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Weltseele und unendlicher Verstand - Salomon Maimon

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„Die Zahl 2 z.B: drückt ein Verhältnis von 2:1 aus, <strong>und</strong> zugleich das Objekt dieses Verhältnisses;<br />

<strong>und</strong> wenn dieses auch zur ihrem Bewußtsein, so ist es doch zu ihrer Realität nicht notwendig.<br />

Alle mathematischen Wahrheiten haben ihre Realität auch vor unserm Bewußtsein<br />

von denselben.“ (Versuch, 107 [190])<br />

Wenngleich <strong>Maimon</strong>s Argumentationsziel in dieser kurzen Passage nicht eindeutig zu<br />

bestimmen ist, 441 so wird doch klar ersichtlich, daß <strong>Maimon</strong> an dieser Stelle einen Unter-<br />

schied zwischen dem „Bewußtsein“ des Verhältnisses <strong>und</strong> dem Verhältnis an sich („Realität“)<br />

behauptet. 442 Es scheint sich also gegen die Auffassung der Arithmetik als analytische nicht-<br />

sinnliche Wissenschaft die Einsicht Kants durchzusetzen, daß selbst für die Arithmetik die<br />

sinnliche Anschauungsform der Zeit konstitutiv ist. 443 Im Gegensatz zu Kants konstruktivisti-<br />

scher Auffassung der Mathematik 444 , vertritt <strong>Maimon</strong>, nachdem er sich von der Kantischen<br />

These der konstitutiven Rolle der Anschauung in der Arithmetik hat überzeugen lassen, eine<br />

441 Fraglich ist, worauf sich das „dieses“ bezieht. Es kann sich nicht auf die Zahl als Verhältnis beziehen, da<br />

Verhältnisse sich nach <strong>Maimon</strong> nicht auf das Bewußtsein (endlicher <strong>Verstand</strong>), sondern auf die Realität (<strong>unendlicher</strong><br />

<strong>Verstand</strong>) beziehen. Es liegt nahe zu behaupten, <strong>Maimon</strong> habe an der Stelle die zeitliche Sukzession des<br />

Bewußtsein in der Konstitution der Zahlen von der eigentlichen nichtsinnlichen Struktur (reines Verhältnis) derselben<br />

unterscheiden wollen.<br />

442 Vor allem im Versuch findet man bei <strong>Maimon</strong> noch eine ‚zweifache Lehre’ vertreten: (1) die der Endlichkeit<br />

<strong>und</strong> Diskursivität des menschlichen <strong>Verstand</strong>es <strong>und</strong> die Annäherung an den (<strong>und</strong> Ähnlichkeit mit dem) unendlichen<br />

<strong>Verstand</strong> als Aufgabe sowie (2) die behauptete Identität des endlichen mit dem unendlichen <strong>Verstand</strong>. Es ist<br />

dies eine interessante Parallele mit <strong>Maimon</strong>ides, dessen Aussagen über das Verhältnis von endlichem <strong>und</strong> unendlichem<br />

<strong>Verstand</strong> gleichfalls widersprüchlich sind. Vgl. hierzu Pines (1979): „One of the most perplexing problems<br />

posed by the Guide of the Perplexed—and to my mind a f<strong>und</strong>amental one—relates to two apparently irreconcilable<br />

positions held by, or attributed to, <strong>Maimon</strong>ides. On the one hand, he sets very narrow limits to human<br />

knowledge; on the other, he affirms that man’s ultimate goal and man’s felicity consist in intellectual perfection,<br />

that is, in knowledge and contemplation (theoria).“ (83) Im Gegensatz hierzu vgl. Altmann (1987). Einen Überblick<br />

über die Debatte liefert Stern (2005), 115-129. Derselbe Widerspruch findet sich in Spinozas Ethik. Im 1.<br />

Buch, in der Anmerkung zum 17. Lehrsatz bemerkt Spinoza, daß der göttliche <strong>Verstand</strong> „von unserem <strong>Verstand</strong><br />

sowohl hinsichtlich des Wesens als auch hinsichtlich der Existenz verschieden“ (55) sei. Im Zusatz zum Beweis<br />

des 11. Lehrsatzes des 2. Buches heißt es hingegen, „daß der menschliche Geist ein Teil des unendlichen <strong>Verstand</strong>es<br />

Gottes ist.“ (137) Vgl. hierzu Pearson (1883), 341: „Curiously enough, while both <strong>Maimon</strong>ides and<br />

Spinoza strip God of all conceivable human characteristics, they yet hold it possible for the mind of man to attain<br />

to some, if an imperfect, knowledge of God, and make the attainment of such knowledge the highest good of<br />

life.“<br />

443 Siehe Friedman (1992): „Without the pure intuition of time, according to Kant, the basic idea <strong>und</strong>erlying the<br />

science of arithmetic, the idea of progressive iteration, could not even be thought or represented—whether or not<br />

this idea has a corresponding object or model.“ (122) Vgl. hierzu auch Martin (1972), 146: „Als die wesentlichen<br />

Charakteristika der Kantischen Synthesis in der Arithmetik haben wir herausgearbeitet: die Anschauung, die<br />

symbolische Konstruktion <strong>und</strong> die Erweiterung. Die Anschauung findet ihren wesentlichen Niederschlag in der<br />

Axiomatik. [...] Die reine Zeitanschauung ist die Quelle der Axiome; in der Zeit vollzieht sich die symbolische<br />

Konstruktion der Arithmetik <strong>und</strong> schließlich ist die Erweiterungsfähigkeit der Arithmetik ein zeitlicher Charakter.“<br />

444 Vgl. hierzu Shabel (1998) <strong>und</strong> Shabel (2002). Zur arithmetischen Konstruktion siehe beispielsweise Shabel<br />

(im Erscheinen), 13: „Importantly, Kant takes the content of the concept 12 to ‘arise’ from this intuitive computation:<br />

the construction and summing of the concepts comprising the subject concept is a process that generates<br />

the properties of that very concept, expressed in the predicate concept.“<br />

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