Metzinger · Subjekt und Selbstmodell - Cogprints
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3. Kapitel<br />
Amnesien, die als Folge von Verletzungen der Schläfenlappen, chronischem<br />
Alkoholmißbrauch, Hirnhautentzündungen, Elektroschocktherapie oder vor<br />
übergehendem Sauerstoffmangel auftreten können, berauben die Person um<br />
einen mehr oder minder ausgedehnten Teil ihrer Biographie. Ohne auf die<br />
verschiedenen Ätiologien <strong>und</strong> die vielen unterschiedlichen Formen von retro<br />
grader Amnesie einzugehen, kann man sagen: Hier handelt es sich um Verluste<br />
der subjektiven Geschichte eines Menschen. Das System kann gespeicherte<br />
<strong>Selbstmodell</strong>e nicht mehr aktivieren <strong>und</strong> in sein aktuelles <strong>Selbstmodell</strong> einbin<br />
den, deshalb kann im Extremfall das im Jetzt gefangene psychologische Sub<br />
jekt seine Historizität nicht mehr erleben. Die Person ist sich darum innerpsy<br />
chisch nicht mehr als eine gewordene gegeben. 48 Fallen zusätzlich Teile von<br />
Lernfunktionen mit aus, dann fehlt dem System auch die Möglichkeit, nach<br />
dem Trauma gewisse Teile des <strong>Selbstmodell</strong>s aus neuen Erlebnissen neu zu<br />
konstruieren <strong>und</strong> zu speichern, das heißt: in Form physischer Operationen<br />
<strong>und</strong> Strukturveränderungen bleibend zu fixieren. In solchen Fällen schweren<br />
Gedächtnisverlustes geht dem Organismus ein Großteil seiner Möglichkeiten<br />
verloren, sich selbst mental als eine zeitliche Entität zu repräsentieren. Er kann<br />
sich mental nicht mehr als eine innere <strong>und</strong> eine äußere Geschichte durchlau<br />
fend modellieren.<br />
Denken besteht wie wir bereits gesehen haben im wesentlichen in der<br />
Fähigkeit, mentale Modelle propositionaler Repräsentate in der richtigen<br />
zeitlichen Reihenfolge zu aktivieren (das heißt: logische Relationen intern<br />
auf zeitliche abzubilden) <strong>und</strong> Begriffe zu bilden (aus einer gegebenen<br />
Menge von präsentierten <strong>und</strong> gespeicherten Reizsituationen mentaleProto<br />
typen zu bilden 49 ).Im Normalfall werden auch solche Modelle immer schon<br />
in das <strong>Selbstmodell</strong> eingeb<strong>und</strong>en, <strong>und</strong> daraus resultiert die subjektive Er<br />
fahrung des „Ich denke“. Wann immer diese subjektive Erfahrung auftritt<br />
dies ist die heutige Formulierung der cartesianischen Einsicht gibt es ein<br />
<strong>Selbstmodell</strong> <strong>und</strong> folglich auch irgendein physisches System, das dieses<br />
<strong>Selbstmodell</strong> in sich erzeugt. Falsch ist eine Theorie der <strong>Subjekt</strong>ivität, die<br />
die innere Erfahrung expliziert, das phänomenale Modell des Selbst sei der<br />
Originator <strong>und</strong> Erzeuger der Gedanken, der internen Modelle logischer<br />
Operationen. 50 Das diese Zustände produzierende System ist das Gehirn<br />
<strong>und</strong> nicht das <strong>Selbstmodell</strong>.<br />
48 Die diachronische Identität der phänomenalen Person hat damit keinerlei Basis mehr,<br />
weil die subjektive Kontinuität des Selbsterlebens durch mentale <strong>Selbstmodell</strong>ierung erzeugt<br />
wird.<br />
49 Die Stärke des PDP Ansatzes für die Erklärung höherer kognitiver Leistungen durch<br />
Analogrepräsentation besteht genau darin, daß in seinem Rahmen mit höchster formaler<br />
Präzision gezeigt werden kann, wie die „innere Begriffsbildung“ durch Aktivierung von Proto<br />
typen <strong>und</strong> auf der Gr<strong>und</strong>lage subsymbolischer Informationsverarbeitung geleistet werden<br />
könnte. Vgl. z. B. Churchland 1989, Bechtel ⁄ Abrahamsen 1990.<br />
50 Introspektion ist, wie schon mehrfach betont, eine zweifelhafte Methode des Erkenntnis<br />
gewinns. Trotzdem behaupte ich, daß die klassisch cartesianische Interpretation unserer intel<br />
lektuellen Aktivität stark theorieinfiziert <strong>und</strong> keineswegs auch nur intuitiv zwingend ist:<br />
Sorgfältige Introspektion erzeugt bekanntlich eben gerade kein phänomenales Modell des<br />
Selbst als einem Initiator durchgängig absichtsgeleiteter Gedankenketten.