Metzinger · Subjekt und Selbstmodell - Cogprints
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184<br />
3. Kapitel<br />
stand, der unter anderem durch eine Störung der Zentrierungsfunktion<br />
hervorgerufen wird. Doch davon mehr im nächsten Kapitel; lassen Sie uns<br />
zunächst einen Blick auf diejenigen dezentrierten Realitätsmodelle werfen,<br />
die gefühlsmäßig vom System allem Anschein nach als in Einklang mit<br />
seinen Interessen modelliert werden. Der Zustand der ozeanischen Selbst<br />
entgrenzung 58 erinnert mit Blick auf die abendländische Geistesgeschichte<br />
an Namen wie Meister Eckehart, Tauler, Seuse oder die heilige Hildegard<br />
von Bingen.<br />
Die Skala „Ozeanische Selbstentgrenzung(OSE)“ weist bei extremer Ausprä<br />
gung auf etwas hin, was als „mystische Erfahrung“ bezeichnet werden könnte;<br />
die meisten Merkmale der Skala sind wenigstens als Keime solcher Erfahrun<br />
gen zu verstehen, die einen fließenden Übergang zum normalen Wachbewußt<br />
sein aufweisen. Der Begriff „Mystik“ wird dabei in einem relativ gut definier<br />
ten religionswissenschaftlichen Sinne verwendet <strong>und</strong> nicht als umgangssprach<br />
liche Bezeichnung für etwas Diffuses <strong>und</strong> Unbestimmtes. 59<br />
Wir stoßen hier auf die Frage nach nicht subjektivem Bewußtsein: Erleuch<br />
tung ist keine Erfahrung, weil es in ihr keinen Erfahrenden mehr gibt. Gibt<br />
es aber überhaupt stabile, nicht zentrierte repräsentationale Gesamtzu<br />
stände ohne wesentliche Einbussen an Funktionalität <strong>und</strong> kognitivem Ge<br />
halt, ohne Regression, Bewußtseinseintrübung oder Deliranz? Könnten wir<br />
unsansolcheZuständeerinnern,dieniemandes Erlebnisse waren? Könn<br />
ten sie im Nachhinein ähnlich wie Träume beim Aufwachen an das nun<br />
aktive, aktuelle <strong>Selbstmodell</strong> geb<strong>und</strong>en werden <strong>und</strong> so zu meinenErlebnis sen werden, zu einer aperspektivischen Episode meiner psychischen Bio<br />
graphie? Besitzen Selbstentgrenzungs Erlebnisse des oben diskutierten<br />
58 In Anlehnung an Rolland, Freud <strong>und</strong> den dem semi theoretischen Jargon der Psycho<br />
analyse entlehnten Begriff des „ozeanischen Gefühls“ ist diese Skala vielleicht etwas unglück<br />
lich benannt. Vgl. Dittrich 1985: 206.<br />
59 Vgl. Dittrich 1985: 202. Auch ohne das begriffsanalytische Niveau der Religionswissen<br />
schaften diskutieren zu wollen muß man daran zweifeln, ob eine echte mystische Erfahrung<br />
sich jemals durch einen Fragebogen erfassen lassen wird. Nur drei Items der Skala „OSE“<br />
beziehen sich direkt auf das <strong>Selbstmodell</strong> der Probanden: „Ich fühlte mich, als ob ich schweben<br />
würde“ (7), „Es schien mir, als hätte ich keinen Körper mehr“ (68) <strong>und</strong> „Die Grenze zwischen<br />
mir selbst <strong>und</strong> meiner Umgebung schien sich zu verwischen“(13). Die ersten beiden kann man<br />
durch den Ausfall der propriozeptiven Schwereempfindung bzw. als den völligen Zusammen<br />
bruch des „körperlichen“, räumlich kodierten <strong>Selbstmodell</strong>s interpretieren. Alle anderen<br />
Items beschreiben eindeutig subjektive Erlebnisse, zentrierte phänomenale Zustände („Ich<br />
fühlte mich ohne äußeren Anlaß sehr glücklich <strong>und</strong> zufrieden“‹84›). Darum bleibt nur Item 13<br />
die Verwischung der erlebten Ich Welt Grenze übrig, um zu entscheiden, ob solche Zu<br />
stände (wie die der Skala AIA) auf dem Zerfall eines internen <strong>Selbstmodell</strong>s beruhen, oder ob<br />
wir es mit einem hypertrophen, sich bis an die Grenzen der phänomenalen Welt ausdehnen<br />
den <strong>und</strong> sie „kolonisierenden“ mentalen Modell des Selbst zu tun haben wie wir es auch von<br />
pathologischen, nicht experimentell ausgelösten Zuständen (zum Beispiel Manien) kennen.<br />
Da die Hypothesenarchitektur der zitierten Studie ein anderes Erkenntnisziel verfolgt hat, ist<br />
das Merkmal „<strong>Subjekt</strong>zentriertheit ⁄ Dezentriertheit“ nicht sehr stark in die Formulierung der<br />
(die abhängige Variable des Fragebogens „APZ“ [Vgl. Dittrich 1985: Anhang I.] bildenden)<br />
Fragen eingegangen. Vielleicht können zukünftige empirische Untersuchungen diese Lücke<br />
schließen.