PDF, 117.8 ko - Image du Jura
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Thomas Häcker<br />
Portfolio - ein Medium im Spannungsfeld zwischen Optimierung und<br />
Humanisierung des Lernens<br />
-1-<br />
„Man kann nicht die eigene Selbstbestimmung erweitern,<br />
indem man von anderen gesteckte Ziele verfolgt.“<br />
(Holzkamp 1997, S. 130)<br />
Einleitung<br />
Der Begriff der Selbststeuerung (bzw. des selbstgesteuerten Lernens) ist in den vergangenen dreißig Jahren in<br />
Deutschland gegenüber dem Begriff der Selbstbestimmung deutlich in den Vordergrund getreten. Es bedürfe der<br />
Selbststeuerung, d.h. der Förderung selbstregulierten und eigenverantwortlichen Lernens – so wird häufig<br />
argumentiert - wenn man die Autonomie und Mündigkeit des Lernenden sowie die Erziehung zu lebenslangem<br />
Lernen als zentrale pädagogische Ziele von Schule und Unterricht ernst nehmen wolle. Mit dem Interesse am<br />
selbstgesteuerten Lernen ist auch das Interesse an Instrumenten und Medien deutlich gestiegen, die, wie z.B. das<br />
Portfolio, Lerntagebücher Lernjournale usw., in dem Ruf stehen, solches selbstgesteuerte Lernen zu fördern.<br />
Die Annahme, selbstgesteuertes Lernen sei gleichzusetzen mit einer emanzipatorischen Erziehung, ist<br />
kurzschlüssig. Das Einräumen von Selbststeuerung folgt nicht notwendig der pädagogischen Idee, menschliche<br />
Emanzipation und personale Selbstbestimmung zu fördern. Das Einfordern von Selbststeuerung steigert unter<br />
Umständen sogar die Fremdbestimmung im Lernprozess. Dieser Beitrag zielt darauf, dies aus der Perspektive<br />
der Lernenden deutlich zu machen. Dazu ist es notwendig, die Begriffe Selbststeuerung und Selbstbestimmung<br />
gegeneinander abzugrenzen. Erst dann wird verstehbar, weshalb eine einseitige Betonung der Selbststeuerung im<br />
Lernen – wenn sie zu Lasten von Möglichkeiten der Selbstbestimmung geht – problematisch ist: wegen des<br />
damit verbundenen Verlusts von Lernsinn trägt sie dazu bei, gerade diejenigen (vor allem motivationalen)<br />
Probleme schulischen Lernens zu verschärfen, zu deren Lösung sie beitragen soll. Der große Verdruss, der sich<br />
in der Praxis bei der Arbeit mit Portfolios oftmals sehr schnell einstellt, erscheint dann als erwartbare Folge des<br />
Versuchs, Portfolios zur Förderung von Selbststeuerung in weitgehend fremdbestimmten Lernprozessen zu (be-)<br />
nutzen.<br />
1. Selbstbestimmung versus Selbststeuerung – ein pädagogisches Grunddilemma<br />
Obwohl die historisch überlieferten Normen der Aufklärung, Mündigkeit und Emanzipation nicht zwingend<br />
logisch begründet werden können, stellt Selbstbestimmung in der Pädagogik dennoch ein <strong>ko</strong>nsensfähiges Ziel<br />
dar. So wird die Fähigkeit zur Selbstbestimmung in nahezu allen didaktischen Ansätzen als Merkmal eines<br />
gebildeten Menschen betrachtet und zu einem Maßstab didaktischen Denkens und Handelns gemacht (vgl.<br />
Klafki 1985, S. 17; Schulz 1980c, S. 39ff.; Winkel 1995, S. 79ff). Allerdings bleiben die meisten didaktischen<br />
Ansätze hinsichtlich von Handlungsempfehlungen bezüglich der Selbstbestimmung eher vage und<br />
zurückhaltend. Das hat verschiedene Gründe. Einer liegt in einem pädagogischen Grunddilemma begründet: Im<br />
Blick auf emanzipatorische Bil<strong>du</strong>ngsziele finden sich Lehrende in der Schule seit der Zeit der Aufklärung in dem<br />
Zwiespalt, dass die zu ihrer Erreichung notwendige thematisch-inhaltliche Mitbestimmung im Lernprozess kaum<br />
zugestanden werden kann, weil das Erreichen meist gesellschaftlich vorbestimmter Lernziele in der Schule<br />
mittels selbstbestimmten Lernens seitens der Lernsubjekte nicht garantiert werden kann. Tatsächlich deuten
Erfahrungen und Beobachtungen bei dem wohl bedeutendsten Versuch der praktischen Umsetzung von<br />
Selbstbestimmung in Lehr-Lern-Prozessen – an der Laborschule in Bielefeld – darauf hin, dass Schüler/innen<br />
bei freier Themenwahl bestimmte Bereiche völlig auslassen, die aus der Sicht der Lehrpersonen bedeutsam sind<br />
(vgl. Büttner & Rosenbohm, 1977).<br />
An der Bielefelder Laborschule wurden hinsichtlich der Frage, worauf sich Selbstbestimmung im Lernen<br />
bezieht, von Anfang an zwei unterschiedliche Grundauffassungen vertreten: im einen Fall wurde<br />
Selbstbestimmung an die Selbstwahl der Inhalte, d.h. an die Einbeziehung der Schülerinteressen in den<br />
Unterricht geknüpft, im anderen an die Bestimmung der Lernformen und Methoden <strong>du</strong>rch die Lernenden (vgl.<br />
Büttner & Rosenbohm, 1977). Den beiden Positionen liegt die plausible und weiter führende Unterschei<strong>du</strong>ng<br />
zwischen inhaltlich-thematischen, d.h. zielbezogenen und regulativ-operativen Aspekten des Lernens zugrunde.<br />
Im Folgenden wird in diesem Sinne zwischen Selbstbestimmung (als Mitbestimmung im Lernen, die thematischinhaltliche<br />
Aspekte einschließt) und Selbststeuerung (als Mitbestimmung im Lernen, die sich auf regulativoperative<br />
Aspekte bezieht) unterschieden. Die Trennlinie zwischen Selbstbestimmung und Selbststeuerung liegt<br />
demnach ‚unterhalb’ der inhaltlich-thematischen Entschei<strong>du</strong>ngsoptionen (vgl. Abb. 1).<br />
Abb. 1: Die Trennlinie zwischen Selbstbestimmung und Selbststeuerung<br />
Das Konzept der Selbststeuerung scheint das skizzierte Dilemma zu lösen, denn sie gewährt beides gleichzeitig:<br />
die verlässliche Erreichung vorbestimmter Lernziele einerseits und eine gewisse Mitbestimmung beim Lernen<br />
andererseits.<br />
Auf der praktischen Ebene ist es tatsächlich schwierig und aufwändig, weit reichende Mitbestimmung im Lernen<br />
umzusetzen. Spätestens zu Anfang der 1980er Jahre führte dies zu der verbreiteten pragmatischen Einschätzung,<br />
dass die schulischen Möglichkeiten zur Herbeiführung von Emanzipation vergleichsweise gering seien. So<br />
argumentiert Schulz (vgl. 1980a, S. 56; 1980b, S. 81), Emanzipation könne als Befreiung von überflüssiger<br />
Herrschaft und zu möglichst weitgehender Verfügung aller über sich selbst nicht in einer Institution geleistet<br />
werden, in der Herrschaft nicht begründet werde und deshalb auch nicht abgeschafft werden könne.<br />
Entsprechend seien Benachteiligungen ö<strong>ko</strong>nomisch bedingter, politischer und kultureller Art nicht in der Schule<br />
entstanden und nicht <strong>du</strong>rch sie änderbar. Unterricht, so Schulz, könne aus diesem Grunde nicht emanzipieren,<br />
sondern sei allenfalls emanzipatorisch relevant. Dabei gehe es darum, mit Hilfe der Lehrer die unkritische<br />
-2-
Verinnerlichung bestehender Verhältnisse zu relativieren und Schüler/innen zur Frage an die Verhältnisse<br />
ebenso zu befähigen, wie zum Durchspielen alternativer Antworten.<br />
Die Konjunktur des Begriffes der Selbststeuerung ist vor diesem Hintergrund nicht verwunderlich: der<br />
Ziel<strong>ko</strong>nflikt, in den Lehrpersonen <strong>du</strong>rch die gleichzeitige Forderung nach Selbstbestimmung und Zielerreichung<br />
geführt werden, kann scheinbar <strong>du</strong>rch die Ent<strong>ko</strong>ppelung des thematischen von operativen Aspekten einerseits<br />
und die Beschränkung der Mitbestimmung auf die regulativ-operativen Aspekte des Lernens andererseits gelöst<br />
werden. Die grundlegende und prekäre Frage nach dem Verhältnis von Fremd- und Selbstbestimmung wird in<br />
dieser Variante allerdings zugunsten eines hohen Maßes an Fremdbestimmung im Lernen beantwortet. Wer<br />
Fremdbestimmung als Möglichkeit im Bil<strong>du</strong>ngsprozess einräumt, muss auf die für die moderne Pädagogik seit<br />
dem Ende des 18. Jahrhunderts grundlegende und nach wie vor ungelöste Frage, wie aus Heteronomie im<br />
Bil<strong>du</strong>ngsprozess Autonomie wird, Antworten geben. Darum kümmern sich die Theoretiker/innen der<br />
Selbststeuerung allerdings auffallend wenig.<br />
Inwiefern ist demnach (1) thematisch-inhaltliche Selbstwahl für schulisches Lernen von Belang, (2) eine auf<br />
operative Aspekte des Lernens beschränkte Selbstwahl problematisch und (3) dies alles für die Arbeit mit<br />
Konzepten wie der Portfolioarbeit von Interesse?<br />
2. Zur Bedeutung thematischer und inhaltlicher Selbstbestimmung für den Lernprozess<br />
Selbstbestimmung ist immer zugleich Ausdruck und Ziel menschlicher Freiheit. Sie ist verbunden mit einer<br />
Vorstellung eines Handelns nach eigenen Vorstellungen, d.h. einer eigenen Lebensführung. Praktisch drückt sie<br />
sich darin aus, aus eigenem Antrieb Entschei<strong>du</strong>ngen zu treffen. Sich selbst bestimmen zu können setzt darüber<br />
hinaus ein Wissen über die Lage, in der man sich befindet voraus, d.h., sie ist abhängig von einer Kenntnis der<br />
jeweils gegebenen Möglichkeiten und Beschränkungen des eigenen Handelns. Die Aufklärung der Lage, in der<br />
ich mich befinde, ist somit ein notwendiger Teil des Bemühens, das eigene Handeln selbst zu bestimmen (vgl.<br />
Häcker 2006, S. 14).<br />
Bei der auf den ersten Blick plausibel erscheinenden Verbin<strong>du</strong>ng der Bil<strong>du</strong>ngsziele Autonomie und Mündigkeit<br />
einerseits mit den Prinzipien des selbstgesteuerten, selbstregulierten und eigenverantwortlichen Lernens<br />
andererseits wird indes leicht übersehen, dass berechtigte Zweifel daran bestehen, ob mit der Erhöhung von<br />
Selbststeuerung im Lernen zwingend auch der für eine Erziehung zur Mündigkeit notwendige Zuwachs an<br />
Autonomie im Lernprozess gegeben ist. Selbststeuerung kann gleichermaßen in fremdbestimmten Szenarien<br />
eingeräumt/abverlangt werden wie in weitgehend selbstbestimmten. Bereits die ‚Auftaktveranstaltung’ der<br />
deutschen Debatte um schulbezogenes selbstgesteuertes Lernen im Herbst 1976 an der Gesamthochschule Essen<br />
kreiste um das ungelöste pädagogische Grunddilemma, das in der Frage besteht, wie viel Steuerung und<br />
Fremdbestimmung ein Prozess beinhalten sollte, der explizit auf Selbstbestimmung zielt. Bereits damals wurde<br />
Selbststeuerung zwar mit den regulativ-operativen Aspekten des Lernens in Verbin<strong>du</strong>ng gebracht, doch blieb es<br />
wegen begrifflicher Unschärfen unklar, ob bzw. inwieweit beim selbstgesteuerten Lernen Selbstbestimmung<br />
eingeräumt/abverlangt werden soll (vgl. Neber , Wagner & Einsiedler, 1978).<br />
Ein differenzierter Blick auf die Begriffe Selbstbestimmung und Selbststeuerung zeigt, dass sie auf<br />
verschiedenen Ebenen liegen und unterschiedlichen Diskursen zuzuordnen sind: Selbstbestimmung im Lernen ist<br />
zwar- um einen ersten Hinweis zu geben - nicht ohne Selbststeuerung (-s<strong>ko</strong>mpetenzen) denkbar und mit der<br />
Förderung der Selbststeuerung ist zweifelsohne eine Erhöhung von Freiheitsgraden im Lernen verbunden, doch<br />
kann Selbststeuerung auch ohne einen wirklichen Zugewinn an Selbstbestimmung im Lernen abverlangt werden,<br />
-3-
und damit in einer geradezu perfiden Weise zur Steigerung von Fremdbestimmung beitragen. Wenn, wie im<br />
neoliberalen Diskurs erkennbar wird, Selbststeuerung von der Selbstbestimmung abge<strong>ko</strong>ppelt wird, <strong>ko</strong>mmen<br />
Medien/Instrumente wie das Portfolio lediglich hinsichtlich ihrer Leistungen zur Förderung von Selbststeuerung<br />
in den Blick, während ihre Potentiale als pädagogisch-didaktischer Rahmen zur Realisierung selbstbestimmten<br />
Lernens nicht erkennbar werden. Wie – so fragt sich – kann vermieden werden, dass Portfolioarbeit Teil eines<br />
neoliberalen Programms in der Pädagogik wird, das unter der Etikette der ‚Stärkung der Eigenverantwortung im<br />
Lernen’ eine indivi<strong>du</strong>alistisch verkürzte Rückdelegation der Verantwortung für Erfolge und Misserfolge an die<br />
Lernenden betreibt?<br />
Lernen stellt aus der subjektwissenschaftlichen Sicht Klaus Holzkamps eine Sonderform des Handelns dar.<br />
Wenn Menschen lernen, zielt dies nach Holzkamp einerseits darauf, Verfügung über indivi<strong>du</strong>ell relevante<br />
gesellschaftliche Lebensbedingungen (Weltverfügung) zu gewinnen oder andererseits darauf, die Bedrohung<br />
bereits vorhandener Verfügungsmöglichkeiten abzuwehren. Anders formuliert zielt Lernen aus der Sicht des<br />
lernenden Subjektes zum Einen auf die Erweiterung der eigenen Handlungsmöglichkeiten und die (damit<br />
verbundene) Erhöhung der Lebensqualität. Zum Anderen dient es der Abwen<strong>du</strong>ng von deren Beeinträchtigung<br />
und Bedrohung (vgl. Holzkamp 1993, S. 189). Darüber hinaus setzen Lernprozesse die aktive Übernahme der<br />
Lernproblematik <strong>du</strong>rch die Lernenden selbst voraus (vgl. Holzkamp 1995, S. 185). Eine solche Übernahme<br />
<strong>ko</strong>mmt allerdings nur dann zustande, wenn die Lernenden antizipieren, dass die Beschäftigung mit den<br />
Lerngegenständen aus ihrer Sicht Sinn macht. Sinn machen Lernhandlungen aber erst dann, wenn Lernende<br />
Anknüpfungsmöglichkeiten bezogen auf ihre jeweils eigenen Perspektiven sehen, d. h. bezogen auf das, was aus<br />
ihrer Lebensperspektive von Bedeutung ist. Der Zusammenhang von Sinn, Bedeutung und Lebensperspektive<br />
stellt demnach eine unabdingbare Voraussetzung für nachhaltiges Lernen dar (vgl. Rihm 2004, S. 16). Dieser<br />
Zusammenhang kann nicht stellvertretend gestiftet werden. Von selbstbestimmtem Lernen kann daher nur dann<br />
gesprochen werden, wenn alle drei Entschei<strong>du</strong>ngen eines Lernaktes vom Lernsubjekt selbst getroffen werden:<br />
1. Die Bestimmung des Lerngegenstandes und der Ziele,<br />
2. die Ableitung operativer Aspekte des Lernprozesses sowie<br />
3. die Bestimmung des Abschlusses des Lerngeschehens.<br />
Bezogen auf schulische Bil<strong>du</strong>ngsprozesse ergibt sich aus dem Anspruch auf Selbstbestimmung im Lernen eine<br />
wechselseitige Abhängigkeit von Lehrer/innen und Schüler/innen: Während einerseits Lehrende weder die<br />
Lebensbedeutsamkeit von Inhalten für die Lernenden antizipieren noch die Lebensperspektiven der Lernenden<br />
stellvertretend bestimmen können, wissen andererseits Lernende (dies würde ihren Status als Lernende<br />
überhaupt ausmachen) nicht, was das von ihnen aus ihrer Lebensperspektive heraus Artikulierte auf dem<br />
Hintergrund des gesellschaftlich Allgemeinen bedeutet. Hierfür benötigen die Lernenden die Lehrenden. Anders<br />
formuliert: Lehrende bedürfen der Lernenden wegen des Bedeutungsaspekts und Lernende der Lehrenden wegen<br />
des Verallgemeinerungsaspekts.<br />
3. Selbstgesteuertes Lernen als Scheinlösung des pädagogischen Grunddilemmas<br />
Während sich in Alltagszusammenhängen Lernmotive im Kontinuum der Handlungsvollzüge ergeben können,<br />
gestaltet sich das Problem der Sinngebung des Lernens in der Institution Schule erheblich <strong>ko</strong>mplizierter:<br />
Kontexte, wie z.B. von Lehrenden gestaltete Lehr-Lern-Arrangements, können solche Bedeutungszuweisungen<br />
zwar befördern, aber nicht nachhaltig erzwingen (vgl. Rihm 2004, S. 19). Die Abtrennung des thematischen<br />
Wirkungszusammenhanges (Sinn, Bedeutung, Lebensperspektive) vom operativen Aspekt von Lernhandlungen<br />
-4-
ist aus der Sicht der Lernenden deshalb problematisch, weil erstens Lernprozesse im thematischen Aspekt<br />
gründen und operative Aspekte des Lernens sich von diesen ableiten, d.h. den thematischen Aspekten<br />
nachgeordnet sind und weil damit zweitens ein Verlust des Sinnbezuges des Lernens (vgl. Rihm 2004, S. 23)<br />
bzw. eine weitere Austrocknung des Lernsinnes in der Schule in Kauf genommen wird.<br />
Das Konzept des selbstgesteuerten Lernens löst das Dilemma zwischen selbst- und - fremdbestimmtem Lernen<br />
nicht auf. Mitunter tendiert es sogar dazu, es zu verschleiern, wenn z.B. Selbststeuerung mit Selbstorganisation,<br />
Selbsttätigkeit, Autonomie, autodidaktischem Lernen, Selbstbestimmung, Selbstregulation usw. synonymisiert<br />
beziehungsweise diesen über- oder untergeordnet wird (vgl. Konrad 2003, S. 14; Arnold, Gómez Tutor &<br />
Kammerer 2001, S. 9-18; Deitering 1996, S. 45). Solche definitorischen Versuche tragen nur selten zur Klärung<br />
der Begriffe bei, weil dabei meist Wesentliches offen bleibt: „Lerne ich selbstgesteuert, wenn ich selbst<br />
entscheide, wann und wie lange ich lerne? Oder lerne ich erst dann selbstgesteuert, wenn ich selbst festlege, mit<br />
welchen Medien/Materialien, mit wem und mit Hilfe welcher Verfahren ich lerne? Oder sind das alles<br />
Spielereien, weil es beim selbstgesteuerten Lernen letztlich darauf an<strong>ko</strong>mmt, dass ich mir Ziele und Inhalte des<br />
Lernens selbst aussuche?“ (Reinmann-Rothmeier 2003, S. 11).<br />
Das Konzept des selbstgesteuerten Lernens ist problematisch, weil damit eine erhebliche Einschränkung von<br />
Selbstbestimmung im Lernen gleichsam unthematisiert in Kauf genommen wird: Müller (2000) weist darauf hin,<br />
dass selbstgesteuertes Lernen lediglich die Lernregulation beinhalte, nicht aber die Bestimmung dessen, was und<br />
woraufhin gelernt werde. Im Umgang mit dem Begriff der Selbststeuerung wird leicht übersehen, dass das<br />
Konzept der Steuerung seinen genuinen 'Ort' in kybernetischen Modellen des Lernens hat und vor allem auf die<br />
regulativen Aspekte des Lernprozesses verweist, die jedoch nicht die Bestimmung von Zielen und Inhalten<br />
umfassen. Friedrich und Mandl (1997) gehören zu den wenigen Autoren, die hier zu einer Verklarung der<br />
Begriffe beitragen: Als selbstbestimmtes Lernen wird von ihnen „die Möglichkeit des Lernenden bezeichnet, die<br />
Auswahl von Inhalten (was?) und die Lernziele (woraufhin?) mit bestimmen zu können, während von einem<br />
selbstgesteuerten bzw. selbstgeregelten Lernen die Rede ist, wenn sich die Mitbestimmung auf die<br />
Lernregulation (wie? wann?) bei vorgegebenen Lerninhalten und -zielen begrenzt“ (Friedrich & Mandl 1997, S.<br />
239).<br />
Das Prinzip der Selbststeuerung in Lehr-Lern-Kontexten birgt darüber hinaus das Risi<strong>ko</strong>, die gesellschaftliche<br />
Tendenz der zunehmenden funktionalen Vereinnahmung der Indivi<strong>du</strong>en zu intensivieren und zu verstärken.<br />
Unter der Etikette der Stärkung der Eigenverantwortung im Lernen wird die Verantwortung für die<br />
Lernergebnisse gleichsam von den Lehrenden an die Lernenden delegiert. Auf diesem Wege übernehmen die<br />
Lernenden in einem Rahmen unverrückbar vorgegebener Ziele eine stellvertretende Kontrollfunktion<br />
hinsichtlich der Lernergebnisse. Die Lernsubjekte werden dazu gebracht, sich an der Optimierung eines Lernens<br />
auf fremdgesetzte Ziele hin zu beteiligen (vgl. Häcker 2006, S. 65) und stellen damit letztlich selbst ihre<br />
Funktionalität her (vgl. Faulstich 1999, S. 27).<br />
Am Beispiel der Selbststeuerung können – wie das Prinzip des Delegierens zeigt – im Kontext neoliberaler<br />
gesellschaftlicher Tendenzen die Folgen fortschreitender Modernisierung mit ihrer Gleichzeitigkeit von<br />
Modernisierung und Gegenmodernisierung (sensu Habermas), von Freisetzung und Wiedereinbin<strong>du</strong>ng, von<br />
propagierter Entgrenzung und notwendiger Begrenzung besonders deutlich sichtbar gemacht werden (vgl. Rihm,<br />
2003, S. 355ff.). Demgegenüber enthält selbstbestimmtes Lernen ein institutionenkritisches Programm, das sich<br />
-5-
gegen fremdbestimmten Unterricht und Schule richtet (vgl. Faulstich 1999, S. 27) und damit als ein Korrektiv zu<br />
diesen gesellschaftlichen Tendenzen betrachtet werden kann (vgl. Friedrich & Mandl 1990, S. 198).<br />
Aus subjekttheoretischer Sicht, insbesondere in Anlehnung an Holzkamp (1993), sind Lernhandlungen von<br />
Menschen, wie Handlungen allgemein, immer subjektiv ‚begründet’ und nicht <strong>du</strong>rch irgendwelche<br />
(unabhängigen) Variablen ‚bedingt’. Lernmotivation stellt sich dementsprechend auch nur ein, wenn es für das<br />
Subjekt gute Gründe gibt zu lernen. Zentral, weil Sinn stiftend ist dabei der thematische Aspekt des Lernens. Die<br />
operativen Lerngründe (Wie lerne ich?) sind gegenüber den inhaltlich-thematischen Lerngründen (Was lerne<br />
ich?) immer sekundär, erstere werden aus letzteren abgeleitet. Die Frage subjektiver Lernbegrün<strong>du</strong>ngen kann<br />
daher aus subjekttheoretischer Sicht nur auf thematischer Ebene diskutiert werden (vgl. Holzkamp 1993, S. 189).<br />
Vor dem skizzierten Hintergrund lässt sich die folgende These formulieren: Die Forderung nach<br />
‚Selbststeuerung des Lernens’ zielt auf die Optimierung des Lehrerfolges (<strong>du</strong>rch Effektivierung des Lernens),<br />
die Forderung nach Selbstbestimmung hingegen zielt auf eine Humanisierung des Lernens (<strong>du</strong>rch die Wahrung<br />
des Sinn- und Bedeutungsaspekts im Lernen) (vgl. Häcker 2006, 61). Humanisierung bedeutet hier, dass die<br />
subjektive Begründetheit der Lernhandlung als eine für nachhaltiges Lernen notwendige Voraussetzung<br />
anerkannt wird, eine Voraussetzung, die nur über den thematischen Lernaspekt ins Lerngeschehen Einzug halten<br />
kann.<br />
Weil die Optimierung des Lernens nicht notwendig seine Humanisierung impliziert, müssen die scheinbar<br />
unhinterfragte Sinnhaftigkeit der Forderung nach Selbststeuerung sowie die damit verbundenen schulischen<br />
Optimierungsstrategien kritisch reflektiert werden: Mit der Eröffnung von Freiräumen (‚Selbststeuerung des<br />
Lernens’) ist zwar die Rückdelegation von Verantwortung (‚Eigenverantwortung im Lernen’) an die lernenden<br />
Subjekte verbunden, nicht aber notwendiger Weise auch eine Verbesserung der Lernbedingungen. Unter diesen<br />
Bedingungen wächst die Bedeutung von Kompetenzen, die es den Lernsubjekten gestatten, zugestandene<br />
Freiheitsgrade für ihr Lernen (in der Regel an fremdgesetzten Zielen) zu nutzen. Wenn mehr Freiräume gewährt<br />
werden und mehr Verantwortung delegiert wird, gleichzeitig aber nicht auch neue Formen der Unterstützung<br />
angeboten werden, steigt möglicherweise die Zahl derer, die diese Freiheiten nicht für sich nutzen können. In der<br />
neoliberalen Schule wächst damit die Gefahr, dass so genannte ‚Bil<strong>du</strong>ngsverlierer’ sich ihr ‚Schicksal’ künftig<br />
weitgehend selbst zuzuschreiben haben.<br />
4. Portfolioarbeit zwischen Optimierung und Humanisierung<br />
Die Beobachtung, dass Portfolios in der Praxis derzeit von Lehrpersonen in allen Bereichen des Bil<strong>du</strong>ngssystems<br />
aufgegriffen, dann aber oft schnell wieder enttäuscht fallen gelassen werden, stimmt ebenso nachdenklich wie<br />
der große Portfolio-Verdruss, der sich bei Schüler/innen und Studierenden oftmals bereits nach kurzer Zeit breit<br />
macht. Der Verdacht liegt nahe, dass Portfolios – wie die meisten anderen Lernmedien auch – benutzt werden,<br />
um vorbestimmte Lernergebnisse sicher zu stellen und Lernende auf eine ‚sanftere’, dafür aber umso<br />
umfassendere Weise zu <strong>ko</strong>ntrollieren (vgl. Rihm 2004, S. 13). Wenn Schüler/innen in der Schule zwar<br />
Selbststeuerung des Lernens zugestanden, Selbstbestimmung dagegen verweigert wird, es also zu einer<br />
Ent<strong>ko</strong>ppelung des thematischen von den operativen Aspekten des Lernens <strong>ko</strong>mmt, leistet dies der weiteren<br />
Entleerung von Lernsinn in der Schule Vorschub. Dieses kann sich im empirisch gut belegten Zweifel vieler<br />
Schüler/innen am Sinn und Anwen<strong>du</strong>ngsbezug schulischen Lernens ebenso manifestieren wie in einer<br />
inhaltsindifferenten Leistungshaltung bzw. einer bürokratischen Arbeitshaltung (vgl. Hurrelmann 1983; 1988).<br />
Motivationale Probleme, Widerstände und andere bekannte Begleitphänomene schulischen Lernens lassen sich<br />
-6-
nicht <strong>du</strong>rch den Einsatz von Portfolios beheben. Im Gegenteil: Es besteht die Gefahr ihrer Verschärfung, wenn<br />
der Einsatz von Portfolios verordnet wird und aus der Sicht der Lehrenden ausschließlich der Optimierung<br />
operativer Aspekte des Lernens dient.<br />
Die gegenwärtig mit der Assoziation der Erhöhung von ‚Freiheit’ und ‚Subjektbezogenheit’ verbundene, zu<br />
nahezu uneingeschränkter Geltung ge<strong>ko</strong>mmene Forderung nach Selbststeuerung im Lernen steht in der Gefahr,<br />
un<strong>du</strong>rchschaut zur Entsubjektivierung (d.h. zum Autonomieverlust) beizutragen und damit dem einseitig<br />
anpassungsorientierten Lernen einen Vorrang vor den Lerninitiativen der Lernenden einzuräumen. Ein solcher<br />
Vorrang der Belange der Systeme vor den Belangen der Subjekte ist bil<strong>du</strong>ngstheoretisch nicht legitimierbar,<br />
wenn man daran festhält, dass Bil<strong>du</strong>ng sich in der dialektischen Verschränkung von Indivi<strong>du</strong>ierung und<br />
Vergesellschaftung entfaltet. Andernfalls droht Bil<strong>du</strong>ng selbstwidersprüchlich zu einem reinen<br />
Unterwerfungsprozess zu geraten.<br />
Schule muss dem Anspruch auf Bil<strong>du</strong>ng gerecht werden, d.h., „den Menschen <strong>du</strong>rch Bil<strong>du</strong>ng zum Subjekt seiner<br />
Handlungen, zum Herrn über die Verhältnisse zu machen“ (von Hentig 1996, S. 163). Daher muss sie erstens<br />
neben dem unabweisbar nötigen Lernen an vorgegebenen Themen auch systematisch ein Lernen unter<br />
thematischer Selbstbestimmung ermöglichen. Zweitens muss sie dazu beitragen, dass die Schüler/innen<br />
zunehmend realistischer die jeweils gegebenen Möglichkeiten und Beschränkungen des eigenen Lernens<br />
aufklären und einschätzen können.<br />
Das Portfolio stellt zweifellos eine Methode dar, mit Hilfe derer Selbststeuerung im Lernen gefördert werden<br />
kann (vgl. Paulson, Paulson & Meyer, 1991; Jones, 1994). Eine Festlegung der Portfolioarbeit auf ihren<br />
möglichen Beitrag zur Förderung von Selbststeuerung unterschlägt allerdings den emanzipatorischen Impetus,<br />
der der Portfolioarbeit von Anfang an eignet: Das Portfolio ist ein Reforminstrument in dem Sinne, dass es dem<br />
üblicher Weise in der Schule verabsolutierten Prinzip der fremdbestimmten Leistungsfeststellung das Prinzip<br />
einer mehr oder weniger selbstbestimmten Leistungsdarstellung gegenüberstellt (vgl. Häcker, 2005a) und damit<br />
dem emanzipatorischen Grundgedanken Geltung verschafft, dass eine Beurteilung von Lernleistungen ohne die<br />
Verbin<strong>du</strong>ng von Fremdbeurteilung und Selbstbeurteilung unangemessen ist. Die mit dem Portfolio gegebene<br />
Möglichkeit, eigene Kompetenzen an hand selbst ausgewählter Leistungspro<strong>du</strong>kte darstellen zu können, anstatt<br />
<strong>du</strong>rch Ziffernnoten, hat manche Autoren dazu gebracht, von einer ‚<strong>ko</strong>pernikanischen Wende’ in der<br />
Leistungsbeurteilung sprechen (vgl. Vierlinger, 2002).<br />
5. Das Portfolio als Instrument der Lernprozesseinschätzung<br />
Im deutschen Sprachraum mangelt es nicht an Veröffentlichungen, die spezifische Möglichkeiten der<br />
Portfolioarbeit darstellen (vgl. etwa Brunner, Häcker & Winter, 2006; Häcker, 2005a; Lissmann, 2004; Winter,<br />
2004; Vierlinger, 1999, 1978). Aus diesem Grunde wird hier das bislang noch unterakzentuierte Potential der<br />
Portfolioarbeit im Blick auf die Förderung selbstbestimmten Lernens hervorgehoben (vgl. Häcker, 2006).<br />
Die Beobachtung eigener Lernaktivitäten gilt als bedeutsamer Bestandteil des selbstgesteuerten Lernens.<br />
Selbstbeobachtung, Selbstbeurteilung und Meta<strong>ko</strong>gnition bilden wesentliche Voraussetzungen dafür, die eigene<br />
Aufmerksamkeit zu <strong>ko</strong>ntrollieren, Lernstrategiewissen aufzubauen und so das eigene Lernen besser steuern zu<br />
können.<br />
Gezielte Reflexionen über das eigene Lernen sind auch das Herzstück des Portfolioprozesses (vgl. Jones, 1994,<br />
S. 27). Sie begründen vor allem das große Interesse von Lehrenden an diesem Lernmedium. Reflexionen finden<br />
während des gesamten Entstehungsprozesses des Portfolios statt. Um sie zu unterstützen, werden in der<br />
-7-
Portfolioarbeit vielfältige Beratungsszenarien angeboten, Vorworte und Nachworte geschrieben sowie<br />
‚Spielregeln’ eingeführt. So gilt z.B. die Regel, jedes ‚Dokument’ mit einer Notiz zu versehen, aus der entweder<br />
hervorgeht, welchen Beitrag das ‚Dokument’ zur Lösung des Problems bzw. zum inhaltlichen Lernfortschritt<br />
leistet oder was es über das eigene Lernen bzw. die Lernbedingungen zeigt. Das eigene Lern- und<br />
Arbeitsverhalten sowie die Lernergebnisse werden so immer wieder kriterienbezogen reflektiert. Ziel- oder<br />
Interessenänderungen, aber auch Irr- und Umwege im Lernprozess werden in Portfolios nachvollziehbar und<br />
geben dem eigenen Lern- und Erkenntnisprozess gegebenenfalls eine neue Richtung. Entsprechende<br />
aussagekräftige Notizen, Dokumente und Unterlagen werden im Portfolio gesammelt. Die abschließende<br />
Selbstbeurteilung bzw. Selbsteinschätzung der Qualität der eigenen Arbeit erfolgt an Hand von Kriterien, die<br />
allen am Lehr-Lern-Prozess Beteiligten bekannt sind (Transparenz). Dem partizipativen Anspruch des<br />
Portfolioansatzes entsprechend müssen die Lernenden an der Erstellung der Beurteilungskriterien beteiligt<br />
werden (vgl. Paulson et al. 1991). Die gemeinsame Erstellung solcher Beurteilungsraster fördert eine<br />
Kommunikation zwischen Schüler/innen und ihren Lehrpersonen, bei der die Standards, die in der jeweiligen<br />
Lerngruppe und dem jeweiligen Fach eingehalten werden sollen, gemeinsam festgelegt und geklärt werden (vgl.<br />
Dumke & Häcker 2003). Diese geben dem eigenen Lernen Orientierung und sind daher von großer Bedeutung<br />
für das selbstgesteuerte Lernen.<br />
Reflexionen dürfen sich dabei allerdings nicht ausschließlich auf die operativen Aspekte des Lernens<br />
beschränken. In ihrer Einseitigkeit laufen solche Reflexionen Gefahr, die Frage der Qualität von Lernergebnissen<br />
indivi<strong>du</strong>alistisch zu verkürzen: Sie blenden die <strong>ko</strong>nkreten situativ-institutionellen Lernbedingungen aus und<br />
betreiben damit einseitig die Perfektionierung indivi<strong>du</strong>ellen Lernhandelns. Weil die Qualität von<br />
Lernergebnissen aber in einem <strong>ko</strong>mplexen Zusammenspiel zwischen der Qualität des Angebots und der Qualität<br />
seiner Nutzung entsteht (vgl. Fend 1981; Helmke 2004), führt die Ausblen<strong>du</strong>ng der situativen Lernbedingungen<br />
bei der Beurteilung der Qualität von Lernergebnissen in der Konsequenz zu einer Ausblen<strong>du</strong>ng der Frage der<br />
Qualität des Lernangebotes. Der <strong>ko</strong>nstitutive Beitrag des didaktischen Handelns der Lehrenden zur Qualität der<br />
Lernergebnisse der Lernenden gerät dabei leicht aus dem Blick. Die Ausblen<strong>du</strong>ng des Beitrages des<br />
Lehrhandelns zur Qualität der Lernergebnisse begünstigt „personalisierende Tendenzen“ d. h. das<br />
Hineinverlegen von Ursachen für Verhalten, Defizite und Störungen ‚in’ die Person des Lernenden. Mit dieser<br />
sehr nahe liegenden Zuschreibung (vgl. Häcker, Eysel & Bergmann, 2006), wird dem Indivi<strong>du</strong>um die alleinige<br />
Verantwortung für sein (Lern-)Handeln auferlegt; es wird ihm nicht vermittelt, dass dieses (Lern-) Handeln<br />
immer mit den Gegebenheiten einer didaktisch arrangierten Situation verbunden ist. Damit droht es auf Seiten<br />
der Lernenden nicht nur zu einer Verschleierung ihrer Lernbedingungen zu <strong>ko</strong>mmen, sondern ihnen wird<br />
zugleich die indivi<strong>du</strong>elle Abarbeitung struktureller Widersprüche aufgebürdet: Die Lernenden werden für Erfolg<br />
bzw. für Misserfolge indivi<strong>du</strong>ell ‚haftbar’ gemacht, Erfolg und Misserfolg werden so ideologisch pro<strong>du</strong>ziert. In<br />
schulischen Lehr-Lern-Kontexten wird - um <strong>ko</strong>nkret zu werden - bei der Beurteilung von Lernergebnissen in der<br />
Regel nicht gefragt, ob die Lernenden Gelegenheit hatten, herauszufinden, wie sie am besten lernen, ob sie bei<br />
ihrem Lernen angemessen unterstützt wurden, ob sie in ihrem eigenen Tempo lernen <strong>ko</strong>nnten, ob sie Lernort, -<br />
zeitpunkt und die -partner wählen <strong>ko</strong>nnten usw.. Im schulischen Alltag <strong>ko</strong>mmt es in der Regel nicht zu einer<br />
gemeinsamen Einschätzung der Qualität der Lernergebnisse unter Berücksichtigung der Lernbedingungen.<br />
Der mögliche Sinn von Reflexion über den eigenen Lernprozess und seine Resultate, nämlich eine<br />
Lernprozesseinschätzung vorzunehmen und die für ein besseres Lernen gegebenenfalls notwendigen<br />
Veränderungen gemeinsam vorzunehmen oder einzufordern, wird <strong>du</strong>rch die Ausblen<strong>du</strong>ng der situativinstitutionellen<br />
Lernbedingungen unterlaufen. Wo die Reflexion des eigenen Lernprozesses in der Portfolioarbeit<br />
-8-
(1) verordnet, (2) indivi<strong>du</strong>alistisch verkürzt und (3) obendrein noch bewertet wird, werden Portfolios darüber<br />
hinaus – dies zeigt sich in der Praxis - schnell zu einem weiteren Instrument der schulischen Täuschungskultur,<br />
neigen Schüler/innen dazu, Portfolioarbeit im Stile formaler Anforderungserfüllung zu betreiben (vgl. Häcker<br />
2006, S. 260ff.). Wird das Portfolio von Schüler/innen als ein Mittel der Steigerung von Kontrolle und der<br />
Ausweitung der schulischen Totalität des Bewertens (Holzkamp 1995, S. 379) wahrgenommen, entsteht eine<br />
eigene Art von Prosa, die man in Abwandlung eines Begriffes von Holzkamp als „defensives Reflektieren“<br />
(Häcker 2005b, S. 7) bezeichnen könnte: Die Reflexion dient dann nicht der Erweiterung von Möglichkeiten,<br />
sich die Welt lernend zu erschließen, sondern der Abwehr möglicher negativer Konsequenzen, die eine<br />
Verweigerung der verordneten Reflexion nach sich ziehen könnte. Das Täuschen kann hier als verdeckte<br />
„Gegenstrategie“ (Holzkamp 1993, S. 452 u. S. 461) der Schüler/innen betrachtet werden, als Versuch, sich dem<br />
schulischen Bewertungsuniversalismus zu entziehen.<br />
Portfolioarbeit, die eine Lernprozesseinschätzung unterstützt, sich gleichzeitig aber nicht an der skizzierten<br />
ideologischen Pro<strong>du</strong>ktion von Erfolg und Misserfolg beteiligen will, muss der Tendenz zur Ausblen<strong>du</strong>ng der<br />
Kontexte entgegenwirken. Sofern sie den Situationsbezug des (Lern-) Handelns, d.h. dessen institutionelle<br />
Vermitteltheit betont, ohne gleichzeitig die Verantwortlichkeit der Lernenden für ihr Lernen darüber in Abrede<br />
zu stellen, muss sie mehrere Ebenen in ihre Reflexionen einbeziehen (vgl. Tab. 1):<br />
Tab. 1: Einschätzung der Qualität der Lernergebnisse unter Berücksichtigung der Lernbedingungen<br />
Portfolioarbeit dient der Reflexion förderlicher und hinderlicher Aspekte …<br />
1. … des eigenen Lern-, Lehr- und Arbeitsverhalten,<br />
2. … des Lehr-Lern-Arrangements,<br />
3. … des institutionellen Kontextes.<br />
Der Begriff der Lernprozesseinschätzung beruht dann auf einer Erweiterung des Blickwinkels von der rein<br />
operativen Seite auf den gesamten Lernprozess: Das Lehr-Lern-Arrangement und der institutionelle Kontext,<br />
innerhalb derer das Lernen stattfindet, <strong>ko</strong>mmen in den Blick, eine Voraussetzung dafür, die Lage, in der ich mich<br />
als Lernende(r) befinde und damit zugleich meine Selbstbestimmungsmöglichkeiten einschätzen zu können.<br />
Eine Lernprozesseinschätzung beinhaltet zweierlei: Zum einen die indivi<strong>du</strong>elle und gemeinschaftliche<br />
Einschätzung von Lernprozessen und Lernresultaten <strong>du</strong>rch alle am Lern-Lehr-Prozess Beteiligten, zum anderen<br />
die <strong>ko</strong>operative Veränderung der Lernbedingungen. Beides sind wesentliche Voraussetzungen jeder<br />
Unterrichtsentwicklung. Das Portfolio kann als Grundlage solcher Reflexionen Entwicklungsprozesse auf allen<br />
drei Ebenen unterstützen. Als Medium der kritischen Analyse von Lernsituationen kann ein Lernportfolio<br />
absichtsvoll und systematisch evaluativen Zwecken und damit der pädagogischen Qualitätsentwicklung und<br />
-sicherung von Unterricht dienen (vgl. Häcker 2004; Rihm 2004).<br />
6.1 Portfolioarbeit aus der Perspektive von Schüler/innen<br />
Im Rahmen des Heidelberger Projekts „Qualität des Lernens verbessern, Schulkultur und Lernumgebungen<br />
entwickeln“ eines Teilprojekts des Modellversuchsprogramms „Lebenslanges Lernen“ der Bund-Länder-<br />
Kommission für Bil<strong>du</strong>ngsplanung und Forschungsförderung (BLK) wurden in den Schuljahren 2001/02 und<br />
2002/03 in Klassen der Sekundarstufe I an Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien in Baden-Württemberg,<br />
Hessen und Rheinland-Pfalz Portfolios im projektorientierten Unterricht eingesetzt. Zur Evaluation der<br />
-9-
Erfahrungen des Einsatzes von Portfolios im projektorientierten Unterricht der Sekundarstufe I wurden mit den<br />
Schüler/innen zweier 7. Klassen (Hauptschule, N=28 und Gymnasium, N=29) im Anschluss an die Erstellung<br />
ihrer zweiten Portfolios so genannte Portfoliogespräche (problemzentrierte Leitfadeninterviews) <strong>du</strong>rchgeführt<br />
(vgl. Häcker 2006, S. 223ff.). Im Rahmen dieser Interviews wurden verschiedene Einschätzungsfragen gestellt,<br />
zu denen Ankreuzmöglichkeiten auf einem Proto<strong>ko</strong>llbogen bestanden. Zwei davon richteten sich auf den<br />
empfundenen Schwierigkeitsgrad und die Nutzung des Portfolios im Rahmen der Projektarbeit:<br />
1. „Die Aufgabe, ein Portfolio schreiben zu müssen, ist…“ (Ankreuzmöglichkeiten: zu leicht, leicht,<br />
gerade richtig, schwer, zu schwer)<br />
2. „War es für dich persönlich sinnvoll, ein Portfolio anzulegen?“ (Ankreuzmöglichkeiten: Nein, Ja, Weiß<br />
nicht)<br />
In beiden Klassen schätzten übereinstimmend etwa zwei Drittel der Schüler/innen den Schwierigkeitsgrad der<br />
Aufgabe, ein Portfolio zu schreiben (Frage 1), subjektiv als „gerade richtig“ ein, während jeweils knapp ein<br />
Viertel der Klassen die Anforderung als „schwer“ bezeichnete. Jeweils drei Schüler/innen in beiden Klassen<br />
kennzeichneten die Aufgabe, ein Portfolio zu schreiben, als „zu schwer“. Über beide Klassen hinweg wurde<br />
damit die Erstellung eines Portfolios im projektorientierten Unterricht damit als eine anspruchsvolle Aufgabe<br />
wahrgenommen.<br />
6.1.1 Schularttypische Akzeptanzunterschiede<br />
Nachdem die befragten Schüler/innen in den Portfoliogesprächen zu der Frage: „War es für dich persönlich<br />
sinnvoll, ein Portfolio anzulegen?“ auf dem Proto<strong>ko</strong>llbogen ein Kreuz gesetzt hatten, wurden sie von den<br />
Interviewern gebeten, ihre Antwort zu erläutern. Von den N=57 Schüler/innen beider Klassen empfanden es<br />
89% (Hauptschule) bzw. 69 % (Gymnasium) als persönlich sinnvoll, Portfolios im Unterricht erstellt zu haben,<br />
während ein bzw. zwei Schüler/innen in beiden Klassen (7% bzw. 3%) dies nicht so empfanden. Über ein Viertel<br />
der Gymnasiasten (28%) gaben an, das so nicht sagen zu können („weiß nicht“). Die Akzeptanz des Portfolios<br />
war, seinen hohen Anforderungen zum Trotz, in beiden Klassen offenbar groß, wobei sie in der<br />
Hauptschulklasse noch einmal deutlich größer war als in der Gymnasialklasse.<br />
Bei der computergestützten inhaltsanalytischen Auswertung (vgl. Mayring 2003; Kuckartz 2005) der Antworten<br />
auf die „Sinnfrage“ wurden innerhalb der Interviewtranskripte (Auswertungseinheit N=57) in einem ersten<br />
in<strong>du</strong>ktiven Durchgang N=104 Aussagen codiert und zu N=18 Kategorien zusammengefasst (z.B. Rückgriffsund<br />
Vergleichsmöglichkeiten, Ordnung und Überblick usw.) In einem neuerlichen de<strong>du</strong>ktiven Durchgang <strong>du</strong>rch<br />
die Interviews wurden die gebildeten Kategorien auf das Material angewandt. Für die Darstellung der Ergebnisse<br />
wurden die 18 Kategorien in einem weiteren re<strong>du</strong>ktiven Schritt zu acht Bereichen zusammengefasst (z.B.<br />
operative Lernaspekte, Reflexion usw.).<br />
Aus der Perspektive der aus N=57 Gymnasiast/innen und Hauptschüler/innen bestehenden Gesamtgruppe lag die<br />
mit Abstand größte Stärke der Arbeit mit dem Portfolio in der Förderung operativer Aspekte des Arbeits- und<br />
Lernprozesses und damit im Bereich der Selbststeuerung. Insbesondere die mit dem Sammeln und<br />
Dokumentieren im Portfolio verbundenen Rückgriffs- und Vergleichsmöglichkeiten, die Gewinnung von<br />
Ordnung und Überblick und das Erlernen von Lernstrategien sowie eine größere Lernö<strong>ko</strong>nomie wurden an<br />
oberster Stelle genannt. Darüber hinaus förderte das Portfolio aus der Sicht der Schüler/innen beider Klassen das<br />
inhaltlich-thematische Lernen, aber auch das Lernen auf sozialer und persönlicher Ebene sowie im Bereich<br />
dynamischer Fähigkeiten. Unterricht mit Portfolios wurde als anregend empfunden. Portfolios förderten die<br />
Wahrnehmung prozessualer Aspekte des eigenen Lernens (einen Lernfortschritt sehen) und die Reflexion über<br />
-10-
die eigene Arbeit (Bewusstmachung, Nachdenken). Mit dem Portfolio wurde die Annahme verbunden, das darin<br />
enthaltene Wissen könne auch für später noch eine Bedeutung haben. Schließlich verringerte das Arbeiten mit<br />
Portfolios im Unterricht die Angst aus Sicht der Schüler/innen, wie folgender Interviewausschnitt verdeutlicht:<br />
„Im Unterricht ist das wie auf einer Bühne, alle sehen her, man steht auf der Bühne und hat oft Angst.<br />
Beim Portfolio ist das anders: Man muss sich nicht melden, man kann schreiben, was man will, wenn<br />
etwas falsch ist, dann erfährt man das in der Lehrerberatung - das ist nicht so schlimm - als vor der<br />
Klasse.“<br />
Als nicht sinnvoll wurde das Portfolio von Schüler/innen empfunden, wenn aus ihrer Sicht der Freiraum zu stark<br />
eingeschränkt war, wenn sie selbst nicht <strong>ko</strong>nsequent am Arbeiten waren (wobei damit <strong>ko</strong>nsequentes Arbeiten als<br />
Voraussetzung für gelingende Portfolioarbeit betrachtet wurde) oder ihnen das Portfolio für den entsprechenden<br />
Lernprozess nicht als zwingend notwendig erschienen war. Ein zu hoher Zeit- und Arbeitsaufwand, Kollisionen<br />
mit anderen schulischen Anforderungen sowie der Zweifel daran, dass Portfolioarbeit eine wirkliche Bedeutung<br />
für die eigene Zukunft habe, ließ Portfolioarbeit als nicht sinnvoll erscheinen. Darüber hinaus verhinderten<br />
Sprachprobleme und die Tatsache, dass man bei der Erstellung eines Portfolios sehr viel schreiben muss<br />
(schriftsprachlich-reflexive Orientierung), seine Erstellung sinnvoll finden zu können.<br />
In der Hauptschulklasse standen operativ-lernstrategische Stärken des Portfolios und die damit verbundene<br />
Erleichterung des eigenen Lernens an erster Stelle der Begrün<strong>du</strong>ngen dafür, weshalb die Schüler/innen es<br />
sinnvoll fanden, Portfolios zu erstellen. Dem folgten unmittelbar das Interesse am Thema und der anregendere<br />
Unterricht. In der Gymnasialklasse waren es in erster Linie der höhere Lerneffekt, die Verbesserung operativer<br />
Aspekte des eigenen Lernens sowie der mit der Portfolioarbeit zugleich anregender gewordene Unterricht, die<br />
seine große Akzeptanz begründeten. Die deutlich größere Akzeptanz des Portfolios in der Hauptschulklasse<br />
könnte damit zusammenhängen, dass hier einige Schüler/innen im Portfolio eine ihnen gemäße Lernstrategie<br />
entdeckt haben, womit der Aspekt der Optimierung des Lernens hier noch etwas stärker hervortritt als bei den<br />
Gymnasiasten. Die Unterschiede in den Begrün<strong>du</strong>ngen der beiden Klassen werden möglicher Weise vor dem<br />
Hintergrund von Ergebnissen der PISA-Studie zum Lernstrategiewissen und zur Lernstrategienutzung erklärbar.<br />
Artelt, Demmrich & Baumert (2001, S. 291) fassen die Unterschiede zwischen Hauptschüler/innen und<br />
Gymnasiasten so zusammen: „In Gymnasien verfügen die Schülerinnen und Schüler über ein differenziertes<br />
Lernstrategiewissen. Im Vergleich dazu ist das Lernstrategiewissen in Hauptschulen gering ausgeprägt“.<br />
6.1.2 Geschlechtstypische Unterschiede in der Anforderungsbewältigung<br />
Neben schulartspezifischen Akzeptanzunterschieden ließen sich bei der Portfolioarbeit im oben genannten<br />
Projekt auch Hinweise auf geschlechtstypische Unterschiede in der Anforderungsbewältigung finden: Um die<br />
Qualität von Portfolios global einschätzen zu können, wurde im Sommer 2002 ein Einschätzungsraster erprobt<br />
und modifiziert, das zunächst von Behrens (vgl. 1997, S. 181) entwickelt und eingesetzt worden war. Behrens<br />
hatte in Anlehnung an eine Einteilung in Expertisegrade von Dreyfus und Dreyfus (1986) auf einem vierstufigen<br />
Raster (vom Novizen zum Experten) Portfolios global daraufhin eingeschätzt, wie gut es den Autor/innen<br />
gelang, eine zusammenhängende reflexive Lerngeschichte zu erzählen. Dieses Raster wurde im oben genannten<br />
Projekt auf sechs Stufen erweitert und von drei unabhängigen Ratern (der Klassenlehrerin und zwei<br />
Forschungspersonen) exemplarisch an einem Klassensatz von Portfolios erprobt (Realschule, Klasse 10, N=24).<br />
Die Interrater<strong>ko</strong>rrelationen lagen bei rit=0.60-0.72. Da diese Werte ohne ein intensives Ratertraining erzielt<br />
wurden, wurde die Reliabilität des Rasters als ‚ausreichend’ eingestuft.<br />
-11-
Eineinhalb Jahre später wurden drei Klassensätze von Anfängerportfolios aus siebten Klassen dreier Schularten<br />
(Hauptschule: N=30; Realschule: N=25, Gymnasium: N=30) <strong>du</strong>rch Klassenlehrerinnen, unabhängige<br />
Lehrpersonen und Forscher mit Hilfe dieses Rasters (außerordentliches Portfolio=1; verfehltes Portfolio=6)<br />
eingeschätzt. Über die drei Klassen hinweg ergab sich für die Mädchen ein Mittelwert von M=4.90 (SD = 1.12),<br />
während dieser Wert bei den Jungen bei M=5.42 (SD = 0.81) lag. Zwischen Mädchen und Jungen ergab sich bei<br />
einer einfachen Varianzanalyse N=85 (26=m, 59=w) ein signifikanter Unterschied auf dem 5%-Niveau<br />
(F=0,035) in der Fähigkeit, den eigenen Lernprozess schriftlich zusammenhängend darzustellen. Der auffällige<br />
Vorsprung der Mädchen bei der Bewältigung dieser Anforderung ist wenig überraschend, denn einschlägige<br />
nationale und internationale Forschungsberichte aus der Deutschdidaktik zum Themenfeld Textpro<strong>du</strong>ktion<br />
zeigen, dass Mädchen sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht je nach Anforderungsprofil mehr<br />
oder minder deutlich vor den Jungen liegen (vgl. Barth, 1997; Guzzetti, Young & Gritsavage, 2002; Spitta, 2001,<br />
S. 69-71)<br />
6.1.3 Von der Selbststeuerung über die Mitbestimmung zur Selbstbestimmung?<br />
Am Ende des zweiten Projektjahres verfügten zwei mittlerweile 8. Klassen (Hauptschule und Gymnasium) über<br />
ein vergleichbares Maß an Erfahrungen in der Arbeit mit Portfolios im projektorientierten Unterricht. Da die<br />
beiden Klassen im Verlaufe des Projektes „neugierig“ aufeinander geworden waren und Interesse an einem<br />
Erfahrungsaustausch signalisierten, nutzte das Forschungsteam diese Gelegenheit im Rahmen seiner rollenden<br />
Planung zur Durchführung einer Gruppendiskussion (vgl. Loos & Schäffer 2001; Lamnek 1998) zwischen den<br />
beiden Klassen mit dem Ziel, herauszufinden, ob sich dabei Meinungen über und Erfahrungen mit der<br />
Portfolioarbeit in der Schule zeigen würden, die über das hinausgehen, was sich in den Einzelinterviews gezeigt<br />
hat bzw. welche Erfahrungen klassen- und schulartübergreifend beglaubigt würden.<br />
In der Diskussion nennen die Schüler/innen notwendige Rahmenbedingungen (Voraussetzungen) und<br />
Erfahrungen mit der Portfolioarbeit. Die Vorzüge der Arbeit mit Portfolios erstrecken sich auf die Bereiche<br />
der Lernö<strong>ko</strong>nomie (einfacher, schneller, effektiver lernen und länger behalten),<br />
der Selbständigkeit (man wird selbständig),<br />
der Selbstreflexion (über sich selbst nachdenken),<br />
des Lernklimas (man wird nicht wie sonst <strong>du</strong>rch das Thema <strong>du</strong>rchgeschoben) sowie<br />
der Darstellbarkeit von Prozessaspekten (man sieht die Arbeit).<br />
Als Rahmenbedingungen wurden Aspekte genannt, die den didaktischen Kategorien der<br />
Indivi<strong>du</strong>alisierung (im eigenen Tempo arbeiten, Zeit selbst einteilen, in eigenen Schritten lernen,<br />
aussuchen, wie man lernt) und der<br />
thematischen Selbstbestimmung (aussuchen, was man lernt) zuzuordnen sind.<br />
Das Ende der Gruppendiskussion war <strong>du</strong>rch eine Quasi-Beratungssituation geprägt. Der externe Moderator bat<br />
die Schüler/innen um Tipps für die Fort- und Weiterbil<strong>du</strong>ng von Lehrer/innen, die gerne mit Portfolios arbeiten<br />
wollen. Stärker als in den Portfoliogesprächen im Jahr zuvor stellten die Schüler/innen in der Gruppendiskussion<br />
aus ihrer Sicht Zusammenhänge zwischen den Rahmenbedingungen des Unterrichts und seinen ‚Wirkungen’ her.<br />
Diese Sequenz der Gruppendiskussion ließ sich inhaltsanalytisch in fünf Kategorien zusammenfassen. Die von<br />
den Schüler/innen gegebenen Ratschläge beziehen sich auf die Notwendigkeit:<br />
-12-
1. der Klärung ressourcenmäßiger Voraussetzungen als Grundlage der Entschei<strong>du</strong>ng für bzw. gegen den<br />
Einsatz von Portfolios,<br />
2. der Schaffung stundenplanmäßiger Voraussetzungen,<br />
3. der Koordination zwischen den in der Klasse unterrichtenden Lehrer/innen,<br />
4. des Einbezuges der Schüler/innen und der Erweiterung von deren Entschei<strong>du</strong>ngsmöglichkeiten sowie<br />
5. der Klärung psychologischer Voraussetzungen offener Aufgabenstellungen.<br />
Die Schüler/innen bezogen nicht nur die Frage notwendiger Ressourcen (Zeit) und institutioneller<br />
Rahmenbedingungen (passender Stundenplan, Koordination der Lehrer/innen) in ihre Beratung ein, sondern<br />
plädierten auch für den Verzicht auf den Methodeneinsatz („es lieber lassen“) für den Fall, dass die notwendigen<br />
Ressourcen nicht zur Verfügung stehen. Lehrpersonen müssten sich innerlich darauf einstellen und damit<br />
umgehen lernen, dass bei offenen Aufgabenstellungen Ergebnisse anders aussehen können, als sie dies erwarten.<br />
Die Schüler/innen setzten sich hier offenbar aktiv mit schulorganisatorischen Rahmenbedingungen in ihrer<br />
Bedeutung für <strong>ko</strong>nkrete Lehr-Lern-Prozesse auseinander und betrieben damit didaktische Reflexionen im<br />
weiteren und engeren Sinne. Seitens der Schüler/innen wurde in der Gruppendiskussion darüber hinaus die<br />
Notwendigkeit einer gemeinsamen Planung und Organisation passender Bedingungen für die Arbeit in<br />
Unterrichtsprojekten betont. Es wurden Wünsche nach mehr Mitentschei<strong>du</strong>ng hinsichtlich der Wahl der<br />
geeigneten Lernmethoden, des Aufbaus und der Gestaltung des eigenen Portfolios sowie der Fächer artikuliert,<br />
in denen projektartig gearbeitet werden soll.<br />
Gegenüber den Interviews im Jahr zuvor tauchte in der Gruppendiskussion Neues auf: Einzelne Schüler/innen<br />
nahmen innere Konflikte bei ihren Lehrer/innen wahr, die sich in widersprüchlichen Handlungsaufforderungen<br />
ausdrückten. Diese könnten letztlich als Ausdruck des grundständigen Funktionswiderspruchs der Institution<br />
Schule verstanden werden, gleichzeitig zu fördern und zu selektieren. Eine Schülerin wies auf den Widerspruch<br />
im Handeln einer Lehrerin hin, zwar einerseits Offenheit zu propagieren, andererseits aber Anpassung<br />
einzufordern.<br />
7. Dialektik der Selbstbestimmung<br />
Wenn Lernende ihren eigenen Lernprozess (z.B. in Portfolios) reflektieren, entsteht bzw. zeigt sich ein Wissen<br />
über die widersprüchliche Lage, in der sie sich bei schulisch organisiertem Lernen oftmals befinden. Dieses<br />
Wissen, als Kenntnis der förderlichen und hinderlichen Bedingungen des eigenen Lernens, ist eine wesentliche<br />
Voraussetzung für die Realisierung selbstbestimmten Lernens. Denn nur auf der Grundlage dieser Kenntnis<br />
können Lernende Verfügung über notwendige Lernbedingungen einfordern. Um ihrerseits Selbstbestimmung<br />
realisieren zu können, müssen sich Lehrpersonen ihres widersprüchlichen Verhaltens erstens bewusst werden<br />
und zweitens dessen gesellschaftliche Vermitteltheit und Begründetheit erkennen, um dazu dann selbst<br />
begründet Stellung nehmen und ihrerseits Verfügung über notwendige Lehrbedingungen einfordern zu können.<br />
Lehrende und Lernende benötigen hierzu ein Gegenüber. Weil die Aufgabe, sich der Lage bewusst zu werden, in<br />
der man sich befindet, nicht alleine bewältigt werden kann, spricht Holzkamp von der Notwendigkeit „soziale[r]<br />
Selbstverständigung“ (vgl. Holzkamp 1996, S. 98). Dabei geht es um die gemeinsame Reflexion über<br />
Möglichkeiten und Beschränktheiten des eigenen Handelns (der Schüler/innen und der Lehrerin) und eine damit<br />
verbundene gemeinsame Anstrengung um das Erreichen neuer Ebenen der Versprachlichung dieser Reflexionen<br />
mit dem Ziel, gemeinsam <strong>ko</strong>nkrete Veränderungen der Lehr-Lern-Bedingungen vorzunehmen beziehungsweise<br />
einfordern zu können.<br />
-13-
Wenn das vorhandene Wissen darüber, was das Lernen auf indivi<strong>du</strong>eller, unterrichtlicher und institutioneller<br />
Ebene fördert beziehungsweise behindert, zur Weiterentwicklung des eigenen Lernens, des Lehr-Lern-<br />
Arrangements sowie institutioneller Prozesse genutzt werden soll, bedarf es erstens Prozessen sozialer<br />
Selbstverständigung zwischen allen am schulischen Lernen Beteiligten und zweitens eines systematischen<br />
‚Ortes’ im Unterricht bzw. in der Schule, an dem diese stattfinden kann.<br />
8. Schluss<br />
So sehr die Arbeit mit Portfolios auch auf der Ebene von Einsichten Voraussetzung für selbstbestimmtes Lernen<br />
fördern kann, so wenig darf übersehen werden, dass Portfolioarbeit per se die grundständigen<br />
Funktionswidersprüche des Systems Schule nicht aufzulösen vermag. Sie macht diese mitunter eher noch<br />
deutlicher sichtbar. Das Portfolio kann gleichermaßen eine systemstabilisierende, wie eine reformorientierte<br />
Funktion erfüllen. Es kann sowohl eine andere Kultur des Umganges mit Lernen und Leistungen in der Schule<br />
begründen bzw. Voraussetzungen für ihre mögliche Veränderung schaffen, als auch lediglich die bestehenden<br />
Verhältnisse aushaltbar und fortsetzbar machen.<br />
Die Arbeit mit Portfolios – so zeigt sich in der Praxis – kann wertvolle Beiträge zum Aufbau eines gemeinsamen<br />
Wissens darüber leisten, was das Lernen in der Schule auf indivi<strong>du</strong>eller, unterrichtlicher und institutioneller<br />
Ebene fördert beziehungsweise (be-)hindert. Dieses (Kontext-)Wissen ist in hohem Maße<br />
selbstbestimmungsrelevant, weil die Möglichkeit, selbstbestimmt zu lernen, die Kenntnis der Lage voraussetzt,<br />
in der sich Lernende befinden. Es kann wiederum auf allen drei Ebenen zur Weiterentwicklung des eigenen<br />
Lernens, des Lehr-Lern-Arrangements sowie institutioneller Prozesse genutzt werden. Der Aufbau und die<br />
Nutzung solchen Wissens kann ein erster Schritt auf dem Weg sein, thematische Selbstbestimmung im<br />
Unterricht zu stärken, d.h. eigene Lerninitiativen anzeigen und realisieren zu können. Die Frage, ob Lernen an<br />
fremdgesetzten oder selbstbestimmten Themen stattfindet, liegt auf einer grundsätzlicheren Ebene als die<br />
nachgeordnete Frage des Einsatzes von Portfolios. Ob Portfolios neben der Optimierung von Lernprozessen auch<br />
zu ihrer Humanisierung beitragen können, entscheidet sich an der Frage, ob subjektive Lerngründe in der Schule<br />
anerkannt werden und entsprechend geltend gemacht werden können. Weitgehend offen ist dabei allerdings,<br />
welche Voraussetzungen seitens der Lehrer/innen und der Institution gegeben sein müssen, um sich auf eine<br />
solche Verständigung und damit auf eine dialogische Weiterentwicklung des Lernens und des Unterrichts<br />
einzulassen.<br />
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Dr. phil. habil. Thomas Häcker, Dipl.-Päd., geboren 1962, ist Professor für Bil<strong>du</strong>ngs- und<br />
Sozialwissenschaften an der Pädagogischen Hochschule Zentralschweiz, Hochschule Luzern,<br />
wo er das Institut für Pädagogische Professionalität und Schulkultur (IPS) leitet. Seine<br />
Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Schulpädagogik und Allgemeinen Didaktik,<br />
insbesondere der Hochschuldidaktik sowie der Prozessbegleitung und Moderation. Zahlreiche<br />
Veröffentlichungen über Portfolioarbeit, Widerstände in Lehr-Lern-Prozessen und<br />
Unterrichtsentwicklung.<br />
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