Metzinger · Subjekt und Selbstmodell - Cogprints
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3. Kapitel<br />
Geistes als einer noch sinnlich konkreten Seele in Gestalt einer räumlichen,<br />
halbstofflichen Form, die den Körper beim Tod, im Schlaf <strong>und</strong> bei Ohn<br />
machten verläßt. In den letzten zwei Jahrzehnten sind nun die ersten wis<br />
senschaftlichen Theorien über diese Zustände veröffentlicht worden, die<br />
testbare Voraussagen machen <strong>und</strong> sich auf empirische Untersuchungen<br />
stützen. All diese Theorien sind letztlich psychologische Theorien, die an<br />
nehmen, daß es sich bei diesen Erlebnissen um komplexe Halluzinationen<br />
handelt. In den drei interessantesten Hypothesen spielt das körperliche<br />
Modell des Selbst während einer psychischen Ausnahmesituation die<br />
Hauptrolle.<br />
Harvey Irwin geht von einer Verschiebung von Aufmerksamkeitsprozes<br />
sen bei abgeschwächtem somatosensorischem Input <strong>und</strong> einer synästheti<br />
schen Ergänzung des somästhetischen Bildes durch ein aus den Daten<br />
banken der Erinnerung aufgebautes visuelles Modell der Umgebung<br />
aus. 65 John Palmer sieht außerkörperliche Erfahrungen als kompensatori<br />
sche Prozesse nach die Integrität des <strong>Selbstmodell</strong>s bedrohenden Verände<br />
rungen des Körperschemas. 66 Susan Blackmore dagegen verwendet sogar<br />
explizit den Begriff des „Realitätsmodells“, um solche außergewöhnlichen<br />
Zustände aus der Perspektive des Informationsverabeitungsansatzes zu<br />
erklären. Für sie sind außerkörperliche Erfahrungen episodische Modelle<br />
der Realität, die von Gehirnen konstruiert werden, welche in Streßsituatio<br />
nen vom sensorischen Input abgeschnitten sind <strong>und</strong> auf interne Informa<br />
tionsquellen zurückgreifen müssen (etwa visuelle „kognitive Landkarten“<br />
aus dem Gedächtnis, die interessanterweise bei der Mehrzahl der Men<br />
schen aus der Vogelperspektive organisiert sind). Dabei entsteht vorüberge<br />
hend eine sehr realistische weil einen phänomenalen Körper mit<br />
einschließende visuell komplettierte <strong>und</strong> erlebnismäßig unhintergehbare<br />
mentale Simulation der Welt von einer Perspektive außerhalb des physi<br />
schen Körpers. 67 Es ist noch nicht geklärt, ob es sich bei diesen Zuständen<br />
um einen diskreten, durch einen spezifischen Set psychophysiologischer<br />
Merkmale charakterisierten Typus repräsentationaler Gesamtzustände<br />
handelt oder um eine Sonderform des luziden Traums auf den wir im<br />
übernächsten Abschnitt einen kurzen Blick werfen werden. Wenn die eben<br />
erwähnten Theorien in die richtige Richtung deuten, dann zeigt dies, wie<br />
menschliche Gehirne in ihrem Bestreben, auch unter Bedingungen einge<br />
schem Pneuma (die vielleicht als der erste Naturalisierungsversuch im Okzident gelten darf)<br />
eine lange Geschichte durchlaufen. Diese Geschichte führte weiter über alchemistische Theo<br />
rien der Beherrschung der Natur durch die Beherrschung des Geistes <strong>und</strong> die Neuplatoniker,<br />
fürdiedasPneumaeinedieSeeleumhüllendeLichtaureolewar(diesievoreinerBerührung<br />
<strong>und</strong> Befleckung durch materielle Gegenstände schützen sollte) bis hin zur christlichen Philoso<br />
phie, die den Geist schließlich personalisierte <strong>und</strong> denaturalisierte. Die abendländische Ge<br />
schichte des Geistbegriffs ist somit auch die Geschichte einer bis zum Hegelschen System<br />
immer weiter fortschreitenden Differenzierung der traditionalistisch mythisch sinnlichen<br />
Prototheorie des Geistes.<br />
65 Vgl. Irwin 1985: 306.<br />
66 Vgl. Palmer 1978.<br />
67 Vgl. Blackmore 1984b, 1987.