Metzinger · Subjekt und Selbstmodell - Cogprints

Metzinger · Subjekt und Selbstmodell - Cogprints Metzinger · Subjekt und Selbstmodell - Cogprints

23.10.2012 Aufrufe

178 3. Kapitel wollte, griff sie daneben oder schoß über ihr Ziel hinaus, als sei sie nicht mehr in der Lage, ihre Bewegungen zu steuern und zu koordinieren. Zudem konnte sie kaum aufrecht sitzen ihrKörper„gabnach“.IhrGesicht war seltsam ausdruckslos und schlaff, ihr Unterkiefer hing herab, und sogar ihre Stimmlage hatte sich verändert. „Es ist irgend etwas Furchtbares passiert“, stieß sie mit einer geisterhaft dün nen Stimme hervor. „Ich spüre meinen Körper nicht. Ich fühle mich wie ver hext als wäre ich körperlos.“ 42 ... Christina hörte genau zu, mit einer Aufmerksamkeit, die nur die Verzweiflung hervorbringt. „Ich muß also“, sagte sie langsam, „mein Sehvermögen, meine Augen in all den Situationen einsetzen, in denen ich mich bis jetzt auf meine wie haben Sie das genannt? Eigenwahrnehmung verlassen konnte. Ich habe schon bemerkt“, fügte sie nachdenklich hinzu, „daß ich meine Arme ‹verliere›. Ich meine, sie seien hier, aber in Wirklichkeit sind sie dort. Diese‹Eigenwahrnehmung›ist alsowiedasAugedesKörpersdas, womit der Körper sich selbst wahrnimmt , und wenn sie, wie bei mir, weg ist, dann ist es, als sei der Körper blind. Mein Körper kann sich selbst nicht ‹sehen›, weil er seine Augen verloren hat, stimmt’s? Also muß ich ihn jetzt sehen und diese Augen ersetzen. Hab ich das richtig verstanden?“ 43 Sacks berichtet über den weiteren Verlauf der Erkrankung: Unmittelbar nach dem Zusammenbruch ihrer Eigenwahrnehmung und noch etwa einen Monat später war Christina so schlaff und hilflos wie eine Puppe. Sie konnte sich nicht einmal selbst aufsetzen. Aber schon drei Monate später stellte ich zu meiner Überraschung fest, daß sie sehr gut sitzen konnte zu gut vielleicht, zu graziös, wie eine Tänzerin, die mitten in einer Bewegung innege halten hat. Und bald merkte ich, daß dies tatsächlich eine Pose war, die sie, sei es bewußt oder automatisch, einnahm und aufrecht erhielt, eine gezwungene oder schauspielerhafte Positur, die das Fehlen einer echten, natürlichen Hal tung ausgleichen sollte. Da die Natur versagt hatte, behalf sie sich mit einem „Kunstgriff“, aber das Gekünstelte ihrer Haltung orientierte sich an der Natur und wurde ihr bald zur „zweiten Natur“. 44 Mit jeder Woche wurde das normale, unbewußte Feedback der Eigenwahrneh mung immer mehr von einer ebenso unbewußten Rückmeldung durch visuelle Wahrnehmung, einen visuellen Automatismus und zunehmend integriertere und flüssigere Reflexabläufe ersetzt. Fand bei ihr eine grundlegende Entwick lung statt? Erhielt möglicherweise das visuelle Modell des Körpers, das Körper bild des Gehirns das gewöhnlich recht schwach (und bei von Geburt an Blinden überhaupt nicht) ausgeprägt und normalerweise dem propriozeptiven Körperschema untergeordnet ist jetzt, da dieses propriozeptive Körper schema verlorengegangen war, infolge von Kompensation und Substitution in zunehmendem, ungewöhnlichem Maße Gewicht? . . . 45 42 Vgl. Sacks 1987: 71f. 43 Vgl. Sacks 1987: 74f. 44 Vgl. Sacks 1987: 77. 45 Vgl. Sacks 1987: 76.

Die Selbstmodell Theorie der Subjektivität 179 Die Grenzen des Selbstmodells sind die Grenzen des phänomenalen Selbst. 46 An dem Beispiel der „körperlosen Frau“ wird zudem deutlich, was es bedeutet, daß das Selbstmodell ein multimodales Modell ist: Es kann um einzelne Modalitäten depriviert werden, aber in manchen Situationen den Verlust von Informationsquellen über eine Verstärkung anderer Kanäle funktional kompensieren. Fällt durch einen Defekt auf der „Hardware Ebene“ ein bestimmtes sensorisches Modul aus, bleibt der entsprechende phänomenale Verlust jedoch für die Dauer der Störung bestehen. Das Selbstmodell wird um einen bestimmten qualitativen Aspekt ärmer, ob wohl die Steuerfunktion in manchen Situationen dadurch rehabilitiert wer den kann, daß auf den Informationsfluß aus den verbliebenen Sinnesmodu len verstärkt zugegriffen wird. Die Psychologie des Systems kann sich dabei jedoch tiefgreifend verändern. In dem tragischen Fall, den ich hier als Beispiel anführe, wurde das phänomenale Loch im subjektiven Erlebnis raum zu einem bleibenden Verlust. ...InfolgedesnochimmerbestehendenVerlustesderEigenwahrnehmunghat sie das Gefühl, ihr Körper sei tot, nicht wirklich, gehöre nicht zu ihr sie ist unfähig, eine Verbindung zwischen ihm und sich selbst herzustellen. Es fehlen ihr die Worte, um diesen Zustand zu beschreiben. Sie muß auf Analogien zurückgreifen, die sich auf andere Sinnesorgane beziehen: „Es ist, als sei mein Körper sich selbst gegenüber blind und taub . . . Er hat kein Gefühl für sich selbst.“... ...„Esist,alshättemanmiretwasentfernt,etwasausmeinemZentrum.Das macht man doch mit Fröschen, stimmt’s? Man entfernt ihnen das Rücken mark, man höhlt sie aus . . .Genau das ist es: Ich bin ausgehöhlt,wieeinFrosch . . . Kommen Sie, meine Herrschaften, treten Sie ein, sehen Sie Chris, das erste ausgehöhlte menschliche Wesen. Sie hat keine Eigenwahrnehmung, kein Ge fühl für sich selbst Chris, die ausgehöhlteFrau, die Frau ohne Körper!“ Sie bricht in ein haltloses, fast hysterisches Lachen aus. Ich beruhige sie, während ich denke: Hat sie vielleicht recht? 47 Der räumlich codierte Teil unseres Selbstmodells, unseres Erlebniszen trums kann ausgehöhlt werden. Dann sind wir uns nur noch visuell als res extensa gegeben. Was aber geschieht, wenn höhere Formen mentaler Reprä sentation ausfallen, Formen die intellektuell kognitive Funktionen in der Ökonomie unseres Innenlebens erfüllen? 46 Das Selbstmodell ist also genau diejenige Partition des von einem Repräsentationssy stem intern geöffneten Darstellungsraums, der zu seinem phänomenalen Innenraum wird. Thomas Nagel hat in einer frühen Arbeit darauf hingewiesen, daß eine der zentralen philoso phischen Fragen auf die inneren Grenzen des Selbst, auf den Horizont des inneren Raumes verweist. Kann uns ein auf der personalen Ebene angesiedelter Begriff des Wissens oder der absichtsvollen Handlung bei dieser kategorialen Demarkation behilflich sein? „It may be (though I doubt it) that the idea of a person, with which these other concepts are bound up, is a dying notion, not likely to survive the advances of scientific psychology and neurophysiology. Perhaps we shall have to fall back on the idea of an organism or an organic system.“ (Nagel 1969: 457) 47 Vgl. Sacks 1987: 79f.

178<br />

3. Kapitel<br />

wollte, griff sie daneben oder schoß über ihr Ziel hinaus, als sei sie nicht mehr<br />

in der Lage, ihre Bewegungen zu steuern <strong>und</strong> zu koordinieren.<br />

Zudem konnte sie kaum aufrecht sitzen ihrKörper„gabnach“.IhrGesicht<br />

war seltsam ausdruckslos <strong>und</strong> schlaff, ihr Unterkiefer hing herab, <strong>und</strong> sogar<br />

ihre Stimmlage hatte sich verändert.<br />

„Es ist irgend etwas Furchtbares passiert“, stieß sie mit einer geisterhaft dün<br />

nen Stimme hervor. „Ich spüre meinen Körper nicht. Ich fühle mich wie ver<br />

hext als wäre ich körperlos.“ 42<br />

...<br />

Christina hörte genau zu, mit einer Aufmerksamkeit, die nur die Verzweiflung<br />

hervorbringt.<br />

„Ich muß also“, sagte sie langsam, „mein Sehvermögen, meine Augen in all den<br />

Situationen einsetzen, in denen ich mich bis jetzt auf meine wie haben Sie das<br />

genannt? Eigenwahrnehmung verlassen konnte. Ich habe schon bemerkt“,<br />

fügte sie nachdenklich hinzu, „daß ich meine Arme ‹verliere›. Ich meine, sie<br />

seien hier, aber in Wirklichkeit sind sie dort. Diese‹Eigenwahrnehmung›ist<br />

alsowiedasAugedesKörpersdas, womit der Körper sich selbst wahrnimmt<br />

, <strong>und</strong> wenn sie, wie bei mir, weg ist, dann ist es, als sei der Körper blind. Mein<br />

Körper kann sich selbst nicht ‹sehen›, weil er seine Augen verloren hat,<br />

stimmt’s? Also muß ich ihn jetzt sehen <strong>und</strong> diese Augen ersetzen. Hab ich das<br />

richtig verstanden?“ 43<br />

Sacks berichtet über den weiteren Verlauf der Erkrankung:<br />

Unmittelbar nach dem Zusammenbruch ihrer Eigenwahrnehmung <strong>und</strong> noch<br />

etwa einen Monat später war Christina so schlaff <strong>und</strong> hilflos wie eine Puppe.<br />

Sie konnte sich nicht einmal selbst aufsetzen. Aber schon drei Monate später<br />

stellte ich zu meiner Überraschung fest, daß sie sehr gut sitzen konnte zu gut<br />

vielleicht, zu graziös, wie eine Tänzerin, die mitten in einer Bewegung innege<br />

halten hat. Und bald merkte ich, daß dies tatsächlich eine Pose war, die sie, sei<br />

es bewußt oder automatisch, einnahm <strong>und</strong> aufrecht erhielt, eine gezwungene<br />

oder schauspielerhafte Positur, die das Fehlen einer echten, natürlichen Hal<br />

tung ausgleichen sollte. Da die Natur versagt hatte, behalf sie sich mit einem<br />

„Kunstgriff“, aber das Gekünstelte ihrer Haltung orientierte sich an der Natur<br />

<strong>und</strong> wurde ihr bald zur „zweiten Natur“. 44<br />

Mit jeder Woche wurde das normale, unbewußte Feedback der Eigenwahrneh<br />

mung immer mehr von einer ebenso unbewußten Rückmeldung durch visuelle<br />

Wahrnehmung, einen visuellen Automatismus <strong>und</strong> zunehmend integriertere<br />

<strong>und</strong> flüssigere Reflexabläufe ersetzt. Fand bei ihr eine gr<strong>und</strong>legende Entwick<br />

lung statt? Erhielt möglicherweise das visuelle Modell des Körpers, das Körper<br />

bild des Gehirns das gewöhnlich recht schwach (<strong>und</strong> bei von Geburt an<br />

Blinden überhaupt nicht) ausgeprägt <strong>und</strong> normalerweise dem propriozeptiven<br />

Körperschema untergeordnet ist jetzt, da dieses propriozeptive Körper<br />

schema verlorengegangen war, infolge von Kompensation <strong>und</strong> Substitution in<br />

zunehmendem, ungewöhnlichem Maße Gewicht? . . . 45<br />

42 Vgl. Sacks 1987: 71f.<br />

43 Vgl. Sacks 1987: 74f.<br />

44 Vgl. Sacks 1987: 77.<br />

45 Vgl. Sacks 1987: 76.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!