong>die</strong> nicht ihre religiöse Pflicht erfüllt, oder in der <strong>die</strong><br />

Zahl der Töchter größer ist als <strong>die</strong> der Söhne oder in der<br />

einzelne Glieder Difformitäten, oder Schwindsucht, Dyspepsie,<br />

Hämorrhoiden und dergleichen haben.<br />

Er fliehe <strong>die</strong>se Familie, wie groß auch ihre <strong>Macht</strong>, ihr Name,


ihr Reichthum sei.<br />

Er suche eine Frau schön von Gestalt, deren Name sich<br />

angenehm ausspricht, mit dem Schritte eines jungen Elephanten, mit<br />

seidenweichem Haar, sanfter Stimme und kleinen regelmäßigen<br />

Zähnen; eine solche, deren Leib wie mit leichtem duvet<br />

bedeckt ist<br />

Ein schönes Weib macht <strong>die</strong> Freude eines Hauses, hält <strong>die</strong><br />

Liebe ihres Gatten fest und bringt ihm wohlgestaltete Kinder<br />

Er hüte sich ein Mädchen zu heirathen, das keinen Bruder<br />

hat oder <strong>des</strong>sen Vater man nicht kennt.<br />

Für einen Brahmanen, der sich mit einer Sudra (aus der<br />

Dienstboten-Rasse) verbindet und von ihr einen Sohn hat, giebt<br />

es auf Erden keine Art Sühnung.<br />

Aphorism n=12561 id='VIII.16[61]' kgw='VIII-3.302' ksa='13.506'<br />

Wilhelm von Humboldt, der edle Flachkopf<br />

Aphorism n=12562 id='VIII.16[62]' kgw='VIII-3.302' ksa='13.506'<br />

„Jeder und Alle in ewiger Erneuung und Zerstreuung sich<br />

selbst zerstören.“<br />

Göthe.<br />

Aphorism n=12563 id='VIII.16[63]' kgw='VIII-3.302' ksa='13.506'<br />

Es wird den Freunden <strong>des</strong> Philosophen Friedrich Nietzsche<br />

von Werth sein, zu hören, daß letzten Winter der geistreiche<br />

Däne Dr. Georg Bran<strong>des</strong> einen längeren Cyklus von Vorlesungen<br />

an der Kopenhagener Universität <strong>die</strong>sem Philosophen gewidmet<br />

hat. Der Redner, <strong>des</strong>sen Meisterschaft im Darlegen schwieriger<br />

Page Break KGW='VIII-3.303' KSA='13.507'<br />

Gedankenkomplexe nicht erst sich zu beweisen hatte, wußte eine<br />

Zuhörerschaft von mehr als 300 Personen für <strong>die</strong> neue und<br />

verwegene Denkweise <strong>des</strong> deutschen Philosophen lebhaft zu<br />

interessiren: so daß <strong>die</strong> Vorlesungen in eine glänzende Ovation zu Ehren<br />

<strong>des</strong> Redners und seines Themas ausliefen.<br />

Aphorism n=12564 id='VIII.16[64]' kgw='VIII-3.303' ksa='13.507'<br />

Wir Immoralisten


Unter Künstlern<br />

Kritik der Freigeisterei<br />

Der Skeptiker redet.<br />

Aphorism n=12565 id='VIII.16[65]' kgw='VIII-3.303' ksa='13.507'<br />

Die Meistersinger verherrlichen Deutschland's(1792) Genie, das<br />

nichts gelernt hat: ausgenommen was es von den Vöglein gelernt<br />

hat — das Genie begriffen als „<strong>die</strong> edele [ — ]“,<br />

über<strong>die</strong>s „Ritter“<br />

Aphorism n=12566 id='VIII.16[66]' kgw='VIII-3.303' ksa='13.507'<br />

Zur Vorrede.<br />

Was allein kann uns wiederherstellen? Der Anblick<br />

<strong>des</strong> Vollkommenen: ich lasse das Auge trunken herumschweifen:<br />

haben wir's nicht herrlich weit gebracht?<br />

Aphorism n=12567 id='VIII.16[67]' kgw='VIII-3.303' ksa='13.507'<br />

Wagner's Stil hat auch seine Jünger angesteckt: das<br />

Deutsch der Wagnerianer ist der verblümteste Unsinn, der seit<br />

dem Schellingschen geschrieben worden ist. Wagner selbst gehört<br />

als Stilist noch in jene Bewegung, gegen <strong>die</strong> Schopenhauer<br />

seinen Zorn ausgelassen hat: — und der Humor kommt auf <strong>die</strong><br />

Spitze, wenn er sich als „Retter der deutschen Sprache“ gegen<br />

<strong>die</strong> Juden aufspielt. — Um den Geschmack <strong>die</strong>ser Jünger zu<br />

zeichnen, gestatte ich mir ein einziges Beispiel. Der König von<br />

Bayern, der ein bekannter Päderast war, sagte einmal zu Wagner:<br />

Page Break KGW='VIII-3.304' KSA='13.508'<br />

also Sie mögen <strong>die</strong> Weiber auch nicht? sie sind so langweilig…<br />

Nohl (der Verfasser eines in sechs Sprachen übersetzten „Leben<br />

Wagners“) findet <strong>die</strong>se Meinung „jugendlich umfangen“<br />

Aphorism n=12568 id='VIII.16[68]' kgw='VIII-3.304' ksa='13.508'<br />

Ein Kritiker<br />

der modernen Seele.


Aphorism n=12569 id='VIII.16[69]' kgw='VIII-3.304' ksa='13.508'<br />

Wie kommt es zuletzt, daß Parsifal einen Sohn hat, den<br />

berühmten Lohengrin? Sollte das der erste Fall der immacolata<br />

— — —<br />

Aphorism n=12570 id='VIII.16[70]' kgw='VIII-3.304' ksa='13.508'<br />

Worum es sich handelt?<br />

das religiöse Mißverständniß.<br />

das moralische Mißverständniß.<br />

das philosophische Mißverständniß.<br />

das aesthetische Mißverständniß.<br />

Aphorism n=12571 id='VIII.16[71]' kgw='VIII-3.304' ksa='13.508'<br />

Die Herkunft der Werthe.<br />

I(1793) Die erfundene Welt<br />

<strong>die</strong> erfundene Welt Philosophie als décadence<br />

Gedanken über das<br />

Christenthum<br />

II Die Realitäten hinter der<br />

<strong>die</strong> wahre Welt Moral.<br />

Zur Physiologie der Kunst.<br />

Warum Wahrheit?<br />

III Kritik der Modernität.<br />

Die ewige Wiederkunft.<br />

Aus der siebenten Einsamkeit.<br />

Page Break KGW='VIII-3.305' KSA='13.509'<br />

Aphorism n=12572 id='VIII.16[72]' kgw='VIII-3.305' ksa='13.509'<br />

1. Gegensatz der Werthe: Pessimismus, Nihilismus, Scepsis<br />

2. Kritik der Philosophie<br />

3. Kritik der Religion<br />

4. Kritik der Moral.<br />

5. Die erfundene Welt<br />

6. Warum Wahrheit?<br />

7. Zur Physiologle der Kunst.<br />

8. Problem der Modernität.<br />

9. Die ewige Wiederkunft.<br />

10. Aus der siebenten Einsamkeit.


Aphorism n=12573 id='VIII.16[73]' kgw='VIII-3.305' ksa='13.509'<br />

Zur Physiologie der Kunst<br />

Das Problem <strong>des</strong> Sokrates<br />

Moral: Zähmung oder Züchtung — Die Realitäten<br />

hinter der Moral.<br />

der Kampf mit den Passionen und deren Vergeistigung.<br />

Naturalismus der Moral und Entnatürlichung.<br />

Zeit und Zeitgenossen.<br />

Aus der siebenten Einsamkeit.<br />

„Warum Wahrheit?“<br />

Der Wille zur Wahrheit.<br />

Psychologie der Philosophen<br />

Vom Willen zur Wahrheit.<br />

Civilisation und Cultur: ein Antagonismus(1794).<br />

Page Break KGW='VIII-3.306' KSA='13.510'<br />

Aphorism n=12574 id='VIII.16[74]' kgw='VIII-3.306' ksa='13.510'<br />

X — schmerzhaft-nachdenklich<br />

1. Bizet's Musik — der Philosoph ironisch<br />

2. Süden, Heiterkeit, maurischer(1795) Tanz<br />

Liebe fremd-interessant<br />

3. der „Erlöser“ — Schopenhauer(1796) ironisch<br />

4. der „Ring“, Schopenhauer als Erlöser<br />

Wagners fremd-interessant<br />

5. der décadent — grimmig! grimmig!<br />

6. scherzhaft „Ahnen“ „Umwerfen“<br />

„Erheben“ ironisch<br />

7. „Hysterismus“ „Stil“ <strong>die</strong> kleinen<br />

Kostbarkeiten fremd-interessant<br />

8. „niederwerfende Wirkung“ „der Victor<br />

Hugo der Sprache“ „Talma“<br />

„alla genovese“ lobend-rasch<br />

9. „Handlung“ „Edda“ „ewiger Gehalt“<br />

„Madame Bovary“ „kein Kind“ ironisch<br />

10. „Litteratur“ „Idee“ „Hegel“ „deutscher ironisch-fremd-interessant<br />

Jüngling“ — was wir vermissen?<br />

11. lobend, stark, thatsächlich „der stark-huldigend<br />

Schauspieler“


12. drei Formeln grimmig<br />

zu 10) Wagner ist dunkel, verwickelt, siebenhäutig<br />

8 das bleibt ernst selbst bei Wagners „Contrapunkt“<br />

Aphorism n=12575 id='VIII.16[75]' kgw='VIII-3.306' ksa='13.510'<br />

Hier sind zwei Formeln, aus denen ich das Phänomen Wagner's<br />

begreife. Die eine heißt:<br />

<strong>die</strong> Principien und Praktiken Wagner's sind allesamt<br />

zurückführbar auf physiologische Nothstände: sie sind deren<br />

Ausdruck („Hysterismus“ als Musik)<br />

Page Break KGW='VIII-3.307' KSA='13.511'<br />

Die andere heißt:<br />

<strong>die</strong> schädliche Wirkung der Wagnerschen(1797) Kunst beweist<br />

deren tiefe organische Gebrechlichkeit, deren Corruption.<br />

Das Vollkommene macht gesund; das Kranke macht krank.<br />

Die physiologischen Nothstände, in <strong>die</strong> Wagner seine Hörer<br />

versetzt (unregelmäßiges Athmen, Störung <strong>des</strong> Blutumlaufs,<br />

extreme Irritabilität mit plötzlichem Coma) enthalten eine<br />

Widerlegung seiner Kunst<br />

Mit <strong>die</strong>sen zwei Formeln ist nur <strong>die</strong> Folgerung jenes<br />

allgemeinen Satzes gezogen, der für mich das Fundament aller<br />

Aesthetik abgiebt: daß <strong>die</strong> aesthetischen Werthe auf biologischen<br />

Werthen ruhen, daß <strong>die</strong> aesthetischen Wohlgefühle biologische<br />

Wohlgefühle sind.<br />

Aphorism n=12576 id='VIII.16[76]' kgw='VIII-3.307' ksa='13.511'<br />

Fälle, wo man nicht <strong>die</strong> Leidenschaft, sondern <strong>die</strong><br />

Peitschenschläge hört, welche Wagner mit beleidigender<br />

Grausamkeit an seinen armen Gaul Pegasus verschwendet<br />

<strong>die</strong> Peitschenschläge, mit denen Wagner den<br />

armen Pegasus mißhandelt (2 Akt <strong>des</strong> Tristan<br />

<strong>die</strong> Armut: wie ökonomisch er an Einfällen ist — eine<br />

geistreiche Armut: langweilig…<br />

es fehlen <strong>die</strong> Gedanken, ganz wie bei Viktor Hugo:<br />

alles ist Attitüde, — — —<br />

Aphorism n=12577 id='VIII.16[77]' kgw='VIII-3.307' ksa='13.511'<br />

1. der Schauspieler


2. <strong>die</strong> Verderbniß der Musik —<br />

<strong>die</strong> Musik von außen her am Bändchen<br />

geführt — „es bedeutet“ —<br />

extreme Detail-Belebung<br />

Wechsel der Optik<br />

der „große Stil“ — Niedergang, Verarmung der<br />

organisirenden Kräfte.<br />

Page Break KGW='VIII-3.308' KSA='13.512'<br />

— Mangel der Tonalität<br />

— Mangel der Eurhythmie („Tanz“)<br />

— Unfähigkeit <strong>des</strong> Baus („Drama“)<br />

— Mittel zum Tyrannisiren<br />

<strong>die</strong> „fixe Idee“ (oder das Leitmotiv)<br />

3. <strong>die</strong> Schädlichkeit der Musik<br />

das Wunder<br />

<strong>die</strong> Idiosynkrasie<br />

4. Werth der Stoffe<br />

seine Bildung „Stil“ „Hegelei“<br />

5. Frankreich — Deutschland<br />

6. Die Heraufkunft <strong>des</strong> histrio<br />

7. der décadent: extreme(1798) Irritabilität —<br />

Mangel an Tonalität<br />

Mangel an Eurhythmie<br />

Unfähigkeit zu bauen<br />

Übertreibung <strong>des</strong> Details<br />

Unruhe der Optik.<br />

Charakter-Instabilität: Wechsel der Person<br />

Mangel an Stolz<br />

Ausschweifung und Erschöpfung<br />

<strong>die</strong> Armut, geschickt verleugnet<br />

als Musik<br />

als „mythische Auslegung“<br />

8. „Wie kann man seinen Geschmack an <strong>die</strong>sen décadent<br />

verlieren?“<br />

der Schauspieler<br />

Art der Wirkung. Geschichte der Wirkung.<br />

Musik als Theater-Rhetorik. V. Hugo<br />

der „Dramatiker“<br />

9. der Schädliche:<br />

1. physiologisch irrationell<br />

2. intellektuell (<strong>die</strong> „Jünglinge“ Wunder<br />

3. Tendenz <strong>des</strong> „Mitleidens“ Symbolik<br />

Page Break KGW='VIII-3.309' KSA='13.513'<br />

10. <strong>die</strong> nihilistische Kunst:<br />

Schopenhauer's Tendenz <strong>des</strong> Tragischen<br />

11. Heraufkunft <strong>des</strong> Schauspielers<br />

12. Drei Forderungen


Aphorism n=12578 id='VIII.16[78]' kgw='VIII-3.309' ksa='13.513'<br />

Tristan und Isolde, wirklich mit erlebt, sind beinahe eine<br />

Ausschweifung.<br />

Man kann in Wirklichkeit jungen Frauen nicht ernst genug<br />

<strong>die</strong>se Gewissens-Alternative stellen: aut Wagner aut liberi.<br />

Aphorism n=12579 id='VIII.16[79]' kgw='VIII-3.309' ksa='13.513'<br />

Wagner hat nie gehen gelernt. Er stürzt, er stolpert, er<br />

mißhandelt den armen Pegasus mit Peitschenschlägen. Lauter falsche<br />

Leidenschaft, lauter falscher Contrapunkt Wagner ist unfähig<br />

je<strong>des</strong> Stils. —<br />

künstlich, geleimt, falsch, Machwerk, Unthier, Pappe.<br />

Aphorism n=12580 id='VIII.16[80]' kgw='VIII-3.309' ksa='13.513'<br />

Der Fall Wagner.<br />

Ein Musikanten-Problem<br />

von<br />

F. N.<br />

Unter <strong>die</strong>sem Titel erscheint in meinem Verlage ein geniales<br />

Pamphlet gegen Wagner, das bei Freund und Feind auf das<br />

Lebhaftigste diskutirt werden wird. Herr Prof. Nietzsche,<br />

dem Jedermann zugestehen wird, der tiefste Kenner der<br />

Bayreuther(1799) Bewegung zu sein(1800), faßt hier das Werth-Problem,<br />

das jene Bewegung in sich schließt, an den Hörnern; er<br />

beweist, daß es Hörner hat. Die Widerlegung Wagners(1801), welche<br />

<strong>die</strong>se Schrift giebt, ist nicht bloß eine aesthetische: sie ist vor<br />

allem eine physiologische. Nietzsche betrachtet Wagner als eine<br />

Krankheit, als eine öffentliche Gefahr.<br />

Page Break KGW='VIII-3.310' KSA='13.514'<br />

Aphorism n=12581 id='VIII.16[81]' kgw='VIII-3.310' ksa='13.514'<br />

Ich habe den Menschen das tiefste Buch gegeben, das sie<br />

besitzen, den Zarathustra; ein Buch, das so sehr auszeichnet, daß<br />

wenn Jemand sagen kann „ich habe sechs Sätze davon verstanden,<br />

das heißt erlebt“ zu einer höheren Ordnung der Menschen<br />

gehört… Aber wie man das büßen muß! abzahlen muß!


es verdirbt beinahe den Charakter… Die Kluft ist zu groß<br />

geworden…<br />

Aphorism n=12582 id='VIII.16[82]' kgw='VIII-3.310' ksa='13.514'<br />

<strong>die</strong> modernen Ideen als falsch.<br />

„Freiheit“<br />

„gleiche Rechte“<br />

„Menschlichkeit“<br />

„Mitleiden“<br />

„das Genie“<br />

demokratisches Mißverständniß (als Folge <strong>des</strong> milieu, <strong>des</strong><br />

Zeitgeistes)<br />

pessimistisches Mißverständniß (als verarmtes Leben,<br />

als Loslösung <strong>des</strong> „Willens“)<br />

das décadence-Mißverständniß (névrose(1802))<br />

„das Volk“<br />

„<strong>die</strong> Rasse“<br />

„<strong>die</strong> Nation“<br />

„Demokratie“<br />

„Toleranz“<br />

„das milieu“<br />

„Utilitarismus“<br />

„Civilisation“<br />

„Weiber-Emancipation“<br />

„Volks-Bildung“<br />

„Fortschritt“<br />

„Sociologie“<br />

Page Break KGW='VIII-3.311' KSA='13.515'<br />

Aphorism n=12583 id='VIII.16[83]' kgw='VIII-3.311' ksa='13.515'<br />

Die Necessität der falschen Werthe.<br />

Man kann ein Urtheil widerlegen, indem man seine<br />

Bedingtheit nachweist: damit ist <strong>die</strong> Nothwendigkeit, es zu haben,<br />

nicht abgeschafft. Die falschen Werthe sind nicht durch<br />

Gründe auszurotten: so wenig wie eine krumme Optik im Auge<br />

eines Kranken. Man muß ihre Nothwendigkeit, dazusein,<br />

begreifen: sie sind eine Folge von Ursachen, <strong>die</strong> mit Gründen<br />

nichts zu thun haben<br />

Aphorism n=12584 id='VIII.16[84]' kgw='VIII-3.311' ksa='13.515'<br />

Wenn man „mit Christo(1803) und Mose“ <strong>die</strong> natürliche Causalität


aus der Welt schafft, bedarf man einer widernatürlichen:<br />

der ganze Rest von Muckerei folgt nunmehr.<br />

Aphorism n=12585 id='VIII.16[85]' kgw='VIII-3.311' ksa='13.515'<br />

Psychologie <strong>des</strong> Irrthums.<br />

1) Verwechslung von Ursache und Wirkung<br />

2) Verwechslung der Wahrheit mit der Wirkung <strong>des</strong> als wahr<br />

Geglaubten.<br />

3) Verwechslung <strong>des</strong> Bewußtseins mit der Ursächlichkeit<br />

Moral als Irrthum.<br />

Religion als Irrthum.<br />

Metaphysik als Irrthum.<br />

Die modernen Ideen als Irrthümer.<br />

Aphorism n=12586 id='VIII.16[86]' kgw='VIII-3.311' ksa='13.515'<br />

Der Wille zur <strong>Macht</strong>. Versuch einer Umwerthung<br />

aller Werthe.<br />

I. Psychologie <strong>des</strong> Irrthums.<br />

1) Verwechslung von Ursache und Wirkung<br />

2) Verwechslung der Wahrheit mit dem als wahr Geglaubten<br />

Page Break KGW='VIII-3.312' KSA='13.516'<br />

3) Verwechslung <strong>des</strong> Bewußtseins mit der Ursächlichkeit<br />

4) Verwechslung der Logik mit dem Prinzip <strong>des</strong> Wirklichen<br />

II. Die falschen Werthe.<br />

1) Moral als falsch<br />

2) Religion als falsch alle bedingt durch <strong>die</strong><br />

3) Metaphysik als falsch vier Arten <strong>des</strong> Irrthums.<br />

4) <strong>die</strong> modernen Ideen als falsch<br />

III. Das Kriterium der Wahrheit.<br />

1) der Wille zur <strong>Macht</strong><br />

2) Symptomatologie <strong>des</strong> Niedergangs<br />

3) Zur Physiologie der Kunst<br />

4) zur Physiologie der Politik<br />

IV. Kampf der falschen und der wahren Werthe.<br />

1) Nothwendigkeit einer doppelten Bewegung<br />

2) Nützlichkeit einer doppelten Bewegung<br />

3) <strong>die</strong> Schwachen<br />

4) <strong>die</strong> Starken.<br />

16 Capitel: je 37 Seiten. — 16 Capitel: je 35 Seiten.<br />

Das Kriterium der Wahrheit.


Der Wille zur <strong>Macht</strong>, als Wille zum Leben — <strong>des</strong> aufsteigenden<br />

Lebens.<br />

Die grossen Irrthümer als Folge der décadence.<br />

Zur Physiologie der Kunst.<br />

Symptomatologie <strong>des</strong> Niedergangs.<br />

Der Kampf der Werthe<br />

Nützlichkeit einer doppelten Bewegung.<br />

Nothwendigkeit derselben.<br />

Die Schwachen.<br />

Die Starken.<br />

Page Break KGW='VIII-3.313' KSA='13.517'<br />

Aphorism n=12587 id='VIII.16[87]' kgw='VIII-3.313' ksa='13.517'<br />

Man soll das Christenthum nicht mit jener Einen Wurzel<br />

verwechseln, an <strong>die</strong> es mit seinem Namen erinnert: <strong>die</strong> andern<br />

Wurzeln, aus denen es gewachsen ist, sind bei weitem mächtiger,<br />

wichtiger als sein Kern gewesen; es ist ein Mißbrauch ohne<br />

Gleichen, wenn solche schauerlichen Verfalls-Gebilde und Mißformen,<br />

<strong>die</strong> „christliche Kirche“ „christlicher Glaube“ „christliches Leben“<br />

heißen, sich mit jenem heiligen Namen abzeichnen. Was hat<br />

Christus(1804) verneint? — Alles, was heute christlich heißt.<br />

Aphorism n=12588 id='VIII.16[88]' kgw='VIII-3.313' ksa='13.517'<br />

Das Schlimmste ist, daß alles zu tief ins Herz einschneidet:<br />

fast je<strong>des</strong> Jahr hat mir 3, 4 Dinge gebracht, an sich unerheblich,<br />

an denen ich beinahe zu Grunde gieng.<br />

Nicht daß ich damit Jemandem Vorwürfe mache. Gesunde(1805)<br />

Menschen(1806) haben einfach gar keinen Begriff davon, in welchem<br />

Fall sie Einen tödtlich verletzen und was ihn ein paar Monate<br />

krank macht.<br />

Aphorism n=12589 id='VIII.16[89]' kgw='VIII-3.313' ksa='13.517'<br />

Der moderne Künstler, in seiner Physiologie dem Hysterismus<br />

nächstverwandt, ist auch als Charakter auf <strong>die</strong>se<br />

Krankhaftigkeit hin abgezeichnet. Der Hysteriker ist falsch: er<br />

lügt aus Lust an der Lüge, er ist bewunderungswürdig in jeder<br />

Kunst der Verstellung — es sei denn, daß seine krankhafte<br />

Eitelkeit ihm einen Streich spielt. Diese Eitelkeit ist wie ein<br />

fortwähren<strong>des</strong> Fieber, welches Betäubungsmittel nöthig hat und<br />

vor keinem Selbstbetrug, vor keiner Farce zurückschreckt, <strong>die</strong>


eine augenblickliche Linderung verspricht. Unfähigkeit<br />

zum Stolz und beständig Rache für eine tief eingenistete<br />

Selbstverachtung nöthig zu haben — das ist beinahe <strong>die</strong> Definition<br />

<strong>die</strong>ser Art von Eitelkeit. Die absurde Erregbarkeit seines<br />

Systems, <strong>die</strong> aus allen Erlebnissen Krisen macht und „das<br />

Dramatische“ in <strong>die</strong> geringsten Zufälle <strong>des</strong> Lebens einschleppt,<br />

Page Break KGW='VIII-3.314' KSA='13.518'<br />

nimmt ihm alles Berechenbare: er ist keine Person mehr, höchstens<br />

ein Rendezvous von Personen, von denen bald <strong>die</strong>se, bald<br />

jene mit unverschämter Sicherheit herausschießt. Eben darum<br />

ist er groß als Schauspieler: alle <strong>die</strong>se armen Willenlosen, welche<br />

<strong>die</strong> Ärzte in der Nähe studiren, setzen in Erstaunen durch ihre<br />

Virtuosität der Mimik, der Transfiguration, <strong>des</strong> Eintretens in<br />

fast jeden verlangten Charakter.<br />

Page Break KGW='VIII-3.315' KSA='13.519'<br />

[ 17 = Mp XVII 4. Mp XVI 4a. WII8a. WII9a. Mai — Juni 1888 ]<br />

Aphorism n=12590 id='VIII.17[1]' kgw='VIII-3.315' ksa='13.519'<br />

Erstes Capitel. Begriff der nihilistischen Bewegung<br />

als Ausdruck der décadence.<br />

— <strong>die</strong> décadence überall<br />

Zweites Capitel. <strong>die</strong> typischen Ausdrucksformen der<br />

décadence<br />

1) man wählt, was <strong>die</strong> Erschöpfung<br />

beschleunigt<br />

2) man weiß nicht zu widerstehen<br />

3) man verwechselt Ursache und Wirkung<br />

4) man ersehnt Schmerzlosigkeit<br />

(72): inwiefern auch<br />

„Hedonismus“ ein<br />

degenerirender Typus ist<br />

Drittes Capitel. 5) <strong>die</strong> „wahre Welt“: Begriff der<br />

Realität durch Leidende (46) erstes Heft<br />

(72) <strong>die</strong> Gegensatz-Natur, <strong>die</strong><br />

dionysischen Werthe: (72) das<br />

tragische Zeitalter<br />

Page Break KGW='VIII-3.318' KSA='13.520'<br />

6) <strong>die</strong> nihilistische Fälschung für alle


guten Dinge<br />

(59) (108) (109) Liebe<br />

der „willenlose Intellekt“<br />

das Genie<br />

Kunst <strong>des</strong> „willensfreien<br />

Subjekts“<br />

7) das Unvermögen zur <strong>Macht</strong>, <strong>die</strong><br />

Ohnmacht:<br />

ihre tückischen Künste (98)<br />

Aphorism n=12591 id='VIII.17[2]' kgw='VIII-3.318' ksa='13.520'<br />

A. Von der Verdorbenheit der Befehlenden(1807).<br />

B. Was <strong>die</strong> bisherigen obersten Werthe bedeuten.<br />

C. Woher <strong>die</strong> bisherigen obersten Werthe<br />

stammen.<br />

D. Warum <strong>die</strong> Gegenwerthe unterlagen<br />

E. Modernität als Zweideutigkeit der Werthe<br />

F. — — —<br />

Aphorism n=12592 id='VIII.17[3]' kgw='VIII-3.318' ksa='13.520'<br />

[+++] Buche nur als verschiedene Formen der Lüge in Betracht<br />

gezogen; mit ihrer Hülfe wird an's Leben geglaubt. „Das<br />

Leben soll Vertrauen einflößen: <strong>die</strong> Aufgabe, so gestellt, ist<br />

ungeheuer. Um sie zu lösen, muß der Mensch schon von Natur<br />

Lügner sein, er muß mehr als alles Andre Künstler sein. Und<br />

er ist es auch: Metaphysik, Religion, Moral, Wissenschaft — Alles<br />

nur Ausgeburten seines Willens zur Kunst, zur Lüge, zur Flucht<br />

vor der „Wahrheit“, zur Verneinung der „Wahrheit“. Das<br />

Vermögen selbst, Dank dem er <strong>die</strong> Realität durch <strong>die</strong> Lüge<br />

vergewaltigt, <strong>die</strong>ses Künstler-Vermögen <strong>des</strong> Menschen par excellence<br />

— er hat es noch mit Allem, was ist, gemein. Er selbst ist ja<br />

ein Stück Wirklichkeit, Wahrheit, Natur: wie sollte er nicht auch<br />

ein Stück Genie der Lüge sein!…<br />

Page Break KGW='VIII-3.319' KSA='13.521'<br />

Daß der Charakter <strong>des</strong> Daseins verkannt werde — tiefste<br />

und höchste Geheim-Absicht hinter allem, was Tugend, Wissenschaft,<br />

Frömmigkeit, Künstlerthum ist. Vieles niemals sehn, Vieles<br />

falsch sehn, Vieles hinzusehn: oh wie klug man noch ist, in<br />

Zuständen, wo man am Fernsten davon ist, sich für klug zu halten!<br />

Die Liebe, <strong>die</strong> Begeisterung, „Gott“ — lauter Feinheiten <strong>des</strong><br />

letzten Selbstbetrugs, lauter Verführungen zum Leben, lauter<br />

Glaube an das Leben! In Augenblicken, wo der Mensch zum<br />

Betrognen ward, wo er sich überlistet hat, wo er ans Leben glaubt:


oh wie schwillt es da in ihm auf! Welches Entzücken! Welches<br />

Gefühl von <strong>Macht</strong>! Wie viel Künstler-Triumph im Gefühl der<br />

<strong>Macht</strong>!… Der Mensch ward wieder einmal Herr über den<br />

„Stoff“ — Herr über <strong>die</strong> Wahrheit!… Und wann immer der<br />

Mensch sich freut, er ist immer der Gleiche in seiner Freude, er<br />

freut sich als Künstler, er genießt sich als <strong>Macht</strong>, er genießt <strong>die</strong><br />

Lüge als seine <strong>Macht</strong>…<br />

2.<br />

Die Kunst und nichts als <strong>die</strong> Kunst! Sie ist <strong>die</strong> große<br />

Ermöglicherin <strong>des</strong> Lebens, <strong>die</strong> große Verführerin zum Leben, das große<br />

Stimulans <strong>des</strong> Lebens.<br />

Die Kunst als einzig überlegene Gegenkraft gegen allen Willen,<br />

zur Verneinung <strong>des</strong> Lebens, als das Antichristliche,<br />

Antibuddhistische, Antinihilistische par excellence.<br />

Die Kunst als <strong>die</strong> Erlösung <strong>des</strong> Erkennenden, —<br />

<strong>des</strong>sen, der den furchtbaren und fragwürdigen Charakter <strong>des</strong><br />

Daseins sieht, sehn will, <strong>des</strong> Tragisch-Erkennenden.<br />

Die Kunst als <strong>die</strong> Erlösung <strong>des</strong> Handelnden, —<br />

<strong>des</strong>sen, der den furchtbaren und fragwürdigen Charakter <strong>des</strong><br />

Daseins nicht nur sieht, sondern lebt, leben will, <strong>des</strong><br />

tragisch-kriegerischen Menschen, <strong>des</strong> Helden.<br />

Die Kunst als <strong>die</strong> Erlösung <strong>des</strong> Leidenden, — als<br />

Weg zu Zuständen, wo das Leiden gewollt, verklärt, vergöttlicht<br />

wird, wo das Leiden eine Form der großen Entzückung ist.<br />

Page Break KGW='VIII-3.320' KSA='13.522'<br />

3.<br />

Man sieht, daß in <strong>die</strong>sem Buche der Pessimismus, sagen wir<br />

deutlicher der Nihilismus, als <strong>die</strong> Wahrheit gilt. Aber <strong>die</strong><br />

Wahrheit gilt nicht als oberstes Werthmaaß, noch weniger als oberste<br />

<strong>Macht</strong>. Der Wille zum Schein, zur Illusion, zur Täuschung, zum<br />

Werden und Wechseln (zur objektiven Täuschung) gilt hier als<br />

tiefer, ursprünglicher, metaphysischer als der Wille zur Wahrheit,<br />

zur Wirklichkeit, zum Sein: — letzteres ist selbst bloß eine Form<br />

<strong>des</strong> Willens zur Illusion. Ebenso gilt <strong>die</strong> Lust als ursprünglicher<br />

als der Schmerz: der Schmerz erst als bedingt, als eine<br />

Folgeerscheinung <strong>des</strong> Willens zur Lust (<strong>des</strong> Willens zum Werden,<br />

Wachsen, Gestalten, das heißt zum Schaffen: im Schaffen<br />

ist aber das Zerstören eingerechnet) Es wird ein höchster Zustand<br />

von Bejahung <strong>des</strong> Daseins concipirt, aus dem auch der höchste<br />

Schmerz nicht abgerechnet werden kann: der tragisch-dionysische<br />

Zustand.<br />

4.<br />

Dies Buch ist dergestalt sogar antipessimistisch: nämlich in<br />

dem Sinn, daß es Etwas lehrt, das stärker ist als der Pessimismus,<br />

das „göttlicher“ ist als <strong>die</strong> Wahrheit. Niemand würde, wie es<br />

scheint, einer radikalen Verneinung <strong>des</strong> Lebens, einem wirklichen<br />

Nein thun noch mehr als einem Neinsagen zum Leben ernstlicher


das Wort reden, als der Verfasser <strong>die</strong>ses Buchs. Nur weiß<br />

er — er hat es erlebt, er hat vielleicht nichts Anderes erlebt! —<br />

daß <strong>die</strong> Kunst mehr werth ist als <strong>die</strong> Wahrheit.<br />

In der Vorrede, mit der Richard Wagner wie zu einem<br />

Zwiegespräche eingeladen wird, erscheint <strong>die</strong>s Glaubensbekenntniß,<br />

<strong>die</strong>s Artisten-Evangelium „<strong>die</strong> Kunst als <strong>die</strong> eigentliche Aufgabe<br />

<strong>des</strong> Lebens, <strong>die</strong> Kunst als <strong>des</strong>sen metaphysische Thätigkeit…“<br />

5.<br />

Page Break KGW='VIII-3.321' KSA='13.523'<br />

Aphorism n=12593 id='VIII.17[4]' kgw='VIII-3.321' ksa='13.523'<br />

Zur<br />

Geschichte <strong>des</strong> Gottesbegriffs.<br />

1.<br />

Ein Volk, das noch an sich selbst glaubt, hat auch seinen<br />

Gott noch. In ihm verehrt es <strong>die</strong> Bedingungen, durch <strong>die</strong> es<br />

obenauf ist, — es projicirt seine Lust an sich, sein <strong>Macht</strong>gefühl<br />

in ein Wesen, dem man dafür danken kann. Religion,<br />

innerhalb solcher Voraussetzungen, ist eine Form der Dankbarkeit.<br />

Ein solcher Gott muß nutzen und schaden können, muß<br />

Freund und Feind sein können: <strong>die</strong> widernatürliche Castration<br />

eines Gottes zu einem Gott <strong>des</strong> Guten kommt <strong>die</strong>sen starken<br />

Realisten nicht in den Sinn. Was liegt an einem Volke, das<br />

nicht furchtbar sein kann? Was liegt an einem Gotte, der nicht<br />

Zorn, Rache, Neid, Gewaltthat und vielleicht nicht einmal <strong>die</strong><br />

gefährlichen ardeurs der Zerstörung kennt? — Wenn ein Volk<br />

zu Grunde geht; wenn es den Glauben an seine Zukunft, an<br />

Freiheit und Übermacht schwinden fühlt; wenn ihm <strong>die</strong><br />

Unterwerfung als erste Nützlichkeit, <strong>die</strong> Tugenden der Unterworfenen<br />

als Erhaltungsbedingungen ins Bewußtsein treten: dann freilich<br />

ändert sich auch sein Gott. Er wird Duckmäuser, furchtsam,<br />

bescheiden, räth zum „Frieden der Seele“, zum Nicht-mehr-hassen;<br />

zur Nachsicht, zur Liebe selbst gegen Freund und Feind. Er<br />

kriecht in <strong>die</strong> Höhle der Privattugend zurück, wird der Gott<br />

der kleinen Leute, — er stellt nicht mehr <strong>die</strong> aggressive und<br />

machtdurstige Seele eines Volkes, seinen Willen zur <strong>Macht</strong><br />

dar…<br />

2.<br />

Wo <strong>die</strong>ser Wille, der Wille zur <strong>Macht</strong>, niedergeht, giebt es<br />

je<strong>des</strong> Mal décadence. Die Gottheit der décadence, beschnitten an<br />

ihren männlichsten Gliedern und Tugenden, wird nunmehr zu<br />

einem Gott der Guten. Ihr Cultus heißt „Tugend“; ihre Anhänger<br />

sind <strong>die</strong> „Guten und Gerechten“. — Man versteht, in welchen<br />

Page Break KGW='VIII-3.322' KSA='13.524'


Augenblicken erst der dualistische Gegensatz eines guten und<br />

eines bösen Gottes möglich wird. Denn mit demselben Instinkte,<br />

mit dem <strong>die</strong> Unterworfenen ihren Gott zum „Guten an sich“<br />

herunterbringen, streichen sie aus dem Gotte ihrer Überwinder<br />

<strong>die</strong> guten Eigenschaften aus. Sie nehmen Rache an ihren Herren,<br />

indem sie deren Gott verteufeln. —<br />

3.<br />

Wie kann man, mit der Einfalt <strong>des</strong> geistreichen Renan, <strong>die</strong><br />

Fortentwicklung <strong>des</strong> Gottesbegriffs vom Gott Israels zum<br />

Inbegriffs-Gott alles Guten einen Fortschritt nennen! Als ob<br />

Renan ein Recht auf Einfalt hätte!… Das Gegentheil liegt ja<br />

auf der Hand. Wenn <strong>die</strong> Voraussetzungen eines starken<br />

aufblühenden Lebens aus dem Gottesbegriffe eliminirt werden,<br />

wenn er Schritt für Schritt zum Symbol der Hülfe für alles<br />

Müde, Erschöpfte, bloß noch Vegetirende wird, wenn er<br />

Sünder-Gott, Kranken-Gott, Heiland, Erlöser per excellence wird:<br />

wovon zeugt das Alles? — Freilich, sein Reich ist größer<br />

geworden ( — müßte er selbst damit schon größer geworden sein?…)<br />

Ehedem hatte er nur sein Volk, seine „Auserwählten“: je<strong>des</strong><br />

Volk hält sich auf seiner Höhe für auserwählt. Inzwischen<br />

gieng er auf <strong>die</strong> Wanderschaft und saß nirgendswo mehr still,<br />

— bis er endlich zum Cosmopoliten wurde und <strong>die</strong> „große Zahl“<br />

auf seine Seite bekam. Aber der Gott der „großen Zahl“ bleibt<br />

nichts<strong>des</strong>toweniger ein Winkelgott, der Gott aller kranken Ecken,<br />

aller ungesunden Quartiere der ganzen Welt… Sein Weltreich<br />

ist ein Unterwelt-Reich, ein Souterrain verborgnen<br />

Elends … Und er selbst ist so schwach, so krank! … Beweis:<br />

selbst <strong>die</strong> Schwächsten der Schwachen, <strong>die</strong> Metaphysiker und<br />

Scholastiker werden über ihn noch Herr, — sie spinnen um ihn<br />

herum, in ihn hinein, bis er ihr Abbild, eine Spinne wird.<br />

Nunmehr spinnt er <strong>die</strong> Welt aus sich heraus, nunmehr wird er zum<br />

ewigen Metaphysikus, nunmehr wird er „Geist“ „purer<br />

Geist“… der christliche Gottesbegriff — Gott als Krankengott,<br />

Page Break KGW='VIII-3.323' KSA='13.525'<br />

Gott als Spinne, Gott als Geist — ist der niedrigste Gottesbegriff,<br />

der auf Erden erreicht wurde: er stellt den Höhepunkt<br />

der décadence in der absteigenden Entwicklung der Gottesidee<br />

dar. Gott zum Widerspruch <strong>des</strong> Lebens abgeartet,<br />

statt <strong>des</strong>sen Verklärung und ewiges Ja zu bedeuten; in<br />

Gott dem Leben, der Natur, dem Willen zum Leben <strong>die</strong> Feindschaft<br />

angesagt; Gott <strong>die</strong> Formel für jede Verleumdung <strong>des</strong><br />

Lebens, für jede Lüge vom „Jenseits“; in Gott das Nichts<br />

vergöttlicht, der Wille zum Nichts heilig gesprochen!… So weit<br />

haben wir's gebracht!…<br />

Weiß man es noch nicht? das Christenthum ist eine<br />

nihilistische Religion — um ihres Gottes willen…


4.<br />

Daß <strong>die</strong> jungen starken Rassen <strong>des</strong> nördlichen Europa den<br />

christlichen Gott nicht von sich gestoßen haben, macht ihrer<br />

religiösen Begabung wahrlich keine Ehre, um nicht vom<br />

Geschmack zu reden. Mit einer solchen krankhaften und<br />

altersschwachen Ausgeburt der décadence hätten sie fertig werden<br />

müssen. Aber es liegt ein Fluch auf ihnen dafür, daß sie<br />

nicht mit ihm fertig geworden sind: — sie haben <strong>die</strong> Krankheit,<br />

den Widerspruch, das Alter in alle ihre Instinkte aufgenommen,<br />

— sie haben seitdem keinen Gott mehr geschaffen! Zwei<br />

Jahrtausende beinahe: und nicht ein einziger neuer Gott!<br />

Sondern immer noch und wie zu Recht bestehend, wie ein ultimatum<br />

und maximum der gottbildenden Kraft, <strong>des</strong> creator spiritus<br />

im Menschen, <strong>die</strong>ser erbarmungswürdige Gott <strong>des</strong> europäischen<br />

Monotono-theismus! <strong>die</strong>s hybride Verfallsgebilde aus<br />

Null, Begriff und Großpapa, in dem alle Décadence-Instinkte<br />

ihre Sanktion erlangt haben!…<br />

5.<br />

— Und wie viele neue Götter sind noch möglich!… Mir selber,<br />

in dem der religiöse, das heißt gottbildende Instinkt<br />

Page Break KGW='VIII-3.324' KSA='13.526'<br />

mitunter wieder lebendig werden will: wie anders, wie verschieden<br />

hat sich mir je<strong>des</strong> Mal das Göttliche offenbart!… So vieles<br />

Seltsame gieng schon an mir vorüber, in jenen zeitlosen Augenblicken,<br />

<strong>die</strong> in's Leben hinein wie aus dem Monde fallen, wo<br />

man schlechterdings nicht mehr weiß, wie alt man schon ist und<br />

wie jung man noch sein wird… Ich würde nicht zweifeln, daß<br />

es viele Arten Götter giebt … Es fehlt nicht an solchen, aus<br />

denen man selbst einen gewissen Halkyonismus und Leichtsinn<br />

nicht hinwegdenken darf… Die leichten Füße gehören<br />

vielleicht sogar zum Begriffe „Gott“ … Ist es nöthig,<br />

auszuführen, daß ein Gott sich jeder Zeit jenseits alles Vernünftigen<br />

und Biedermännischen zu halten weiß? jenseits auch, anbei<br />

gesagt, von Gut und Böse? Er hat <strong>die</strong> Aussicht frei — mit<br />

Goethe zu reden. — Und um für <strong>die</strong>sen Fall <strong>die</strong> nicht genug<br />

zu schätzende Autorität Zarathustra's anzurufen: Zarathustra<br />

geht so weit, von sich zu bezeugen „ich würde nur an einen<br />

Gott glauben, der zu tanzen verstünde“…<br />

Nochmals gesagt: wie viele neue Götter sind noch möglich!<br />

— Zarathustra selbst freilich ist bloß ein alter Atheist. Man<br />

verstehe ihn recht! Zarathustra sagt zwar, er würde —; aber<br />

Zarathustra wird nicht…<br />

Aphorism n=12594 id='VIII.17[5]' kgw='VIII-3.324' ksa='13.526'<br />

Was der Rausch Alles vermag, der Liebe heißt und der noch


Etwas Anderes ist als Liebe! — Doch darüber hat Jedermann<br />

seine Wissenschaft. Die Muskelkraft eines Mädchens wächst,<br />

sobald nur ein Mann in seine Nähe kommt; es giebt Instrumente,<br />

<strong>die</strong>s zu messen. Bei einer noch näheren Beziehung der Geschlechter,<br />

wie sie zum Beispiel der Tanz und andre gesellschaftliche<br />

Gepflogenheiten mit sich bringen, nimmt <strong>die</strong>se Kraft dergestalt<br />

zu, um zu wirklichen Kraftstücken zu befähigen: man<br />

traut endlich seinen Augen nicht — und seiner Uhr! Hier ist<br />

allerdings einzurechnen, daß der Tanz an sich schon, gleich jeder<br />

sehr geschwinden Bewegung eine Art Rausch für das gesamte<br />

Page Break KGW='VIII-3.325' KSA='13.527'<br />

Gefäß- Nerven- und Muskelsystem mit sich bringt. Man hat in<br />

<strong>die</strong>sem Fall mit den combinirten Wirkungen eines doppelten<br />

Rausches zu rechnen. — Und wie weise es mitunter ist, einen<br />

kleinen Stich zu haben!… Es giebt Realitäten, <strong>die</strong> man nie sich<br />

eingestehen darf; dafür ist man Weib, dafür hat man alle<br />

weiblichen pudeurs… Diese jungen Geschöpfe, <strong>die</strong> dort tanzen, sind<br />

ersichtlich jenseits aller Realität: sie tanzen nur mit lauter<br />

handgreiflichen Idealen, sie sehen sogar, was mehr ist, noch Ideale<br />

um sich sitzen: <strong>die</strong> Mütter!… Gelegenheit, Faust zu citiren…<br />

Sie sehen unvergleichlich besser aus, wenn sie dergestalt ihren<br />

kleinen Stich haben, <strong>die</strong>se hübschen Creaturen, — oh wie gut<br />

sie das auch wissen! sie werden sogar liebenswürdig, weil sie<br />

das wissen! — Zuletzt inspirirt sie auch noch ihr Putz; ihr Putz<br />

ist ihr dritter kleiner Rausch: sie glauben an ihren Schneider,<br />

wie sie an Gott glauben: — und wer widerriethe ihnen <strong>die</strong>sen<br />

Glauben? <strong>die</strong>ser Glaube macht selig! Und <strong>die</strong> Selbstbewunderung<br />

ist gesund! — Selbstbewunderung schützt vor Erkältung.<br />

Hat sich je ein hübsches Weib erkältet, das sich gut bekleidet<br />

wußte? Nie und nimmermehr! Ich setze selbst den Fall, daß sie<br />

kaum bekleidet war…<br />

Aphorism n=12595 id='VIII.17[6]' kgw='VIII-3.325' ksa='13.527'<br />

Zur Geschichte <strong>des</strong> Nihilismus.<br />

Allgemeinste Typen der décadence:<br />

1) : man wählt, im Glauben, Heilmittel zu wählen,<br />

das, was <strong>die</strong> Erschöpfung beschleunigt<br />

— dahin gehört das Christenthum —: um den größten<br />

Fall <strong>des</strong> fehlgreifenden Instinkts zu nennen;<br />

— dahin gehört der „Fortschritt“ —:<br />

2) : man verliert <strong>die</strong> Widerstands-Kraft gegen <strong>die</strong><br />

Reize, — man wird bedingt durch <strong>die</strong> Zufälle: man<br />

vergröbert und vergrößert <strong>die</strong> Erlebnisse ins Ungeheure…<br />

eine „Entpersönlichung“, eine Disgregation <strong>des</strong> Willens —<br />

— dahin gehört eine ganze Art Moral, <strong>die</strong> altruistische


Page Break KGW='VIII-3.326' KSA='13.528'<br />

<strong>die</strong>, welche das Mitleiden im Munde führt: an der das<br />

Wesentliche <strong>die</strong> Schwäche der Persönlichkeit ist, so daß<br />

sie mitklingt und wie eine überreizte Saite<br />

beständig zittert… eine extreme Irritabilität…<br />

3) man verwechselt Ursache und Wirkung: man versteht<br />

<strong>die</strong> décadence nicht als physiologisch und sieht in ihren<br />

Folgen <strong>die</strong> eigentliche Ursache <strong>des</strong> Sich-schlecht-befindens<br />

— dahin gehört <strong>die</strong> ganze religiöse Moral<br />

4) : man ersehnt einen Zustand, wo man nicht mehr leidet:<br />

das Leben wird thatsächlich als Grund zu Übeln<br />

empfunden, — man taxirt <strong>die</strong> bewußtlosen,<br />

gefühllosen Zustände (Schlaf, Ohnmacht) unvergleichlich<br />

werthvoller als <strong>die</strong> bewußten: daraus eine<br />

Methodik…<br />

Aphorism n=12596 id='VIII.17[7]' kgw='VIII-3.326' ksa='13.528'<br />

Es handelt sich ganz und gar nicht um <strong>die</strong> beste oder <strong>die</strong><br />

schlechteste Welt: Nein oder Ja, das ist hier <strong>die</strong> Frage. Der<br />

nihilistische Instinkt sagt Nein; seine mil<strong>des</strong>te Behauptung ist,<br />

daß Nicht-sein besser ist als Sein, daß der Wille zum Nichts<br />

mehr Werth hat als der Wille zum Leben; seine strengste daß,<br />

wenn das Nichts <strong>die</strong> oberste Wünschbarkeit ist, <strong>die</strong>ses Leben, als<br />

Gegensatz dazu, absolut werthlos ist — verwerflich wird…<br />

Von solchen Werthschätzungen inspirirt, wird ein Denker<br />

unwillkurlich suchen, all <strong>die</strong> Dinge, denen er instinktiv<br />

noch Werth beimißt, zur Rechtfertigung einer nihilistischen<br />

Tendenz einzulegen. Das ist <strong>die</strong> große Falschmünzerei<br />

Schopenhauer's, der zu vielen Dingen mit tiefem Interesse<br />

gestellt war: aber der Geist <strong>des</strong> Nihilismus verbot ihm, <strong>die</strong>s<br />

zum Willen zum Leben zu rechnen: und so sehen wir denn eine<br />

Reihe feiner und beherzter Versuche, <strong>die</strong> Kunst, <strong>die</strong> Weisheit,<br />

<strong>die</strong> Schönheit in der Natur, <strong>die</strong> Religion, <strong>die</strong> Moral, das Genie<br />

Page Break KGW='VIII-3.327' KSA='13.529'<br />

wegen ihrer scheinbaren Lebensfeindlichkeit, als Verlangen ins<br />

Nichts zu Ehren zu bringen<br />

Aphorism n=12597 id='VIII.17[8]' kgw='VIII-3.327' ksa='13.529'<br />

Man hat neuerdings mit einem zufälligen und in jedem<br />

Betracht unzutreffenden Wort viel Mißbrauch getrieben: man<br />

redet überall von Pessimismus, man kämpft sonderlich, unter<br />

vernünftigen Leuten zuweilen, über eine Frage, auf <strong>die</strong> es


Antworten geben müsse, wer Recht habe, der Pessimismus oder der<br />

Optimismus. Man hat nicht begriffen, was doch mit Händen zu<br />

greifen: daß Pessimismus kein Problem, sondern ein Symptom<br />

ist, — daß der Name ersetzt werden müsse(1808) durch Nihilismus,<br />

— daß <strong>die</strong> Frage, ob Nicht-sein besser ist als Sein, selbst<br />

schon eine Krankheit, ein Niedergang, eine Idiosynkrasie ist…<br />

Die pessimistische Bewegung ist nur der Ausdruck einer<br />

physiologischen décadence; sie hat ihre zwei Centren an den Stellen,<br />

deren Himmel heute <strong>die</strong> Verfalls-Symptome am [ + + + ]<br />

Aphorism n=12598 id='VIII.17[9]' kgw='VIII-3.327' ksa='13.529'<br />

Zur Physiologie der Kunst.<br />

1. der Rausch als Voraussetzung: Ursachen <strong>des</strong> Rausches.<br />

2. typische Symptome <strong>des</strong> Rausches<br />

3. das Kraft- und Füllegefühl im Rausche: seine<br />

idealisirende Wirkung<br />

4. das thatsächliche Mehr von Kraft: seine thatsächliche<br />

Verschönerung. Erwägung: in wiefern unser Werth „schön“<br />

vollkommen anthropocentrisch ist: auf biologischen<br />

Voraussetzungen über Wachsthum und Fortschritt. Das Mehr von<br />

Kraft z.B. beim Tanz der Geschlechter. Das Krankhafte am<br />

Rausche; <strong>die</strong> physiologische Gefährlichkeit der Kunst —<br />

5. das Apollinische, das Dionysische… Grundtypen:<br />

umfänglicher, verglichen mit unseren Sonder-Künsten<br />

6. Frage: wohin <strong>die</strong> Architektur gehört<br />

Page Break KGW='VIII-3.328' KSA='13.530'<br />

7. <strong>die</strong> Mitarbeit der künstlerischen Vermögen am normalen<br />

Leben, ihre Übung tonisch: umgekehrt das Häßliche<br />

8. <strong>die</strong> Frage der Epidemie und der Contagiosität<br />

9. Problem der „Gesundheit“ und der „Hysterie“ —<br />

Genie = Neurose<br />

10. <strong>die</strong> Kunst als Suggestion, als Mittheilungs-Mittel, als<br />

Erfindungsbereich der induction psycho-motrice<br />

11. Die unkünstlerischen Zustände: Objektivität, Spiegelwuth,<br />

Neutralität. Der verarmte Wille; Verlust an Capital<br />

12. Die unkünstlerischen Zustände: Abstraktivität. Die<br />

verarmten Sinne.<br />

13. Die unkünstlerischen Zustände: Auszehrung, Verarmung,<br />

Ausleerung, — Wille zum Nichts. Christ, Buddhist, Nihilist.<br />

Der verarmte Leib.<br />

14. Die unkünstlerischen Zustände: Idiosynkrasie ( — <strong>die</strong><br />

der Schwachen, Mittleren). Die Furcht vor den<br />

Sinnen, vor der <strong>Macht</strong>, vor dem Rausch (Instinkt der<br />

Unterlegenen <strong>des</strong> Lebens)<br />

15. Wie ist tragische Kunst möglich?<br />

16. Der Typus <strong>des</strong> Romantikers: zweideutig. Ihre Consequenz


ist der „Naturalismus“…<br />

17. Problem <strong>des</strong> Schauspielers — <strong>die</strong> „Unehrlichkeit“,<br />

<strong>die</strong> typische Verwandlungskraft als Charakter-Fehler…<br />

der Mangel an Scham, der Hanswurst, der Satyr, der Buffo,<br />

der Gil Blas, der Schauspieler, der den Künstler spielt…<br />

18. Die Kunst als Rausch, medizinisch: Amnestie. tonicum<br />

ganze und partielle Impotenz<br />

Page Break KGW='VIII-3.329' KSA='13.531'<br />

[ 18 = Mp XVII 5. Mp XVI 4b. Juli — August 1888 ]<br />

Aphorism n=12599 id='VIII.18[1]' kgw='VIII-3.329' ksa='13.531'<br />

Aus der Kriegsschule der Seele.<br />

den Tapfern, den Frohgemuthen, den Enthaltsamen geweiht.<br />

ich möchte <strong>die</strong> liebenswürdigen Tugenden nicht unterschätzen;<br />

aber <strong>die</strong> Größe der Seele verträgt sich nicht mit ihnen.<br />

Auch in den Künsten schließt der große Stil das Gefällige aus.<br />

In Zeiten schmerzhafter Spannung und Verwundbarkeit<br />

wähle den Krieg: er härtet ab, er macht Muskeln.<br />

Die tief Verwundeten haben das olympische Lachen; man<br />

hat nur, was man nöthig hat.<br />

Es dauert zehn Jahre schon: kein Laut mehr erreicht<br />

mich — ein Land ohne Regen. Man muß viel Menschlichkeit<br />

übrig haben, um in der Dürre nicht zu verschmachten.<br />

Jeder Glaube hat den Instinkt der Lüge: er wehrt sich<br />

gegen jede Wahrheit, von der her seinem Willen, <strong>die</strong> „Wahrheit“<br />

zu besitzen, Gefahr droht — er macht <strong>die</strong> Augen zu, er<br />

verleumdet…<br />

Man hat einen Glauben weil er „selig macht“: man hält<br />

nicht für wahr, was uns nicht „selig macht“. Ein pudendum.<br />

Page Break KGW='VIII-3.332' KSA='13.532'<br />

Aphorism n=12600 id='VIII.18[2]' kgw='VIII-3.332' ksa='13.532'<br />

Theorie vom Mißbrauch der Logik als einem<br />

Realitäts-Kriterium. —


Aphorism n=12601 id='VIII.18[3]' kgw='VIII-3.332' ksa='13.532'<br />

Die Tschandala sind obenauf; voran <strong>die</strong> Juden. Die Juden<br />

sind im unsichern Europa <strong>die</strong> stärkste Rasse: denn sie sind dem<br />

Rest durch <strong>die</strong> Länge ihrer Entwicklung überlegen. Ihre<br />

Organisation setzt ein reicheres Werden, eine gefährlichere Laufbahn,<br />

eine größere Zahl von Stufen voraus, als alle andren Völker<br />

aufweisen können. Aber das ist beinahe eine Formel für<br />

Überlegenheit. — Eine Rasse, wie sonst irgend ein organisches<br />

Gebilde, kann nur wachsen oder zu Grunde gehn; es giebt keinen<br />

Stillstand. Eine Rasse, <strong>die</strong> nicht zu Grunde gegangen ist,<br />

ist eine Rasse, <strong>die</strong> immerfort gewachsen ist. Wachsen heißt<br />

vollkommen werden. Die Dauer im Dasein einer Rasse entscheidet<br />

mit Nothwendigkeit über <strong>die</strong> Höhe ihrer Entwicklung: <strong>die</strong><br />

älteste muß <strong>die</strong> höchste sein. — Die Juden sind im unbedingten<br />

Sinn gescheut; einem Juden zu begegnen kann eine Wohlthat<br />

sein. Man ist übrigens nicht ungestraft gescheut; man hat<br />

damit leicht <strong>die</strong> Andern gegen sich. Aber der große Vortheil<br />

bleibt doch den Gescheuten. — Ihre Gescheutheit hindert <strong>die</strong><br />

Juden, auf unsere Weise närrisch zu werden: zum Beispiel<br />

national. Es scheint, sie sind ehemals zu gut geimpft worden,<br />

ein wenig blutig selbst, und <strong>die</strong>s unter allen Nationen: sie<br />

verfallen nicht leicht mehr unsrer rabies, der rabies nationalis.<br />

Sie sind heute selbst ein antidoton gegen <strong>die</strong>se letzte Krankheit<br />

der europäischen Vernunft. — Die Juden allein haben im<br />

modernen Europa an <strong>die</strong> supremste Form der Geistigkeit gestreift:<br />

das ist <strong>die</strong> geniale Buffonerie. Mit Offenbach, mit Heinrich<br />

Heine ist <strong>die</strong> Potenz der europäischen Cultur wirklich überboten;<br />

in <strong>die</strong>ser Weise steht es den andren Rassen noch nicht frei,<br />

Geist zu haben. Das grenzt an Aristophanes, an Petronius, an<br />

Hafis. — Die älteste und späteste Cultur Europa's stellt jetzt<br />

Page Break KGW='VIII-3.333' KSA='13.533'<br />

ohne Zweifel Paris dar; l'esprit de Paris ist deren Quintessenz.<br />

Aber <strong>die</strong> verwöhntesten Pariser, solche wie <strong>die</strong> Goncourt, haben<br />

keinen Anstand genommen, in Heine eine der drei Spitzen <strong>des</strong><br />

esprit Parisien selbst zu erkennen: er theilt <strong>die</strong> Ehre mit dem<br />

prince de Ligne und dem Neapolitaner Galiani. — Heine hatte<br />

Geschmack genug, um <strong>die</strong> Deutschen nicht ernst nehmen zu können;<br />

dafür haben ihn <strong>die</strong> Deutschen ernst genommen, und Schumann<br />

hat ihn in Musik gesetzt — in Schumannsche Musik!<br />

„Du bist wie eine Blume“ singen alle höheren Jungfrauen. —<br />

Heute macht man Heine in Deutschland ein Verbrechen daraus,<br />

Geschmack gehabt zu haben — gelacht zu haben: <strong>die</strong> Deutschen<br />

selbst nämlich nehmen sich heute verzweifelt ernst. —


Aphorism n=12602 id='VIII.18[4]' kgw='VIII-3.333' ksa='13.533'<br />

Ich mißtraue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem<br />

Weg. Der Wille zum System ist, für uns Denker wenigstens,<br />

etwas, das compromittirt, eine Form unsrer Immoralität. —<br />

Vielleicht erräth man, bei einem Blick hinter <strong>die</strong>s Buch,<br />

welchem Systematiker ich selbst nur mit Mühe ausgewichen<br />

bin…<br />

Aphorism n=12603 id='VIII.18[5]' kgw='VIII-3.333' ksa='13.533'<br />

Ich habe den Deutschen das tiefste Buch gegeben, das sie<br />

besitzen, meinen Zarathustra, — ich gebe ihnen hiermit<br />

das unabhängigste. Wie? sagt mir dazu mein schlechtes Gewissen,<br />

du willst deine Perlen — vor <strong>die</strong> Deutschen werfen?…<br />

Aphorism n=12604 id='VIII.18[6]' kgw='VIII-3.333' ksa='13.533'<br />

Man ist um den Preis Künstler, daß man das, was alle<br />

Nichtkünstler Form nennen, als Inhalt, als <strong>die</strong> Sache selbst<br />

empfindet. Damit gehört man freilich in eine verkehrte Welt.<br />

Page Break KGW='VIII-3.334' KSA='13.534'<br />

Aphorism n=12605 id='VIII.18[7]' kgw='VIII-3.334' ksa='13.534'<br />

Man soll von sich nichts wollen, was man nicht kann.<br />

Man frage sich: willst du mitgehn? Oder vorangehn?<br />

Oder für dich gehn? — Im zweiten Fall will man Hirt<br />

sein: Hirt, das heißt oberster Nothbedarf einer Heerde.<br />

Aphorism n=12606 id='VIII.18[8]' kgw='VIII-3.334' ksa='13.534'<br />

— „Wenn wir uns, aus dem Instinkt der Gemeinschaft<br />

heraus, Vorschriften machen und gewisse Handlungen verbieten,<br />

so verbieten wir, wie es Vernunft hat, nicht eine Art zu<br />

„sein“, nicht eine „Gesinnung“, sondern nur eine gewisse Richtung<br />

und Nutzanwendung <strong>die</strong>ses „Seins“, <strong>die</strong>ser „Gesinnung“.<br />

Aber da kommt der Ideologe der Tugend, der Moralist und<br />

sagt „Gott sieht das Herz an! Was liegt daran, daß ihr euch<br />

bestimmten Handlungen enthaltet? Ihr seid darum nicht<br />

besser!“ — Antwort: wir wollen auch gar nicht besser sein,<br />

mein Herr Langohr und Tugendsam, wir sind sehr zufrieden


mit uns, — wir wollen uns nur nicht unter einander Schaden<br />

thun, und <strong>des</strong>halb verbieten wir gewisse Handlungen in einer<br />

gewissen Rücksicht, nämlich auf uns, während wir <strong>die</strong>selben<br />

Handlungen, vorausgesetzt, daß sie sich auf unsere Gegner —<br />

auf Sie zum Beispiel — beziehn, nicht genug zu ehren wissen.<br />

Wir erziehn unsere Kinder auf sie hin, wir züchten sie groß.<br />

Wären wir von jenem „gottwohlgefälligen“ Radikalismus, den<br />

uns Ihr heiliger Aberwitz anempfiehlt, wären wir Mondkälber<br />

genug, nicht nur Handlungen, sondern <strong>die</strong> Voraussetzung dazu,<br />

unsere „Gesinnung“ zu verbieten, so beschnitten wir uns an<br />

unseren Tugenden, an dem, was unsere Ehre, unseren Stolz<br />

ausmacht. Und damit nicht genug. Indem wir unsere „Gesinnung“<br />

abschafften, würden wir durchaus nicht „besser“ werden,<br />

— wir würden gar nicht mehr vorhanden sein, wir hätten uns<br />

selber damit abgeschafft… Sie sind bloß ein Nihilist…,<br />

Page Break KGW='VIII-3.335' KSA='13.535'<br />

Aphorism n=12607 id='VIII.18[9]' kgw='VIII-3.335' ksa='13.535'<br />

Die russische Musik bringt mit einer rührenden Einfalt <strong>die</strong><br />

Seele <strong>des</strong> moujik, <strong>des</strong> niederen Volks ans Licht. Nichts redet<br />

mehr zu Herzen als ihre heiteren Weisen, <strong>die</strong> allesamt traurige<br />

Weisen sind. Ich würde das Glück <strong>des</strong> ganzen Westens eintauschen<br />

gegen <strong>die</strong> russische Art, traurig zu sein. — Aber wie<br />

kommt es, daß <strong>die</strong> herrschenden Classen Rußlands nicht in<br />

seiner Musik vertreten sind? Genügt es zu sagen „böse Menschen<br />

haben keine Lieder“? —<br />

Aphorism n=12608 id='VIII.18[10]' kgw='VIII-3.335' ksa='13.535'<br />

Wo ist heute der Tiefstand der europäischen Cultur, ihr<br />

Sumpf? — Bei den Salutisten, bei den Antisemiten, bei den<br />

Spiritisten, bei den Anarchisten, bei den Bayreuthern. Das heißt,<br />

bei den fünf Spezialitäten <strong>des</strong> europäischen cant. Denn alle<br />

<strong>die</strong>se geben vor, sie allein seien jetzt <strong>die</strong> „höheren Menschen“…<br />

Aphorism n=12609 id='VIII.18[11]' kgw='VIII-3.335' ksa='13.535'<br />

Die Krankheit ist ein mächtiges stimulans. Nur muß man<br />

gesund genug für sie sein.<br />

Aphorism n=12610 id='VIII.18[12]' kgw='VIII-3.335' ksa='13.535'


Große Dinge verlangen, daß man von ihnen schweigt oder<br />

groß redet: groß, das heißt mit Unschuld, — cynisch.<br />

Aphorism n=12611 id='VIII.18[13]' kgw='VIII-3.335' ksa='13.535'<br />

Zu: der Wille zur Wahrheit<br />

1. Satz. Die leichtere Denkweise siegt über <strong>die</strong> schwierigere<br />

— als Dogma: simplex sigillum veri. — Dico: daß<br />

<strong>die</strong> Deutlichkeit etwas für Wahrheit ausweisen soll, ist<br />

eine vollkommene Kinderei…<br />

2. Satz. Die Lehre vom Sein, vom Ding, von lauter<br />

festen Einheiten ist hundert Mal leichter als <strong>die</strong><br />

Lehre vom Werden, von der Entwicklung<br />

Page Break KGW='VIII-3.336' KSA='13.536'<br />

3. Satz. Die Logik war als Erleichterung gemeint:<br />

als Ausdrucksmittel, — nicht als Wahrheit…<br />

Später wirkte sie als Wahrheit…<br />

Aphorism n=12612 id='VIII.18[14]' kgw='VIII-3.336' ksa='13.536'<br />

Die Metaphysiker<br />

Ich spreche vom größten Unglück der neueren<br />

Philosophie — von Kant…<br />

Hegel: etwas vom schwäbischen Gottvertrauen, vom<br />

kuhmäßigen Optimismus<br />

Kant: Weg zum „alten Spiel“: das haben Alle<br />

verstanden<br />

Aphorism n=12613 id='VIII.18[15]' kgw='VIII-3.336' ksa='13.536'<br />

Der grosse Mittag.<br />

Warum „Zarathustra“?<br />

Die große Selbstüberwindung der Moral<br />

Aphorism n=12614 id='VIII.18[16]' kgw='VIII-3.336' ksa='13.536'<br />

Zu: <strong>die</strong> Metaphysiker.<br />

Zur Psychologie der Metaphysik.<br />

Der Einfluß der Furchtsamkeit.<br />

Was am meisten gefürchtet worden ist, <strong>die</strong> Ursache


der mächtigsten Leiden (Herrschsucht, Wollust usw.),<br />

ist von den Menschen am feindseligsten behandelt worden und<br />

aus der „wahren“ Welt eliminirt. So haben sie <strong>die</strong> Affekte<br />

Schritt für Schritt weggestrichen, — Gott als Gegensatz<br />

<strong>des</strong> Bösen, d.h. <strong>die</strong> Realität in <strong>die</strong> Negation der<br />

Begierden und Affekte angesetzt (das heißt gerade<br />

in's Nichts.)<br />

Insgleichen ist <strong>die</strong> Unvernunft, das Willkürliche,<br />

Zufällige von ihnen gehaßt worden (als Ursache zahlloser<br />

physischer(1809) Leiden) Folglich negirten sie <strong>die</strong>s Element im<br />

Page Break KGW='VIII-3.337' KSA='13.537'<br />

An-sich-Seienden, faßten es als absolute „Vernünftigkeit“ und<br />

„Zweckmäßigkeit“.<br />

Insgleichen der Wechsel, <strong>die</strong> Vergänglichkeit gefürchtet:<br />

darin drückt sich eine gedrückte Seele aus, voller<br />

Mißtrauen und schlimmer Erfahrung (Fall Spinoza: eine umgekehrte<br />

Art Mensch würde <strong>die</strong>sen Wechsel zum Reiz rechnen)<br />

Eine mit Kraft überladene und spielende Art Wesen<br />

würde gerade <strong>die</strong> Affekte, <strong>die</strong> Unvernunft und den<br />

Wechsel in eudämonistischem Sinne gutheißen, sammt<br />

ihren Consequenzen, Gefahr, Contrast, Zu-Grunde-gehn usw.<br />

Aphorism n=12615 id='VIII.18[17]' kgw='VIII-3.337' ksa='13.537'<br />

Entwurf <strong>des</strong><br />

Plans zu:<br />

der Wille zur <strong>Macht</strong>.<br />

Versuch<br />

einer Umwerthung aller Werthe.<br />

— Sils Maria<br />

am letzten Sonntag <strong>des</strong><br />

Monat August 1888<br />

Wir Hyperboreer. — Grundsteinlegung <strong>des</strong> Problems.<br />

Erstes Buch: „was ist Wahrheit?“<br />

Erstes Capitel. Psychologie <strong>des</strong> Irrthums.<br />

Zweites Capitel. Werth von Wahrheit und Irrthum.<br />

Drittes Capitel. Der Wille zur Wahrheit (erst gerechtfertigt<br />

im Ja-Werth <strong>des</strong> Lebens<br />

Zweites Buch: Herkunft der Werthe.<br />

Erstes Capitel. Die Metaphysiker.<br />

Zweites Capitel. Die homines religiosi.<br />

Drittes Capitel. Die Guten und <strong>die</strong> Verbesserer.<br />

Page Break KGW='VIII-3.338' KSA='13.538'


Drittes Buch: Kampf der Werthe<br />

Erstes Capitel. Gedanken über das Christenthum.<br />

Zweites Capitel. Zur Physiologie der Kunst.<br />

Drittes Capitel. Zur Geschichte <strong>des</strong> europäischen Nihilismus.<br />

Psychologen-Kurzweil.<br />

Viertes Buch: Der grosse Mittag.<br />

Erstes Capitel. Das Princip <strong>des</strong> Lebens „Rangordnung“.<br />

Zweites Capitel. Die zwei Wege.<br />

Drittes Capitel. Die ewige Wiederkunft.<br />

Page Break KGW='VIII-3.339' KSA='13.539'<br />

[ 19 = Mp XVII 6. Mp XVI 4c. W II 9b. W II 6b. September 1888 ]<br />

Aphorism n=12616 id='VIII.19[1]' kgw='VIII-3.339' ksa='13.539'<br />

1.(1810)<br />

Man fragt mich oft, warum ich eigentlich(1811) meine Bücher<br />

deutsch schriebe? Meine Antwort darauf ist immer <strong>die</strong> gleiche:<br />

ich liebe <strong>die</strong> Deutschen, — Jeder hat seine kleine Unvernunft.<br />

Was macht es mir, wenn <strong>die</strong> Deutschen mich nicht lesen? Um so<br />

mehr bemühe ich mich noch darum, ihnen gerecht zu sein.<br />

— Und, wer weiß? vielleicht lesen sie mich übermorgen.<br />

2.<br />

Das neue Deutschland stellt ein großes Quantum vererbter<br />

und angeschulter Tüchtigkeit dar: so daß es den aufgehäuften<br />

Schatz von Kraft eine Zeitlang selbst verschwenderisch<br />

ausgeben darf. Es ist nicht eine hohe Cultur, <strong>die</strong> mit ihm Herr<br />

geworden, noch weniger ein delikater Geschmack, eine<br />

vornehme „Schönheit“ der Instinkte; aber männlichere<br />

Tugenden, als sonst ein Land Europa's aufweisen kann. Viel<br />

guter Muth und Achtung vor sich selber, viel Sicherheit im<br />

Verkehr, in der Gegenseitigkeit der Pflichten, viel Arbeitsamkeit,<br />

viel Ausdauer — und eine angeerbte Mäßigung, welche<br />

eher <strong>des</strong> Stachels als <strong>des</strong> Hemmschuh's bedarf. Ich füge hinzu,<br />

daß hier noch gehorcht wird, ohne daß das Gehorchen demüthigt…<br />

Und Niemand verachtet seinen Gegner…<br />

Page Break KGW='VIII-3.342' KSA='13.540'<br />

3.<br />

Nachdem ich auf <strong>die</strong>se Weise den Deutschen gerecht geworden<br />

— denn ich liebe sie, trotzalledem — habe ich keinen Grund<br />

mehr, ihnen meinen Einwand vorzuenthalten. Sie waren einst


das „Volk der Denker“: denken sie heute überhaupt<br />

noch? — Sie haben keine Zeit mehr dafür… Deutscher<br />

„Geist“ — ich fürchte, das ist eine contradictio in adjecto.<br />

— Sie werden langweilig, sie sind es vielleicht, <strong>die</strong> große<br />

Politik verschlingt den Ernst für alle wirklich großen Dinge —,<br />

„Deutschland, Deutschland über alles“ — ein kostspieliges, aber<br />

nicht ein philosophisches Princip. — „Giebt es deutsche<br />

Philosophen? Giebt es deutsche Dichter? Giebt es gute deutsche<br />

Bücher?“ — so fragt man mich im Ausland. Ich erröthe,<br />

aber mit der Tapferkeit, <strong>die</strong> mir auch in verzweifelten Fällen<br />

zu eigen ist, antworte ich: „Ja! Bismarck!“… Sollte ich<br />

eingestehn, welche Bücher man jetzt liest? — Dahn? Ebers?<br />

Ferdinand Meyer? — Ich habe Universitäts-Professoren <strong>die</strong>sen<br />

bescheidenen Bieder-Meyer auf Unkosten Gottfried Kellers<br />

loben hören. Vermaledeiter Instinkt der Mediokrität!<br />

4.<br />

Ich gestatte mir noch eine Erheiterung. Ich erzähle,(1812) was ein<br />

kleines Buch mir erzählt hat, als es von seiner ersten Reise nach<br />

Deutschland zu mir zurückkam. Dasselbe heißt: Jenseits von<br />

Gut und Böse, — es war unter uns gesagt, das Vorspiel zu<br />

eben dem Werke, das man hier in den Händen hat. Das kleine<br />

Buch sagte zu mir: „ich weiß ganz gut, was mein Fehler ist,<br />

ich bin zu neu, zu reich, zu leidenschaftlich, — ich störe <strong>die</strong><br />

Nachtruhe. Es giebt Worte in mir, <strong>die</strong> einem Gott noch das Herz<br />

zerreißen, ich bin ein Rendez-vous von Erfahrungen, <strong>die</strong> man<br />

nur 6000 Fuß über jedem menschlichen Dunstkreis macht. —<br />

Grund genug, daß <strong>die</strong> Deutschen mich verstanden…“<br />

Aber, antwortete ich, mein armes Buch, wie konntest du auch<br />

Page Break KGW='VIII-3.343' KSA='13.541'<br />

deine Perlen — vor <strong>die</strong> Deutschen werfen? Es war eine Dummheit!<br />

— Und nun erzählte mir das Buch, was ihm begegnet sei.<br />

5.<br />

In der That, man hat sich seit 1871 nur zu gründlich in<br />

Deutschland über mich unterrichtet: der Fall bewies es. Ich<br />

wundere mich nicht, wenn man meinen Zarathustra nicht<br />

versteht, ich sehe keinen Vorwurf darin: ein Buch so tief, so fremd,<br />

daß sechs Sätze daraus verstanden, das heißt erlebt haben,<br />

in eine höhere Ordnung der Sterblichen erhebt. Aber jenes<br />

„Jenseits“ nicht zu verstehn — das bewundere ich beinahe… Ein<br />

Referent der Nationalzeitung verstand das Buch als Zeichen<br />

der Zeit, als echte rechte Junker-Philosophie, zu der es der<br />

Kreuzzeitung nur an Muth gebreche. Ein kleines Licht der Berliner<br />

Universität erklärte in der „Rundschau“, offenbar in Rücksicht<br />

auf seine eigne Erleuchtung, das Buch für psychiatrisch und citirte<br />

sogar Stellen dafür: Stellen, <strong>die</strong> das Unglück hatten, Etwas zu<br />

beweisen. — Ein Hamburger Blatt erkannte in mir den alten<br />

Hegelianer. Das litterarische Centralblatt gestand ein, „den


Faden“ für mich verloren zu haben (wann hat es ihn gehabt? — )<br />

und citirte, zur Begründung, ein paar Worte über den „Süden in<br />

der Musik“: als ob eine Musik, <strong>die</strong> nicht in Leipziger Ohren geht,<br />

damit aufhöre, Musik zu sein. Es bleibt dennoch wahr, was ich<br />

dort im Princip bekenne: il faut méditerraniser la musique. —<br />

Eine theologische Unschuld gab mir zu verstehn, mir liege gar<br />

nichts an der Logik, sondern einzig an „schönem Stile“: wie<br />

könne man ernst nehmen, was ich selbst so wenig ernst nähme? —<br />

Dies Alles mag noch hingehn: aber ich habe Fälle erlebt, wo das<br />

„Verständniß“ das Maaß <strong>des</strong> Menschlichen überschritt und an's<br />

Thierische streifte. Ein Schweizer Redakteur, vom „Bund“, wußte<br />

dem Studium <strong>des</strong> genannten Werks nichts Anderes zu entnehmen<br />

als daß ich mit demselben <strong>die</strong> Abschaffung aller anständigen<br />

Gefühle beantragte: man sieht er hatte sich bei den Worten<br />

„Jenseits von Gut und Böse“ wirklich Etwas gedacht…<br />

Page Break KGW='VIII-3.344' KSA='13.542'<br />

Aber einem solchen Falle war meine Humanität noch immer<br />

gewachsen. Ich dankte ihm dafür, ich gab ihm selbst zu<br />

verstehn, Niemand habe mich besser verstanden — er hat's<br />

geglaubt… Ein Jahr darauf behandelte dasselbe Blatt meinen<br />

Zarathustra als höhere Stilübung, mit geistreichen Winken über<br />

<strong>die</strong> Unvollkommenheit meines Stils —<br />

— und ich hatte mein Vergnügen an dem Allen: warum<br />

sollte ich's verschweigen? Man ist nicht umsonst Einsiedler.<br />

Das Gebirge ist ein stummer Nachbar, es vergehen Jahre, ohne<br />

daß Einen ein Wort erreichte(1813). Aber der Anblick <strong>des</strong> Lebenden<br />

erquickt: man läßt endlich alle Kindlein zu sich kommen,<br />

man streichelt(1814) jede Art Gethier noch, selbst wenn es<br />

Hörner hat. (Ich rede eine Kuh immer mit „mein Fräulein“ an:<br />

das schmeichelt ihrem alten Herzen.) Nur der Einsiedler kennt<br />

<strong>die</strong> große Toleranz. Die Liebe zu den Thieren — zu<br />

allen Zeiten hat man <strong>die</strong> Einsiedler daran erkannt…<br />

Aphorism n=12617 id='VIII.19[2]' kgw='VIII-3.344' ksa='13.542'<br />

Umwerthung aller Werthe.<br />

Von<br />

Friedrich Nietzsche.<br />

Aphorism n=12618 id='VIII.19[3]' kgw='VIII-3.344' ksa='13.542'<br />

Gedanken für Übermorgen.<br />

Auszug meiner Philosophie


Weisheit für Übermorgen<br />

Meine Philosophie<br />

im Auszug.<br />

Magnum in parvo.<br />

Eine Philosophie<br />

im Auszug.<br />

Page Break KGW='VIII-3.345' KSA='13.543'<br />

Aphorism n=12619 id='VIII.19[4]' kgw='VIII-3.345' ksa='13.543'<br />

1. Wir Hyperboreer.<br />

2. Das Problem <strong>des</strong> Sokrates.<br />

3. Die Vernunft in der Philosophie.<br />

4. Wie <strong>die</strong> wahre Welt endlich zur Fabel wurde(1815)<br />

5. Moral als Widernatur.<br />

6. Die vier großen Irrthümer.<br />

7. Für uns — wider uns.<br />

8. Begriff einer Décadence-Religion.<br />

9. Buddhismus und Christenthum.<br />

10. Aus meiner Aesthetik.<br />

11. Unter Künstlern und Schriftstellern.<br />

12. Sprüche und Pfeile.<br />

Aphorism n=12620 id='VIII.19[5]' kgw='VIII-3.345' ksa='13.543'<br />

Multum in parvo.<br />

Meine Philosophie<br />

im Auszug.<br />

Von<br />

Friedrich Nietzsche<br />

Aphorism n=12621 id='VIII.19[6]' kgw='VIII-3.345' ksa='13.543'<br />

Müssiggang<br />

eines Psychologen.<br />

Von<br />

Friedrich Nietzsche.<br />

Aphorism n=12622 id='VIII.19[7]' kgw='VIII-3.345' ksa='13.543'<br />

[+++] Es giebt Worte in mir, <strong>die</strong> einem Gotte noch das


Herz zerreißen, ich bin ein Rendez-vous von Erfahrungen, <strong>die</strong><br />

man nur 6000 Fuß über jedem menschlichen Dunstkreis macht:<br />

Grund genug, daß <strong>die</strong> Deutschen mich verstanden…“ Aber,<br />

antwortete ich, mein armes Buch, wie konntest du auch deine<br />

Perlen — vor <strong>die</strong> Deutschen werfen! Es war eine Dummheit! —<br />

Und nun erzählte mir das kleine Buch, was ihm begegnet war.<br />

Page Break KGW='VIII-3.346' KSA='13.544'<br />

In der That, man hat sich seit 1871 nur zu gründlich in<br />

Deutschland über mich unterrichtet: der Fall bewies es. Ich<br />

wundere mich nicht, wenn man meinen Zarathustra nicht<br />

versteht: ein Buch so fern, so schön, daß man Götterblut in den<br />

Adern haben muß, um seine Vogelstimme zu hören. Aber jenes<br />

„Jenseits“ nicht zu verstehn — das bewundere ich beinahe. Man<br />

versteht es überall, am besten in Frankreich. — Ein Referent<br />

der Nationalzeitung nahm das Buch als Zeichen der Zeit, als <strong>die</strong><br />

echte, rechte Junker-Philosophie, zu der es der Kreuzzeitung<br />

nur an Muth gebreche. Ein kleines Licht der Berliner Universität<br />

erklärte, in der „Rundschau“, offenbar in Rücksicht auf<br />

seine eigne Erleuchtung, das Buch für psychiatrisch und citirte<br />

sogar Stellen dafür, Stellen, <strong>die</strong> das Unglück hatten, Etwas zu<br />

beweisen. — Ein Hamburger Blatt erkannte in mir den alten<br />

Hegelianer. Das litterarische Centralblatt gestand ein, „den<br />

Faden“ für mich verloren zu haben (wann hat es ihn gehabt? — )<br />

und citirte, zur Begründung, ein paar Worte über den „Süden<br />

in der Musik“: als ob eine Musik, <strong>die</strong> nicht in Leipziger Ohren<br />

geht, damit aufhörte, Musik zu sein! Es bleibt dennoch wahr,<br />

was ich dort im Princip bekenne: il faut méditerraniser la<br />

musique. — Eine theologische Unschuld gab mir zu verstehn,<br />

mir liege gar nichts an der Logik, sondern einzig an „schönem<br />

Stile“: wie könne man ernst nehmen, was ich selbst so wenig<br />

ernst nähme? — Dies Alles mag noch hingehn. Aber ich habe<br />

Fälle erlebt, wo das Verständniß das Maaß <strong>des</strong> Menschlichen<br />

überschritt und an's Thierische streifte. Ein Schweizer Redakteur,<br />

vom „Bund“, wußte dem genannten Werke nichts Anderes<br />

zu entnehmen, als daß ich mit demselben <strong>die</strong> Abschaffung aller<br />

anständigen Gefühle beantragte: man sieht, er hatte sich bei den<br />

Worten „jenseits von Gut und Böse“ wirklich Etwas<br />

gedacht… Aber einem solchen Falle war meine Humanität<br />

noch immer gewachsen. Ich dankte ihm dafür, ich gab ihm selbst<br />

zu verstehn, Niemand habe mich besser verstanden, — er hat's<br />

geglaubt… Ein Jahr darauf behandelte dasselbe Blatt meinen<br />

Page Break KGW='VIII-3.347' KSA='13.545'<br />

Zarathustra, das tiefste Buch der Menschheit, als höhere<br />

Stilübung, mit geistreichen Winken über <strong>die</strong> Unvollkommenheit<br />

meines Stils…<br />

— Und ich hatte mein Vergnügen an dem Allen: was<br />

sollte ich's verschweigen? Man ist nicht umsonst Einsiedler.


Das Gebirge ist ein stummer Nachbar, es vergehen Jahre, ohne<br />

daß Einen ein Laut erreichte. Aber der Anblick <strong>des</strong> Lebenden<br />

erquickt: man läßt endlich alle „Kindlein“ zu sich kommen,<br />

man streichelt jede Art Gethier noch, selbst wenn es Hörner<br />

hat. Nur der Einsiedler kennt <strong>die</strong> große Toleranz. Die<br />

Liebe zu den Thieren — zu allen Zeiten hat man <strong>die</strong><br />

Einsiedler daran erkannt…<br />

Sils-Maria, Oberengadin,<br />

Anfang September 1888.<br />

Aphorism n=12623 id='VIII.19[8]' kgw='VIII-3.347' ksa='13.545'<br />

Umwerthung aller Werthe.<br />

Erstes Buch.<br />

Der Antichrist. Versuch einer Kritik <strong>des</strong> Christenthums.<br />

Zweites Buch.<br />

Der freie Geist. Kritik der Philosophie als einer<br />

nihilistischen Bewegung.<br />

Drittes Buch.<br />

Der Immoralist. Kritik der verhängnissvollsten Art von<br />

Unwissenheit, der Moral.<br />

Viertes Buch.<br />

Dionysos. Philosophie der ewigen Wiederkunft.<br />

Page Break KGW='VIII-3.348' KSA='13.546'<br />

Aphorism n=12624 id='VIII.19[9]' kgw='VIII-3.348' ksa='13.546'<br />

Der Immoralist<br />

Psychologie der Irrthümer, auf denen <strong>die</strong> Moral ruht<br />

1) Verwechslung von Ursache und Wirkung<br />

2) imaginäre Ursachen für physiologische Allgemeingefühle<br />

3) <strong>die</strong> Willens-Causalität als der eigne „freie Wille“<br />

4) der Mensch strebt nach Lust und meidet <strong>die</strong> Unlust<br />

(„alles Böse unfreiwillig“)<br />

5) Egoismus und Unegoismus (falsche Gegensätze)<br />

falsche Psychologie der „Hingebung“ „Aufopferung“<br />

„Liebe“<br />

Psychologie der Mittel, mit denen <strong>die</strong> Moral zur Herrschaft<br />

kommt, <strong>die</strong> pia fraus.


Aphorism n=12625 id='VIII.19[10]' kgw='VIII-3.348' ksa='13.546'<br />

In der Geschichte der Cultur ist das „Reich“ einstweilen ein<br />

Unglück: Europa ist ärmer geworden, seitdem der deutsche<br />

Geist endgültig auf „Geist“ verzichtet hat. — Man weiß Etwas<br />

davon im Auslande: möchten sich <strong>die</strong> Deutschen hierüber nicht<br />

belügen! Man fragt: Habt ihr einen einzigen in Betracht<br />

kommenden Geist? Oder auch nur einen Dreiviertels-Geist?… Daß<br />

es keine deutschen Philosophen giebt, ist ein Ende ersten Ranges.<br />

Niemand ist so unbillig, es den Deutschen zuzurechnen, wenn<br />

geschwätzige Nullen, wie der Unbewußte, Herr E. von Hartmann,<br />

oder ein gift- und gallsüchtiges Gesindel, wie der Berliner<br />

Antisemit Herr E. Dühring, das Wort Philosoph mißbrauchen<br />

— der letztere findet keinen anständigen Menschen unter<br />

seinem Anhang, der erstere keinen anständigen „Verstand“.<br />

Aphorism n=12626 id='VIII.19[11]' kgw='VIII-3.348' ksa='13.546'<br />

Der Staat nimmt in Anspruch, über <strong>die</strong> Fragen der Cultur<br />

mit zu reden und selbst zu entscheiden: als ob nicht der Staat<br />

Page Break KGW='VIII-3.349' KSA='13.547'<br />

nur ein Mittel, ein sehr untergeordnetes Mittel der Cultur<br />

wäre!… „Ein deutsches Reich“ — wie viel „deutsche Reiche“<br />

rechnete man auf einen Goethe!… Alle großen Zeiten der<br />

Cultur waren politisch arme Zeiten: —<br />

Page Break KGW='VIII-3.350' KSA='13.548'<br />

Page Break KGW='VIII-3.351' KSA='13.549'<br />

[ 20 = W II 10a. Sommer 1888 ]<br />

Aphorism n=12627 id='VIII.20[1]' kgw='VIII-3.351' ksa='13.549'<br />

Das eherne Schweigen —<br />

Fünf Ohren — und kein Ton darin!<br />

Die Welt ward stumm…<br />

Ich horchte mit den Ohren meiner Neugierde<br />

Fünf Mal warf ich <strong>die</strong> Angel über mich,<br />

Fünf Mal zog ich keinen Fisch herauf —


Ich fragte — keine Antwort lief mir ins Netz —<br />

Ich horchte mit dem Ohr meiner Liebe<br />

Aphorism n=12628 id='VIII.20[2]' kgw='VIII-3.351' ksa='13.549'<br />

Du liefst zu rasch:<br />

jetzt erst, wo du müde bist,<br />

holt dein Glück dich ein.<br />

Aphorism n=12629 id='VIII.20[3]' kgw='VIII-3.351' ksa='13.549'<br />

eine verschneite Seele, der<br />

ein Thauwind zuredet<br />

Aphorism n=12630 id='VIII.20[4]' kgw='VIII-3.351' ksa='13.549'<br />

ein glitzernder tanzender Bach, den<br />

ein krummes Bett<br />

Page Break KGW='VIII-3.354' KSA='13.550'<br />

von Felsen einfieng:<br />

zwischen schwarzen Steinen<br />

glänzt und zuckt seine Ungeduld.<br />

Aphorism n=12631 id='VIII.20[5]' kgw='VIII-3.354' ksa='13.550'<br />

Den Verwegnen<br />

hüte dich zu warnen!<br />

Um der Warnung willen<br />

läuft er in jeden Abgrund noch.<br />

Aphorism n=12632 id='VIII.20[6]' kgw='VIII-3.354' ksa='13.550'<br />

Gut verfolgt,<br />

schlecht erwischt<br />

Aphorism n=12633 id='VIII.20[7]' kgw='VIII-3.354' ksa='13.550'


krumm gehn große Menschen und Ströme,<br />

krumm, aber zu ihrem Ziele:<br />

das ist ihr bester Muth,<br />

sie fürchten sich vor krummen Wegen nicht.<br />

Aphorism n=12634 id='VIII.20[8]' kgw='VIII-3.354' ksa='13.550'<br />

Ziegen, Gänse und andere<br />

Kreuzfahrer und was sonst je<br />

der heilige Geist<br />

geführt hat<br />

Aphorism n=12635 id='VIII.20[9]' kgw='VIII-3.354' ksa='13.550'<br />

sind <strong>die</strong>s Stelzen?<br />

oder sind's <strong>des</strong> Stolzes starke Füße?<br />

Aphorism n=12636 id='VIII.20[10]' kgw='VIII-3.354' ksa='13.550'<br />

geknickt und knechtisch,<br />

anbrüchig, anrüchig<br />

Page Break KGW='VIII-3.355' KSA='13.551'<br />

Aphorism n=12637 id='VIII.20[11]' kgw='VIII-3.355' ksa='13.551'<br />

unter euch bin ich immer<br />

wie Oel unter Wasser:<br />

immer obenauf<br />

Aphorism n=12638 id='VIII.20[12]' kgw='VIII-3.355' ksa='13.551'<br />

ein Saufladen neben jedem Kaufladen<br />

Aphorism n=12639 id='VIII.20[13]' kgw='VIII-3.355' ksa='13.551'<br />

Seines To<strong>des</strong> ist man gewiß:<br />

warum wollte man nicht heiter sein?


Aphorism n=12640 id='VIII.20[14]' kgw='VIII-3.355' ksa='13.551'<br />

schlecht mit sich selber<br />

verheirathet, unfriedlich,<br />

sein eigner Hausdrache<br />

Aphorism n=12641 id='VIII.20[15]' kgw='VIII-3.355' ksa='13.551'<br />

der Himmel steht in Flammen, das Meer<br />

speit nach uns<br />

Aphorism n=12642 id='VIII.20[16]' kgw='VIII-3.355' ksa='13.551'<br />

das Meer fletscht <strong>die</strong> Zähne<br />

gegen dich.<br />

Aphorism n=12643 id='VIII.20[17]' kgw='VIII-3.355' ksa='13.551'<br />

euer Gott, sagt ihr mir,<br />

ist ein Gott der Liebe?<br />

der Gewissensbiß<br />

ist ein Gottesbiß,<br />

ein Biß aus Liebe?<br />

Aphorism n=12644 id='VIII.20[18]' kgw='VIII-3.355' ksa='13.551'<br />

unterhalb meines Gipfels<br />

Page Break KGW='VIII-3.356' KSA='13.552'<br />

und meines Eises<br />

noch von allen Gürteln<br />

der Liebe umgürtet<br />

Aphorism n=12645 id='VIII.20[19]' kgw='VIII-3.356' ksa='13.552'<br />

wem ziemt <strong>die</strong> Schönheit?<br />

dem Manne nicht:


den Mann versteckt <strong>die</strong> Schönheit, —<br />

aber wenig taugt ein versteckter Mann.<br />

Tritt frei herfür, — — —<br />

Aphorism n=12646 id='VIII.20[20]' kgw='VIII-3.356' ksa='13.552'<br />

du mußt wieder ins Gedränge:<br />

im Gedränge wird man glatt und hart.<br />

Die Einsamkeit mürbt…<br />

<strong>die</strong> Einsamkeit verdirbt…<br />

Aphorism n=12647 id='VIII.20[21]' kgw='VIII-3.356' ksa='13.552'<br />

verkennt ihn nicht!<br />

Wohl lacht er<br />

wie ein Blitz:<br />

aber hinterdrein<br />

grollt zornig sein langer Donner.<br />

Aphorism n=12648 id='VIII.20[22]' kgw='VIII-3.356' ksa='13.552'<br />

schon ahmt er sich selber nach,<br />

schon ward er müde,<br />

schon sucht er <strong>die</strong> Wege, <strong>die</strong> er gieng —<br />

und jüngst noch liebte er alles Unbegangne!<br />

Aphorism n=12649 id='VIII.20[23]' kgw='VIII-3.356' ksa='13.552'<br />

meine Weisheit that der Sonne gleich:<br />

ich wollte ihnen Licht sein,<br />

aber ich habe sie geblendet;<br />

Page Break KGW='VIII-3.<strong>357</strong>' KSA='13.553'<br />

<strong>die</strong> Sonne meiner Weisheit stach<br />

<strong>die</strong>sen Fledermäusen<br />

<strong>die</strong> Augen aus…<br />

Aphorism n=12650 id='VIII.20[24]' kgw='VIII-3.<strong>357</strong>' ksa='13.553'<br />

sein Mitleid ist hart,


sein Liebesdruck zerdrückt:<br />

gebt einem Riesen nicht <strong>die</strong> Hand!<br />

Aphorism n=12651 id='VIII.20[25]' kgw='VIII-3.<strong>357</strong>' ksa='13.553'<br />

so ist's jetzt mein Wille:<br />

und seit das mein Wille ist,<br />

geht Alles mir auch nach Wunsche —<br />

Dies war meine letzte Klugheit:<br />

ich wollte das, was ich muß:<br />

damit zwang ich mir je<strong>des</strong> „Muß“…<br />

seitdem giebt es für mich kein „Muß“…<br />

Aphorism n=12652 id='VIII.20[26]' kgw='VIII-3.<strong>357</strong>' ksa='13.553'<br />

Hochmüthig gegen kleine<br />

Vortheile: wo ich der Krämer<br />

lange Finger sehe,<br />

Da gelüstet's mich sofort,<br />

den Kürzeren zu ziehn:<br />

so wills mein spröder Geschmack von mir.<br />

Aphorism n=12653 id='VIII.20[27]' kgw='VIII-3.<strong>357</strong>' ksa='13.553'<br />

kleine Leute,<br />

zutraulich, offenherzig,<br />

aber niedere Thüren:<br />

nur Niedriges tritt durch sie ein.<br />

Aphorism n=12654 id='VIII.20[28]' kgw='VIII-3.<strong>357</strong>' ksa='13.553'<br />

willst du bloß der Affe<br />

deines Gottes sein?<br />

Page Break KGW='VIII-3.<strong>358</strong>' KSA='13.554'<br />

Aphorism n=12655 id='VIII.20[29]' kgw='VIII-3.<strong>358</strong>' ksa='13.554'<br />

deine großen Gedanken,<br />

<strong>die</strong> aus dem Herzen kommen,<br />

und alle deine kleinen


— sie kommen aus dem Kopfe —<br />

sind sie nicht alle schlecht gedacht?<br />

Aphorism n=12656 id='VIII.20[30]' kgw='VIII-3.<strong>358</strong>' ksa='13.554'<br />

hüte dich,<br />

sei nicht der Paukenschläger<br />

deines Schicksals!<br />

gehe aus dem Weg<br />

allen Bumbums <strong>des</strong> Ruhmes!<br />

Aphorism n=12657 id='VIII.20[31]' kgw='VIII-3.<strong>358</strong>' ksa='13.554'<br />

willst du sie fangen?<br />

rede ihnen zu,<br />

als verirrten Schafen:<br />

„euren Weg, oh euren Weg<br />

ihr habt ihn verloren“<br />

Sie folgen Jedem nach,<br />

der so ihnen schmeichelt.<br />

„Wie? hatten wir einen Weg?<br />

reden sie zu sich heimlich:<br />

es scheint wirklich, wir haben einen Weg!“<br />

Aphorism n=12658 id='VIII.20[32]' kgw='VIII-3.<strong>358</strong>' ksa='13.554'<br />

zürnt mir nicht, daß ich schlief:<br />

ich war nur müde, ich war nicht todt.<br />

Meine Stimme klang böse;<br />

aber bloß Schnarchen und Schnaufen<br />

war's, der Gesang eines Müden:<br />

kein Willkomm dem Tode,<br />

keine Grabes-Lockung.<br />

Page Break KGW='VIII-3.359' KSA='13.555'<br />

Aphorism n=12659 id='VIII.20[33]' kgw='VIII-3.359' ksa='13.555'<br />

unbehülflich wie ein Leichnam,<br />

im Leben schon todt, vergraben


Aphorism n=12660 id='VIII.20[34]' kgw='VIII-3.359' ksa='13.555'<br />

strecke <strong>die</strong> Hand aus nach kleinen Zufällen,<br />

sei lieblich gegen das Unwillkommene:<br />

Gegen sein Schicksal soll man nicht stachlicht sein,<br />

man sei denn ein Igel.<br />

Aphorism n=12661 id='VIII.20[35]' kgw='VIII-3.359' ksa='13.555'<br />

Steigt ihr,<br />

ist es wahr, daß ihr steigt,<br />

ihr höheren Menschen?<br />

Werdet ihr nicht, verzeiht,<br />

dem Balle gleich<br />

in <strong>die</strong> Höhe gedrückt<br />

— durch euer Niedrigstes?…<br />

flieht ihr nicht vor euch, ihr Steigenden?…<br />

Aphorism n=12662 id='VIII.20[36]' kgw='VIII-3.359' ksa='13.555'<br />

mit erdrosseltem Ehrgeize:<br />

unter solchen gelüstet's mich,<br />

der Letzte zu sein —<br />

Aphorism n=12663 id='VIII.20[37]' kgw='VIII-3.359' ksa='13.555'<br />

dem Gottesmörder<br />

dem Verführer der Reinsten<br />

dem Freund <strong>des</strong> Bösen?<br />

Aphorism n=12664 id='VIII.20[38]' kgw='VIII-3.359' ksa='13.555'<br />

rechtschaffen steht er da,<br />

mit mehr Sinn für das Rechte<br />

in seiner linksten Zehe<br />

Page Break KGW='VIII-3.360' KSA='13.556'<br />

als mir im ganzen Kopfe sitzt:<br />

ein Tugend-Unthier,<br />

weißbemäntelt


Aphorism n=12665 id='VIII.20[39]' kgw='VIII-3.360' ksa='13.556'<br />

was hilft's! sein Herz<br />

ist eng und all sein Geist<br />

ist in <strong>die</strong>sen engen Käfig<br />

eingefangen, eingeklemmt<br />

Aphorism n=12666 id='VIII.20[40]' kgw='VIII-3.360' ksa='13.556'<br />

ihr steifen Weisen,<br />

mir ward Alles Spiel<br />

Aphorism n=12667 id='VIII.20[41]' kgw='VIII-3.360' ksa='13.556'<br />

liebe ich euch?…<br />

So liebt der Reiter sein Pferd:<br />

es trägt ihn zu seinem Ziele.<br />

Aphorism n=12668 id='VIII.20[42]' kgw='VIII-3.360' ksa='13.556'<br />

enge Seelen,<br />

Krämerseelen!<br />

Wenn das Geld in den Kasten springt,<br />

springt <strong>die</strong> Seele immer mit hinein!<br />

Aphorism n=12669 id='VIII.20[43]' kgw='VIII-3.360' ksa='13.556'<br />

du hältst es nicht mehr aus,<br />

dein herrisches Schicksal?<br />

Liebe es, es bleibt dir keine Wahl!<br />

Aphorism n=12670 id='VIII.20[44]' kgw='VIII-3.360' ksa='13.556'<br />

der Wille erlöst.<br />

Wer nichts zu thun hat, dem macht<br />

ein Nichts zu schaffen.<br />

Page Break KGW='VIII-3.361' KSA='13.557'


Aphorism n=12671 id='VIII.20[45]' kgw='VIII-3.361' ksa='13.557'<br />

<strong>die</strong> Einsamkeit<br />

Pflanzt nicht: sie reift…<br />

Und dazu noch mußt du <strong>die</strong> Sonne zur Freundin haben<br />

Aphorism n=12672 id='VIII.20[46]' kgw='VIII-3.361' ksa='13.557'<br />

Wirf dein Schweres in <strong>die</strong> Tiefe!<br />

Mensch, vergiß! Mensch vergiß!<br />

Göttlich ist <strong>des</strong> Vergessens Kunst!<br />

Willst du fliegen,<br />

willst du in Höhen heimisch sein:<br />

wirf dein Schwerstes in das Meer!<br />

Hier ist das Meer, wirf dich ins Meer!<br />

Göttlich ist <strong>des</strong> Vergessens Kunst!<br />

Aphorism n=12673 id='VIII.20[47]' kgw='VIII-3.361' ksa='13.557'<br />

<strong>die</strong> Hexe.<br />

wir dachten übel von einander?…<br />

wir waren uns zu fern.<br />

Aber nun, in <strong>die</strong>ser kleinsten Hütte, angepflockt an Ein Schicksal,<br />

wie sollten wir noch uns feind sein?<br />

man muß sich schon lieben, wenn man sich nicht entlaufen kann<br />

Aphorism n=12674 id='VIII.20[48]' kgw='VIII-3.361' ksa='13.557'<br />

Die Wahrheit —<br />

ein Weib, nichts(1816) Besseres:<br />

arglistig in ihrer Scham:<br />

was sie am liebsten möchte,<br />

sie will's nicht wissen,<br />

sie hält <strong>die</strong> Finger vor…<br />

Wem giebt sie nach? Der Gewalt allein! —<br />

So braucht Gewalt,<br />

seid hart, ihr Weisesten!<br />

ihr müßt sie zwingen<br />

Page Break KGW='VIII-3.362' KSA='13.558'<br />

<strong>die</strong> verschämte Wahrheit…<br />

zu ihrer Seligkeit<br />

braucht's <strong>des</strong> Zwanges —


— sie ist ein Weib, nichts Besseres…<br />

Aphorism n=12675 id='VIII.20[49]' kgw='VIII-3.362' ksa='13.558'<br />

ach, daß du glaubtest<br />

verachten zu müssen,<br />

wo du nur verzichtetest!…<br />

Aphorism n=12676 id='VIII.20[50]' kgw='VIII-3.362' ksa='13.558'<br />

Stunde <strong>des</strong> Abends<br />

wo auch noch das Eis<br />

meiner Gipfel glüht!<br />

Aphorism n=12677 id='VIII.20[51]' kgw='VIII-3.362' ksa='13.558'<br />

Wasserfahrt — Ruhm.<br />

Ihr Wellen?<br />

Ihr Weiblein? Ihr Wunderlichen?<br />

ihr zürnt gegen mich?<br />

ihr rauscht zornig auf?<br />

Mit meinem Ruder schlage ich<br />

eurer Thorheit auf den Kopf.<br />

Diesen Nachen —<br />

ihr selber tragt ihn noch zur Unsterblichkeit!<br />

Aphorism n=12678 id='VIII.20[52]' kgw='VIII-3.362' ksa='13.558'<br />

Dergleichen mag nicht widerlegbar sein:<br />

wäre es schon <strong>des</strong>halb wahr?<br />

oh ihr Unschuldigen!<br />

Aphorism n=12679 id='VIII.20[53]' kgw='VIII-3.362' ksa='13.558'<br />

Auf Höhen bin ich heimisch,<br />

nach Höhen verlangt mich nicht.<br />

Page Break KGW='VIII-3.363' KSA='13.559'<br />

Ich hebe <strong>die</strong> Augen nicht empor;<br />

ein Niederschauender bin ich,


Einer, der segnen muß:<br />

alle Segnenden schauen nieder…<br />

Aphorism n=12680 id='VIII.20[54]' kgw='VIII-3.363' ksa='13.559'<br />

Schon wird er unwirsch,<br />

zackicht reckt<br />

er den Ellenbogen;<br />

seine Stimme versauert sich,<br />

sein Auge blickt Grünspan.<br />

Aphorism n=12681 id='VIII.20[55]' kgw='VIII-3.363' ksa='13.559'<br />

ein vornehmes Auge mit<br />

Sammtvorhängen:<br />

selten hell, —<br />

es ehrt den, dem es sich offen zeigt.<br />

Aphorism n=12682 id='VIII.20[56]' kgw='VIII-3.363' ksa='13.559'<br />

Milch fließt<br />

in ihrer Seele; aber wehe!<br />

ihr Geist ist molkicht<br />

Aphorism n=12683 id='VIII.20[57]' kgw='VIII-3.363' ksa='13.559'<br />

ein fremder Athem haucht und faucht mich an:<br />

bin ich ein Spiegel, der drob trübe wird?<br />

Aphorism n=12684 id='VIII.20[58]' kgw='VIII-3.363' ksa='13.559'<br />

schone, was solch zarte Haut hat!<br />

Was willst du Flaum<br />

von solchen Dingen schaben?<br />

Page Break KGW='VIII-3.364' KSA='13.560'<br />

Aphorism n=12685 id='VIII.20[59]' kgw='VIII-3.364' ksa='13.560'


Wahrheiten, <strong>die</strong> noch kein Lächeln<br />

vergüldet hat;<br />

grüne herbe ungeduldige Wahrheiten<br />

sitzen um mich herum.<br />

Aphorism n=12686 id='VIII.20[60]' kgw='VIII-3.364' ksa='13.560'<br />

Oh ihr glühenden Eise alle!<br />

Ihr Gipfelsonnen meines einsamsten Glücks!<br />

Aphorism n=12687 id='VIII.20[61]' kgw='VIII-3.364' ksa='13.560'<br />

Langsame Augen,<br />

welche selten lieben:<br />

aber wenn sie lieben, blitzt es herauf<br />

wie aus Goldschächten,<br />

wo ein Drache am Hort der Liebe wacht…<br />

Aphorism n=12688 id='VIII.20[62]' kgw='VIII-3.364' ksa='13.560'<br />

„zur Hölle geht, wer deine Wege geht?“ —<br />

Wohlan! zu meiner Hölle<br />

will ich den Weg mir mit guten Sprüchen pflastern<br />

Aphorism n=12689 id='VIII.20[63]' kgw='VIII-3.364' ksa='13.560'<br />

Willst du in Dornen greifen?<br />

Schwer büßens(1817) deine Finger.<br />

Greife nach einem Dolch<br />

Aphorism n=12690 id='VIII.20[64]' kgw='VIII-3.364' ksa='13.560'<br />

bist du zerbrechlich?<br />

so hüte dich vor Kindshänden!<br />

Das Kind kann nicht leben,<br />

wenn es nichts zerbricht…<br />

Page Break KGW='VIII-3.365' KSA='13.561'


Aphorism n=12691 id='VIII.20[65]' kgw='VIII-3.365' ksa='13.561'<br />

auch der Rauch ist zu etwas nütz:<br />

so spricht der Beduine, ich spreche es mit:<br />

du Rauch, kün<strong>des</strong>t du nicht<br />

dem, der unterwegs ist,<br />

<strong>die</strong> Nähe eines gastfreundlichen Herds?<br />

Aphorism n=12692 id='VIII.20[66]' kgw='VIII-3.365' ksa='13.561'<br />

wer heute am besten lacht,<br />

der lacht auch zuletzt.<br />

Aphorism n=12693 id='VIII.20[67]' kgw='VIII-3.365' ksa='13.561'<br />

ein müder Wanderer,<br />

den mit hartem Gebell<br />

ein Hund empfängt<br />

Aphorism n=12694 id='VIII.20[68]' kgw='VIII-3.365' ksa='13.561'<br />

Milchherz, kuhwarm<br />

Aphorism n=12695 id='VIII.20[69]' kgw='VIII-3.365' ksa='13.561'<br />

das sind Krebse, mit denen habe ich kein Mitgefühl,<br />

greifst du sie, so kneipen sie;<br />

läßt du sie, geht's rückwärts.<br />

Aphorism n=12696 id='VIII.20[70]' kgw='VIII-3.365' ksa='13.561'<br />

zu lange saß er im Käfig,<br />

<strong>die</strong>ser Entlaufne!<br />

zu lange fürchtete er einen<br />

Stockmeister:<br />

furchtsam geht er nun seines Wegs:<br />

Alles macht ihn stolpern,<br />

der Schatten eines Stocks schon macht ihn stolpern<br />

Page Break KGW='VIII-3.366' KSA='13.562'


Aphorism n=12697 id='VIII.20[71]' kgw='VIII-3.366' ksa='13.562'<br />

Jenseits <strong>des</strong> Nordens, <strong>des</strong> Eises, <strong>des</strong> Heute,<br />

jenseits <strong>des</strong> To<strong>des</strong>,<br />

abseits —<br />

unser Leben, unser Glück!<br />

Weder zu Lande,<br />

noch zu Wasser<br />

kannst du den Weg<br />

zu uns Hyperboreern finden:<br />

von uns wahrsagte so ein weiser Mund.<br />

Aphorism n=12698 id='VIII.20[72]' kgw='VIII-3.366' ksa='13.562'<br />

oh <strong>die</strong>se Dichter!<br />

Hengste sind unter ihnen,<br />

<strong>die</strong> auf eine keusche Weise wiehern<br />

Aphorism n=12699 id='VIII.20[73]' kgw='VIII-3.366' ksa='13.562'<br />

sieh hinaus! sieh nicht zurück!<br />

man geht zu Grunde,<br />

wenn man immer zu den Gründen geht<br />

Aphorism n=12700 id='VIII.20[74]' kgw='VIII-3.366' ksa='13.562'<br />

leutselig gegen Mensch und Zufall,<br />

ein Sonnenfleck<br />

an winterlichen Hängen<br />

Aphorism n=12701 id='VIII.20[75]' kgw='VIII-3.366' ksa='13.562'<br />

ein Blitz wurde meine Weisheit;<br />

mit diamantenem Schwerte durchhieb sie mir jede Finsterniß<br />

Aphorism n=12702 id='VIII.20[76]' kgw='VIII-3.366' ksa='13.562'<br />

rathe, Räthselfreund,<br />

wo weilt jetzt meine Tugend?


sie lief mir davon,<br />

Page Break KGW='VIII-3.367' KSA='13.563'<br />

sie fürchtete <strong>die</strong> Arglist<br />

meiner Angeln und Netze<br />

Aphorism n=12703 id='VIII.20[77]' kgw='VIII-3.367' ksa='13.563'<br />

mein Glück macht ihnen wehe:<br />

<strong>die</strong>sen Neidbolden wird mein Glück zum Schatten;<br />

sie frösteln bei sich: blicken grün dazu —<br />

Aphorism n=12704 id='VIII.20[78]' kgw='VIII-3.367' ksa='13.563'<br />

einsame Tage,<br />

ihr wollt auf tapferen Füßen gehn!<br />

Aphorism n=12705 id='VIII.20[79]' kgw='VIII-3.367' ksa='13.563'<br />

und nur wenn ich mir selbst zur Last bin,<br />

fallt ihr mir schwer!<br />

Aphorism n=12706 id='VIII.20[80]' kgw='VIII-3.367' ksa='13.563'<br />

unbequemlich<br />

wie jede Tugend<br />

Aphorism n=12707 id='VIII.20[81]' kgw='VIII-3.367' ksa='13.563'<br />

ein Gefangner, der das härteste Loos zog:<br />

gebückt arbeiten,<br />

im dumpfen dunklen Schachte arbeiten:<br />

ein Gelehrter…<br />

Aphorism n=12708 id='VIII.20[82]' kgw='VIII-3.367' ksa='13.563'<br />

wohin er gieng? wer weiß es?<br />

aber gewiß ist, daß er untergieng.


Ein Stern erlosch im öden Raum:<br />

öde ward der Raum…<br />

Page Break KGW='VIII-3.368' KSA='13.564'<br />

Aphorism n=12709 id='VIII.20[83]' kgw='VIII-3.368' ksa='13.564'<br />

noch rauscht <strong>die</strong> Wetterwolke:<br />

aber schon hängt<br />

glitzernd still schwer —<br />

Zarathustra's Reichthum über <strong>die</strong> Felder hin.<br />

Aphorism n=12710 id='VIII.20[84]' kgw='VIII-3.368' ksa='13.564'<br />

<strong>die</strong>s allein erlöst von allem Leiden —<br />

wähle nun:<br />

der schnelle Tod<br />

oder <strong>die</strong> lange Liebe.<br />

Aphorism n=12711 id='VIII.20[85]' kgw='VIII-3.368' ksa='13.564'<br />

nach neuen Schätzen wühlen wir,<br />

wir neuen Unterirdischen: („Unersättlichen“)<br />

gottlos schien es den Alten einst,<br />

nach Schätzen aufzustören der Erde Eingeweide;<br />

von Neuem giebt es solche Gottlosigkeit:<br />

hört ihr nicht aller Tiefen Bauchgrimmen-Gepolter?<br />

Aphorism n=12712 id='VIII.20[86]' kgw='VIII-3.368' ksa='13.564'<br />

du wirst absurd,<br />

du wirst tugendhaft<br />

Aphorism n=12713 id='VIII.20[87]' kgw='VIII-3.368' ksa='13.564'<br />

<strong>die</strong> heilige Krankheit,<br />

der Glaube<br />

Aphorism n=12714 id='VIII.20[88]' kgw='VIII-3.368' ksa='13.564'


ist du stark?<br />

stark als Esel? stark als Gott?<br />

bist du stolz?<br />

stolz genug, daß du deiner Eitelkeit dich nicht zu schämen weißt?<br />

Page Break KGW='VIII-3.369' KSA='13.565'<br />

Aphorism n=12715 id='VIII.20[89]' kgw='VIII-3.369' ksa='13.565'<br />

sie haben ihren Gott aus Nichts geschaffen:<br />

was Wunder: nun ward er ihnen zu nichte —<br />

Aphorism n=12716 id='VIII.20[90]' kgw='VIII-3.369' ksa='13.565'<br />

ein Gelehrter alter Dinge<br />

ein Todtengräber-Handwerk,<br />

ein Leben zwischen Särgen und Sägespähnen<br />

Aphorism n=12717 id='VIII.20[91]' kgw='VIII-3.369' ksa='13.565'<br />

übereilig<br />

gleich springenden Spinnenaffen<br />

Aphorism n=12718 id='VIII.20[92]' kgw='VIII-3.369' ksa='13.565'<br />

da stehn sie da,<br />

<strong>die</strong> schweren granitnen Katzen,<br />

<strong>die</strong> Werthe aus Urzeiten:<br />

wehe! wie willst du <strong>die</strong> umwerfen?<br />

Aphorism n=12719 id='VIII.20[93]' kgw='VIII-3.369' ksa='13.565'<br />

ihr Sinn ist ein Widersinn,<br />

ihr Witz ist ein Doch- und Aber-Witz<br />

Aphorism n=12720 id='VIII.20[94]' kgw='VIII-3.369' ksa='13.565'<br />

fleißig, traulich:


goldhell kommt mir jeder Tag<br />

und gleich herauf.<br />

Aphorism n=12721 id='VIII.20[95]' kgw='VIII-3.369' ksa='13.565'<br />

voll tiefen Mißtrauens,<br />

überwachsen vom Moose,<br />

einsam,<br />

langen Willens,<br />

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allem Lüsternen fremd,<br />

ein Schweigsamer<br />

Aphorism n=12722 id='VIII.20[96]' kgw='VIII-3.370' ksa='13.566'<br />

er kauert, er lauert:<br />

er kann schon nicht mehr aufrecht stehn.<br />

Er verwuchs mit seinem Grabe,<br />

<strong>die</strong>ser verwachsene Geist:<br />

wie könnte er jemals auferstehn?<br />

Aphorism n=12723 id='VIII.20[97]' kgw='VIII-3.370' ksa='13.566'<br />

bist du so neugierig?<br />

kannst du um <strong>die</strong> Ecke sehn?<br />

man muß, um das zu sehn, Augen auch hinter dem Kopfe haben<br />

Aphorism n=12724 id='VIII.20[98]' kgw='VIII-3.370' ksa='13.566'<br />

sind sie kalt, <strong>die</strong>se Gelehrten!<br />

Daß ein Blitz in ihre Speise schlüge!<br />

Daß sie lernten Feuer fressen!<br />

Aphorism n=12725 id='VIII.20[99]' kgw='VIII-3.370' ksa='13.566'<br />

Kratzkatzen,<br />

mit gebundenen Pfoten,<br />

da sitzen sie<br />

und blicken Gift.


Aphorism n=12726 id='VIII.20[100]' kgw='VIII-3.370' ksa='13.566'<br />

was warf er sich aus seiner Höhe?<br />

was verführte ihn?<br />

Das Mitleiden mit allem Niedrigen verführte ihn:<br />

nun liegt er da, zerbrochen, unnütz, kalt —<br />

Page Break KGW='VIII-3.371' KSA='13.567'<br />

Aphorism n=12727 id='VIII.20[101]' kgw='VIII-3.371' ksa='13.567'<br />

Papier-Schmeißfliege<br />

Eintags-leser<br />

Aphorism n=12728 id='VIII.20[102]' kgw='VIII-3.371' ksa='13.567'<br />

ein Wolf selbst zeugte für mich<br />

und sprach: „du heulst besser noch als wir Wölfe“<br />

Aphorism n=12729 id='VIII.20[103]' kgw='VIII-3.371' ksa='13.567'<br />

Schwärzres und Schlimmres schautest du als irgend ein Seher:<br />

durch <strong>die</strong> Wollust der Hölle ist noch kein Weiser gegangen.<br />

Aphorism n=12730 id='VIII.20[104]' kgw='VIII-3.371' ksa='13.567'<br />

neue Nächte hülltest du um dich,<br />

neue Wüsten erfand dein Löwenfuß<br />

Aphorism n=12731 id='VIII.20[105]' kgw='VIII-3.371' ksa='13.567'<br />

an <strong>die</strong>ser steinernen Schönheit<br />

kühlt sich mein heißes Herz<br />

Aphorism n=12732 id='VIII.20[106]' kgw='VIII-3.371' ksa='13.567'


von einem neuen Glücke<br />

gefoltert<br />

Aphorism n=12733 id='VIII.20[107]' kgw='VIII-3.371' ksa='13.567'<br />

weit hinaus, in das Meer der Zukunft<br />

werfe ich über mein Haupt <strong>die</strong> Angel<br />

Aphorism n=12734 id='VIII.20[108]' kgw='VIII-3.371' ksa='13.567'<br />

Grabe, Wurm!<br />

Aphorism n=12735 id='VIII.20[109]' kgw='VIII-3.371' ksa='13.567'<br />

ich bin einer, dem man Schwüre schwört:<br />

schwört mir <strong>die</strong>s!<br />

Page Break KGW='VIII-3.372' KSA='13.568'<br />

Aphorism n=12736 id='VIII.20[110]' kgw='VIII-3.372' ksa='13.568'<br />

nicht daß du den Götzen umwarfst:<br />

daß du den Götzen<strong>die</strong>ner in dir umwarfst,<br />

das war dein Muth<br />

Aphorism n=12737 id='VIII.20[111]' kgw='VIII-3.372' ksa='13.568'<br />

mein Jenseits-Glück!<br />

was heut mir Glück ist,<br />

wirft Schatten in seinem Lichte<br />

Aphorism n=12738 id='VIII.20[112]' kgw='VIII-3.372' ksa='13.568'<br />

schuldig sein mit der größten Schuld,<br />

— und alle Tugenden sollen noch<br />

vor meiner Schuld auf den Knieen liegen —


Aphorism n=12739 id='VIII.20[113]' kgw='VIII-3.372' ksa='13.568'<br />

täuschen —<br />

das ist im Kriege Alles.<br />

Die Haut <strong>des</strong> Fuchses:<br />

sie ist mein heimliches Panzerhemd<br />

Aphorism n=12740 id='VIII.20[114]' kgw='VIII-3.372' ksa='13.568'<br />

Ruhm<br />

nicht zu früh erkannt:<br />

Einer, der seinen Ruf aufgespart hat<br />

Aphorism n=12741 id='VIII.20[115]' kgw='VIII-3.372' ksa='13.568'<br />

ist für solchen Ehrgeiz<br />

<strong>die</strong>se Erde nicht zu klein?<br />

Aphorism n=12742 id='VIII.20[116]' kgw='VIII-3.372' ksa='13.568'<br />

ist List besser als Gewalt?<br />

Page Break KGW='VIII-3.373' KSA='13.569'<br />

Aphorism n=12743 id='VIII.20[117]' kgw='VIII-3.373' ksa='13.569'<br />

Alles gab ich weg<br />

all mein Hab und Gut:<br />

nichts bleibt mir mehr zurück<br />

als du, große Hoffnung!<br />

Aphorism n=12744 id='VIII.20[118]' kgw='VIII-3.373' ksa='13.569'<br />

„man siegt in Nichts ohne Zorn“<br />

Aphorism n=12745 id='VIII.20[119]' kgw='VIII-3.373' ksa='13.569'<br />

wo Gefahr ist,<br />

da bin ich dabei,


da wachse ich aus der Erde<br />

Aphorism n=12746 id='VIII.20[120]' kgw='VIII-3.373' ksa='13.569'<br />

so spricht jeder Feldherr:<br />

„gieb weder dem Sieger<br />

noch dem Besiegten Ruhe!“<br />

Aphorism n=12747 id='VIII.20[121]' kgw='VIII-3.373' ksa='13.569'<br />

<strong>die</strong> große Stunde kommt,<br />

<strong>die</strong> Gefahr der Gefahren:<br />

meine, Seele wird still…<br />

Aphorism n=12748 id='VIII.20[122]' kgw='VIII-3.373' ksa='13.569'<br />

wer wäre das, der Recht dir geben könnte?<br />

So nimm dir Recht!<br />

Aphorism n=12749 id='VIII.20[123]' kgw='VIII-3.373' ksa='13.569'<br />

nicht an seinen Sünden und großen Thorheiten:<br />

an seiner Vollkommenheit litt ich, als ich<br />

am meisten am Menschen litt<br />

Page Break KGW='VIII-3.374' KSA='13.570'<br />

Aphorism n=12750 id='VIII.20[124]' kgw='VIII-3.374' ksa='13.570'<br />

Trümmer von Sternen:<br />

aus <strong>die</strong>sen Trümmern bilde ich meine Welt<br />

Aphorism n=12751 id='VIII.20[125]' kgw='VIII-3.374' ksa='13.570'<br />

an <strong>die</strong>sem Gedanken<br />

ziehe ich alle Zukunft


Aphorism n=12752 id='VIII.20[126]' kgw='VIII-3.374' ksa='13.570'<br />

was geschieht? fällt das Meer?<br />

Nein, mein Land wächst!<br />

eine neue Gluth hebt es empor!<br />

Aphorism n=12753 id='VIII.20[127]' kgw='VIII-3.374' ksa='13.570'<br />

ein Gedanke,<br />

jetzt noch heiß-flüssig, Lava:<br />

aber jede Lava baut<br />

um sich selbst eine Burg,<br />

jeder Gedanke erdrückt<br />

sich zuletzt mit „Gesetzen“<br />

Aphorism n=12754 id='VIII.20[128]' kgw='VIII-3.374' ksa='13.570'<br />

als keine neue Stimme mehr redete,<br />

machtet ihr aus alten Worten<br />

ein Gesetz:<br />

wo Leben erstarrt, thürmt sich das Gesetz.<br />

Aphorism n=12755 id='VIII.20[129]' kgw='VIII-3.374' ksa='13.570'<br />

damit begann ich:<br />

ich verlernte das Mitgefühl mit mir!<br />

Aphorism n=12756 id='VIII.20[130]' kgw='VIII-3.374' ksa='13.570'<br />

eure falsche Liebe<br />

zum Vergangnen,<br />

Page Break KGW='VIII-3.375' KSA='13.571'<br />

eine Todtengräberliebe —<br />

sie ist ein Raub am Leben,<br />

ihr stehlt sie der Zukunft ab —<br />

Aphorism n=12757 id='VIII.20[131]' kgw='VIII-3.375' ksa='13.571'<br />

den schlimmsten Einwand


ich verbarg ihn euch — das Leben wird langweilig:<br />

werft es weg, damit es euch wieder schmackhaft wird!<br />

Aphorism n=12758 id='VIII.20[132]' kgw='VIII-3.375' ksa='13.571'<br />

<strong>die</strong>se heitere Tiefe!<br />

Was Stern sonst hieß,<br />

zum Flecken wurde es.<br />

Aphorism n=12759 id='VIII.20[133]' kgw='VIII-3.375' ksa='13.571'<br />

<strong>die</strong>ses höchste Hinderniß,<br />

<strong>die</strong>sen Gedanken der Gedanken,<br />

wer schuf ihn sich!<br />

Das Leben selber schuf sich<br />

sein höchstes Hinderniß:<br />

über seinen Gedanken selber springt es nunmehr hinweg<br />

Aphorism n=12760 id='VIII.20[134]' kgw='VIII-3.375' ksa='13.571'<br />

Schwärmer und Dämmerlinge,<br />

und was Alles<br />

zwischen Abend und Nacht<br />

kreucht, fleugt und auf lahmen Beinen steht.<br />

Aphorism n=12761 id='VIII.20[135]' kgw='VIII-3.375' ksa='13.571'<br />

sie kauen Kiesel,<br />

sie liegen auf dem Bauche<br />

vor kleinen runden Sachen;<br />

sie beten Alles an, was nicht umfällt —<br />

Page Break KGW='VIII-3.376' KSA='13.572'<br />

<strong>die</strong>se letzten Gottes<strong>die</strong>ner!<br />

Gläubigen!<br />

Aphorism n=12762 id='VIII.20[136]' kgw='VIII-3.376' ksa='13.572'<br />

was man nicht hat,<br />

aber nöthig hat,


das soll man sich nehmen:<br />

so nahm ich mir das gute Gewissen.<br />

Aphorism n=12763 id='VIII.20[137]' kgw='VIII-3.376' ksa='13.572'<br />

heimlich verbrannt,<br />

nicht für seinen Glauben,<br />

vielmehr daß er zu keinem Glauben<br />

den Muth mehr fand<br />

Aphorism n=12764 id='VIII.20[138]' kgw='VIII-3.376' ksa='13.572'<br />

was um euch wohnt,<br />

das wohnt sich bald euch ein:<br />

wo lang du sitzest,<br />

da wachsen Sitten.<br />

Aphorism n=12765 id='VIII.20[139]' kgw='VIII-3.376' ksa='13.572'<br />

trockene Flußbetten,<br />

ausgedorrte sandige Seelen<br />

Aphorism n=12766 id='VIII.20[140]' kgw='VIII-3.376' ksa='13.572'<br />

hartnäckige Geister,<br />

fein, kleinlich<br />

Aphorism n=12767 id='VIII.20[141]' kgw='VIII-3.376' ksa='13.572'<br />

ihre Kälte<br />

macht meine Erinnerung erstarren?<br />

Habe ich je <strong>die</strong>s Herz<br />

an mir glühn und klopfen gefühlt?…<br />

Page Break KGW='VIII-3.377' KSA='13.573'<br />

Aphorism n=12768 id='VIII.20[142]' kgw='VIII-3.377' ksa='13.573'<br />

(Nachts, bestirnter Himmel)


oh <strong>die</strong>ser todtenstille Lärm!<br />

Aphorism n=12769 id='VIII.20[143]' kgw='VIII-3.377' ksa='13.573'<br />

auf breiter langsamer Treppe<br />

zu seinem Glück steigen<br />

Aphorism n=12770 id='VIII.20[144]' kgw='VIII-3.377' ksa='13.573'<br />

von irdischen Lichtern, vom Widerschein fremden Glücks<br />

aschgrau angestrahlt,<br />

eine Mond- und Nachtschleiche<br />

Aphorism n=12771 id='VIII.20[145]' kgw='VIII-3.377' ksa='13.573'<br />

„liebe den Feind,<br />

laß dich rauben von dem Räuber“:<br />

das Weib hörts und — thuts<br />

Aphorism n=12772 id='VIII.20[146]' kgw='VIII-3.377' ksa='13.573'<br />

in den zwölf Sternen meiner Tugend: sie hat alle Jahreszeiten<br />

Aphorism n=12773 id='VIII.20[147]' kgw='VIII-3.377' ksa='13.573'<br />

unsre Jagd nach der Wahrheit —<br />

ist sie eine Jagd nach Glück?<br />

Aphorism n=12774 id='VIII.20[148]' kgw='VIII-3.377' ksa='13.573'<br />

man bleibt nur gut, wenn man vergißt.<br />

Kinder, <strong>die</strong> für Strafen und Rügen ein Gedächtniß haben,<br />

werden tückisch, heimlich —<br />

Aphorism n=12775 id='VIII.20[149]' kgw='VIII-3.377' ksa='13.573'<br />

Die Morgenröthe


mit frecher unschuld<br />

Page Break KGW='VIII-3.378' KSA='13.574'<br />

sah's und verschwand.<br />

Sturmwolken kamen hinter ihr.<br />

Aphorism n=12776 id='VIII.20[150]' kgw='VIII-3.378' ksa='13.574'<br />

unruhig, wie Pferde:<br />

schwankt nicht unser eigner Schatten<br />

auf und nieder?<br />

man soll uns in <strong>die</strong> Sonne führen,<br />

gegen <strong>die</strong> Sonne —<br />

Aphorism n=12777 id='VIII.20[151]' kgw='VIII-3.378' ksa='13.574'<br />

Wahrheiten für unsere Füße,<br />

Wahrheiten, nach denen sich tanzen läßt<br />

Aphorism n=12778 id='VIII.20[152]' kgw='VIII-3.378' ksa='13.574'<br />

Schreckgespenster,<br />

tragische Fratzen,<br />

moralische Gurgeltöne<br />

Aphorism n=12779 id='VIII.20[153]' kgw='VIII-3.378' ksa='13.574'<br />

Wetterwolken — was liegt an euch!<br />

Für uns, <strong>die</strong> freien luftigen lustigen Geister<br />

Aphorism n=12780 id='VIII.20[154]' kgw='VIII-3.378' ksa='13.574'<br />

seid ihr Weiber,<br />

daß ihr an dem, was ihr liebt,<br />

leiden wollt?<br />

Aphorism n=12781 id='VIII.20[155]' kgw='VIII-3.378' ksa='13.574'


den Faulthieren ins Ohr gesagt:<br />

„wer nichts zu schaffen hat,<br />

dem macht ein Nichts zu schaffen“<br />

Page Break KGW='VIII-3.379' KSA='13.575'<br />

Aphorism n=12782 id='VIII.20[156]' kgw='VIII-3.379' ksa='13.575'<br />

Wenn den Einsamen<br />

<strong>die</strong> große Furcht anfällt,<br />

wenn er läuft und läuft<br />

und weiß selber nicht wohin?<br />

wenn Stürme hinter ihm brüllen,<br />

wenn der Blitz gegen ihn zeugt,<br />

wenn seine Höhle mit Gespenstern<br />

ihn fürchten macht —<br />

Aphorism n=12783 id='VIII.20[157]' kgw='VIII-3.379' ksa='13.575'<br />

ich bin nur ein Worte-macher:<br />

was liegt an Worten!<br />

was liegt an mir!<br />

Aphorism n=12784 id='VIII.20[158]' kgw='VIII-3.379' ksa='13.575'<br />

zu bald schon<br />

lache ich wieder:<br />

ein Feind hat<br />

wenig bei mir gutzumachen<br />

Aphorism n=12785 id='VIII.20[159]' kgw='VIII-3.379' ksa='13.575'<br />

Bei bedecktem Himmel,<br />

wenn man Pfeile<br />

und tödtende Gedanken<br />

nach seinem Feinde schießt<br />

Aphorism n=12786 id='VIII.20[160]' kgw='VIII-3.379' ksa='13.575'<br />

verirrten Glockenschlägen gleich<br />

im Walde


Page Break KGW='VIII-3.380' KSA='13.576'<br />

Aphorism n=12787 id='VIII.20[161]' kgw='VIII-3.380' ksa='13.576'<br />

den Tapferen, den Frohgemuthen,<br />

den Enthaltsamen<br />

singe ich <strong>die</strong>s Lied.<br />

Aphorism n=12788 id='VIII.20[162]' kgw='VIII-3.380' ksa='13.576'<br />

Kriegslieder der Seele.<br />

Der Siegreiche<br />

Aus der Siebenten Einsamkeit.<br />

Aphorism n=12789 id='VIII.20[163]' kgw='VIII-3.380' ksa='13.576'<br />

Der Weg zur Grösse<br />

Lieder<br />

Zarathustras<br />

Aphorism n=12790 id='VIII.20[164]' kgw='VIII-3.380' ksa='13.576'<br />

Das Grab Gottes.<br />

Aphorism n=12791 id='VIII.20[165]' kgw='VIII-3.380' ksa='13.576'<br />

Die Lieder<br />

Zarathustras.<br />

Erster Theil:<br />

Der Weg der Grösse<br />

Von<br />

Friedrich Nietzsche.<br />

Aphorism n=12792 id='VIII.20[166]' kgw='VIII-3.380' ksa='13.576'<br />

Die Lieder Zarathustras.


Erster Theil:<br />

von der Armut <strong>des</strong> Reichsten<br />

Von<br />

Friedrich Nietzsche.<br />

Page Break KGW='VIII-3.381' KSA='13.577'<br />

Aphorism n=12793 id='VIII.20[167]' kgw='VIII-3.381' ksa='13.577'<br />

Die ewige Wiederkunft.<br />

Zarathustra's<br />

Tänze und Festzüge.<br />

Von<br />

Friedrich Nietzsche<br />

Aphorism n=12794 id='VIII.20[168]' kgw='VIII-3.381' ksa='13.577'<br />

Die Lieder<br />

Zarathustra's<br />

Erster Theil:<br />

Der Weg zur Grösse<br />

Page Break KGW='VIII-3.382' KSA='13.578'<br />

Page Break KGW='VIII-3.383' KSA='13.579'<br />

[ 21 = N VII 4. Herbst 1888 ]<br />

Aphorism n=12795 id='VIII.21[1]' kgw='VIII-3.383' ksa='13.579'<br />

Teichmüller(1818)<br />

Sceptiques(1819) grecs(1820)<br />

Spir<br />

August(1821) Müller, der Islam<br />

Aphorism n=12796 id='VIII.21[2]' kgw='VIII-3.383' ksa='13.579'<br />

Abends ins Cafè Livorno<br />

3 — 5 ins Cafè Florio<br />

Nicht zu Roma<br />

nicht zu Löscher


Nicht Brille in der Straße aufsetzen!<br />

keine Bücher kaufen!<br />

nicht in <strong>die</strong> Menge gehn!<br />

Abends durch Garten Valentino(1822) bis Schloß, dann<br />

wieder hinein bis Ende piazza Vittorio Emanuele I(1823) und<br />

ins Cafè Livorno<br />

im Theater mit Galleria(1824) numerata(1825) probiren!<br />

Page Break KGW='VIII-3.386' KSA='13.580'<br />

Aphorism n=12797 id='VIII.21[3]' kgw='VIII-3.386' ksa='13.580'<br />

Cap. über Glauben<br />

Cap. über Paulus<br />

<strong>die</strong> Mittel, krank zu machen<br />

<strong>die</strong> Mittel, verrückt zu machen<br />

Aphorism n=12798 id='VIII.21[4]' kgw='VIII-3.386' ksa='13.580'<br />

keine Briefe schreiben!<br />

keine Bücher lesen!<br />

ins Café etwas mitnehmen zum Lesen!<br />

Notizbuch!<br />

Aphorism n=12799 id='VIII.21[5]' kgw='VIII-3.386' ksa='13.580'<br />

Wasser trinken.<br />

Nie spirituosa.<br />

von Zeit zu Zeit (Rhabarber(1826))<br />

Morgens Ein Glas Thee: kalt werden lassen!<br />

nachts etwas wärmer!<br />

im Theater galérie(1827) posto numerato(1828)<br />

nicht Brille auf Straße<br />

nicht in <strong>die</strong> Menge gehn!<br />

nicht zu Löscher<br />

nicht zu Roma!<br />

keine Briefe schreiben<br />

Abends ware Kleider!<br />

Aphorism n=12800 id='VIII.21[6]' kgw='VIII-3.386' ksa='13.580'


Ah welche Wohlthat ist ein Jude unter deutschem Hornvieh!…<br />

Das unterschätzen <strong>die</strong> Herren Antisemiten. Was unterscheidet<br />

eigentlich einen Juden von einem Antisemiten: der Jude<br />

weiß, daß er lügt, wenn er lügt: der Antisemit weiß nicht,<br />

daß er immer lügt —<br />

Page Break KGW='VIII-3.387' KSA='13.581'<br />

Aphorism n=12801 id='VIII.21[7]' kgw='VIII-3.387' ksa='13.581'<br />

Man sieht heute nicht selten Junge Männer achtbarer<br />

Herkunft in durchaus zweideutigen Bewegungen verschwinden: sie<br />

haben lange ihrem Leben keinen Sinn zu geben gewußt, —<br />

irgend ein Sinn wird schließlich bei ihnen ein fast tyrannisches<br />

Bedürfniß. Zuletzt entscheidet der Zufall: sie verfallen einer<br />

Partei, <strong>die</strong> einen „Sinn“ hat, gegen den im Grunde nicht nur ihr<br />

Geschmack, sondern ihr Geruch protestirt(1829), —<br />

gegen <strong>die</strong> im Grunde nicht bloß der Geschmack sondern der<br />

Geruch protestirt, <strong>die</strong> Antisemiten zum Beispiel: bloß weil <strong>die</strong><br />

Antisemiten ein Ziel haben, das handgreiflich bis zur<br />

Unverschämtheit ist das jüdische Geld<br />

ihrem Leben keinen Sinn zu geben wissen und <strong>die</strong> endlich<br />

einer Partei verfallen, <strong>die</strong> einen Sinn hat, den Antisemiten zum<br />

Beispiel, deren Ziel handgreiflich bis zur Unverschämtheit ist:<br />

das jüdische Geld<br />

sie werden zum Beispiel Antisemiten, bloß weil <strong>die</strong> Antisemiten<br />

ein Ziel haben, das handgreiflich bis zur Unverschämtheit ist<br />

— das jüdische Geld<br />

Definition <strong>des</strong> Antisemiten: Neid, ressentiment,<br />

ohnmächtige Wuth als Leitmotiv im Instinkt: der Anspruch<br />

<strong>des</strong> „Auserwählten“; <strong>die</strong> vollkommene moralistische<br />

Selbst-Verlogenheit — <strong>die</strong>se hat <strong>die</strong> Tugend und alle großen<br />

Worte beständig im Munde. Dies als das typische Zeichen: sie<br />

merken nicht einmal wem sie damit zum Verwechseln ähnlich sehn?<br />

ein Antisemit ist ein neidischer d.h. stupi<strong>des</strong>ter Jude — —<br />

Aphorism n=12802 id='VIII.21[8]' kgw='VIII-3.387' ksa='13.581'<br />

Ich wage noch ein proprium meines Lebens anzudeuten, zumal<br />

es beinahe das proprium ist. Ich habe Etwas, das ich meine<br />

inneren Nüstern nenne. Bei jeder Berührung mit Menschen ist das<br />

Erste, was mir sich verräth, der Grad von innerer Sauberkeit<br />

[ — — — ] — ich rieche gerade <strong>die</strong> „schönen Seelen“ als besonders<br />

unreinlich. Wie Jemand zu sich steht, ob er sich selber(1830) Etwas<br />

Page Break KGW='VIII-3.388' KSA='13.582'


vormacht, ob er daraufhält, mit sich unzweideutig zu verkehren,<br />

— ob er sich erträgt oder ein „Ideal“ nöthig hat(1831) …<br />

Der Idealist riecht mir schlecht…<br />

Ich möchte wagen dürfen, den Namen eines Gelehrten jüdischer<br />

Abkunft zu nennen, der mir durch eine Instinkt gewordene<br />

vornehme Kühle und Klarheit gegen sich jeder Zeit ein tiefes<br />

Gefühl von Schönheit, von Reinlichkeit in meinem Sinn<br />

gegeben hat: er vergaß sich keinen Augenblick, er war immer kein<br />

Anderer, er verlor sich weder vor Zeugen noch ohne Zeugen. Dazu<br />

gehört nicht nur eine vollkommene Gewöhnung an Härte und<br />

Freimuth gegen sich; es gehört eine große Widerstandskraft dazu,<br />

um sich unter dem Eindruck von Gesellschaft oder Buch oder<br />

Zufall nicht zu verderben. Es ist ebenso ein Zeichen der Stärke<br />

wie — — —<br />

Den Gegensatz zu dem geschilderten reinlichen Typus<br />

geben mir im Durchschnitt fast alle Deutschen, <strong>die</strong> ich kenne; im<br />

Besonderen <strong>die</strong> Herren Antisemiten, <strong>die</strong> ich als [ — ] par excellence<br />

empfinde. Schlechte Instinkte, ein absurder Ehrgeiz, <strong>die</strong><br />

Eitelkeit [ — — — ] und dabei <strong>die</strong> Attitüde der „höheren<br />

Werthe“, <strong>des</strong> „Idealismus“…<br />

Page Break KGW='VIII-3.389' KSA='13.583'<br />

[ 22 = W II 8b. September — Oktober 1888 ]<br />

Aphorism n=12803 id='VIII.22[1]' kgw='VIII-3.389' ksa='13.583'<br />

Randbemerkung zu einer niaserie anglaise. —<br />

„Was du nicht willst, daß dir <strong>die</strong> Leute thun, das thue<br />

ihnen auch nicht.“ Das gilt als Weisheit; das gilt als Klugheit;<br />

das gilt als Grund der Moral — als „güldener Spruch“. John<br />

Stuart Mill und wer nicht unter Engländern glaubt daran…<br />

Aber der Spruch hält nicht den leichtesten Angriff aus. Der<br />

Calcul „thue nichts, was dir selber nicht angethan werden soll“<br />

verbietet Handlungen um ihrer schädlichen Folgen willen: der<br />

Hintergedanke ist, daß eine Handlung immer vergolten<br />

wird. Wie nun, wenn Jemand, mit dem „principe“ in der Hand,<br />

sagte „gerade solche Handlungen muß man thun, damit Andere<br />

uns nicht zuvorkommen — damit wir Andere außer Stand<br />

setzen, sie uns anzuthun?“ — Andrerseits: denken wir uns<br />

einen Corsen, dem seine Ehre <strong>die</strong> vendetta gebietet. Auch er<br />

wünscht keine Flintenkugel in den Leib: aber <strong>die</strong> Aussicht auf<br />

eine solche, <strong>die</strong> Wahrscheinlichkeit einer Kugel hält ihn nicht<br />

ab, seiner Ehre zu genügen… Und sind wir nicht in allen<br />

anständigen Handlungen eben absichtlich gleichgültig gegen


das, was daraus für uns kommt? Eine Handlung zu vermeiden,<br />

<strong>die</strong> schädliche Folgen für uns hätte — das wäre ein<br />

Verbot für anständige Handlungen überhaupt…<br />

Dagegen ist der Spruch werthvoll, weil er einen Typus<br />

Mensch verräth: es ist der Instinkt der Heerde,<br />

Page Break KGW='VIII-3.392' KSA='13.584'<br />

der sich mit ihm formulirt — man ist gleich, man nimmt sich<br />

gleich: wie ich dir, so du mir — Hier wird wirklich an eine<br />

Äquivalenz der Handlungen geglaubt, <strong>die</strong>, in allen<br />

realen Verhältnissen, einfach nicht vorkommt. Es kann<br />

nicht jede Handlung zurückgegeben werden: zwischen wirklichen<br />

„Individuen“ giebt es keine gleiche Handlung,<br />

folglich auch keine „Vergeltung“ … Wenn ich etwas<br />

thue, so liegt mir der Gedanke vollkommen fern, daß<br />

überhaupt dergleichen irgend einem Menschen möglich sei: es<br />

gehört mir… Man kann mir Nichts zurückzahlen, man würde<br />

immer eine „andere“ Handlung gegen mich begehen —<br />

Aphorism n=12804 id='VIII.22[2]' kgw='VIII-3.392' ksa='13.584'<br />

Capitel über Paulus<br />

<strong>die</strong> jüdische Familie der diaspora<br />

<strong>die</strong> „Liebe“<br />

<strong>die</strong> „freie“ Zurechtmachung von Jesus<br />

ganz jüdisch-priesterlich<br />

a) Tod für unsere Sünde<br />

b) der „Erlöser“ ist unsterblich<br />

der tiefe Haß gegen <strong>die</strong> Cultur und <strong>die</strong> Erkenntniß —<br />

bereits jüdisch (Genesis 52<br />

<strong>die</strong> „unsterbliche“ Seele Psychologie der „Sterbenden“ 18<br />

der Priester als „böser Engel“ 10<br />

was Alles verdorben ist durch <strong>die</strong> Kirche<br />

1) <strong>die</strong> Askese<br />

2) das Fasten 66<br />

3) das „Kloster“<br />

4) <strong>die</strong> Feste<br />

5) <strong>die</strong> Mildherzigkeit<br />

Liebe Güte Heroismus 243<br />

Psychologie der ersten Christen „richtet nicht“ 11<br />

197 63 Protestant 184<br />

große Lüge der Historie 17<br />

Page Break KGW='VIII-3.393' KSA='13.585'<br />

Aphorism n=12805 id='VIII.22[3]' kgw='VIII-3.393' ksa='13.585'


Buch 2 Zu beweisen, daß <strong>die</strong> nihilistische Denkungsweise <strong>die</strong><br />

Folge vom Glauben an <strong>die</strong> Moral und<br />

Priester-Werthe ist: wenn man den Werth falsch<br />

angesetzt hat, so erscheint, bei der Einsicht in <strong>die</strong>se<br />

Falschheit, <strong>die</strong> Welt entwerthet…<br />

Buch 3 <strong>die</strong> Moral in Hinsicht auf Entstehung, auf Mittel,<br />

auf Absicht das unmoralischste Faktum der<br />

Geschichte… ihre Selbst-Widerlegung, insofern<br />

sie, um ihre Werthe aufrecht zu erhalten, <strong>die</strong><br />

Gegenwerthe praktiziren muß…<br />

Aphorism n=12806 id='VIII.22[4]' kgw='VIII-3.393' ksa='13.585'<br />

Paulus: er sucht <strong>Macht</strong> gegen das regierende Judenthum,<br />

— seine Bewegung ist zu schwach … Umwerthung <strong>des</strong><br />

Begriffs „Jude“: <strong>die</strong> „Rasse“ wird bei Seite gethan —: aber das<br />

hieß das Fundament negiren: der „Märtyrer“, der Fanatiker,<br />

der Werth alles starken Glaubens…<br />

Nie zugestehen, daß <strong>die</strong> humanitären Wirkungen<br />

für das Christenthum sprechen…<br />

Das Christenthum ist <strong>die</strong> Verfalls-Form der alten<br />

Welt in tiefster Ohnmacht: so daß <strong>die</strong> kränksten und ungesün<strong>des</strong>ten<br />

Schichten und Bedürfnisse obenauf kommen.<br />

Aphorism n=12807 id='VIII.22[5]' kgw='VIII-3.393' ksa='13.585'<br />

Folglich mußten andere Instinkte in den Vordergrund<br />

treten, um eine Einheit, eine sich wehrende <strong>Macht</strong> zu<br />

schaffen —, kurz eine Art Nothlage war nöthig, wie jene,<br />

aus der <strong>die</strong> Juden ihren Instinkt zur Selbsterhaltung<br />

gewonnen hatten…<br />

unschätzbar sind hierfür <strong>die</strong> Christen-Verfolgungen: — <strong>die</strong><br />

Gemeinsamkeit in der Gefahr, <strong>die</strong> Massen-Bekehrungen<br />

als einziges Mittel den Privat-Verfolgungen ein Ende zu<br />

Page Break KGW='VIII-3.394' KSA='13.586'<br />

machen ( — man nimmt es folglich so leicht als möglich mit dem<br />

Begriff „Bekehrung“)<br />

Aphorism n=12808 id='VIII.22[6]' kgw='VIII-3.394' ksa='13.586'<br />

Götzen-Hammer.<br />

oder


Heiterkeiten<br />

eines Psychologen.<br />

Götzen-Hammer.<br />

Oder:<br />

wie ein Psycholog Fragen stellt.<br />

Von<br />

Friedrich Nietzsche.<br />

Götzen-Hammer.<br />

Müssiggang<br />

eines Psychologen.<br />

Von<br />

Friedrich Nietzsche.<br />

Götzen-Hammer.<br />

Oder:<br />

wie ein Psycholog Fragen stellt.<br />

Von<br />

Friedrich Nietzsche<br />

Leipzig,<br />

Verlag von C. G. Naumann<br />

1889.<br />

Götzen-Dämmerung.<br />

Oder:<br />

wie man mit dem Hammer<br />

philosophirt.<br />

Von<br />

Friedrich Nietzsche.<br />

Page Break KGW='VIII-3.395' KSA='13.587'<br />

Aphorism n=12809 id='VIII.22[7]' kgw='VIII-3.395' ksa='13.587'<br />

Ich empfinde(1832) das Interpretiren nach christlicher(1833) Manier<br />

als tiefe Leichtfertigkeit. Sein Leben sich so auslegen,<br />

wie es schwäbische Christen thun, scheint mir durchaus<br />

unanständig, — es gehört Mangel an der großen Rechtschaffenheit<br />

dazu, um nicht zu entdecken, [ — — — ] Etwas zu<br />

interpretiren — und daß es ein armseliges Kunststück ist — wenn<br />

<strong>die</strong> Wissenschaftlichkeit nicht das Gewissen führt, so ist<br />

immer ein Rückstand da von Tüchtigkeit, — um nicht<br />

schwach feige, geistlos, in einer christlichen Weise sich sein<br />

Leben zurechtzulegen, wie es in zurückbleibenden Gegenden z.B.<br />

in Schwaben möglich ist, was da zurückgeblieben ist war <strong>die</strong><br />

Rechtschaffenheit… Nicht der „Geist“: denn es<br />

gehört kein Scharfsinn dazu, um den „Schwindel“ zu<br />

durchschauen, den man dabei treibt


Aphorism n=12810 id='VIII.22[8]' kgw='VIII-3.395' ksa='13.587'<br />

Ein Glaube, der sich auf heilige Bücher stützt, <strong>die</strong> Niemand<br />

als Bücher gelten läßt, <strong>die</strong> Bücher durch Offenbarung mitgetheilt<br />

denen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Wahrheit erkennen(1834) als etwas, das gegeben ist,<br />

das feststeht, nicht als etwas, wofür [ — — — ] und mit<br />

unsäglicher Selbstbezwingung und -zucht, ein Glaube der nie den<br />

Willen hat, seine heiligen Bücher zu verstehen, der [ — — — ]<br />

durch „Offenbarung“ sicher gestellt ist sein typischer Zustand<br />

Aphorism n=12811 id='VIII.22[9]' kgw='VIII-3.395' ksa='13.587'<br />

Man soll es den Deutschen nie vergeben, <strong>die</strong> Renaissance(1835)<br />

um ihr Ziel, um ihren Sieg gebracht zu haben(1836), — den Sieg<br />

über das Christenthum. Die deutsche Reformation ist ihr<br />

dunkler Fluch… Und noch drei Mal hat <strong>die</strong>se <strong>Unglücks</strong>-Rasse<br />

sich dazwischen gemacht, um den Gang der Cultur zu<br />

hemmen — <strong>die</strong> deutsche Philosophie, <strong>die</strong> Freiheitskriege, <strong>die</strong><br />

Gründung <strong>des</strong> Reichs am Ende <strong>des</strong> neunzehnten Jahrhunderts<br />

— lauter große Verhängnisse der Cultur!<br />

Page Break KGW='VIII-3.396' KSA='13.588'<br />

Aphorism n=12812 id='VIII.22[10]' kgw='VIII-3.396' ksa='13.588'<br />

57. Cap.) der heilige Zweck: Manus Gedanken bei seiner<br />

Lüge.<br />

58. Cap.) nie soll man humanitäre Wirkungen <strong>des</strong><br />

Christenthums zugeben, es hat Alles verdorben<br />

— Die furchtbare Einbuße, <strong>die</strong> alle werthvollen<br />

Dinge erlebt haben, daß der Ernst an<br />

imaginäre, an schädliche verschwendet wurde;<br />

daß erst Mitte <strong>die</strong>ses Jahrhunderts<br />

<strong>die</strong> Fragen Nahrung, Wohnung, Gesundheit<br />

ernst genommen wurden<br />

59. Cap.) der große Versuch der Gegenwerthe — <strong>die</strong><br />

Mission der Deutschen<br />

60. Cap. meine Forderungen.<br />

1. Man vermeide den Umgang mit Solchen, <strong>die</strong> nach wie vor<br />

Christen bleiben, — das aus Gründen der Reinlichkeit.<br />

2. Die Fälle in Betracht gezogen, wo Christenthum ersichtlich<br />

bloß Folge und Symptom(1837) von Nervenschwäche ist,<br />

verhindere man mit allen Mitteln, daß von solchen Herden aus<br />

<strong>die</strong> Ansteckung um sich greift.


3. Daß <strong>die</strong> Bibel ein gefährliches Buch ist, daß man Vorsicht<br />

gegen dasselbe zu lernen hat, — daß es unreifen Altersklassen<br />

nicht einfach in <strong>die</strong> Hand gegeben werden darf<br />

4. daß man <strong>die</strong> Priester wie eine Art Tschandala betrachte<br />

und behandle<br />

5. Alle Stätten, Einrichtungen, Erziehung reinigen von der<br />

Befleckung <strong>des</strong> Priesters<br />

6. Feste und Heilige „Erlöser“<br />

7. Zeit-Datirung<br />

Aphorism n=12813 id='VIII.22[11]' kgw='VIII-3.396' ksa='13.588'<br />

Ich habe Fälle erlebt, wo junge Männer achtbarer Herkunft,<br />

<strong>die</strong> lange ihrem Leben kein Ziel zu geben verstehn, zuletzt in<br />

geradezu schmutzigen Bewegungen verschwinden, — nur weil<br />

Page Break KGW='VIII-3.397' KSA='13.589'<br />

<strong>die</strong>se ihnen ein Ziel geben… Einige z.B. werden sogar<br />

Antisemiten…<br />

Aphorism n=12814 id='VIII.22[12]' kgw='VIII-3.397' ksa='13.589'<br />

58. Was man dem Christenthum verdankt<br />

<strong>die</strong> furchtbare Einbuße, weil Alles, was Werth hat,<br />

was wichtig ersten Ranges ist, nicht ernst genommen<br />

worden ist…<br />

— jetzt fangen wir an, Gesundheit, Kleidung, Nahrung<br />

Wohnung, ernst zu nehmen…<br />

<strong>die</strong> Vergeudung aller großen Leidenschaft, aller Begeisterung,<br />

aller Tiefe und Feinheit <strong>des</strong> Geistes<br />

Aphorism n=12815 id='VIII.22[13]' kgw='VIII-3.397' ksa='13.589'<br />

Vom höheren Menschen.<br />

Oder:<br />

<strong>die</strong> Versuchung Zarathustra's.<br />

Zarathustra's Versuchung.<br />

Oder:<br />

wem Mitleiden eine Sünde wäre.<br />

Zarathustra's Versuchung.<br />

Oder:<br />

wie Mitleiden eine Sünde wird.


wem Mitleiden zur Sünde würde.<br />

Aphorism n=12816 id='VIII.22[14]' kgw='VIII-3.397' ksa='13.589'<br />

Umwerthung aller Werthe.<br />

Der Antichrist. Versuch einer Kritik <strong>des</strong> Christenthums.<br />

Der Immoralist. Kritik der verhängnissvollsten Art von<br />

Unwissenheit, der Moral.<br />

Wir Jasagenden. Kritik der Philosophie als einer<br />

nihilistischen Bewegung.<br />

Dionysos. Philosophie der ewigen Wiederkunft.<br />

Page Break KGW='VIII-3.398' KSA='13.590'<br />

Zarathustras Lieder<br />

Aus<br />

sieben Einsamkeiten.<br />

Aphorism n=12817 id='VIII.22[15]' kgw='VIII-3.398' ksa='13.590'<br />

Zarathustras Versuchung.<br />

Oder:<br />

an wem Mitleiden zur Sünde<br />

würde.<br />

Von<br />

Friedrich Nietzsche.<br />

Aphorism n=12818 id='VIII.22[16]' kgw='VIII-3.398' ksa='13.590'<br />

Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem.<br />

Götzen-Dämmerung. Oder: wie man mit dem Hammer philosophirt.<br />

Zarathustra's Versuchung. Oder: an wem Mitleiden zur Sünde würde.<br />

Aphorism n=12819 id='VIII.22[17]' kgw='VIII-3.398' ksa='13.590'<br />

<strong>die</strong> Ursächlichkeit <strong>des</strong> Handelns<br />

<strong>die</strong> Zwecke falsch angesetzt:<br />

Glück a) eignes b) frem<strong>des</strong><br />

„egoistisch“ „unegoistisch“<br />

( — Tiefster Mangel an Selbstbesinnung bei Schopenhauer,<br />

der auch noch<br />

c) frem<strong>des</strong> Leid d) eignes Leid


hinzufügt: was natürlich nur Spezifikationen <strong>des</strong> Begriffs<br />

„eignes Glück“ sind (a)<br />

wenn Glück Zweck der Handlung ist, so muß Unbefriedigung<br />

dem Handeln vorausgehn: pessimistische Fälschung <strong>des</strong><br />

Thatbestan<strong>des</strong>. Die Unlust als Motiv zum Handeln.<br />

Page Break KGW='VIII-3.399' KSA='13.591'<br />

Meine Theorie: Lust, Unlust, „Wille“, „Zweck“ vollkommen<br />

bloß Begleit-Erscheinungen, — niemals ursächlich.<br />

Alle sogenannte „geistige“ Ursächlichkeit ist eine Fiktion<br />

Ursächlichkeit <strong>des</strong> Handelns<br />

Unlust und Lust Motive<br />

der Wille als ursächlich im Handeln<br />

Vorausgesetzt: daß <strong>die</strong> ganze Vorgeschichte in der Sphäre<br />

<strong>des</strong> Bewußtseins liegt<br />

daß <strong>die</strong> eigentliche Ursächlichkeit eine geistige ist…<br />

daß <strong>die</strong> „Seele“ weiß, was sie will und daß der Werth <strong>des</strong><br />

Willensaktes bedingt ist durch ihr Wissen…<br />

daß <strong>die</strong> Seele frei ist vom Willen und folglich — — —<br />

Aphorism n=12820 id='VIII.22[18]' kgw='VIII-3.399' ksa='13.591'<br />

Die schlechten Handlungen, <strong>die</strong> der décadents sind gerade<br />

durch ihren Mangel an „Egoismus“ gekennzeichnet, —<br />

sie sind nicht auf den letzten Nutzen gerichtet<br />

Psychologie der sogenannten unegoistischen Handlungen<br />

— in Wahrheit sind sie strengstens auf den<br />

Selbst-Erhaltungs-Instinkt hin regulirt<br />

das Umgekehrte ist bei den sogenannten egoistischen<br />

Handlungen der Fall:<br />

hier fehlt gerade der dirigirende Instinkt, — das tiefe<br />

Bewußtsein <strong>des</strong> Nützlichen und Schädlichen<br />

Alle Stärke, Gesundheit, Vitalität zeigt von der vermehrten<br />

Spannung hin zum commandirenden Instinkt <strong>des</strong><br />

Selbst<br />

alles Locker-werden ist décadence<br />

Page Break KGW='VIII-3.400' KSA='13.592'<br />

Aphorism n=12821 id='VIII.22[19]' kgw='VIII-3.400' ksa='13.592'<br />

Thesen: es giebt gar keine unegoistische Handlung


: es giebt auch kein egoistisches Handeln<br />

: Glück ist niemals Zweck <strong>des</strong> Handelns, Unlust niemals<br />

Ursache<br />

( — <strong>die</strong> Unlust könnte noch so groß sein: wäre der<br />

Mechanismus nicht frei, so gäbe es dennoch keine Handlung.<br />

Lust und Unlust sind keine Ursachen, sie<br />

setzen nur Etwas in Bewegung, — sie begleiten es…<br />

In wiefern alle Niedrigen, Lasterhaften, Brutalen,<br />

Listig-Raffinirten bloß symptomatisch sind<br />

für Degenerescenz<br />

der Heerden-Instinkt<br />

Kritik der Mitgefühle<br />

Kritik der Selbstgefühle<br />

Warum Wahrheit?<br />

Aphorism n=12822 id='VIII.22[20]' kgw='VIII-3.400' ksa='13.592'<br />

Falsche Consequenzen <strong>des</strong> Glaubens ans „ego“<br />

der Mensch strebt nach Glück: aber in <strong>die</strong>sem Sinne<br />

giebt es keine Einheit „welche strebt“…<br />

und wonach alle Einheiten streben, das ist durchaus nicht<br />

Glück — Glück ist eine Begleiterscheinung — beim Auslösen<br />

ihrer Kraft: was Handeln macht, ist nicht das Bedürfniß,<br />

sondern <strong>die</strong> Fülle, welche auf einen Reiz hin sich<br />

entladet<br />

nicht <strong>die</strong> „Unlust“ Voraussetzung der Thätigkeit, jene<br />

Spannung ist ein großer Reiz…<br />

gegen <strong>die</strong> pessimistische Theorie, als ob alles<br />

Handeln auf Los-werden-wollen einer Unbefriedigung<br />

hinausgienge, als ob Lust an sich Ziel irgend welchen Handelns<br />

wäre…<br />

Page Break KGW='VIII-3.401' KSA='13.593'<br />

Aphorism n=12823 id='VIII.22[21]' kgw='VIII-3.401' ksa='13.593'<br />

„selbstlose“ Handlungen giebt es gar nicht.<br />

Handlungen, in denen das Individuum seinen eignen<br />

Instinkten untreu wird und nachtheilig wählt, sind Zeichen der<br />

décadence<br />

( — eine Menge der berühmtesten sogenannten „Heiligen“<br />

sind einfach durch ihren Mangel an „Egoismus“ überführt,<br />

décadents zu sein<br />

<strong>die</strong> Handlungen der Liebe, <strong>des</strong> „Heroismus“ sind so wenig<br />

„unselbstisch“, daß sie gerade der Beweis eines sehr starken


und reichen Selbst sind<br />

— das Abgeben-können steht den „Armen“ nicht frei…<br />

ebensowenig <strong>die</strong> große Verwegenheit und Lust am Abenteuer,<br />

<strong>die</strong> zum „Heroismus“ gehört<br />

nicht „sich opfern“ als Ziel, sondern Ziele durchsetzen,<br />

über deren Folgen man aus Übermuth und Zutrauen zu sich<br />

nicht besorgt ist, gleichgültig ist…<br />

Aphorism n=12824 id='VIII.22[22]' kgw='VIII-3.401' ksa='13.593'<br />

a) <strong>die</strong> falsche Ursächlichkeit<br />

Lust Unlust Wille Zweck „Geist“<br />

b) <strong>die</strong> falsche Einheit „Seele“, „ich“, „Person“<br />

womöglich „unsterbliche Person“<br />

— damit ein falscher Altruismus gegeben<br />

„ich“ und „Andere“<br />

(Egoism — Altruism)<br />

„Subjekt“ „Objekt“<br />

c) <strong>die</strong> vollkommene Verachtung <strong>des</strong> Leibes ließ <strong>die</strong><br />

Einzelperson nicht sehen, <strong>die</strong> vollkommene minutieuseste Art<br />

ihres Organisations-Spiels zur Selbst-Erhaltung und<br />

Reinigung der Art der Gattung: — mit anderen Worten den<br />

unendlichen(1838) Werth der Einzel-Person als Träger<br />

<strong>des</strong> Lebens-prozesses und, folglich, ihr allerhöchstes<br />

Page Break KGW='VIII-3.402' KSA='13.594'<br />

Recht auf Egoismus, — wie alle ihre Unmöglichkeit es<br />

nicht zu sein…<br />

Thatsächlich ist alles „Unegoistische“ décadence-Phänomen.<br />

Aphorism n=12825 id='VIII.22[23]' kgw='VIII-3.402' ksa='13.594'<br />

Das Bibel-Verbot „du sollst nicht tödten“ ist eine Naivetät<br />

im Vergleich zu meinem Verbote an <strong>die</strong> décadents „ihr sollt<br />

nicht zeugen!“ — es ist Schlimmeres noch, es ist der Widerspruch<br />

dazu… Das höchste Gesetz <strong>des</strong> Lebens, von Zarathustra<br />

formulirt, verlangt, daß man ohne Mitleid sei mit allem<br />

Ausschuß und Abfall <strong>des</strong> Lebens, — daß man vernichte,<br />

was für das aufsteigende Leben bloß Hemmung, Gift, Verschwörung,<br />

unterirdische Gegnerschaft sein würde, — Christenthum<br />

mit einem Wort… es ist unmoralisch im tiefsten<br />

Verstand zu sagen: du sollst nicht tödten…<br />

Aphorism n=12826 id='VIII.22[24]' kgw='VIII-3.402' ksa='13.594'


I. Die Erlösung vom Christenthum: der Antichrist<br />

II. von der Moral: der Immoralist<br />

III. von der „Wahrheit“: der freie Geist.<br />

IV. vom Nihilismus:<br />

der Nihilismus als <strong>die</strong> nothwendige Folge von Christenthum,<br />

Moral und Wahrheitsbegriff der Philosophie.<br />

Die Zeichen <strong>des</strong> Nihilismus…<br />

ich verstehe unter „Freiheit <strong>des</strong> Geistes“ etwas sehr<br />

Bestimmtes: hundert Mal den Philosophen und anderen Jüngern der<br />

„Wahrheit“ durch Strenge gegen sich überlegen sein, durch<br />

Lauterkeit und Muth, durch den unbedingten Willen, Nein zu sagen,<br />

wo das Nein gefährlich ist — ich behandle <strong>die</strong> bisherigen<br />

Philosophen als verächtliche libertins unter der Kapuze <strong>des</strong><br />

Weibes „Wahrheit“.<br />

Page Break KGW='VIII-3.403' KSA='13.595'<br />

Aphorism n=12827 id='VIII.22[25]' kgw='VIII-3.403' ksa='13.595'<br />

Der Immoralist.<br />

der Herkunft nach ist Moral: Summe der Erhaltungs-Bedingungen<br />

einer armen, halb oder ganz mißrathnen Art Mensch: <strong>die</strong>se kann<br />

<strong>die</strong> „große Zahl“ sein: — daher ihre Gefahr.<br />

Kritik der „Verbesserer“<br />

ihrer Benutzung nach ist sie das Hauptmittel<br />

<strong>des</strong> Priester-Parasitismus im Kampf mit den Starken, den<br />

Lebensbejahenden — sie gewinnen „<strong>die</strong> große Zahl“<br />

(<strong>die</strong> Niedrigen, <strong>die</strong> Leidenden, in allen Ständen<br />

— <strong>die</strong> Verunglückten aller Art — eine Art<br />

Gesammt-Aufstand gegen <strong>die</strong> kleine Zahl der Gutgearteten…<br />

Kritik der „Guten“<br />

ihren Folgen nach <strong>die</strong> radikale Falschheit und Verderbniß<br />

selbst jener Ausnahme-Schichten: welche schließlich,<br />

um sich nur auszuhalten, in keinem Punkte mehr<br />

wahr gegen sich sein dürfen: <strong>die</strong> vollkommene psychologische<br />

Corruption mit dem, was daraus folgt: — — —<br />

Aphorism n=12828 id='VIII.22[26]' kgw='VIII-3.403' ksa='13.595'<br />

Das Kunststück meines Lebens liegt in der Bescheidenheit,<br />

— in dem Willen, in der Kraft dazu, sich klein zu<br />

machen… Nicht sich klein zu stellen: sondern gleichsam Etwas<br />

zu vergessen, von sich ablösen, eine Distanz schaffen in sich —<br />

anders ausgedrückt: im Bewußtsein vollkommener Freiheit


[ — — — ] <strong>die</strong> Aufgabe, der Wille, der unbarmherzige Instinkt,<br />

den sie bedingt…<br />

Das Kunststück war, das viele Arme, Schwache, Leidende<br />

meines Lebens mir zu Hülfe zu nehmen, um an einer großen<br />

Aufgabe nicht zu Grunde zu gehn: — mich gleichsam zu<br />

zertheilen — und <strong>die</strong> andere Hälfte übrigbehalten zur<br />

Freundlichkeit, Menschenfreundlichkeit, Geduld, Zugänglichkeit für<br />

Page Break KGW='VIII-3.404' KSA='13.596'<br />

alles Kleine und Kleinste. Es ist auch <strong>die</strong> Seite, wo ich<br />

raffinirt und klug bin in Dingen <strong>des</strong> Genießens, — ein guter Leser,<br />

ein guter Hörer… Hier gefallen mir auch Dinge, <strong>die</strong> vielleicht<br />

eine große Liberalität in der Güte noch mehr verlangen als<br />

eine feinere Intelligenz; z.B. Petronius, auch Heinrich Heine,<br />

Offenbach mit seinen unsterblichen Tricks…<br />

Gegen <strong>die</strong> Thatsache, daß fast jede Berührung mit Menschen<br />

mir den Begriff vom Thier mit unfreiwilligem Humor<br />

gab, erwuchs bei mir nicht gerade eine Geringschätzung: ich habe<br />

mich in allen Fällen, wo eine Art Rancune oder Ferocität<br />

gegen mich zu Tage trat(1839), bemüht, irgend etwas [ — — — ] zu<br />

thun, um eine Erinnerung damit auszuwischen.<br />

Aphorism n=12829 id='VIII.22[27]' kgw='VIII-3.404' ksa='13.596'<br />

Ich habe nie daran gelitten, nicht geehrt zu sein, — ich finde<br />

einen Vortheil darin. Andrerseits habe ich so viel Auszeichnung<br />

und Ehre in meinem Leben, von früher Jugend an erlebt, daß ich<br />

mich — — —<br />

Aphorism n=12830 id='VIII.22[28]' kgw='VIII-3.404' ksa='13.596'<br />

Die Kunst, mich zu trennen, — auseinander zu halten, Eine<br />

Hälfte Jahre lang zu vergessen…<br />

Vortheile aus meiner Krankheit ziehen: <strong>die</strong> Entlastung<br />

von der großen Spannung<br />

das liebevolle Rachenehmen-Lernen für das Kleine.<br />

Es würde mir unmöglich sein, zu erklären, was ich als den<br />

schlimmsten Zufall meines Lebens betrachte, — es klänge nicht<br />

nur paradox, es klänge undankbar, niedrig.<br />

Die Art Wohlwollen, <strong>die</strong> ich erfahren habe, hat in vielen<br />

Fällen auf mich einen schlimmeren Eindruck gemacht als irgend<br />

eine Art Bosheit und Feindseligkeit. Es ist so viel Zudringlichkeit,<br />

so viel Mangel an Distanz-Gefühl im Glauben, wohlthun zu können:


Page Break KGW='VIII-3.405' KSA='13.597'<br />

ich habe öfter das Wohlthun-wollen unter den allgemeinen<br />

Begriff der Brutalität gefaßt<br />

Warum ich nie gelitten habe: „unerkannt“ zu sein, nicht<br />

gelesen zu werden<br />

Noch in meinem 45ten Jahre geben mir Gelehrte der Basler<br />

Universität in aller Gutmüthigkeit zu verstehen, <strong>die</strong> litterarische<br />

Form meiner Schriften sei der Grund, weshalb man mich nicht<br />

lese, ich sollte das anders machen.<br />

Aphorism n=12831 id='VIII.22[29]' kgw='VIII-3.405' ksa='13.597'<br />

Ein Distanz-Gefühl das zuletzt physiologisch sein möchte bin<br />

ich aus der allernächsten Nähe [ — ] nie los geworden: ich<br />

empfinde <strong>die</strong> Distanz, verschieden zu sein in jedem Verstande,<br />

gleichsam unvermischbar und obenauf im Vergleich zu jedem<br />

trüben Elemente<br />

Mein Vorrecht, mein Voraus vor den Menschen überhaupt<br />

ist, eine Fülle höchster und neuester Zustände erlebt zu haben, in<br />

Bezug auf welche zwischen Geist und Seele zu trennen ein Cynismus<br />

wäre. Unzweifelhaft muß man Philosoph sein, tief sein bis<br />

zum [ — ], um von <strong>die</strong>ser Lichtfülle herauszutreten: aber <strong>die</strong><br />

Richtigkeit <strong>des</strong> Gefühls, <strong>die</strong> lange Tyrannei einer großen Aufgabe<br />

sind <strong>die</strong> noch unentbehrlicheren Vorbedingungen dazu.<br />

Page Break KGW='VIII-3.406' KSA='13.598'<br />

Page Break KGW='VIII-3.407' KSA='13.599'<br />

[ 23 = Mp XVI 4d. Mp XVII 7. W II 7b. Z II 1b. W II 6c. Oktober 1888 ]<br />

Aphorism n=12832 id='VIII.23[1]' kgw='VIII-3.407' ksa='13.599'<br />

Auch ein Gebot der Menschenliebe. — Es<br />

giebt Fälle, wo ein Kind ein Verbrechen sein würde: bei<br />

chronisch Kranken und Neurasthenikern dritten Gra<strong>des</strong>. Was hat<br />

man da zu thun? — Solche zur Keuschheit ermuthigen, etwa<br />

mit Hülfe von Parsifal-Musik, mag immerhin versucht werden:<br />

Parsifal selbst, <strong>die</strong>ser typische Idiot, hatte nur zu viel Gründe,<br />

sich nicht fortzupflanzen. Der Übelstand ist, daß eine gewisse<br />

Unfähigkeit, sich zu „beherrschen“ ( — auf Reize, auf noch so<br />

kleine Geschlechtsreize nicht zu reagiren) gerade zu den<br />

regelmäßigsten Folgen der Gesammt-Erschöpfung gehört. Man<br />

würde sich verrechnen, wenn man sich zum Beispiel einen


Leopardi als keusch vorstellte. Der Priester, der Moralist spielen da<br />

ein verlornes Spiel; besser thut man noch, in <strong>die</strong> Apotheke zu<br />

schicken. Zuletzt hat hier <strong>die</strong> Gesellschaft eine Pflicht zu<br />

erfüllen: es giebt wenige dergestalt dringliche und grundsätzliche<br />

Forderungen an sie. Die Gesellschaft, als Großmandatar <strong>des</strong><br />

Lebens, hat je<strong>des</strong> verfehlte Leben vor dem Leben selber zu<br />

verantworten, — sie hat es auch zu büßen: folglich soll sie es<br />

verhindern. Die Gesellschaft soll in zahlreichen Fällen der<br />

Zeugung vorbeugen: sie darf hierzu, ohne Rücksicht auf<br />

Herkunft, Rang und Geist, <strong>die</strong> härtesten Zwangs-Maaßregeln,<br />

Freiheits-Entziehungen, unter Umständen Castrationen in Bereitschaft<br />

halten. — Das Bibel-Verbot „du sollst nicht tödten!“ ist<br />

Page Break KGW='VIII-3.410' KSA='13.600'<br />

eine Naivetät im Vergleich zum Ernst <strong>des</strong> Lebens-Verbots an<br />

<strong>die</strong> décadents: „ihr sollt nicht zeugen!“… Das Leben selbst<br />

erkennt keine Solidarität, kein „gleiches Recht“ zwischen<br />

gesunden und entartenden Theilen eines Organismus an: letztere<br />

muß man ausschneiden — oder das Ganze geht zu<br />

Grunde. — Mitleiden mit den décadents, gleiche<br />

Rechte auch für <strong>die</strong> Mißrathenen — das wäre <strong>die</strong> tiefste<br />

Unmoralität, das wäre <strong>die</strong> Widernatur selbst als Moral!<br />

Aphorism n=12833 id='VIII.23[2]' kgw='VIII-3.410' ksa='13.600'<br />

Zur Vernunft <strong>des</strong> Lebens. — Eine relative Keuschheit,<br />

eine grundsätzliche und kluge Vorsicht vor Eroticis selbst<br />

in Gedanken, kann zur großen Vernunft <strong>des</strong> Lebens auch bei<br />

reich ausgestatteten und ganzen Naturen gehören. Der Satz gilt<br />

in Sonderheit von den Künstlern, er gehört zu deren<br />

bester Lebens-Weisheit. Völlig unverdächtige Stimmen sind<br />

schon in <strong>die</strong>sem Sinne laut geworden: ich nenne Stendhal, Th.<br />

Gautier, auch Flaubert. Der Künstler ist vielleicht seiner Art<br />

nach mit Nothwendigkeit ein sinnlicher Mensch, erregbar<br />

überhaupt, zugänglich in jedem Sinne, dem Reize, der Suggestion<br />

<strong>des</strong> Reizes schon von Ferne her entgegenkommend. Trotzdem ist<br />

er im Durchschnitt, unter der Gewalt seiner Aufgabe, seines<br />

Willens zur Meisterschaft, thatsächlich ein mäßiger, oft sogar<br />

ein keuscher Mensch. Sein dominirender Instinkt will es so<br />

von ihm: er erlaubt ihm nicht, sich auf <strong>die</strong>se oder jene Weise<br />

auszugeben. Es ist ein und <strong>die</strong>selbe Kraft, <strong>die</strong> man in der<br />

Kunst-Conception und <strong>die</strong> man im geschlechtlichen Actus ausgiebt:<br />

es giebt nur Eine Art Kraft. Hier zu unterliegen, hier sich<br />

zu verschwenden ist für einen Künstler verrätherisch: es verräth<br />

den Mangel an Instinkt, an Wille überhaupt, es kann ein Zeichen<br />

von décadence sein, — es entwerthet jedenfalls bis zu<br />

einem unausrechenbaren Grade seine Kunst. Ich nehme den<br />

unangenehmsten Fall, den Fall Wagner. — Wagner, im Banne jener


unglaubwürdig krankhaften Sexualität, <strong>die</strong> der Fluch seines<br />

Page Break KGW='VIII-3.411' KSA='13.601'<br />

Lebens war, wußte nur zu gut, was ein Künstler damit einbüßt, daß<br />

er vor sich <strong>die</strong> Freiheit, <strong>die</strong> Achtung verliert. Er ist<br />

verurtheilt, Schauspieler zu sein. Seine Kunst selbst wird ihm zum<br />

beständigen Fluchtversuch, zum Mittel <strong>des</strong> Sich-Vergessens, <strong>des</strong><br />

Sich-Betäubens, — es verändert, es bestimmt zuletzt den<br />

Charakter seiner Kunst. Ein solcher „Unfreier“ hat eine<br />

Haschisch-Welt nöthig, fremde, schwere, einhüllende Dünste, alle<br />

Art Exotismus und Symbolismus <strong>des</strong> Ideals, nur um seine<br />

Realität einmal loszusein, — er hat Wagnersche Musik nöthig…<br />

Eine gewisse Katholicität <strong>des</strong> Ideals vor Allem ist bei einem<br />

Künstler beinahe der Beweis von Selbstverachtung, von „Sumpf“:<br />

der Fall Baudelaire's in Frankreich, der Fall Edgar Allan Poe's<br />

in Amerika, der Fall Wagner's in Deutschland. — Habe ich noch<br />

zu sagen, daß Wagner seiner Sinnlichkeit auch seinen Erfolg<br />

verdankt? daß seine Musik <strong>die</strong> untersten Instinkte zu sich, zu<br />

Wagner überredet? daß jener heilige Begriffs-Dunst von Ideal,<br />

von Drei-Achtel-Katholicismus eine Kunst der Verführung<br />

mehr ist? ( — er erlaubt, unwissend, unschuldig, christlich<br />

„den Zauber“ auf sich wirken zu lassen…) Wer wagte das Wort,<br />

das eigentliche Wort für <strong>die</strong> ardeurs der Tristan-Musik? —<br />

Ich ziehe Handschuhe an, wenn ich <strong>die</strong> Partitur <strong>des</strong> Tristan lese<br />

… Die immer mehr um sich greifende Wagnerei ist eine leichtere<br />

Sinnlichkeits-Epidemie, <strong>die</strong> „es nicht weiß“; gegen Wagnersche<br />

Musik halte ich jede Vorsicht für geboten. —<br />

Aphorism n=12834 id='VIII.23[3]' kgw='VIII-3.411' ksa='13.601'<br />

Wir Hyperboreer.<br />

1.<br />

Wenn anders wir Philosophen sind, wir Hyperboreer, es<br />

scheint jedenfalls, daß wir es anders sind als man ehemals<br />

Philosoph war. Wir sind durchaus keine Moralisten… Wir<br />

trauen unsern Ohren nicht, wenn wir sie reden hören, alle<br />

<strong>die</strong>se Ehemaligen. „Hier ist der Weg zum Glücke“ — damit<br />

springt ein Jeder von ihnen auf uns los, mit einem Recept in<br />

Page Break KGW='VIII-3.412' KSA='13.602'<br />

der Hand und mit Salbung im hieratischen Maule. „Aber was<br />

kümmert uns das Glück?“ — fragen wir ganz erstaunt. „Hier<br />

ist der Weg zum Glück — fahren sie fort, <strong>die</strong>se heiligen<br />

Schreiteufel: und <strong>die</strong>s da ist <strong>die</strong> Tugend, der neue Weg zum<br />

Glück!“… Aber wir bitten Sie, meine Herrn! Was kümmert<br />

uns gar Ihre Tugend! Wozu geht Unsereins denn abseits, wird<br />

Philosoph, wird Rhinozeros, wird Höhlenbär, wird Gespenst?


Ist es nicht, um <strong>die</strong> Tugend und das Glück los zu sein? —<br />

Wir sind von Natur viel zu glücklich, viel zu tugendhaft, um<br />

nicht eine kleine Versuchung darin zu finden, Philosophen zu<br />

werden: das heißt Immoralisten und Abenteurer… Wir haben<br />

für das Labyrinth eine eigne Neugierde, wir bemühn uns darum,<br />

<strong>die</strong> Bekanntschaft <strong>des</strong> Herrn Minotaurus zu machen, von dem<br />

man Gefährliches erzählt: was liegt uns an Ihrem Weg<br />

hinauf, an Ihrem Strick, der hinaus führt? zu Glück und<br />

Tugend führt? zu Ihnen führt, ich fürchte es… Sie wollen<br />

uns mit Ihrem Stricke retten? — Und wir, wir bitten Sie<br />

inständigst, hängen Sie sich daran auf!…<br />

2.<br />

Zuletzt: was hilft es! Es bleibt kein andres Mittel, <strong>die</strong><br />

Philosophie wieder zu Ehren zu bringen: man muß zuerst <strong>die</strong><br />

Moralisten aufhängen. So lange <strong>die</strong>se von Glück und<br />

Tugend reden, überreden sie nur <strong>die</strong> alten Weiber zur Philosophie.<br />

Sehen Sie ihnen doch in's Gesicht, allen den berühmten<br />

Weisen seit Jahrtausenden: lauter alte, lauter ältliche Weiber,<br />

lauter Mütter, mit Faust zu reden. „Die Mütter! Mütter!<br />

's klingt so schauerlich.“ — Wir machen aus ihr eine Gefahr,<br />

wir verändern ihren Begriff, wir lehren Philosophie als<br />

lebensgefährlichen Begriff: wie könnten wir ihr besser<br />

zu Hülfe kommen? — Ein Begriff wird der Menschheit immer<br />

so viel werth sein, als er ihr kostet. Wenn Niemand Bedenken<br />

trägt, für den Begriff „Gott“, „Vaterland“, „Freiheit“<br />

Hekatomben zu opfern, wenn <strong>die</strong> Geschichte der große Dampf um<br />

Page Break KGW='VIII-3.413' KSA='13.603'<br />

<strong>die</strong>se Art Opfer ist —, womit kann sich der Vorrang <strong>des</strong><br />

Begriffs „Philosophie“ vor solchen Popular-Werthen, wie<br />

„Gott“, „Vaterland“, „Freiheit“, beweisen, als dadurch, daß er<br />

mehr kostet — größere Hekatomben?… Umwerthung<br />

aller Werthe: das wird kostspielig, ich verspreche<br />

es — —<br />

3.<br />

Dieser Anfang ist heiter genug: ich schicke ihm sofort<br />

meinen Ernst hinterdrein. Mit <strong>die</strong>sem Buche wird der Moral der<br />

Krieg erklärt, — und, in der That, <strong>die</strong> Moralisten<br />

insgesammt werden zuerst von mir abgethan. Man weiß bereits,<br />

welches Wort ich mir zu <strong>die</strong>sem Kampf zurecht gemacht habe,<br />

das Wort Immoralist; man kennt insgleichen meine Formel<br />

„Jenseits von Gut und Böse“. Ich habe <strong>die</strong>se starken<br />

Gegen-Begriffe nöthig, <strong>die</strong> Leuchtkraft <strong>die</strong>ser Gegen-Begriffe,<br />

um in jenen Abgrund von Leichtfertigkeit und Lüge hinabzuleuchten,<br />

der bisher Moral hieß. Die Jahrtausende, <strong>die</strong> Völker,<br />

<strong>die</strong> Ersten und <strong>die</strong> Letzten, <strong>die</strong> Philosophen und <strong>die</strong> alten<br />

Weiber — in <strong>die</strong>sem Punkte sind sie alle einander würdig. Der<br />

Mensch war bisher das moralische Wesen, eine Curiosität


ohne Gleichen — und als moralisches Wesen absurder, verlogener,<br />

eitler, leichtfertiger, sich selber nachtheiliger<br />

als auch der größte Verächter <strong>des</strong> Menschen es sich träumen<br />

lassen möchte. Moral <strong>die</strong> bösartigste Form <strong>des</strong> Willens zur<br />

Lüge, <strong>die</strong> eigentliche Circe der Menschheit: das was sie<br />

verdorben hat. Es ist nicht der Irrthum als Irrthum, was<br />

mir bei <strong>die</strong>sem Anblick Entsetzen macht, nicht der<br />

jahrtausendelange Mangel an „gutem Willen“, an Zucht, an Anstand,<br />

an Muth im Geistigen: es ist der Mangel an Natur, es ist <strong>die</strong><br />

schauderhafte Thatsächlichkeit, daß <strong>die</strong> Widernatur selbst als<br />

Moral mit den höchsten Ehren geehrt worden ist und als Gesetz<br />

über der Menschheit hängen blieb … In <strong>die</strong>sem Maaße sich<br />

vergreifen, — nicht als Einzelner, nicht als Volk, sondern als<br />

Page Break KGW='VIII-3.414' KSA='13.604'<br />

Menschheit! Worauf weist das? — Daß man <strong>die</strong> untersten<br />

Instinkte <strong>des</strong> Lebens verachten lehrt, daß man in der tiefsten<br />

Nothwendigkeit zum Gedeihen <strong>des</strong> Lebens, in der Selbstsucht,<br />

das böse Princip sieht: daß man in dem typischen Ziel <strong>des</strong><br />

Niedergangs, der Instinkt-Widersprüchlichkeit, im „Selbstlosen“ im<br />

Verlust <strong>des</strong> Schwergewichts in der „Entpersönlichung“ und<br />

„Nächstenliebe“ grundsätzlich einen höheren Werth, was sage<br />

ich! den Werth an sich sieht!<br />

Wie? Wäre <strong>die</strong> Menschheit selber in décadence? Wäre sie<br />

es immer gewesen? Was feststeht, ist daß ihr nur décadence-Werthe<br />

als oberste Werthe gelehrt worden sind. Die Entselbstungs-Moral<br />

ist <strong>die</strong> typische Niedergangs-Moral par excellence. — Hier<br />

bliebe eine Möglichkeit offen, daß nicht <strong>die</strong> Menschheit<br />

selber in décadence sei, sondern jene ihre Lehrer!…<br />

Und in der That, das ist mein Satz: <strong>die</strong> Lehrer, <strong>die</strong> Führer der<br />

Menschheit waren décadents: daher <strong>die</strong> Umwerthung aller<br />

Werthe in's Nihilistische („Jenseitige“…)<br />

4.<br />

Was dürfte dagegen ein Immoralist von sich verlangen?<br />

Was werde ich mir mit <strong>die</strong>sem Buche zur Aufgabe stellen?<br />

— Vielleicht auch <strong>die</strong> Menschheit zu „verbessern“, nur<br />

anders, nur umgekehrt: nämlich sie von der Moral zu erlösen,<br />

von den Moralisten zumal, — ihre gefährlichste Art von<br />

Unwissenheit ihr in's Bewußtsein, ihr in's Gewissen zu<br />

schieben… Wiederherstellung <strong>des</strong> Menschheits-Egoismus! — —<br />

Aphorism n=12835 id='VIII.23[4]' kgw='VIII-3.414' ksa='13.604'<br />

Der Immoralist.<br />

A. Psychologie <strong>des</strong> Guten: ein décadent<br />

oder das Heerdenthier<br />

B. seine absolute Schädlichkeit:


Page Break KGW='VIII-3.415' KSA='13.605'<br />

als Parasitenform auf Unkosten der Wahrheit<br />

und der Zukunft<br />

C. der Macchiavellismus der Guten<br />

ihr Kampf um <strong>die</strong> <strong>Macht</strong><br />

ihre Mittel, zu verführen<br />

ihre Klugheit in der Unterwerfung<br />

z.B. vor Priestern<br />

vor Mächtigen<br />

D. „Das Weib“ im Guten<br />

„Güte“ als feinste Sklaven-Klugheit, Rücksicht<br />

überall gebend und folglich empfangend.<br />

E. Physiologie der Guten<br />

an welchem Punkt der Gute auftritt in Familien, in<br />

Völkern<br />

zu gleicher Zeit, wo <strong>die</strong> Neurosen auftreten<br />

Gegensatz-Typus: <strong>die</strong> wahre Güte, Vornehmheit, Größe der<br />

Seele, <strong>die</strong> aus dem Reichthum, aus dem — — — welche nicht<br />

giebt, um zu nehmen, — welche nicht sich damit erheben<br />

will, daß sie gütig ist, — <strong>die</strong> Verschwendung als Typus<br />

der wahren Güte, der Reichthum an Person als Voraussetzung<br />

der Begriff „Pflicht“ — eine Unterwerfung, Folge der<br />

Schwäche um nicht mehr fragen und wählen zu müssen<br />

<strong>die</strong> Schwäche <strong>des</strong> Heerdenthiers erzeugt eine ganz<br />

ähnliche Moral, wie <strong>die</strong> Schwäche der décadents:<br />

— sie verstehen sich, sie verbünden sich…<br />

<strong>die</strong> großen décadence-Religionen rechnen immer auf <strong>die</strong><br />

Unterstützung durch <strong>die</strong> Heerde…<br />

An sich fehlt alles Krankhafte am Heerdenthier, es ist unschätzbar<br />

selbst; aber unfähig, sich zu leiten, braucht es einen<br />

„Hirten“ — das verstehen <strong>die</strong> Priester…<br />

Page Break KGW='VIII-3.416' KSA='13.606'<br />

der „Staat“ ist nicht intim, heimlich genug, <strong>die</strong><br />

„Gewissensleitung“ entgeht ihm<br />

Worin das Heerdenthier krank gemacht wird<br />

durch den Priester?<br />

Der décadence-Instinkt im Guten<br />

1) <strong>die</strong> Trägheit: er will nicht mehr sich verändern, nicht<br />

mehr lernen, er sitzt als „schöne Seele“ in sich selber…<br />

2) <strong>die</strong> Widerstands-Unfähigkeit: z.B. im Mitleiden,<br />

— er giebt nach („nachsichtig“ „tolerant“…<br />

„er versteht Alles“)<br />

„Frieden und den Menschen ein Wohlgefallen“<br />

3) er wird gelockt durch alles Leidende und Schlechtweggekommene


— er „hilft“ gerne<br />

er ist instinktiv eine Verschwörung gegen <strong>die</strong> Starken<br />

4) er bedarf der großen Narcotica, — wie „das Ideal“,<br />

der „große Mann“, der „Held“, er schwärmt…<br />

5) <strong>die</strong> Schwäche, <strong>die</strong> sich in der Furcht vor Affekten,<br />

starkem Willen, vor Ja und Nein äußert: er ist<br />

liebenswürdig, um nicht feind sein zu müssen, — um<br />

nicht Partei nehmen zu müssen —<br />

6) <strong>die</strong> Schwäche, <strong>die</strong> sich im Nicht-sehn-Wollen<br />

verräth, überall, wo vielleicht Widerstand nöthig werden<br />

würde („Humanität“)<br />

7) wird verführt durch alle großen décadents: „das Kreuz“<br />

„<strong>die</strong> Liebe“ den „Heiligen“ <strong>die</strong> Reinheit im Grunde<br />

lauter lebensgefährliche Begriffe und Personen<br />

— auch <strong>die</strong> große Falschmünzerei in Idealen<br />

8) <strong>die</strong> intellektuelle Lasterhaftigkeit<br />

— Haß auf <strong>die</strong> Wahrheit, weil sie „keine schönen<br />

Gefühle“ mit sich bringt<br />

— Haß auf <strong>die</strong> Wahrhaftigen, — — —<br />

Page Break KGW='VIII-3.417' KSA='13.607'<br />

der Selbsterhaltungs-Instinkt <strong>des</strong> Guten, der<br />

sich <strong>die</strong> Zukunft der Menschheit opfert: im Grunde<br />

widerstrebt er schon<br />

der Politik<br />

jeder weiteren Perspektive überhaupt<br />

jedem Suchen, Abenteuern, Unbefriedigt-sein<br />

er leugnet Ziele, Aufgaben, bei denen er nicht zuerst in<br />

Betracht kommt<br />

er ist frech und unbescheiden als „höchster“ Typus<br />

und will über Alles nicht nur mitreden, sondern<br />

urtheilen.<br />

er fühlt sich denen überlegen, welche „Schwächen“ haben:<br />

<strong>die</strong>se „Schwächen“ sind <strong>die</strong> Stärken <strong>des</strong> Instinkts<br />

— wozu auch der Muth gehört, sich ihrer nicht zu<br />

schämen<br />

Der Gute als Parasit. Er lebt auf Unkosten <strong>des</strong> Lebens:<br />

als Weglügner der Realität<br />

als Gegner der großen Instinkt-Antriebe <strong>des</strong> Lebens<br />

als Epikureer eines kleinen Glücks, der <strong>die</strong> große Form <strong>des</strong><br />

Glücks als unmoralisch ablehnt<br />

— da er nicht mit Hand anlegt und fortwährend Fehlgriffe<br />

und Täuschungen verschuldet, so stört er je<strong>des</strong> wirkliche<br />

Leben und vergiftet es überhaupt durch seinen<br />

Anspruch, etwas Höheres darzustellen<br />

— in seiner Einbildung, höher zu sein, lernt er nicht,<br />

verändert er sich nicht, sondern nimmt Partei für sich,<br />

auch wenn er noch so große malheurs hervorgebracht hat.


Aphorism n=12836 id='VIII.23[5]' kgw='VIII-3.417' ksa='13.607'<br />

Der Immoralist.<br />

1. Typus <strong>des</strong> Guten (Siehe zweitnächste Seite.)<br />

2. der Gute macht aus sich<br />

Page Break KGW='VIII-3.418' KSA='13.608'<br />

eine Metaphysik<br />

eine Psychologie<br />

einen Weg zur Wahrheit<br />

eine Politik<br />

eine Lebens- und Erziehungsweise<br />

3. Resultat: eine absolut schädliche Art Mensch<br />

//nach der Wahrheit, nach der Zukunft der Menschheit(1840) hin//<br />

Ursache davon, daß erst seit 20 Jahren <strong>die</strong> wichtigen Dinge<br />

wichtig genommen werden<br />

4. Problem: was ist eigentlich der gute Mensch?<br />

erstens der schwache: er will alle Menschen<br />

schwach<br />

der gute zweitens der bornirte: er will alle Menschen<br />

Mensch als bornirt<br />

Instinkt drittens das Heerdenthier, das Wesen ohne<br />

eigene Rechte: es will alle Menschen als<br />

Heerdenthiere.<br />

5. „Der gute Mensch“ gemißbraucht zu anderen Zwecken<br />

er kämpft in Dienst genommen von dem Priester, gegen<br />

gegen das <strong>die</strong> Mächtigen, gegen <strong>die</strong> Starken und<br />

Böse… Wohlgerathenen<br />

als Werkzeug<br />

„liberal“ in Dienst genommen von den Umsturz-Politikern,<br />

„gleiche“ den Socialisten, Ressentiments-Menschen(1841)<br />

Rechte gegen <strong>die</strong> Herrschenden<br />

zu 3: <strong>die</strong> schädlichste Art Mensch<br />

A. Er erfindet Handlungen, <strong>die</strong> es nicht giebt<br />

<strong>die</strong> unegoistischen, <strong>die</strong> heiligen<br />

Vermögen, <strong>die</strong> es nicht giebt<br />

„Seele“ „Geist“ „freier Wille“<br />

Wesen, <strong>die</strong> es nicht giebt<br />

„Heilige“ „Gott“ „Engel“<br />

eine Ordnung im Geschehen, <strong>die</strong> es nicht giebt<br />

Page Break KGW='VIII-3.419' KSA='13.609'<br />

<strong>die</strong> sittliche Weltordnung, mit Lohn und Strafe<br />

— eine Vernichtung der natürlichen Causalität<br />

B. mit <strong>die</strong>sen Erdichtungen entwerthet er<br />

1) <strong>die</strong> einzigen Handlungen, <strong>die</strong> egoistischen<br />

2) den Leib


3) <strong>die</strong> wirklich werthvollen Arten Mensch, <strong>die</strong><br />

werthvollen Antriebe<br />

4) <strong>die</strong> ganze Vernunft im Geschehen, — er verhindert<br />

das Lernen aus ihm, <strong>die</strong> Beobachtung, <strong>die</strong> Wissenschaft,<br />

jeden Fortschritt <strong>des</strong> Lebens durch Wissen…<br />

Aphorism n=12837 id='VIII.23[6]' kgw='VIII-3.419' ksa='13.609'<br />

I. der Mangel an Mißtrauen<br />

<strong>die</strong> Pietät<br />

<strong>die</strong> Ergebung in den Willen Gottes „<strong>die</strong> Frömmigkeit“<br />

das „gute Herz“, <strong>die</strong> „hülfreiche Hand“ — das genügt…<br />

der Ernst, den höheren Dingen zugewendet, — man darf<br />

dabei niedrige Sphären, wie den Leib und sein Wohlbefinden<br />

nicht zu ernst nehmen<br />

<strong>die</strong> Pflicht: man hat seine Schuldigkeit zu thun, —<br />

darüber hinaus soll man Alles Gott überlassen —<br />

Ich frage ganz ernsthaft: habe ich hiermit nicht den<br />

guten Menschen beschrieben? Glaubt man nicht, daß<br />

<strong>die</strong>s ein wünschenswerther Mensch ist? Möchte man<br />

nicht so sein? Wünscht man sich seine Kinder anders? —<br />

II. Sehen wir zu, wie <strong>die</strong> Guten aus sich<br />

1. eine Metaphysik machen<br />

2. eine Psychologie<br />

3. eine Politik<br />

4. eine Lebens- und Erziehungsweise<br />

5. eine Methode der Wahrheit<br />

Page Break KGW='VIII-3.420' KSA='13.610'<br />

Aphorism n=12838 id='VIII.23[7]' kgw='VIII-3.420' ksa='13.610'<br />

Mein Satz: <strong>die</strong> guten Menschen sind <strong>die</strong> schädlichste<br />

Art Menschen. Man antwortet mir: „aber es giebt nur wenige gute<br />

Menschen“! — Gott sei Dank! Man wird auch sagen: „es giebt<br />

gar keine ganz guten Menschen“ — Um so besser! Immer würde<br />

ich aber noch aufrecht halten, daß in dem Grade indem ein<br />

Mensch gut ist, er schädlich ist.<br />

Woran liegt es, daß man seit 20 Jahren <strong>die</strong> ersten Fragen<br />

<strong>des</strong> Lebens ernst nehme? Daß man Probleme sehe, wo man<br />

ehedem Alles ein für alle Mal laufen ließ?<br />

: der Mangel an Mißtrauen<br />

: <strong>die</strong> Trägheit, <strong>die</strong> Furcht vor dem Nachdenken<br />

: das subjektive Behagen, welches keine Gründe findet, in<br />

den Dingen Probleme zu sehen<br />

: <strong>die</strong> Überzeugung, daß ein gutes Herz, eine<br />

hulfbereite Hand das Werthvollste sei, — daß man dazu


erziehen müsse<br />

: <strong>die</strong> Ergebung, — der Glaube, daß Alles in guten Händen<br />

ist…<br />

: <strong>die</strong> Falschmünzerei der Interpretation, welche <strong>die</strong>ses „Gut“<br />

Gott überall wiederfindet<br />

: der Glaube, daß das „Heil der Seele“, überhaupt <strong>die</strong><br />

moralischen Dinge getrennt sind von all solchen<br />

irdisch-leiblichen Fragen: es gilt als niedrig, den Leib<br />

und sein Wohlbefinden so ernst nehmen…<br />

: <strong>die</strong> Ehrfurcht vor dem Herkommen: es ist pietätlos zu<br />

verneinen, oder auch nur Kritik am Überlieferten zu üben<br />

Ecco! Und <strong>die</strong>se Art Mensch ist <strong>die</strong> schädlichste<br />

Art Mensch<br />

Aphorism n=12839 id='VIII.23[8]' kgw='VIII-3.420' ksa='13.610'<br />

IV. Dionysos<br />

Typus <strong>des</strong> Gesetzgebers<br />

Page Break KGW='VIII-3.421' KSA='13.611'<br />

Aphorism n=12840 id='VIII.23[9]' kgw='VIII-3.421' ksa='13.611'<br />

Auf <strong>die</strong> Gefahr hin, den Herren Antisemiten einen<br />

„gutbemessenen“ Tritt zu versetzen, bekenne ich, daß <strong>die</strong> Kunst zu<br />

lügen, das „unbewußte“ Ausstrecken langer, allzulanger Finger,<br />

das Verschlucken fremden Eigenthums mir an jedem Antisemiten<br />

bisher handgreiflicher erschienen als an irgend welchem<br />

Juden. Ein Antisemit stiehlt immer, lügt immer — er kann gar<br />

nicht anders… Denn er hat [ — — — ]… Man sollte <strong>die</strong><br />

Antisemiten beklagen, man sollte für sie sammeln. „— — —<br />

Aphorism n=12841 id='VIII.23[10]' kgw='VIII-3.421' ksa='13.611'<br />

Das Bibel-Verbot „du sollst nicht tödten!“ ist eine Naivetät<br />

im Vergleich zu meinem Verbot an <strong>die</strong> décadents „ihr<br />

sollt nicht zeugen!“ — es ist Schlimmeres noch, es ist der<br />

Widerspruch zu mir… Das höchste Gesetz <strong>des</strong> Lebens, von Zarathustra<br />

zuerst formulirt, verlangt, daß man ohne Mitleid sei mit<br />

allem Ausschuß und Abfall <strong>des</strong> Lebens, daß man vernichte, was<br />

für das aufsteigende Leben bloß Hemmung, Gift, Verschwörung,<br />

unterirdische Gegnerschaft sein würde, — Christenthum<br />

mit Einem Wort… Es ist unmoralisch, es ist widernatürlich<br />

im tiefsten Verstande zu sagen „du sollst nicht tödten!“ —


Das Bibel-Verbot „du sollst nicht tödten!“ ist eine Naivetät<br />

im Vergleich zu meinem Verbot an <strong>die</strong> décadents „ihr sollt<br />

nicht zeugen!“ — es ist Schlimmeres noch… Gegen den Ausschuß<br />

und Abfall <strong>des</strong> Lebens giebt es nur Eine Pflicht, vernichten;<br />

hier mitleidig sein, hier erhalten wollen um jeden Preis wäre <strong>die</strong><br />

höchste Form der Unmoralität, <strong>die</strong> eigentliche Widernatur, <strong>die</strong><br />

Todfeindschaft gegen das Leben selbst. —<br />

Das Bibel-Verbot „du sollst nicht tödten!“ ist eine Naivetät<br />

im Vergleich zu meinem Verbot an <strong>die</strong> décadents „ihr sollt nicht<br />

zeugen!“ — Es ist Schlimmeres noch… Gegen den Ausschuß und<br />

Abfall <strong>des</strong> Lebens giebt es nur Eine Pflicht: keine Solidarität<br />

anerkennen; hier „human“ sein, hier gleiche Rechte dekretiren<br />

Page Break KGW='VIII-3.422' KSA='13.612'<br />

wäre <strong>die</strong> höchste Form der Widernatur: Widernatur, <strong>die</strong><br />

Verneinung <strong>des</strong> Lebens selbst. — Das Leben selbst erkennt keine<br />

Solidarität zwischen den gesunden und entartenden Gliedern<br />

eines Organismus an — letztere muß es ausschneiden, oder<br />

das Ganze geht zu Grunde…<br />

Das Bibel-Verbot „du sollst nicht tödten!“ ist eine Naivetät<br />

im Vergleich zum Ernst <strong>des</strong> Verbots an <strong>die</strong> décadents „ihr sollt<br />

nicht zeugen!“ — Das Leben selbst erkennt keine Solidarität,<br />

kein „gleiches Recht“ zwischen gesunden und entartenden<br />

Theilen eines Organismus an: letztere muß man ausschneiden,<br />

oder das Ganze geht zu Grunde. Mitleid mit den décadents —<br />

das wäre <strong>die</strong> tiefste Unmoralität, <strong>die</strong> Widernatur selber als<br />

Moral. —<br />

Aphorism n=12842 id='VIII.23[11]' kgw='VIII-3.422' ksa='13.612'<br />

Fern von den Windzügen jeder Skepsis, von jeder feineren<br />

Frage-stellung gewachsen, fett, schwäbisch, mit runden Augen<br />

rund selber wie ein Apfel sitzt <strong>die</strong>se Art Tugend auf dem festesten<br />

Grunde, den es giebt: auf dem der Dummheit, — auf dem<br />

„Glauben“…<br />

<strong>die</strong>se Tugend glaubt heute noch, daß Alles in guter Hand<br />

ist, nämlich in der Hand Gottes, wenn sie einen solchen Satz mit<br />

jener bescheidenen Sicherheit hinstellt wie als ob sie sagte, daß<br />

zwei Mal zwei vier ist<br />

Die Dummheit hat ihre Vorrechte: eines von ihnen ist <strong>die</strong><br />

Tugend… Die Dummheit spiegelt sich selbst in <strong>die</strong> Dinge hinein<br />

— sie heißt <strong>die</strong>se glückliche Vereinfachung aller Dinge zur<br />

Biederkeit <strong>des</strong> Schwaben den „alten Gott“ … Wir Anderen<br />

sehen etwas Anderes in <strong>die</strong> Dinge hinein — wir machen Gott<br />

interessant…


Aphorism n=12843 id='VIII.23[12]' kgw='VIII-3.422' ksa='13.612'<br />

Wir sind Immoralisten: das sagen wir mit dem Stolz,<br />

als ob wir sagten — — — Wir leugnen, daß der Mensch nach<br />

Page Break KGW='VIII-3.423' KSA='13.613'<br />

Glück strebt, wir leugnen, daß <strong>die</strong> Tugend der Weg zum Glück<br />

ist, — wir leugnen, daß es <strong>die</strong> Handlungen, welche man bisher<br />

moralische Handlungen nannte, <strong>die</strong> „selbstlosen“ <strong>die</strong><br />

„unegoistischen“ überhaupt giebt. In all den Behauptungen, denen<br />

wir ein ehernes Nein entgegenstellen drückt sich eine vollkommene<br />

unheimliche [ — ] über <strong>die</strong> bisherigen Erzieher der Menschheit aus:<br />

Aphorism n=12844 id='VIII.23[13]' kgw='VIII-3.423' ksa='13.613'<br />

Der freie Geist<br />

Kritik der Philosophie<br />

als nihilistischer Bewegung<br />

Der Immoralist<br />

Kritik der Moral<br />

als der gefährlichsten Art der Unwissenheit<br />

Dionysos philosophos<br />

Aphorism n=12845 id='VIII.23[14]' kgw='VIII-3.423' ksa='13.613'<br />

An <strong>die</strong>sem vollkommenen Tage, wo alles reift und nicht nur<br />

<strong>die</strong> Traube gelb wird, fiel mir eben ein Sonnenblick auf mein<br />

Leben — ich sah rückwärts, ich sah hinaus, — ich sah nie so viel<br />

und so gute Dinge auf einmal. Nicht umsonst begrub ich eben<br />

das vierundvierzigste Jahr ich durfte es: was in ihm Leben war,<br />

ist gerettet, — ist unsterblich. Das erste Buch der Umwerthung<br />

der Werthe; <strong>die</strong> ersten 6 Lieder Zarathustras; <strong>die</strong> Götzen-Dämmerung,<br />

mein Versuch mit dem Hammer zu philosophiren —<br />

Alles Geschenke <strong>die</strong>ses Jahres, sogar seines letzten Vierteljahrs —<br />

wie sollte ich nicht meinem ganzen Leben dankbar sein!…<br />

Und so erzähle ich mir mein Leben.<br />

Wer den geringsten Begriff von mir hat, erräth, daß ich mehr<br />

erlebt habe, als irgend ein Mensch. Das Zeugniß ist sogar in<br />

meinen Büchern geschrieben: <strong>die</strong>, Zeile für Zeile, erlebte Bücher<br />

Page Break KGW='VIII-3.424' KSA='13.614'


aus einem Willen zum Leben sind und damit, als Schöpfung,<br />

eine wirkliche Zuthat, ein Mehr jenes Lebens selber darstellen.<br />

Ein Gefühl, das mich oft genug überkommt: eben wie ein deutscher<br />

Gelehrter es mit bewunderungswürdiger Unschuld von sich<br />

und seinen Dingen sprach: jeder Tag bringt dem mehr als denen<br />

ihr ganzes Leben bringt! Schlimmes unter anderem — es ist<br />

kein Zweifel! Aber das ist <strong>die</strong> höchste Auszeichnung <strong>des</strong> Lebens,<br />

daß es uns auch seine höchste Gegnerschaft entgegenstellt…<br />

Page Break KGW='VIII-3.425' KSA='13.615'<br />

[ 24 = W II 9c. D 21. Oktober — November 1888 ]<br />

Aphorism n=12846 id='VIII.24[1]' kgw='VIII-3.425' ksa='13.615'<br />

Ecce homo<br />

Oder:<br />

warum ich Einiges mehr weiss.<br />

Von<br />

Friedrich Nietzsche.<br />

1.<br />

— Ich komme zu einem Problem, das, wie mir wenigstens<br />

scheint, etwas ernsthafterer Natur ist als das Problem vom<br />

„Dasein Gottes“ und andre Christlichkeiten, — zum Problem der<br />

Ernährung. Es ist, in Kürze, <strong>die</strong> Frage: wie hast du dich zu<br />

ernähren, um zu deinem maximum von Kraft, von virtù, von<br />

Tugend im Sinne der Renaissance-Vernunft zu kommen? —<br />

Meine Erfahrungen sind hier so schlimm als möglich: ich bin<br />

erstaunt, so spät, an <strong>die</strong>ser Stelle gerade „zur Vernunft“<br />

gekommen zu sein, zu spät in gewissem Verstande: und nur <strong>die</strong><br />

vollkommene Nichtswürdigkeit unsrer deutschen Bildung erklärt<br />

mir einigermaßen, weshalb ich gerade hier rückständig bis zur<br />

„Heiligkeit“ war. Diese „Bildung“, welche von Anfang an <strong>die</strong><br />

Realitäten grundsätzlich aus den Augen verlieren lehrt,<br />

um durchaus problematischen sogenannten „idealen“ Zielen,<br />

zum Beispiel einer sogenannten „klassischen Bildung“<br />

nachzujagen! — als ob es nicht von vornherein zum Todtlachen wäre<br />

Page Break KGW='VIII-3.428' KSA='13.616'<br />

„klassisch“ und „deutsch“ zusammen in den Mund zu nehmen.<br />

Man denke sich doch einen „klassisch gebildeten“ Leipziger!<br />

— In der That, ich habe, bis zu meinen reifsten Jahren, immer<br />

nur schlecht gegessen, — moralisch ausgedrückt „unpersönlich“,<br />

„unegoistisch“, „altruistisch“: ich verneinte, durch<br />

Leipziger Küche zum Beispiel, meinen „Willen zum Leben“. Sich<br />

zum Zweck unzureichender Ernährung auch noch den Magen


zu verderben — <strong>die</strong>s Problem scheint mir <strong>die</strong> genannte Küche<br />

zum Bewundern zu lösen. Aber <strong>die</strong> deutsche Küche überhaupt<br />

— was hat sie seit Alters her Alles auf dem Gewissen! Die Suppe<br />

vor der Mahlzeit ( — noch in italiänischen Kochbüchern <strong>des</strong><br />

16ten Jahrhunderts alla te<strong>des</strong>ca genannt); <strong>die</strong> ausgekochten<br />

Fleische; <strong>die</strong> fett und schwer gemachten Gemüse; <strong>die</strong><br />

unverdauliche Species der Mehlspeisen. Rechnet man noch <strong>die</strong> gerade<br />

viehischen Nachguß-Bedürfnisse <strong>des</strong> deutschen Biedermanns<br />

hinzu, so versteht man <strong>die</strong> Herkunft <strong>des</strong> „deutschen Geistes“ —<br />

aus einem verdorbenen Magen… Aber auch <strong>die</strong> englische<br />

Diät, <strong>die</strong>, im Vergleich zur deutschen, eine wahre Rückkehr zur<br />

„Natur“, will sagen zum Rostbeaf, auch zur Vernunft ist —<br />

geht meinem eignen Instinkt tief zuwider: es scheint mir, daß<br />

sie dem Geiste „schwere Füße“ giebt, — Engländerinnen-Füße…<br />

Daß mir Alcoholica nachtheilig sind, daß ein Glas<br />

Wein oder Bier <strong>des</strong> Tags vollkommen ausreicht, um mir aus<br />

dem Leben wie Schopenhauern ein „Jammerthal“ zu machen,<br />

habe ich auch ein wenig zu spät begriffen, — erlebt hatte<br />

ich's eigentlich von Kin<strong>des</strong>beinen an. Als Knabe glaubte ich,<br />

Weintrinken sei wie Tabakrauchen anfangs nur eine vanitas<br />

junger Burschen, später eine schlechte Gewöhnung. Vielleicht<br />

war daran auch der Naumburger Wein schuld. — Zu glauben,<br />

daß der Wein erheitere, dazu müßte ich Christ sein, will<br />

sagen, glauben, was für mich eine Absurdität ist. Seltsam<br />

genug, bei einer extremen Verstimmbarkeit durch stark<br />

verdünnte, wenn auch noch so kleine Dosen Alkohol bin ich<br />

beinahe unempfindlich gegen starke Dosen: und mit einem Grog<br />

Page Break KGW='VIII-3.429' KSA='13.617'<br />

seemännischen Kalibers wirft man mich am wenigsten um. Eine<br />

lange lateinische Abhandlung in Einer Nachtwache niederzuschreiben,<br />

mit der heimlichen Ambition, es meinem Vorbilde Sallust<br />

in Strenge und Gedrängtheit gleichzuthun, <strong>die</strong>s stand<br />

schon als ich Schüler in der ehrwürdigen Pforta war, nicht<br />

im Widerspruch zu meiner Physiologie, auch nicht zu Sallust<br />

— wie sehr auch immer zur ehrwürdigen Pforta!… Später,<br />

gegen <strong>die</strong> Mitte <strong>des</strong> Lebens hin, entschied ich mich freilich<br />

immer strenger gegen jedwe<strong>des</strong> „geistige“ Getränk. Ich ziehe<br />

Orte vor, wo man überall Gelegenheit hat, aus fließenden Brunnen<br />

zu schöpfen ( — Nizza, Turin, Sils); ich wache Nachts nicht<br />

auf, ohne Wasser zu trinken. In vino veritas: es scheint, daß ich<br />

auch hier wieder über den Begriff „Wahrheit“ mit aller Welt<br />

uneins bin, — der Geist schwebt bei mir über dem Wasser…<br />

2.<br />

Gegen <strong>die</strong> Krankheit, deren Wohlthaten gerade von mir am<br />

wenigsten unterschätzt werden sollen, würde ich einzuwenden<br />

haben, daß sie <strong>die</strong> Wehr- und Waffen-Instinkte<br />

<strong>des</strong> Menschen schwächt. Ich habe mich lange Jahre hindurch<br />

weder gegen eine wohlwollende zudringliche Hülfsbereitschaft,


noch gegen tölpelhafte, ins Haus fallende „Verehrer“ und andres<br />

Ungeziefer genügend zu vertheidigen gewußt; jene Fälle, wie<br />

billig, noch abgerechnet, denen Niemand entgeht, etwa wenn<br />

junge lüderliche Gelehrte, unter dem Vorwand der „Verehrung“,<br />

Einen anzupumpen ins Haus fallen. Ein Kranker hat Mühe<br />

damit, Dinge und Menschen loszuwerden, Erinnerungen eingerechnet:<br />

eine Art Fatalismus, der „sich in den Schnee legt“, nach<br />

Art eines russischen Soldaten, welchem der Feldzug endlich zu<br />

hart wird, ein Fatalismus ohne Revolte gehört zu seinen<br />

Selbsterhaltungs-Instinkten. Man versteht Viel vom Weibe, als<br />

einem zum Leiden verurtheilten und unfreiwillig fatalistischen<br />

Wesen, wenn man <strong>die</strong>se Art Selbst-Erhaltungs-Instinkt begreift.<br />

So wenig Kraft wie möglich ausgeben, — sich nicht mit<br />

Page Break KGW='VIII-3.430' KSA='13.618'<br />

Reaktionen verschwenden — eine gewisse Sparsamkeit<br />

mehr aus Armut an Kraft: <strong>die</strong>s ist <strong>die</strong> große Vernunft im<br />

Fatalismus. Physiologisch ausgedrückt: eine Herabsetzung <strong>des</strong><br />

Stoffverbrauchs, <strong>des</strong>sen Verlangsamung, — mit Nichts brennt<br />

man rascher ab als mit Affekten. Das Ressentiment, der Ärger,<br />

<strong>die</strong> Lust nach Rache — das sind für Kranke <strong>die</strong> schädlichsten aller<br />

möglichen Zustände: eine Religion, wie <strong>die</strong> Buddha's, welche<br />

wesentlich mit Geistig-Raffinirten und Physiologisch-Ermüdeten zu<br />

thun hatte, wendete sich <strong>des</strong>halb mit dem Hauptgewicht ihrer<br />

Lehre gegen das Ressentiment. „Nicht durch Feindschaft<br />

kommt Feindschaft zu Ende: durch Freundschaft kommt Feindschaft<br />

zu Ende.“ Der Buddhismus war keine Moral, — es wäre ein<br />

tiefes Mißverständniß, ihn nach solchen Vulgär-Cruditäten, wie<br />

das Christenthum ist, abzuwürdigen: er war eine Hygiene. —<br />

Ich habe beinahe unerträgliche Verhältnisse, Orte, Wohnungen,<br />

Gesellschaft, nachdem sie einmal, durch Zufall, gegeben waren,<br />

jahrelang zäh festgehalten, nicht mit Willen, sondern aus<br />

jenem Instinkt heraus, — es war jedenfalls weiser als zu ändern,<br />

als zu „experimentiren“. Das Experiment geht gegen den<br />

Instinkt <strong>des</strong> Leidenden: in einem hohen Sinn könnte man es<br />

geradezu den Beweis der Kraft nennen. Aus seinem Leben selbst<br />

ein Experiment machen — das erst ist Freiheit <strong>des</strong> Geistes,<br />

das wurde mir später zur Philosophie…<br />

3.<br />

Die Langeweile gehört, wie mir scheint, nicht gerade zu den<br />

Leiden der Leidenden; wenigstens fehlt mir alle Erinnerung<br />

dafür. Umgekehrt war <strong>die</strong> böse Zeit meines Lebens reich für<br />

mich durch eine gewisse neue Erfindsamkeit — <strong>die</strong> Kunst der<br />

nuances, <strong>die</strong> feine Fingerfertigkeit in der Handhabe von<br />

nuances. Ich würde das raffinement überhaupt verstehn als eine<br />

Verzärtelung <strong>des</strong> Getasts bis in's Geistigste hinauf; auch<br />

noch jene Art liebevoller Rücksicht und Vorsicht im Verstehn,<br />

<strong>die</strong> Kranken eignet, gehört dahin, — sie scheuen <strong>die</strong> allzu nahe


Page Break KGW='VIII-3.431' KSA='13.619'<br />

Berührung… Man hört in <strong>die</strong>sen Zuständen selbst gemeine<br />

Sachen ungemein, man transponirt sie gleichsam: der Alltags-Zufall<br />

wird durch ein sublimes Sieb gesiebt und sieht sich selber<br />

nicht mehr gleich. Zuletzt war ich damals über <strong>die</strong> Maaßen<br />

dankbar, wenn irgend etwas Freies und Ausgewähltes von<br />

Intelligenz, von Charakter sich in meine Nähe verschlug,<br />

während eine gewisse Ungeduld gegen Deutsche und Deutsches<br />

immer mehr bei mir Instinkt wurde. Mit Deutschen verlor ich<br />

meine gute Laune, meinen Geist — und nicht minder meine<br />

Zeit… Die Deutschen machen <strong>die</strong> Zeit länger… Anders<br />

steht es, wenn der Deutsche zufällig Jude oder Jüdin ist. Es ist<br />

wunderlich, wenn ich nachrechne, daß zwischen 1876—86 ich<br />

fast alle meine angenehmen Augenblicke im Zufall <strong>des</strong> Verkehrs<br />

Juden oder Jüdinnen verdanke. Die Deutschen unterschätzen,<br />

welche Wohlthat es ist, einem Juden zu begegnen, — man hat<br />

keine Gründe mehr, sich zu schämen, man darf sogar intelligent<br />

sein … In Frankreich sehe ich <strong>die</strong> Nothwendigkeit nicht ein,<br />

warum es Juden giebt, um so mehr in Deutschland: Meilhac und<br />

Halévy, <strong>die</strong> besten Dichter, denen mein Geschmack Unsterblichkeit<br />

verspricht, erreichen <strong>die</strong>se Höhe als Franzosen nicht als<br />

Juden. — Ich möchte dasselbe auch von Offenbach behaupten,<br />

<strong>die</strong>sem unzweideutigen Musiker, der nichts Anderes sein<br />

wollte als was er war — ein genialer Buffo, im Grunde der letzte<br />

Musiker(1842) der noch Musik(1843) machte und nicht Akkorde!…<br />

4.<br />

Im Grunde gehöre ich zu jenen unfreiwilligen Erziehern,<br />

welche keine Principien zur Erziehung brauchen, noch haben.<br />

Die Eine Thatsache, daß ich in 7 Jahren Unterricht an der<br />

obersten Klasse <strong>des</strong> Basler Pädagogiums keinen Anlaß hatte,<br />

eine Strafe zu verhängen, und daß, wie mir später bezeugt<br />

worden ist, <strong>die</strong> Faulsten bei mir noch fleißig waren, zeugt<br />

einigermaßen dafür. Eine kleine Klugheit aus jener Praxis ist mir<br />

im Gedächtniß geblieben: im Fall, wo ein Schüler im Wiederholen<br />

Page Break KGW='VIII-3.432' KSA='13.620'<br />

<strong>des</strong>sen, was ich <strong>die</strong> Stunde vorher auseinandergesetzt<br />

hatte, durchaus unzureichend blieb, nahm ich <strong>die</strong> Schuld davon<br />

stets auf mich, — sagte zum Beispiel, es sei Jedermann's Recht,<br />

wenn ich mich zu kurz, zu unfaßlich ausdrücke, von mir eine<br />

Erläuterung, eine Wiederholung zu verlangen. Ein Lehrer habe<br />

<strong>die</strong> Aufgabe, sich jeder Intelligenz zugänglich zu machen…<br />

Man hat mir gesagt, daß <strong>die</strong>ser Kunstgriff stärker wirkte, als<br />

irgend ein Tadel. — Ich habe weder im Verkehr mit Schülern,<br />

noch mit Studenten, je eine Schwierigkeit empfunden, obschon<br />

zu Anfang meine vierundzwanzig Jahre mich ihnen nicht nur<br />

näherten. Insgleichen gab mir das Prüfen bei Doktor-Promotionen<br />

keinen Anlaß, irgend welche Künste oder Methoden


noch zuzulernen: was ich instinktiv handhabte, war nicht nur<br />

das Humanste in solchen Fällen, — ich befand mich dabei<br />

selber erst vollkommen wohl, sobald ich den Promovenden in<br />

gutes Fahrwasser gebracht hatte. Jedermann hat in solchen<br />

Fällen so viel Geist — oder so wenig — als der verehrliche<br />

Examinator hat… Hörte ich zu, so schien es mir immer, daß<br />

im Grunde <strong>die</strong> Herren Examinatoren geprüft würden. —<br />

5.<br />

Ich habe nie <strong>die</strong> Kunst verstanden gegen mich einzunehmen,<br />

selbst wenn es mir von großem Werth schien, zu <strong>die</strong>sem Ziele<br />

zu gelangen. Man mag mein Leben hin und herwenden, man<br />

wird darin nicht <strong>die</strong> Anzeichen finden, daß je Jemand bösen<br />

Willen gegen mich gehabt habe. Meine Erfahrungen selbst mit<br />

Solchen, an denen Jedermann schlechte Erfahrungen macht,<br />

sind ohne Ausnahme zu deren Gunsten: auch war mir für den<br />

Verkehr, vorausgesetzt, daß ich nicht krank war, Jedermann<br />

noch ein Instrument, dem ich feine ungewohnteste Töne<br />

abgewann. Wie oft habe ich <strong>die</strong>s zu hören bekommen, eine Art<br />

Verwundern, über sich selber seitens meiner Unterredner:<br />

„Dergleichen ist mir nie bisher in den Sinn gekommen“… Am<br />

schönsten vielleicht von jenem unverzeihlich jung verstorbenen<br />

Page Break KGW='VIII-3.433' KSA='13.621'<br />

Heinrich von Stein, der einmal, nach sorgsam eingeholter<br />

Erlaubniß, auf drei Tage in Sils erschien, Jedermann erklärend, daß<br />

er nicht <strong>des</strong> Engadin wegen gekommen sei. Dieser ausgezeichnete<br />

Mensch, der mit der ganzen tapferen Einfalt seiner Natur<br />

in den Wagnerischen Sumpf hineingewatet bis in <strong>die</strong> Ohren<br />

war — „ich verstehe nichts von Musik“ bekannte er mir — war<br />

<strong>die</strong>se drei Tage lang wie umgewandelt durch einen Strom von<br />

Freiheit, gleich Einem, der plötzlich in sein Element geräth und<br />

Flügel bekommt. Ich sagte ihm immer, Das mache <strong>die</strong> gute Luft<br />

hier oben, so gehe es Jedem, aber er wollte mir's nicht<br />

glauben… Wenn trotzdem an mir mancherlei große und kleine<br />

Missethat verübt worden ist, so war nicht der „Wille“, am<br />

wenigsten der böse Wille der Grund davon: eher schon hätte ich<br />

mich über den guten Willen zu beklagen, der nur Unfug in<br />

meinem Leben angerichtet hat. Meine Erfahrung giebt mir ein<br />

Anrecht auf Mißtrauen überhaupt hinsichtlich der hülfbereiten,<br />

zu Rath, zu Thaten schreitenden „Nächstenliebe“ —, ich werfe<br />

ihr vor, daß ihr <strong>die</strong> Delikatesse leicht abhanden kommt, daß sie<br />

mit ihren hülfbereiten Händen in ein erhabnes Geschick, in eine<br />

Vereinsamung unter Wunden, in ein Vorrecht auf großes Leiden<br />

unter Umständen geradezu zerstörerisch hineingreift. —<br />

Nicht ohne Grund habe ich als „Versuchung Zarathustra's“ einen<br />

Fall gedichtet, wo ein großer Nothschrei an ihn kommt, wo das<br />

Mitleiden wie eine letzte Sünde ihn überfallen will: hier Herr<br />

bleiben, hier <strong>die</strong> Höhe seiner Aufgabe rein halten von den<br />

viel niedrigeren und kurzsichtigeren Antrieben, welche in den


sogenannten selbstlosen Handlungen thätig sind, <strong>die</strong>s ist eine<br />

Probe, <strong>die</strong> letzte Probe, <strong>die</strong> Zarathustra und wer Seines<br />

Gleichen ist vor sich selber abzulegen hat. —<br />

6.<br />

Gleich Jedem, der nie unter seines Gleichen lebt und aus <strong>die</strong>sem<br />

seinem Schicksal zuletzt seine Kunst und Menschenfreundlichkeit<br />

macht, wehre ich mich in Fällen, wo eine kleine oder sehr<br />

Page Break KGW='VIII-3.434' KSA='13.622'<br />

große Thorheit gegen mich begangen wurde, gegen irgend<br />

eine Gegenmaßregel, es sei denn <strong>die</strong>, der Dummheit so schnell<br />

wie möglich eine Klugheit nachzuschicken: so holt man sie<br />

vielleicht noch ein. Man hat nur Etwas an mir schlimm zu machen,<br />

ich vergelte es, <strong>des</strong>sen sei man sicher: ich finde in Kürze eine<br />

Gelegenheit, dem Übelthäter meinen Dank für irgend Etwas<br />

auszudrücken oder ihn um Etwas zu bitten ( — was verbindlicher<br />

ist als zu geben…) Auch scheint es mir, daß der gröbste<br />

Brief gutartiger ist als Schweigen. Solchen, <strong>die</strong> schweigen, fehlt<br />

es an Feinheit und Höflichkeit <strong>des</strong> Herzens. — Wenn man<br />

reich genug dazu ist, ist es ein Glück, Unrecht zu haben; man<br />

verträgt sich auf's Beste mit mir, wenn man mir von Zeit zu<br />

Zeit eine Gelegenheit giebt, Unrecht zu haben. Nichts<br />

verbessert meine Freundschaft so von Grunde aus, Nichts giebt ihr<br />

immer wieder Frische… In jenen nicht unbekannten Fällen,<br />

wo ich ein entschiedenes Nein bis zum Krieg aufs Messer<br />

bekenne, würde man einen argen Fehlschluß machen, gerade da<br />

eine im Hintergrunde verborgene Fülle schlimmer Erfahrungen<br />

vorauszusetzen. Wer einen Begriff von mir hat, darf<br />

umgekehrt schließen. Ich gestehe mir keine Sachen-Feindschaft,<br />

solange <strong>die</strong> geringste Personen-Zwiespältigkeit noch mitspielt.<br />

Wenn ich dem Christenthum den Krieg mache, so steht mir <strong>die</strong>s<br />

einzig <strong>des</strong>halb zu, weil ich nie von <strong>die</strong>ser Seite aus Trübes oder<br />

Trauriges erlebt habe, — umgekehrt <strong>die</strong> schätzenswerthesten<br />

Menschen, <strong>die</strong> ich kenne, sind Christen ohne Falsch gewesen,<br />

ich trage es den Einzelnen am letzten nach, was das Verhängniß<br />

von Jahrtausenden ist. Meine Vorfahren selbst waren<br />

protestantische Geistliche: hätte ich nicht einen hohen und<br />

reinlichen Sinn von ihnen her mitbekommen, so wüßte ich nicht,<br />

woher mein Recht zum Kriege mit dem Christenthum stammte.<br />

Meine Formel dafür: der Antichrist ist selbst <strong>die</strong> nothwendige<br />

Logik in der Entwicklung eines echten Christen, in mir überwindet<br />

sich das Christenthum selbst. Ein anderer Fall: ich habe<br />

aus meinen Beziehungen zu Wagner und zu Frau Wagner nur<br />

Page Break KGW='VIII-3.435' KSA='13.623'<br />

<strong>die</strong> erquicklichsten und erhebendsten Erinnerungen zurückbehalten:<br />

genau <strong>die</strong>ser Umstand erlaubte mir jene Neutralität <strong>des</strong><br />

Blicks, das Problem Wagner überhaupt als Cultur-Problem


zu sehn und vielleicht zu lösen… Selbst für Antisemiten,<br />

denen ich, wie man weiß, am wenigsten hold bin, würde ich,<br />

meinen nicht unbeträchtlichen Erfahrungen nach, manches<br />

Günstige geltend zu machen haben: <strong>die</strong>s hindert nicht, <strong>die</strong>s<br />

bedingt vielmehr, daß ich dem Antisemitismus einen schonungslosen<br />

Krieg mache, — er ist einer der krankhaftesten Auswüchse<br />

der so absurden, so unberechtigten reichsdeutschen<br />

Selbst-Anglotzung…<br />

7.<br />

Es liegt nicht in meiner Art, Vieles und Vielerlei zu<br />

lieben: auch in meinem Verkehr mit Büchern habe ich im Ganzen<br />

mehr eine Feindseligkelt als eine Toleranz, ein<br />

„Herankommen-lassen“ im Instinkte. Und das von Kin<strong>des</strong>beinen an.<br />

Es ist im Grunde eine kleine Anzahl Bücher, <strong>die</strong> in meinem Leben<br />

mitzählen, es sind <strong>die</strong> berühmtesten nicht darunter. Mein Sinn<br />

für Stil, für das Epigramm als Stil erwachte fast mit Einem<br />

Schlage bei der ersten Berührung mit Sallust: ich vergesse das<br />

Erstaunen meines verehrten Lehrers Corssen nicht, als er seinem<br />

schlechtesten Lateiner <strong>die</strong> allererste Censur geben mußte,<br />

— er lud mich zu sich ein… Gedrängt, streng, mit so viel<br />

Substanz auf dem Grunde als möglich, — eine kalte Bosheit<br />

gegen das „schöne Wort“ und das „schöne Gefühl“: daran<br />

errieth ich mich. Man wird, bis in meinen Zarathustra hinein,<br />

eine sehr ernsthafte Ambition nach römischem Stil, nach<br />

dem „magnum in parvo“, nach dem „aere perennius“ wiedererkennen.<br />

Nicht anders ergieng es mir bei der ersten Berührung<br />

mit Horaz. Bis heute habe ich an keinem anderen Dichter<br />

dasselbe artistische Entzücken wiedergefunden, das mir eine<br />

Horazische Ode macht. In gewissen Sprachen, z.B. im Deutschen,<br />

ist das, was hier erreicht ist, nicht einmal zu wollen.<br />

Page Break KGW='VIII-3.436' KSA='13.624'<br />

Dies Mosaik von Worten, wo je<strong>des</strong> Wort, als Klang, als Ort,<br />

als Begriff, nach rechts links und über das Ganze hin seine<br />

Kraft ausströmt, <strong>die</strong>s minimum von Umfang der Zeichen, <strong>die</strong>s<br />

damit erreichte maximum von Energie <strong>des</strong> Zeichens — das<br />

Alles ist römisch und, wenn man mir glauben will, vornehm<br />

par excellence: der ganze Rest von Poesie wird dagegen eine<br />

Gefühls-Geschwätzigkeit. Ich möchte am wenigsten den Reiz<br />

vergessen, der im Contrast <strong>die</strong>ser granitnen Form und der<br />

anmuthigsten Libertinage liegt: — mein Ohr ist entzückt über<br />

<strong>die</strong>sen Widerspruch von Form und Sinn. Der dritte<br />

unvergleichliche(1844) Eindruck, den ich den Lateinern verdanke, ist<br />

Petronius. Dies prestissimo <strong>des</strong> Übermuths in Wort, Satz und<br />

Sprung der Gedanken, <strong>die</strong>s Raffinement in der Mischung von<br />

Vulgär- und „Bildungs“-Latein, <strong>die</strong>se unbändige gute Laune, <strong>die</strong><br />

sich vor nichts fürchtet und über jede Art Animalität der<br />

antiken Welt mit Grazie hinwegspringt, <strong>die</strong>se souveräne Freiheit<br />

vor der „Moral“, vor den tugendhaften Armseligkeiten


„schöner Seelen“ — ich wüßte kein Buch zu nennen, das am<br />

Entferntesten einen ähnlichen Eindruck auf mich gemacht hätte.<br />

Daß der Dichter ein Provençale ist, sagt mir leise mein<br />

persönlichster Instinkt: man muß den Teufel im Leibe haben, um<br />

solche Sprünge zu machen. Unter Umständen, wenn ich nöthig<br />

hatte, mich von einem niedrigen Eindruck zu befreien, zum<br />

Beispiel von einer Rede <strong>des</strong> Apostel Paulus, genügten mir ein<br />

Paar Seiten Petronius, um mich vollkommen wieder gesund zu<br />

machen.<br />

8.<br />

Den Griechen verdanke ich durchaus keine verwandten<br />

Eindrücke; im Verhältniß nämlich zu Plato bin ich ein zu<br />

gründlicher Skeptiker, und habe nie in <strong>die</strong> Bewunderung <strong>des</strong><br />

Artisten Plato, <strong>die</strong> unter Gelehrten üblich ist, einzustimmen<br />

vermocht. Er wirft, wie mir scheint, alle Formen <strong>des</strong> Stils<br />

durcheinander: er hat Etwas Ähnliches auf dem Gewissen, wie <strong>die</strong><br />

Page Break KGW='VIII-3.437' KSA='13.625'<br />

Cyniker, welche <strong>die</strong> Satura Menippea erfanden. Daß der Platonische<br />

Dialog, <strong>die</strong> entsetzlich selbstgefällige und kindliche<br />

Dialektik als Reiz wirken kann, dazu müßte man niemals gute<br />

Franzosen gelesen haben. Zuletzt geht mein Mißtrauen in <strong>die</strong><br />

Tiefe bei Plato: ich finde ihn so abgeirrt von allen<br />

Grundinstinkten <strong>des</strong> Hellenen, so verjüdelt, so präexistent-christlich<br />

in seinen letzten Absichten, daß ich von dem ganzen Phänomen<br />

Plato eher das harte Wort „höherer Schwindel“ gebrauchen<br />

möchte als irgend ein andres. Man hat theuer dafür bezahlt,<br />

daß <strong>die</strong>ser Athener bei den Ägyptern in <strong>die</strong> Schule gieng<br />

( — wahrscheinlich bei den Juden in Ägypten…) In dem<br />

großen Verhängniß <strong>des</strong> Christenthums ist Plato eine jener<br />

verhängnißvollen Zweideutigkeiten, <strong>die</strong> den edleren Naturen <strong>des</strong><br />

Alterthums es möglich machte, <strong>die</strong> Brücke zu betreten, <strong>die</strong><br />

zum „Kreuz“ führte… Meine Erholung, meine Vorliebe,<br />

meine Kur von allem Platonismus war jeder Zeit Thukydi<strong>des</strong>.<br />

Thukydi<strong>des</strong> und, vielleicht, der principe Machiavellis, sind<br />

mir selber am meisten verwandt, durch den unbedingten Willen,<br />

sich nichts vorzumachen und <strong>die</strong> Vernunft in der Realität<br />

zu sehn, — nicht in der „Vernunft“, noch weniger in der<br />

„Moral“… Von der jämmerlichen Schönfärberei, <strong>die</strong> der klassisch<br />

gebildete Deutsche als den Lohn für seinen „Ernst“ im Verkehr<br />

mit dem Alterthum einerntet, kurirt nichts so gründlich als<br />

Thukydi<strong>des</strong>. Man muß ihn Zeile für Zeile umwenden und sein<br />

Nicht-Geschriebenes so deutlich ablesen wie seine Worte: es<br />

giebt wenige so substanzreiche Denker. In ihm kommt<br />

<strong>die</strong> Sophisten-Cultur, will sagen <strong>die</strong> Realisten-Cultur<br />

zu ihrem vollendeten Ausdruck: <strong>die</strong>se unschätzbare Bewegung<br />

inmitten <strong>des</strong> eben allerwärts losbrechenden Moral- und<br />

Ideal-Schwindels der sokratischen Schulen. Die griechische(1845)<br />

Philosophie schon als <strong>die</strong> décadence <strong>des</strong> griechischen(1846) Instinkts:


Thukydi<strong>des</strong> als <strong>die</strong> große Summe aller starken, strengen, harten<br />

Thatsächlichkeit, <strong>die</strong> dem älteren Hellenen im Instinkt lag. Der<br />

Muth unterscheidet solche Naturen wie Plato und Thukydi<strong>des</strong>:<br />

Page Break KGW='VIII-3.438' KSA='13.626'<br />

Plato ist ein Feigling — folglich flüchtet er ins Ideal —<br />

Thukydi<strong>des</strong> hat sich in der Gewalt, folglich behält er auch <strong>die</strong><br />

Dinge in der Gewalt.<br />

9.<br />

In den Griechen „schöne Seelen“, „harmonische Bildwerke“<br />

und Winckelmannsche(1847) „hohe Einfalt“ wiederzuerkennen —<br />

vor solcher niaiserie Allemande war ich durch den Psychologen<br />

behütet, den ich in mir trug. Ich sah ihren stärksten Instinkt, den<br />

Willen zur <strong>Macht</strong>; ich sah sie zittern vor der unbändigen<br />

Gewalt <strong>die</strong>ses Triebs, — ich sah aber ihre Instinkte wachsen aus<br />

den Schutzmaßregeln, sich von einander gegen ihren inwendigen<br />

Explosivstoff zu schützen. Die ungeheure Spannung<br />

im Innern entlud sich dann in entsetzlicher Feindschaft<br />

gegen alles Auswärtige: <strong>die</strong> Stadtgemeinden zerfleischten sich,<br />

damit <strong>die</strong> Stadtbürger um <strong>die</strong>sen Preis sich selber nicht<br />

zerfleischten. Man hatte nöthig, stark zu sein, — <strong>die</strong> prachtvolle<br />

und geschmeidige Leiblichkeit <strong>des</strong> Griechen ist eine Noth, nicht<br />

eine „Natur“ gewesen. Sie folgte: — sie war durchaus nicht<br />

von Anfang an da. Und mit Festen und Künsten wollte man<br />

auch nichts Andres als sich immer stärker, schöner, immer<br />

vollkommner fühlen —: es sind Mittel der Selbstverherrlichung,<br />

Steigerungsmittel <strong>des</strong> Willens zur <strong>Macht</strong>. — Die Griechen nach<br />

ihren Philosophen beurtheilen! <strong>die</strong> Moral-Weisheit der<br />

philosophischen Schulen zum Aufschluß benutzen, was griechisch<br />

war! Dergleichen galt mir immer nur als Beweis für <strong>die</strong><br />

psychologische Feinheit, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Deutschen auszeichnet… Die<br />

Philosophen sind ja <strong>die</strong> décadents <strong>des</strong> Griechenthums, <strong>die</strong><br />

Gegenbewegung gegen den klassischen Geschmack, gegen den<br />

vornehmen Geschmack! Die sokratischen Tugenden<br />

wurden gepredigt, weil sie den Griechen zu fehlen anfiengen…<br />

Ich war der Erste, der zum Verständniß <strong>des</strong> älteren<br />

Hellenen jenes wundervolle Phänomen, das auf den Namen Dionysos<br />

getauft ist, wieder ernst nahm. Mein verehrungswürdiger Freund<br />

Page Break KGW='VIII-3.439' KSA='13.627'<br />

Jakob Burckhardt in Basel verstand durchaus, daß damit Etwas<br />

Wesentliches gethan sei: er fügte seiner Cultur der Griechen<br />

einen eignen Abschnitt über das Problem bei. Will man den<br />

Gegensatz, so sehe man <strong>die</strong> verächtliche Leichtfertigkeit aus der<br />

Nähe an, mit der seiner Zeit der berühmte Philolog Lobeck<br />

<strong>die</strong>se Dinge behandelt hat. Lobeck, der mit der ehrwürdigen<br />

Sicherheit eines zwischen Büchern ausgetrockneten Wurms in<br />

<strong>die</strong>se Welt geheimnißvoller Zustände hineinkriecht und sich


überredet eben damit wissenschaftlich zu sein, wenn er nur bis<br />

zum Ekel hier öde und armselig ist, hat es mit allem Aufwande<br />

von Gelehrsamkeit zu verstehen gegeben, eigentlich habe es nichts<br />

auf sich mit all <strong>die</strong>sen Curiositäten. In der That möchten <strong>die</strong><br />

Priester den Theilhabern solcher Orgien Einiges mitgetheilt<br />

haben, zum Beispiel daß der Wein zur Lust errege, daß der<br />

Mensch von Früchten lebe, daß <strong>die</strong> Pflanzen im Frühling<br />

aufblühen, im Winter welken. Was den Reichthum an Riten und<br />

Mythen orgiastischen Ursprungs betrifft, so wird er noch um<br />

einen Grad geistreicher. Die Griechen, sagt er Aglaoph(1848). I, 672,<br />

hatten sie nichts Andres zu thun, so lachten, sprangen, rasten<br />

sie umher, oder, da der Mensch mitunter auch dazu Lust hat,<br />

so saßen sie nieder, weinten und jammerten. Andere<br />

kamen dann später hinzu und suchten doch irgend einen Grund für<br />

<strong>die</strong>s auffallende Wesen, und so entstanden zur Erklärung jener<br />

Gebräuche zahllose Festsagen und Mythen… Auf der anderen<br />

Seite glaubte man, jenes possierliche Treiben, welches<br />

einmal an den Festtagen stattfand, gehöre nun auch<br />

nothwendig zur Festfeier und hielt es als einen unentbehrlichen<br />

Theil <strong>des</strong> Gottes<strong>die</strong>nstes fest. — Aber abgesehen noch von<br />

<strong>die</strong>sem verächtlichen Unsinn dürfte man geltend machen, daß mit<br />

dem ganzen Begriff „griechisch“, noch mehr dem Begriff<br />

„klassisch“, den Winckelmann und Goethe gebildet hatten, uns das<br />

dionysische Element unverträglich ist: — ich fürchte, Goethe<br />

selber schloß etwas derartiges(1849) grundsätzlich von den Möglichkeiten<br />

der hellenischen Seele aus. Und doch spricht sich erst in den<br />

Page Break KGW='VIII-3.440' KSA='13.628'<br />

dionysischen Mysterien der ganze Untergrund <strong>des</strong> hellenischen<br />

Instinkts aus. Denn was verbürgte sich der Hellene mit <strong>die</strong>sen<br />

Mysterien? Das ewige Leben, <strong>die</strong> ewige Wiederkehr <strong>des</strong> Lebens,<br />

<strong>die</strong> Zukunft in der Zeugung verheißen und geweiht, das<br />

triumphirende Jasagen zum Leben über Tod und Wandel hinaus, das<br />

wahre Leben als das Gesammt-Fortleben in der Gemeinschaft,<br />

Stadt, Geschlechts-Verbindung; das geschlechtliche Symbol als das<br />

ehrwürdigste Symbol überhaupt, der eigentliche Symbol-Inbegriff<br />

der ganzen antiken Frömmigkeit; <strong>die</strong> tiefste Dankbarkeit<br />

für je<strong>des</strong> Einzelne im Akt der Zeugung, der Schwangerschaft, der<br />

Geburt. In der Mysterienlehre ist der Schmerz heilig gesprochen:<br />

<strong>die</strong> „Wehen der Gebärerin“ heiligen den Schmerz überhaupt, alles<br />

Werden, Wachsen, alles Zukunfts-Verbürgende bedingt den<br />

Schmerz; damit es <strong>die</strong> ewige Lust <strong>des</strong> Schaffens giebt, muß es<br />

ewig <strong>die</strong> Qual der Gebärerin geben… Ich kenne keine höhere<br />

Symbolik. — Erst das Christenthum hat aus der Geschlechtlichkeit<br />

eine Schmutzerei gemacht: der Begriff von immaculata<br />

conceptio(1850) war <strong>die</strong> höchste seelische Niedertracht, <strong>die</strong> bisher<br />

auf Erden erreicht wurde z.B. — sie warf den Schmutz in den<br />

Ursprung <strong>des</strong> Lebens…<br />

Die Psychologie <strong>des</strong> Orgiasmus, als eines überströmenden<br />

Lebensgefühls, innerhalb <strong>des</strong>sen selbst der Schmerz nur als


Stimulans wirkt, gab mir den Schlüssel zum tragischen<br />

Gefühl, das sowohl von Aristoteles als in Sonderheit von Seiten<br />

der Pessimisten mißverstanden worden ist. Die Tragö<strong>die</strong><br />

ist so fern davon, etwas für den Pessimismus der Hellenen im<br />

Sinne Schopenhauers zu beweisen, daß sie umgekehrt gerade<br />

<strong>des</strong>sen äußerster Gegensatz ist. Das Jasagen zum Leben selbst<br />

noch zu den frem<strong>des</strong>ten und härtesten Problemen, der Wille<br />

zum Leben im Opfer seiner höchsten Typen seine eigne<br />

Unerschöpflichkeit genießend — das nannte ich dionysisch, das<br />

verstand ich als <strong>die</strong> eigentliche Brücke zu einer Psychologie <strong>des</strong><br />

tragischen Dichters. Nicht um vom Schrecken und Mitleiden<br />

loszukommen, und sich von einem gefährlichen Affekt wie durch<br />

Page Break KGW='VIII-3.441' KSA='13.629'<br />

eine vehemente Entladung <strong>des</strong>selben zu reinigen<br />

— das war der Weg <strong>des</strong> Aristoteles: sondern über Schrecken<br />

und Mitleiden hinaus <strong>die</strong> ewige Lust <strong>des</strong> Schaffens und<br />

Werdens zu genießen, seinen Schrecken, sein Mitleiden unter sich<br />

zu haben…<br />

10.<br />

Das Glück meines Daseins, seine Einzigkeit vielleicht liegt in<br />

seinem Verhängniß: ich bin, um es in Räthselform auszudrücken,<br />

als mein Vater bereits gestorben, als meine Mutter lebe ich noch.<br />

Diese doppelte Herkunft, gleichsam aus der obersten und der<br />

untersten Sprosse an der Leiter <strong>des</strong> Lebens — décadent zugleich<br />

und Anfang — <strong>die</strong>s, wenn irgend Etwas, erklärt jene Neutralität,<br />

jene Freiheit von Partei im Verhältniß zum(1851) großen Gesammt-Problem<br />

<strong>des</strong> Lebens, <strong>die</strong> mich auszeichnet. Ich kenne Bei<strong>des</strong>,<br />

ich bin Bei<strong>des</strong>. — Mein Vater starb mit 36 Jahren: er war<br />

zart, liebenswürdig und morbid, wie ein bloß zum Vorübergehn<br />

bestimmtes Wesen, — eher eine gütige Erinnerung ans Leben als<br />

das Leben selbst. In dem gleichen Jahr, wo sein Leben abwärts<br />

ging, ging auch das meine abwärts: im 36ten Jahr kam ich auf<br />

den niedrigsten Punkt meiner Vitalität, — ich lebte noch, doch<br />

ohne drei Schritte weit vor mich zu sehn. Im Jahr 1879 legte ich<br />

meine Basler Professur nieder, lebte den Sommer über wie ein<br />

Schatten, in St. Moritz und den nächsten Winter, den<br />

sonnenärmsten meines Lebens, in Naumburg. Das war mein minimum:<br />

der „Wanderer und sein Schatten“ entstand währenddem.<br />

Unzweifelhaft, ich kannte mich damals als Schatten… Im Winter<br />

darauf, meinem ersten Genueser Winter, brachte jene wunderliche<br />

Vergeistigung, <strong>die</strong> mit einer extremen Verarmung an Muskel<br />

und Blut beinahe bedingt ist, <strong>die</strong> „Morgenröthe“ hervor. Die<br />

vollkommene Helle und Heiterkeit <strong>des</strong> Geistes verträgt sich bei<br />

mir nicht nur mit der tiefsten physiologischen Schwäche, sondern<br />

sogar mit einem extremen Schmerzgefühl. In jenen Höllenqualen,<br />

<strong>die</strong> ein ununterbrochener Schmerz unter mühseligen Schleim-Erbrechen<br />

Page Break KGW='VIII-3.442' KSA='13.630'


mit sich bringt, besaß ich <strong>die</strong> dialektische Klarheit par<br />

excellence und dachte Dinge durch, zu denen ich in gesünderen<br />

Verhältnissen nicht Kletterer, nicht raffinirt genug bin. (Meine<br />

Leser wissen, in wiefern ich Dialektik als décadence-Symptom<br />

betrachte, zum Beispiel im allerberühmtesten Fall, dem <strong>des</strong><br />

Sokrates) Alle krankhaften Störungen <strong>des</strong> Intellekts, selbst <strong>die</strong><br />

Halbbetäubung, <strong>die</strong> das Fieber im Gefolge hat, sind mir bis heute<br />

vollkommen fremde Dinge, über deren Häufigkeit ich mich erst<br />

auf belesen-gelehrtem Wege zu unterrichten hatte. Mein Blut<br />

läuft langsam, — ich hatte in den Krankheits-Jahren den Puls<br />

Napoleon's — Niemand hat je Fieber bei mir constatiren können.<br />

Ein Arzt, der(1852) mich länger als Nervenleidenden behandelte,<br />

sagte selbst „nein! an Ihren Nerven liegt's nicht, ich selber bin<br />

nur nervös.“ Vollkommen unnachweisbar irgend eine lokale<br />

Entartung; keine organisch bedingten Magenleiden, wie sehr auch<br />

immer, als Folge der Gehirn-Erschöpfung, <strong>die</strong> tiefste Schwäche <strong>des</strong><br />

gastrischen Systems herantrat. Auch das Augenleiden, dem<br />

Blindwerden sich gefährlich annähernd, Folge, nicht ursächlich: so daß<br />

mit jeder Zunahme an Lebenskraft auch <strong>die</strong> Sehkraft, als [ — — ],<br />

zugenommen hat. Eine lange, allzulange Reihe von Jahren bedeutet<br />

bei mir Genesung, — sie bedeutet leider auch Rückfall, Verfall<br />

und Periodik einer Art décadence. Brauche ich zu sagen, daß ich<br />

in Fragen der décadence erfahren bin? ich habe sie vorwärts und<br />

rückwärts buchstabirt. Selbst jene Kunst <strong>des</strong> Greifens und<br />

Begreifens, jene Finger für nuances, jene ganze Psychologie <strong>des</strong><br />

„Um <strong>die</strong> Ecke Sehens“, <strong>die</strong> mich vielleicht auszeichnet, ist damals<br />

erlernt, ist das eigentliche Geschenk jener Zeit, in der Alles sich<br />

verfeinerte, <strong>die</strong> Beobachtung sowohl als <strong>die</strong> Organe der<br />

Beobachtung. Von der Kranken-Optik aus nach gesünderen Begriffen<br />

und Werthen und wiederum umgekehrt aus der Fülle und<br />

Selbstgewißheit <strong>des</strong> vollen Lebens hinunter sehen in <strong>die</strong> Filigran-Arbeit<br />

<strong>des</strong> décadent-Instinkts — das ist meine größte Übung, meine<br />

längste Erfahrung gewesen: wenn irgendworin, so bin ich hier<br />

Meister. Ich habe es in der Hand, ich habe <strong>die</strong> Hand dafür,<br />

Page Break KGW='VIII-3.443' KSA='13.631'<br />

Perspektiven umzustellen: weshalb für mich allein<br />

eine Umwerthung der Werthe überhaupt möglich war.<br />

11.<br />

Abgerechnet nämlich davon, daß ich ein décadent bin, bin ich<br />

<strong>des</strong>sen Gegentheil im vollsten Sinne. Mein Beweis dafür ist, daß<br />

ich instinktiv auch gegen jene schlimmen Zustände <strong>die</strong> rechten<br />

Mittel wählte: während der décadent an sich erkennbar <strong>die</strong><br />

schädlichen Mittel wählt. Als summa summarum war ich gesund:<br />

als Winkel, als Specialität war ich décadent. Jene Energie der<br />

absoluten Vereinsamung und Herauslösung aus gewohnten<br />

Verhältnissen und Aufgaben, der Zwang gegen mich selbst, mich<br />

nicht besorgen, be<strong>die</strong>nen, beärzteln zu lassen — das verräth


<strong>die</strong> unbedingte Instinkt-Gewißheit darüber, was noth thut. Ich<br />

nahm mich selbst in <strong>die</strong> Hand, ich machte mich gesund: <strong>die</strong><br />

Voraussetzung dafür ist — jeder Physiologe wird mir das<br />

zugestehen — daß man im Grund gesund ist. Ein typisch morbider<br />

Mensch wird nicht gesund: für einen typisch Gesunden kann<br />

Kranksein ein energisches Stimulans sein. So in der That<br />

erscheint mir zuletzt jene lange Krankheits-Periode: ich<br />

entdeckte das Leben gleichsam neu, ich schmeckte alle guten und<br />

selbst kleinen Dinge, wie sie ein Anderer nicht leicht geschmeckt<br />

haben wird, — ich machte aus meinem Willen zur Gesundheit,<br />

zum Leben meine Philosophie… Denn man gebe Acht darauf:<br />

<strong>die</strong> Jahre meiner niedrigsten Vitalität waren es, wo ich<br />

aufhörte, Pessimist zu sein, — mein Instinkt der<br />

Selbst-Wiederherstellung verbot mir eine Philosophie der Armut<br />

und Entmuthigung… Woran erkennt man im Grunde <strong>die</strong><br />

Wohlgerathenheit? Ein wohlgerathener Mensch ist aus einem Holze<br />

geschnitzt, welches hart zart und wohlriechend ist, er thut selbst<br />

noch unserem Geruche wohl. Ihm schmeckt, was ihm zuträglich<br />

ist; sein Gefallen, seine Lust hört auf, wo das Maß <strong>des</strong> Zuträglichen<br />

überschritten ist. Er erräth Heilmittel gegen Schädigungen,<br />

er nützt schlimme Zufälle zu seiner Verstärkung aus. Er sammelt<br />

Page Break KGW='VIII-3.444' KSA='13.632'<br />

instinktiv aus Allem, was er sieht, hört, erlebt, seine Summe:<br />

er ist ein auswählen<strong>des</strong> Princip, er läßt viel durchfallen. Er ist<br />

immer in seiner Gesellschaft, ob er mit Büchern, Menschen<br />

oder Landschaften verkehrt: er ehrt, indem er wählt, indem<br />

er zuläßt, indem er vertraut. Er reagirt auf alle Art<br />

Reize langsam, mit jener Langsamkeit, <strong>die</strong> eine lange Vorsicht<br />

und ein gewollter Stolz ihm eingezüchtet haben, — er prüft den<br />

Reiz, der herankommt, er ist fern davon, ihm entgegenzukommen.<br />

Er glaubt weder an „Unglück“, noch an „Schuld“: er ist<br />

stark genug, daß ihm Alles zum Besten gereichen muß. —<br />

Wohlan, ich bin das Gegenstück eines décadent: denn ich<br />

beschrieb eben mich. —<br />

Aphorism n=12847 id='VIII.24[2]' kgw='VIII-3.444' ksa='13.632'<br />

Der physiologische Widerspruch.<br />

Vom Verbrecher.<br />

Was ich den Alten verdanke.<br />

Philosophie.<br />

Musik<br />

<strong>die</strong> Bücher charakterisirt.<br />

In media vita.<br />

Aufzeichnungen eines<br />

Dankbaren.


Von<br />

F. N.<br />

Aphorism n=12848 id='VIII.24[3]' kgw='VIII-3.444' ksa='13.632'<br />

Ecce homo<br />

Aufzeichnungen<br />

eines Vielfachen.<br />

1. Der Psycholog redet<br />

2. Der Philosoph redet<br />

3. Der Dichter redet<br />

Page Break KGW='VIII-3.445' KSA='13.633'<br />

4. Der Musikant redet<br />

5. Der Schriftsteller redet<br />

6. Der Erzieher redet<br />

Aphorism n=12849 id='VIII.24[4]' kgw='VIII-3.445' ksa='13.633'<br />

Fridericus Nietzsche<br />

de vita sua.<br />

Ins Deutsche übersetzt.<br />

Aphorism n=12850 id='VIII.24[5]' kgw='VIII-3.445' ksa='13.633'<br />

Der Spiegel<br />

Versuch<br />

einer Selbstabschätzung.<br />

Von<br />

Friedrich Nietzsche<br />

Aphorism n=12851 id='VIII.24[6]' kgw='VIII-3.445' ksa='13.633'<br />

Die Klugheit meines Instinkts besteht darin, <strong>die</strong> eigentlichen<br />

Nothstände und Gefahren für mich als solche zu fühlen.<br />

insgleichen <strong>die</strong> Mittel zu errathen, mit denen man ihnen aus<br />

dem Wege geht oder sie zu seinem Vortheil einordnet und<br />

gleichsam um eine höhere Absicht herum organisirt.<br />

Der Kampf mit der Vereinsamung<br />

mit der Krankheit<br />

mit dem Zufall von Herkunft, Bildung, Gesellschaft…


mit der großen erdrückenden Verantwortlichkeit<br />

mit der Vielheit der Bedingungen seiner Aufgabe<br />

( — welche Isolation brauchen<br />

Aphorism n=12852 id='VIII.24[7]' kgw='VIII-3.445' ksa='13.633'<br />

Größte Klugheit: eine große Bestimmung so wenig wie möglich<br />

in das Bewußtsein dringen lassen, — gegen sie <strong>die</strong> Scham<br />

bewahren<br />

Page Break KGW='VIII-3.446' KSA='13.634'<br />

sich gegen sie durch Bescheidenheit, Muthwillen, Raffinement<br />

<strong>des</strong> Geschmacks, selbst durch Krankheits- und Schwäche-Zeiten<br />

gleichsam verstecken…<br />

man muß nur ihre Gebote thun, nicht wissen wollen, was<br />

sie ist, wann sie befiehlt…<br />

man muß keine Reden, keine Formeln, keine Attitüden für sie<br />

haben, — man muß leiden, ohne zu wissen, man muß das Beste<br />

thun, ohne sich darin zu verstehn…<br />

Aphorism n=12853 id='VIII.24[8]' kgw='VIII-3.446' ksa='13.634'<br />

Vademecum.<br />

Von der Vernunft meines Lebens.<br />

Aphorism n=12854 id='VIII.24[9]' kgw='VIII-3.446' ksa='13.634'<br />

Im Verkehr mit den Alten.<br />

Anhang<br />

Ecce homo.<br />

Aphorism n=12855 id='VIII.24[10]' kgw='VIII-3.446' ksa='13.634'<br />

Was Goethe angeht: so war der erste Eindruck, ein sehr<br />

früher Eindruck, vollkommen entscheidend: <strong>die</strong> Löwen-Novelle,<br />

seltsamer Weise das Erste, was ich von ihm kennen lernte, gab<br />

mir ein für alle Mal meinen Begriff, meinen Geschmack<br />

„Goethe“. Eine verklärt-reine Herbstlichkeit im Genießen und<br />

im Reifwerdenlassen, — im Warten, eine Oktober-Sonne bis ins<br />

Geistigste hinauf; etwas Goldenes und Versüßen<strong>des</strong>, etwas<br />

Mil<strong>des</strong>, nicht Marmor — das nenne ich Goethisch. Ich habe später,<br />

um <strong>die</strong>ses Begriffs „Goethe“ halber, den „Nachsommer“


Adalbert Stifters mit tiefer Gewogenheit in mich aufgenommen:<br />

im Grunde das einzige deutsche Buch nach Goethe, das für<br />

mich Zauber hat. — Faust — das ist für den, der den Erdgeruch<br />

der deutschen Sprache aus Instinkt kennt, für den Dichter <strong>des</strong><br />

Zarathustra, ein Genuß ohne Gleichen: er ist es nicht für den<br />

Artisten, der ich bin, dem mit dem Faust Stückwerk über Stückwerk<br />

Page Break KGW='VIII-3.447' KSA='13.635'<br />

in <strong>die</strong> Hand gegeben wurde, — er ist es noch weniger für<br />

den Philosophen, dem das vollkommen Arbiträre und Zufällige<br />

— nämlich durch Cultur-Zufälle Bedingte in allen Typen und<br />

Problemen <strong>des</strong> Goetheschen Werks widerstrebt. Man studirt<br />

achtzehntes Jahrhundert, wenn man den „Faust“ liest, man studirt<br />

Goethe: man ist tausend Meilen weit vom Nothwendigen<br />

in Typus und Problem. —<br />

Page Break KGW='VIII-3.448' KSA='13.636'<br />

Page Break KGW='VIII-3.449' KSA='13.637'<br />

[ 25 = W II 10b. W II 9d. Mp XVI 5. Mp XVII 8. D 25 ] [ W II 8c. Dezember 1888<br />

— Anfang Januar 1889 ]<br />

Aphorism n=12856 id='VIII.25[1]' kgw='VIII-3.449' ksa='13.637'<br />

Die große Politik.<br />

Ich bringe den Krieg. Nicht zwischen Volk und Volk: ich<br />

habe kein Wort, um meine Verachtung für <strong>die</strong> fluchwürdige<br />

Interessen-Politik europäischer Dynastien auszudrücken, welche<br />

aus der Aufreizung zur Selbstsucht Selbstüberhebung(1853) der<br />

Völker gegen einander ein Prinzip und beinahe eine Pflicht macht.<br />

Nicht zwischen Ständen. Denn wir haben keine höheren<br />

Stände, folglich auch keine(1854) niederen: was heute in der Gesellschaft<br />

obenauf ist, ist physiologisch verurtheilt und über<strong>die</strong>s<br />

— was der Beweis dafür ist — in seinen Instinkten so verarmt, so<br />

unsicher geworden, daß es das Gegenprincip einer höheren<br />

Art Mensch(1855) ohne Scrupel bekennt<br />

Ich bringe den Krieg quer durch alle absurden Zufälle von<br />

Volk, Stand, Rasse, Beruf, Erziehung, Bildung: ein Krieg wie<br />

zwischen Aufgang und Niedergang, zwischen Willen zum Leben<br />

und Rachsucht gegen das Leben, zwischen Rechtschaffenheit<br />

und tückischer Verlogenheit… Daß alle „höheren Stände“ Partei<br />

für <strong>die</strong> Lüge nehmen, das steht ihnen nicht frei — <strong>die</strong>s müssen<br />

sie: man hat es nicht in der Hand, schlechte Instinkte vom Leibe<br />

zu halten. — Niemals mehr als in <strong>die</strong>sem Falle wird es ergeben<br />

wie wenig an dem Begriff „freier Wille“ ist: man bejaht, was man<br />

ist, man verneint, was man nicht ist… Die Zahl spricht zu<br />

Gunsten der „Christen“: <strong>die</strong> Gemeinheit der Zahl…


Page Break KGW='VIII-3.452' KSA='13.638'<br />

Nachdem man zwei Jahrtausende <strong>die</strong> Menschheit mit<br />

physiologischem Widersinn behandelt hat, muß ja der Verfall <strong>die</strong><br />

Instinkt-Widersprüchlichkeit zum Übergewicht gekommen sein. Ist<br />

es nicht, eine Erwägung, <strong>die</strong> Einem Schauder macht, daß erst ungefähr<br />

seit 20 Jahren alle nächstwichtigen Fragen, in der Ernährung,<br />

der Kleidung, der Kost, der Gesundheit, der Fortpflanzung<br />

mit Strenge, mit Ernst, mit Rechtschaffenheit behandelt<br />

werden<br />

Erster Satz: <strong>die</strong> große Politik will <strong>die</strong> Physiologie zur<br />

Herrin über alle anderen Fragen machen; sie will eine <strong>Macht</strong><br />

schaffen, stark genug, <strong>die</strong> Menschheit als Ganzes und Höheres zu<br />

züchten, mit schonungsloser Härte gegen das Entartende und<br />

Parasitische am Leben, — gegen das, was verdirbt, vergiftet,<br />

verleumdet, zu Grunde richtet… und in der Vernichtung <strong>des</strong> Lebens<br />

das Abzeichen einer höheren Art Seelen sieht.<br />

Zweiter Satz: Todkrieg gegen das Laster; lasterhaft<br />

ist jede Art Widernatur. Der christliche Priester ist <strong>die</strong><br />

lasterhafteste Art Mensch: denn er lehrt <strong>die</strong> Widernatur.<br />

Zweiter Satz: eine Partei <strong>des</strong> Lebens schaffen, stark<br />

genug zur großen Politik: <strong>die</strong> große Politik macht <strong>die</strong><br />

Physiologie zur Herrin über alle anderen Fragen, — sie will <strong>die</strong><br />

Menschheit(1856) als Ganzes züchten, sie mißt den Rang der<br />

Rassen, der Völker, der Einzelnen nach ihrer Zukunfts-[ —), nach<br />

ihrer Bürgschaft für Leben, <strong>die</strong> sie in sich trägt, — sie macht<br />

unerbittlich mit allem Entarteten und Parasitischen ein Ende.<br />

Dritter Satz. Der Rest folgt daraus.<br />

Aphorism n=12857 id='VIII.25[2]' kgw='VIII-3.452' ksa='13.638'<br />

Was ich den Deutschen am wenigsten vergebe, das ist, daß sie<br />

nicht wissen, was sie thun… lügen. Der Lügner der weiß,<br />

daß er lügt, ist gegen einen Deutschen gemessen, tugendhaft…<br />

Page Break KGW='VIII-3.453' KSA='13.639'<br />

Aphorism n=12858 id='VIII.25[3]' kgw='VIII-3.453' ksa='13.639'<br />

Der Gil Blas, ein angenehmes Land, in dem keine Deutschen<br />

vorkommen; Prosper Mérimée, ein noch angenehmeres, — man<br />

stolpert nirgendwo über eine Tugend.<br />

Aphorism n=12859 id='VIII.25[4]' kgw='VIII-3.453' ksa='13.639'


petits faits vrais<br />

Fromentin<br />

De Vogüé<br />

Aphorism n=12860 id='VIII.25[5]' kgw='VIII-3.453' ksa='13.639'<br />

Herr Köselitz hat wirklich einen Begriff von mir: etwas, das<br />

mich immer noch ebenso in Erstaunen setzt als das Gegentheil<br />

davon mich kalt läßt. Ich sehe mitunter meine Hand daraufhin<br />

an, daß ich das Schicksal der Menschheit in der Hand<br />

habe —: ich breche sie unsichtbar in 2 Stücke auseinander, vor<br />

mir, nach mir…<br />

Aphorism n=12861 id='VIII.25[6]' kgw='VIII-3.453' ksa='13.639'<br />

1.<br />

Ich kenne mein Loos. Es wird sich einmal an meinen Namen<br />

<strong>die</strong> Erinnerung an etwas Ungeheures(1857) anknüpfen, — an eine<br />

Krisis, wie es keine auf Erden gab, an <strong>die</strong> tiefste<br />

Gewissens-Collision(1858), an eine Entscheidung heraufbeschworen gegen<br />

Alles, was geglaubt, gefordert, geheiligt worden war. — Und mit<br />

Alledem ist Nichts in mir von einem Fanatiker(1859); wer mich<br />

kennt, hält mich für einen schlichten, vielleicht ein wenig<br />

boshaften Gelehrten, der mit(1860) Jedermann heiter zu sein weiß. Dies<br />

Buch giebt, wie ich hoffe, ein ganz andres Bild als das(1861) Bild<br />

eines Propheten, ich habe es geschrieben, um jeden Mythus über<br />

mich in der Wurzel zu zerstören —, es ist etwas Übermüthiges<br />

noch in meinem Ernste, ich liebe das Kleinste wie das Größte(1862)<br />

ich weiß mein(1863) Glück in den Augenblicken furchtbarer Entscheidungen<br />

nicht los zu werden, ich habe <strong>die</strong> größte Umfänglichkeit<br />

der Seele, <strong>die</strong> je ein Mensch gehabt hat. Verhängnißvoll und —(1864)<br />

Gott oder Hanswurst — das ist das Unfreiwillige an mir, das bin<br />

Page Break KGW='VIII-3.454' KSA='13.640'<br />

ich. — Und trotzdem oder vielmehr nicht trotzdem(1865), denn<br />

alle Propheten waren bisher Lügner — redet aus mir <strong>die</strong><br />

Wahrheit. — aber meine(1866) Wahrheit ist furchtbar: denn man<br />

hieß bisher <strong>die</strong> Lüge Wahrheit… Umwerthung aller Werthe(1867)<br />

das ist meine Formel für einen Akt höchster Selbstbesinnung<br />

der Menschheit: mein Loos will,(1868) daß ich tiefer, muthiger,<br />

rechtschaffener in <strong>die</strong> Fragen aller Zeiten hinunterblicken muß<br />

als(1869) je ein Mensch bisher entdecken mußte… Ich fordere<br />

nicht das was jetzt lebt heraus, ich fordere(1870) mehrere Jahrtausende<br />

gegen mich heraus. Ich widerspreche und bin trotzdem der<br />

Gegensatz(1871) eines neinsagenden Geistes. Erst von mir an giebt


es wieder Hoffnungen, ich kenne Aufgaben(1872) von einer Höhe,<br />

daß der Begriff dafür bisher gefehlt hat, — ich bin der frohe<br />

Botschafter par excellence, wie sehr ich auch immer der<br />

Mensch <strong>des</strong> Verhängnisses sein muß. — Denn wenn ein(1873) Vulkan<br />

in Thätigkeit tritt, so haben wir Convulsionen auf Erden, wie es<br />

noch keine gab. Der(1874) Begriff Politik ist gänzlich in einen<br />

Geisterkrieg aufgegangen, alle <strong>Macht</strong>gebilde sind(1875) in <strong>die</strong> Luft<br />

gesprengt, — es wird Kriege geben, wie es noch keine auf Erden<br />

gab. —<br />

2.<br />

Was einstweilen vorgeht, ist mir zu widerlich, um auch nur<br />

den Zuschauer davon abzugeben(1876). Ich kenne Nichts, was dem<br />

erhabenen Sinne meiner Aufgabe tiefer widerstünde als(1877)<br />

<strong>die</strong>se fluchwürdige Aufreizung zur Völker-, zur Rassen-Selbstsucht,<br />

<strong>die</strong> jetzt auf den Namen(1878) „große Politik“ Anspruch<br />

macht; ich habe kein Wort um meine Verachtung vor dem<br />

geistigen(1879) Niveau auszudrücken, das jetzt in Gestalt <strong>des</strong> deutschen<br />

Reichskanzlers und mit den preußischen(1880) Offizier-Attitüden<br />

<strong>des</strong> Hauses Hohenzollern sich zu Lenkern der Geschichte der<br />

Menschheit berufen(1881) glaubt, <strong>die</strong>se niedrigste Species Mensch,<br />

<strong>die</strong> nicht einmal dort fragen gelernt hat, wo ich(1882) zerschmetternde<br />

Blitzschläge von Antworten nöthig habe, an der <strong>die</strong> ganze<br />

Arbeit der geistigen Rechtschaffenheit(1883) von Jahrhunderten<br />

Page Break KGW='VIII-3.455' KSA='13.641'<br />

umsonst gewesen ist — das steht zu tief unter mir, als daß es(1884)<br />

auch nur <strong>die</strong> Ehre meiner Gegnerschaft haben dürfte. Mögen sie<br />

ihre Kartenhäuser bauen(1885)! für mich sind „Reiche“ und<br />

„Tripel-Allianzen“ Kartenhäuser… Das ruht auf Voraussetzungen,<br />

<strong>die</strong> ich in der Hand habe … Es giebt mehr Dynamit zwischen<br />

Himmel(1886) und Erde als <strong>die</strong>se gepurpurten Idioten sich träumen<br />

lassen…<br />

Aphorism n=12862 id='VIII.25[7]' kgw='VIII-3.455' ksa='13.641'<br />

5.<br />

— Ein letzter Gesichtspunkt, der höchste vielleicht: ich<br />

rechtfertige <strong>die</strong> Deutschen, ich allein. Wir sind im Gegensatz,<br />

wir sind selbst unberührbar für einander, — es giebt keine<br />

Brücke, keine Frage, keinen Blick zwischen uns. Aber das erst<br />

ist <strong>die</strong> Bedingung für jenen äußersten Grad von Selbstigkeit,<br />

von Selbsterlösung, der in mir Mensch wurde: ich bin <strong>die</strong><br />

Einsamkeit als Mensch… Daß mich nie ein Wort erreicht hat,<br />

das zwang mich, mich selber zu erreichen… Ich wäre nicht<br />

möglich ohne eine Gegensatz-Art von Rasse, ohne Deutsche,<br />

ohne <strong>die</strong>se Deutschen, ohne Bismarck, ohne 1848, ohne<br />

„Freiheitskriege“, ohne Kant, ohne Luther selbst… Die großen<br />

Cultur-Verbrechen der Deutschen rechtfertigen sich in einer


höheren Ökonomik der Cultur… Ich will Nichts anders, auch<br />

rückwärts nicht, — ich durfte Nichts anders wollen… Amor<br />

fati… Selbst das Christenthum wird nothwendig: <strong>die</strong> höchste<br />

Form, <strong>die</strong> gefährlichste, <strong>die</strong> verführerischeste im Nein zum<br />

Leben fordert erst seine höchste Bejahung heraus — mich…<br />

Was sind zuletzt <strong>die</strong>se zwei Jahrtausende? Unser lehrreichstes<br />

Experiment, eine Vivisektion am Leben selbst… Bloß<br />

zwei Jahrtausende(1887)!…<br />

Aphorism n=12863 id='VIII.25[8]' kgw='VIII-3.455' ksa='13.641'<br />

Stendhal kam aus dem Dienste der besten strengens<br />

Philosophen-Schule Europas, der der Condillac und Destutt de Tracy,<br />

— er verachtete Kant…<br />

Page Break KGW='VIII-3.456' KSA='13.642'<br />

Aphorism n=12864 id='VIII.25[9]' kgw='VIII-3.456' ksa='13.642'<br />

Fromentin, Feuillet, Halévi, Meilhac, les Goncourt, Gyp,<br />

Pierre Loti — — — oder um einen von der tiefen Rasse zu<br />

nennen, Paul Bourget, der bei weitem am meisten von sich aus<br />

mir nahe gekommen ist — — —<br />

Aphorism n=12865 id='VIII.25[10]' kgw='VIII-3.456' ksa='13.642'<br />

Die alten Italiäner mit der Tiefe und schwermüthigen<br />

Süßigkeit <strong>des</strong> Gefühls, <strong>die</strong> vornehmen Musiker par excellence, in<br />

denen das Höchste der Stimme als Ton übrig geblieben ist<br />

Das Requiem von Nicola Jommelli (1769) zum Beispiel, ich<br />

hörte es gestern — ah das kommt aus einer anderen Welt als ein<br />

Requiem von Mozart…<br />

Aphorism n=12866 id='VIII.25[11]' kgw='VIII-3.456' ksa='13.642'<br />

Ein letztes Wort. Ich werde von jetzt ab hülfreiche Hände<br />

— unsterbliche Hände! — ohne Zahl nöthig haben, <strong>die</strong><br />

Umwerthung soll in 2 Sprachen erscheinen. Man wird gut thun<br />

überall Vereine zu gründen, um mir zur rechten Zeit einige<br />

Millionen Anhänger in <strong>die</strong> Hand zu geben. Ich lege Werth darauf,<br />

zunächst <strong>die</strong> Offiziere und <strong>die</strong> jüdischen Banquiers für mich zu<br />

haben: — Beide zusammen repräsentiren den Willen zur


<strong>Macht</strong>. —<br />

Wenn ich nach meinen natürlichen Verbündeten frage, so sind<br />

das vor Allem <strong>die</strong> Offiziere; mit militärischen(1888) Instinkten im<br />

Leibe kann man nicht Christ sein, — im andern Fall wäre man<br />

falsch als Christ und falsch außerdem noch als Soldat. Insgleichen<br />

sind <strong>die</strong> jüdischen Banquiers meine natürlichen Verbündeten als<br />

<strong>die</strong> einzige internationale <strong>Macht</strong> ihrem Ursprung wie ihrem<br />

Instinkt nach, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Völker wieder bindet, nachdem eine<br />

fluchwürdige Interessen-Politik aus der Selbstsucht und<br />

Selbstüberhebung der Völker eine Pflicht gemacht hat.<br />

Page Break KGW='VIII-3.457' KSA='13.643'<br />

Aphorism n=12867 id='VIII.25[12]' kgw='VIII-3.457' ksa='13.643'<br />

In <strong>die</strong>ser Zeit ergiebt sich Alles, was [ — — — ] hatte.<br />

Ich gebe <strong>die</strong> höchste Ehre dem, den es(1889) dabei <strong>die</strong> größte Mühe<br />

gekostet hat — meinem Maestro Peter Gast, der zuletzt nicht einer<br />

Ehrenbezeigung bedürfte, wenn [ — — — ] — dem ersten und<br />

soli<strong>des</strong>ten Musiker der jetzt lebt.<br />

ich thue erst das was ich ihm schuldig wenn ich ihn den<br />

tiefsten und soli<strong>des</strong>ten Musiker nenne, der jetzt lebe.<br />

Aphorism n=12868 id='VIII.25[13]' kgw='VIII-3.457' ksa='13.643'<br />

Todkrieg dem Hause Hohenzollern<br />

Als der, der ich sein muß, kein Mensch, ein Schicksal will ich<br />

ein Ende machen mit <strong>die</strong>sen verbrecherischen Idioten, <strong>die</strong> mehr<br />

als ein Jahrhundert das große Wort, das größte Wort geführt<br />

haben. Seit Friedrichs(1890) <strong>des</strong> Großen Diebes Tagen, haben sie<br />

nichts gethan als gelogen und gestohlen; ich habe einen Einzigen<br />

auszunehmen, den unvergeßlichen Friedrich den Dritten, als<br />

den bestgehaßten, bestverleumdeten der ganzen Rasse… Heute,<br />

wo eine schändliche Partei obenauf ist(1891), wo eine christliche Bande<br />

<strong>die</strong> fluchwürdige Drachensaat <strong>des</strong> Nationalismus zwischen den<br />

Völkern sät und <strong>die</strong> schwarzen Hausknechte, aus Liebe zu den<br />

Sklaven „befreien“ will, haben wir <strong>die</strong> Verlogenheit und<br />

Unschuld in der Lüge vor ein welthistorisches Gericht zu<br />

bringen #<br />

Ihr Werkzeug, Fürst Bismarck, der Idiot par excellence unter<br />

allen Staatsmännern, hat nie eine Handbreit über <strong>die</strong> Dynastie(1892)<br />

Hohenzollern hinausgedacht<br />

Aber das hat seine Zeit gehabt: ich will das Reich in ein<br />

ehernes Hemd einschnüren und zu einem Verzweiflungskampf<br />

herausfordern. Ich werde nicht eher <strong>die</strong> Hände frei bekommen,<br />

als bis ich den christlichen Husaren von Kaiser, <strong>die</strong>sen jungen


Verbrecher sammt Zubehör in den Händen habe — mit Vernichtung<br />

der erbarmungswürdigsten Mißgeburt von Mensch, <strong>die</strong><br />

bisher zur <strong>Macht</strong> gelangt ist<br />

Page Break KGW='VIII-3.458' KSA='13.644'<br />

Aphorism n=12869 id='VIII.25[14]' kgw='VIII-3.458' ksa='13.644'<br />

# Damit das Haus von Narren und Verbrechern sich obenauf<br />

fühlt, zahlt Europa jetzt jährlich 12 Milliarden, reißt es Klüfte<br />

zwischen den werdenden Nationen auf, hat es <strong>die</strong> hirnverbranntesten<br />

Kriege geführt, <strong>die</strong> je geführt wurden: Fürst Bismarck hat<br />

zu Gunsten seiner Hauspolitik alle Voraussetzungen für große<br />

Aufgaben, für welthistorische Zwecke, für eine edlere und feinere<br />

Geistigkeit mit einer fluchwürdigen Sicherheit <strong>des</strong> Instinktes<br />

vernichtet. Und seht euch doch <strong>die</strong> Deutschen selber an, <strong>die</strong> [ — ]<br />

niedrigste, stupi<strong>des</strong>te, gemeinste Rasse wohl, <strong>die</strong> jetzt auf Erden<br />

da ist, verhohenzollert bis zum Haß gegen Geist und<br />

Freiheit. Seht doch ihr „Genie“, den Fürsten(1893) Bismarck(1894), den<br />

Idioten unter den Staatsmännern aller Zeiten, der nie eine Handbreit<br />

über <strong>die</strong> Dynastie(1895) Hohenzollern(1896) hinausgedacht hat. Der<br />

Idiot am Kreuze war [ — — — ]… Und als <strong>die</strong> Rasse Genie<br />

hatte, hatte sie das Genie <strong>des</strong> Verbrechens…<br />

Letzte Erwägung<br />

Zuletzt könnten wir selbst der Kriege entrathen; eine richtige<br />

Meinung genügte unter Umständen schon. Ein Wagen mit Eisenstäben<br />

für Hohenzollern und andere „Schwaben“… Wir Anderen<br />

giengen unausgesetzt an <strong>die</strong> grandiose und hohe Arbeit<br />

<strong>des</strong> Lebens — wir haben Alles noch zu organisiren. Es giebt noch<br />

wirksamere Mittel, <strong>die</strong> Physiologie zu Ehren zu bringen als durch<br />

Lazarethe — ich wüßte einen besseren Gebrauch von den 12<br />

Milliarden zu machen, <strong>die</strong> der „bewaffnete Friede“ heute Europa<br />

kostet. Und kurz und gut — — —<br />

Aber das hat seine Zeit gehabt. Man möge mir <strong>die</strong>sen jungen<br />

Verbrecher ausliefern; ich werde nicht zögern, ihn zu verderben,<br />

— ich will selbst <strong>die</strong> Brandfackel in seinem fluchwürdigen<br />

Verbrecher-Geist lodern machen<br />

Page Break KGW='VIII-3.459' KSA='13.645'<br />

Aphorism n=12870 id='VIII.25[15]' kgw='VIII-3.459' ksa='13.645'<br />

Nur indem ich den Verbrecher-Wahnsinn brandmarke, brandmarke<br />

ich immer <strong>die</strong> zwei fluchwürdigsten Institutionen, an<br />

denen bisher <strong>die</strong> Menschheit krank ist, <strong>die</strong> eigentlichen


Todfeindschafts-Institutionen gegen das Leben: <strong>die</strong> dynastische<br />

Institution, <strong>die</strong> sich am Blut der Stärksten, Wohlgerathenen und<br />

Herrlichen mästet und <strong>die</strong> priesterliche Institution, <strong>die</strong> mit<br />

einer schauerlichen Arglist eben <strong>die</strong>selben Männer, <strong>die</strong> Stärksten,<br />

Wohlgeratenen Herrlichen von vornherein zu zerstören versucht.<br />

Ich finde hier Kaiser und Priester sich einig: ich will hier Richter<br />

sein und alle Jahrtausende mit dem verbrecherischen Wahnsinn<br />

von Dynasten und Priestern ein Ende machen… Die Menschheit(1897)<br />

hat sich dergestalt gewöhnt an <strong>die</strong>sen Wahnsinn, daß sie<br />

heute <strong>die</strong> Heere nöthig zu haben glaubt zum Zweck der<br />

Kriege… Ich sagte, scheint es, eben eine Absurdität…<br />

Niemand verlangt strenger als ich, daß Jedermann Soldat ist(1898) es giebt<br />

durchaus kein anderes Mittel, ein ganzes Volk zu den Tugenden<br />

<strong>des</strong> Gehorchens und Befehlens, zum Takt, in Haltung und Gebärden,<br />

zu der fröhlichen und tapferen Art, [ — ], zu der Freiheit <strong>des</strong><br />

Geistes inzwischen zu erziehen — es ist bei weitem unsere erste<br />

Vernunft in der Erziehung, daß Jedermann Soldat ist es giebt<br />

auch kein anders Mittel um über jede Kluft von Rang, Geist<br />

Aufgabe hinweg, ein männliches gegenseitiges Wohlwollen über ein<br />

ganzes Volk hinzubreiten. — „Dienst und Pflicht“ [ — — — ],<br />

Segen der Arbeit — so redet immer <strong>die</strong> verfluchte Dynastie, wenn<br />

sie Menschen(1899) nöthig hat. Daß man eine solchen Auslese der<br />

Kraft und Jugend und <strong>Macht</strong> nachher vor <strong>die</strong> Kanonen stellt, ist<br />

Wahnsinn.<br />

Aphorism n=12871 id='VIII.25[16]' kgw='VIII-3.459' ksa='13.645'<br />

Ich werde nie zugeben, daß eine canaille von Hohenzollern(1900)<br />

Jemandem befehlen kann, Verbrechen zu begehen… Es giebt<br />

kein(1901) Recht auf Gehorsam, wenn der Befehlende bloß ein<br />

Hohenzollern ist<br />

Page Break KGW='VIII-3.460' KSA='13.646'<br />

Aphorism n=12872 id='VIII.25[17]' kgw='VIII-3.460' ksa='13.646'<br />

Meine Freunde, seht euch einmal einen Priester an. Das ist<br />

etwas Feierliches Blaßes, Gedrücktes, mit Feigheit im Auge und<br />

mit ganz langen blaßen Fingern, vor allem im Heiligwerden<br />

steckt ein rachsüchtiges und feines Thier, das man [ — — — ]<br />

Unterschätzen wir den Priester(1902) nicht — er ist [ — ] Er ist auch<br />

heilig… Wir, mit ein wenig Blut und Neugierde, wir bei<br />

denen eine kleine Teufelei im Kopf zum Glück gehört sind<br />

unheilig… Was wir uns schämen!


Aphorism n=12873 id='VIII.25[18]' kgw='VIII-3.460' ksa='13.646'<br />

Das Reich selber ist ja eine Lüge: kein Hohenzollern kein<br />

Bismarck hat je an Deutschland gedacht… Daher <strong>die</strong> Wuth<br />

gegen Prof. Geffcken … Bismarck zog vor, mit dem Wort<br />

„deutsch“ im Munde zu pochen polizei-gesetzlich… Ich denke,<br />

man lacht an den Höfen von Wien, von St. Petersburg; man<br />

kennt eben unseren Consorten von parvenu, der bisher noch nicht<br />

einmal aus Versehen ein gescheidtes Wort geredet hat. Das ist gar<br />

kein Mensch, der auf Erhaltung der Deutschen setzt, wie er<br />

behauptet.<br />

und vielleicht nochmehr eine Dummheit!<br />

Aphorism n=12874 id='VIII.25[19]' kgw='VIII-3.460' ksa='13.646'<br />

Letzte Erwägung<br />

Könnten wir der Kriege entrathen, um so besser. Ich wüßte<br />

einen nützlicheren Gebrauch von den zwölf Milliarden zu<br />

machen, welche jährlich der bewaffnete Friede Europa kostet; es<br />

giebt noch andre Mittel, <strong>die</strong> Physiologie zu Ehren zu bringen, als<br />

durch Lazarethe… Kurz und gut, sehr gut sogar: nachdem<br />

der alte Gott abgeschafft ist, bin ich bereit, <strong>die</strong> Welt zu<br />

regieren…<br />

Page Break KGW='VIII-3.461' KSA='13.647'<br />

Aphorism n=12875 id='VIII.25[20]' kgw='VIII-3.461' ksa='13.647'<br />

Man liefere mir den jungen Verbrecher in <strong>die</strong> Hand: ich werde<br />

nicht zögern, ihn zu verderben und seinen Verbrecher-Geist in<br />

Brand zu stecken…<br />

Aphorism n=12876 id='VIII.25[21]' kgw='VIII-3.461' ksa='13.647'<br />

condamno te ad vitam diaboli vitae<br />

Indem ich dich vernichte Hohenzollern, vernichte ich <strong>die</strong> Lüge<br />

Kritische Stu<strong>die</strong>nausgabe<br />

Band 14<br />

Vorwort<br />

Page Break id='K' KGW='N/A' KSA='14.7'<br />

Vorwort

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