wandlungen des strafrecht- lichen schuldbegriffs in ... - Criminet
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01: 4<br />
Hans - He<strong>in</strong>rich Jescheck<br />
grossen österreichischen Autoren <strong>des</strong> 19. Jahrhunderts, Wilhelm Wahlberg berufen<br />
können, der se<strong>in</strong>e Grundthese wie folgt formuliert hat: ,,Der Täter hätte e<strong>in</strong> anderer se<strong>in</strong><br />
können und <strong>in</strong> dem, was er ist und dementsprechend tut, liegt se<strong>in</strong>e Schuld”(22). Warum<br />
er für das, was er ist, <strong>strafrecht</strong>lich verantwortlich gemacht werden kann, bleibt bei<br />
Wahlberg freilich offen. Auch Nowakowski hat die Freiheitsfrage offen gelassen, wenn er<br />
auch den Täter nicht mit der gleichen Schroffheit wie Kadeèka und Wahlberg mit se<strong>in</strong>er<br />
objektiven Verantwortlichkeit als der unausweich<strong>lichen</strong> Folge se<strong>in</strong>er Veranlagung<br />
belastete: ,,Ob der Mensch wesentlich frei ist und se<strong>in</strong>e sittliche Verantwortung auf<br />
dieser Freiheit beruht” –so sagt er-, ,,ist e<strong>in</strong>e ganz andere Frage als die, ob er diese<br />
Freiheit e<strong>in</strong>er bestimmten Entscheidung gegenüber besass” (23). Rechtliche Schuld<br />
bestehe ,,unabhängig vom Auch-anders-Können <strong>in</strong> der Nichterfüllung e<strong>in</strong>es vom Recht<br />
gesetzten Masses” (24). Schuld sei letztlich das re<strong>in</strong> faktische ,,Zurückbleiben h<strong>in</strong>ter der<br />
Reaktionsweise e<strong>in</strong>es massgerechten Menschen”, das heisst, ,,e<strong>in</strong>es mit den rechtlich<br />
geschützten Werten verbundenen Menschen abgestellt (26), obwohl dieses Niveau auch<br />
für den voll zurechnungsfähigen Täter nach se<strong>in</strong>er Herkunft, Erziehung und Lebensgeschichte<br />
nicht selten unerreichbar se<strong>in</strong> wird.<br />
3. E<strong>in</strong>e andersartige Fortentwicklung <strong>des</strong> normativen Schuldbegriffs stellte <strong>in</strong><br />
Deutschland die Schuldlehre <strong>des</strong> F<strong>in</strong>alismus dar. Die ontologische Begründung <strong>des</strong><br />
Verbrechensbegriffs durch Hans Welzel führte zu dem bekannten Ergebnis, dass der<br />
Tatbestandsvorsatz und die objektive Sorgfaltsverletzung bei der Fahrlässigkeit aus dem<br />
Schuldbegriff ausscheiden und dem Unrechtstatbestand zugeordnet werden, so dass im<br />
Schuldbegriff nur re<strong>in</strong> normative Elemente –Bewusstse<strong>in</strong> der Rechtswidrigkeit und<br />
Zumutbarkeit normtreuen Verhaltens- übrigbleiben. Schuld ist für Welzel nur noch das<br />
,,Dafür-Können der Person für ihre rechtswidrige Willensbildung”(27). Auf welche<br />
Weise aber die Verantwortlichkeit <strong>des</strong> schuldigen Menschen für den Tatentschluss<br />
begründet werden kann, wird auch von Welzel nicht gesagt. Wie man die Straftat vermeidet,<br />
wie der E<strong>in</strong>satz der ,,Ich-Steuerung” mit dem Ziel rechtmässigen Handelns tatsächlich<br />
stattf<strong>in</strong>det, ist nach Welzel nicht erkennbar und bleibt das ,,Geheimnis” der Willensfreiheit<br />
(28). In Österreich hat die f<strong>in</strong>ale Handlungslehre als Grundlage e<strong>in</strong>es ontologisch<br />
verstandenen Verbrechensbegriffs ke<strong>in</strong>e Nachfolge gefunden (29), wiewohl sich natürlich<br />
die daraus von Welzel abgeleiteten Veränderungen <strong>des</strong> Straftatsystems auch hier<br />
durchgesetzt haben, da sie sich auch unabhängig von der f<strong>in</strong>alen Handlungslehre überzeugend<br />
begründen lassen (30). Das Problem der Rechtfertigung <strong>des</strong> Schuldvorwurfs<br />
blieb dagegen <strong>in</strong> Österreich e<strong>in</strong>e Frage, die man ohne Rückgriff auf die Willensfreiheit<br />
pragmatisch über den Charakter <strong>des</strong> Täters zu lösen suchte.<br />
Wir stehen damit <strong>in</strong> Österreich an der Schwelle <strong>des</strong> Strafgesetzbuchs von 1974, das<br />
die Schuldauffassung Nowakowskis übernommen hat. Die Entwicklung <strong>in</strong> Deutschland ist<br />
dagegen offener gewesen, weil das 1975 aus der Grossen Strafrechtsreform hervorgegangene<br />
neue Strafgesetzbuch den Schuldbegriff nicht festgeschrieben, sondern der Präzisierung<br />
durch Wissenschaft und Praxis überlassen hat. Die heute herrschende Dogmatik<br />
wird wesentlich durch die Grundgedanken bestimmt, die Wilhelm Gallas auf der Strafrechtslehrertagung<br />
1954 <strong>in</strong> Tüb<strong>in</strong>gen (31) und 1967 <strong>in</strong> Münster (32) vorgetragen hat.<br />
Revista Electrónica de Ciencia Penal y Crim<strong>in</strong>ología. 2003, núm. 05-01vo, p. 01:1-01:17 ISSN 1695-0194