Metzinger · Subjekt und Selbstmodell - Cogprints
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Vom <strong>Subjekt</strong> zum <strong>Selbstmodell</strong>: Perspektivität ohne Ego 287<br />
auf Paul Churchlands amüsante Milchmädchenrechnung 46 hingewiesen,<br />
derzufolge die Anzahl der kognitiven Konfigurationen, die ein menschli<br />
ches Gehirn annehmen kann, ein sehr großes Vielfaches der Zahl der Ele<br />
mentarteilchen im gesamten Universum darstellt. Die Zahl der funktional<br />
interessanten <strong>und</strong> stabilen Zustände wird wesentlich geringer sein. Trotz<br />
dem hat uns die Theorie neuronaler Netze eine Ahnung davon vermittelt,<br />
welche Dimensionen neurobiologischer Komplexität unserem Mentalleben<br />
zugr<strong>und</strong>e liegen. Die Plastizität <strong>und</strong> der potentielle repräsentationale<br />
Reichtum unserer biologischen Basis sind enorm. Man kann vermuten, daß<br />
wir auch die Größe unseres phänomenalen Zustandsraums weder nutzen<br />
noch ahnen.<br />
Unsere repräsentationalen Gesamtzustände sind sehr plastisch. In der Tat<br />
sind die Bewußtseinszustände, die durch den Informationsfluß in unseren<br />
Gehirnen entstehen, so detailreich <strong>und</strong> formbar, daß diese Tatsache häufig<br />
auch von Philosophen als Argument gegen mechanistische Versuche zur<br />
Erklärung des Geistigen im Menschen verwendet wurde. Mechanismus in<br />
der Philosophie des Geistes ist aber nicht die Sehnsucht nach der Rückkehr<br />
in ein Uhrwerkuniversum (zumindest im Bereich der psychologischen Onto<br />
logie), sondern einfach ein erkenntnistheoretisches Programm: Wir glauben,<br />
daß auch für die mentalen Eigenschaften eines Systems gilt, daß man sie<br />
allein aus seinen Teilen <strong>und</strong> den zwischen ihnen bestehenden Relationen<br />
verstehen kann. Dem mechanistischen Ansatz zufolge sind wir nicht blinde<br />
Maschinen im Sinne einer biologischen Realisierung deterministischer, ab<br />
strakter Automaten mit simplen ganzzahligen Übergangswahrscheinlichkei<br />
ten zwischen ihren internen Zuständen. Wir sind viel eher so etwas wie<br />
Mengen miteinander interagierender virtueller Maschinen, die massiv paral<br />
lel arbeiten <strong>und</strong> untereinander noch einmal vernetzt sind. Das Gehirn ist ein<br />
neurobiologisch realisiertes System aus miteinander in Wechselwirkung ste<br />
henden virtuellen Maschinen, die mentale Modelle produzieren, deaktivie<br />
ren, ineinander transformieren <strong>und</strong> einbetten. Aus der Selbstorganisation<br />
ihres Zusammenspiels entstehen „holistische“ repräsentationale Gesamtzu<br />
stände, die ein so hohes Maß an Formbarkeit <strong>und</strong> Schnelligkeit aufweisen,<br />
daß es kaum glaublich erscheinen mag, daß all dies auf der Gr<strong>und</strong>lage physi<br />
kalischer Prozesse geschieht: Wir müssen unser Bild davon revidieren, was<br />
in einem physikalischen Universum möglich ist.<br />
Biologische Informationsverarbeitung ist ein weit aufregenderes Phäno<br />
men, als mythische Ätherleiber <strong>und</strong> die Metaphysik der Seele es jemals sein<br />
könnten. Die von unseren Gehirnen geöffneten Simulationsräume machen<br />
uns zu offenen Wesen, die eine unermeßlich große Zahl von Problemen<br />
erfassen <strong>und</strong> strategisch angehen können. Die mit der Plastizität <strong>und</strong> dem<br />
repräsentationalen Potential unserer mentalen Realitätsmodelle einherge<br />
hende Palette phänomenaler Zustände ist so groß, daß es keinem einzelnen<br />
menschlichen Individuum jemals gelingen wird, die Tiefe seines subjekti<br />
ven Erlebnisraums vollständig auszuloten. Die Plastizität unseres inneren<br />
46 Vgl. Churchland 1989: 131f.