Metzinger · Subjekt und Selbstmodell - Cogprints

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23.10.2012 Aufrufe

176 3. Kapitel Selbstrepräsentat bezugzunehmen. (Achtung! Wenn ich den Satz „Ich bin gerade etwas verwirrt“ nur denke, dann erzeuge ich lediglich ein mentales Modell des eben beschriebenen Aktes der Bezugnahme. Dieses Ereignis erzeugt eine ganz andere logische und psychologische Struktur.) Esgibt für jedes informationsverarbeitende System, das ein Selbstmodell erzeugt, immer nur ein System, das sich mit Hilfe einer öffentlichen Spra che auf dieses Selbstmodell als internes beziehen kann. Sie können sich jederzeit auf das Selbstmodell von TM beziehen und aus der Perspektive der dritten Person eine beliebige Anzahl von Aussagen darüber machen, zum Beispiel: „Er scheint mir tatsächlich etwas verwirrt zu sein!“ Da es jedoch aus ihrer Perspektive immer schon eine externe Datenstruktur in einem physischen System bleibt, das nicht mit Ihnen identisch ist, können Sie sich niemals auf mein Selbstmodell und seine Zustände unter der Hin sicht der Internalität beziehen. Wenn Sie oder ich monologische Sätze des Typs „Ich bin gerade etwas verwirrt“ äußern, so tun wir dies immer in einer privilegierten Situation: Der Produzent oder Erzeuger beider Repräsentate des externen wie des internen, des propositionalen wie des analogen , von denen das eine zur Referenz des anderen wird, sind identisch. Mit anderen Worten: Nur ich kann die semantische Verknüpfung von psycholo gischer Selbstbeschreibung und mentaler Selbstmodellierung unter der Be dingung der Identität beider Repräsentationssysteme leisten. Nur ich kann mich unter dieser Bedingung als Sprecher auf einen Erlebenden beziehen. Daß dies so ist, wird nur wenigen von uns auf der Ebene theoretischer Reflexion deutlich. Ein mentales Modell dieser eigentümlichen Situation erzeugen wir jedoch alle, als psychologische Subjekte erleben wir sie nämlich immer dann, wenn wir sie herbeiführen. Ich behaupte, daß es genau diese Asymmetrie zwischen innerem Erleben und theoretischem Ver ständnis ist, die dem Problem der Subjektivität mentaler Zustände zugrun deliegt. Im fünften Kapitel werde ich deshalb auf diesen Punkt noch einmal zurückkommen. Diese Arbeit ist ein Versuch, die Grundlinien eines neuen, naturalisti schen Begriffs des psychologischen Subjekts anzubieten. Mein Ziel war deshalb, plausibel zu machen, wie das unter der Überschrift „Subjektivität“ zusammengefaßte Bündel problematischer psychologischer Eigenschaften im Rahmen einer naturalistischen Theorie mentaler Repräsentation einem tieferen Verständnis zugeführt werden könnte, nämlich durch eine Analyse verschiedener Formen mentaler Modellierung, hauptsächlich Selbstmodel lierung. Bevor ich die eigentliche These der vorliegenden Arbeit formuliere, möchte ich einen letzten Versuch unternehmen, den Begriff des „Selbstmo dells“ in den Augen meiner Leser mit etwas mehr Gehalt zu füllen. Im nächsten Abschnitt wird es darum gehen, anzudeuten, daß dieser Terminus kein empirisch unplausibler Philosophentraum ist, sondern daß er sich tatsächlich zu einer vielfältigen Verankerung in empirischen Theorien des Selbstbewußtseins eignet.

Die Selbstmodell Theorie der Subjektivität 177 3.2.2 Deviante mentale Modelle des Selbst: Ich Störungen, halluzinierte Selbste, multiple Selbste und luzide Träume Ich habe schon in Abschnitt 2.3.2 einige Grenzfälle mentaler Realitätsmo dellierung untersucht, um zu einem besseren Verständnis der Behauptung beizutragen, phänomenales Bewußtsein sei aufs engste mit repräsentatio nalen Gesamtzuständen korreliert. Durch eine solche Analyse von psychi schen Nicht Standardsituationen wollte ich neue Perspektiven auf die Frage gewinnen, was es heißt, daß unser normales Wachbewußtsein und seine Inhalte das Resultat vielfältiger Repräsentationsprozesse in unseren Gehirnen sind. In Analogie zu diesem Unternehmen werde ich nun meine Leser erneut zu einem kleinen Seitensprung in die empirische Psychologie veränderter Bewußtseinszustände einladen denn grau ist alle Theorie und vielerlei Früchte wachsen auf dem goldenen Baum unseres Innenlebens. Manche von ihnen sind süß, andere bitter doch lehrreich ist ihr Genuß allemal. Lassen Sie uns deshalb gemeinsam einige Fälle betrachten, in denen die Aktivierung ungewöhnlicher Selbstmodelle zu ungewöhnlichen Formen von subjektivem Bewußtsein und Selbsterleben führt. 1) Zerfallende Selbstmodelle: Ich Störungen Beginnen wir mit dem phylogenetisch ältesten Teil des menschlichen Selbstmodells, dem mentalen Körperbild. Wir kennen vielfältige Störungen des phänomenalen Körperschemas. SolcheStörungen können wir zum Bei spiel beim Einschlafen erleben oder in der Aufwachphase nach einer Voll narkose. Es gibt außerdem neurologische Erkrankungen (zu denen auch einigedervonmiramBeginndesletztenKapitelsangesprochenenNeglek te und Agnosien gehören), in deren Folge Patienten Teile ihres Körpers nicht mehr als Teile ihres Körpers erleben etwa, wenn sie ihr eigenes Gesicht nicht mehr im Spiegel wiedererkennen können, eine Hälfte ihres Körpers nicht mehr waschen und ankleiden oder eine Gesichtshälfte nicht mehr rasieren. Das körperliche Selbstmodell wird aus Information konstruiert, die über wiegend aus drei Quellen stammt: Dem Gleichgewichtssinn, der visuellen Modalität und der propriozeptiven Eigenwahrnehmung. Ein scharf um grenzter Ausfall der Propriozeption führt zum Ausfall des Körpergefühls, desjenigen Teils unseres phänomenalen Selbstmodells, der uns vielleicht als der sicherste und gewisseste überhaupt erscheint. Oliver Sacks beschreibt den seltenen Fall einer sehr selektiven sensorischen Polyneuropathie, der ausschließlich propriozeptive Nervenfasern betraf. 41 Aber am Tag der Operation hatte sich Christinas Zustand weiter verschlechtert. Sie konnte nur stehen, wenn sie dabei auf ihre Füße sah. Ihre Hände „machten sich selbständig“, und sie konnte nur etwas festhalten, wenn sie sie im Auge behielt. Wenn sie etwas in die Hand nehmen oder etwas in den Mund stecken 41 Vgl. Sacks 1987: 69ff. Siehe auch Metzinger 1997.

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3. Kapitel<br />

Selbstrepräsentat bezugzunehmen. (Achtung! Wenn ich den Satz „Ich bin<br />

gerade etwas verwirrt“ nur denke, dann erzeuge ich lediglich ein mentales<br />

Modell des eben beschriebenen Aktes der Bezugnahme. Dieses Ereignis<br />

erzeugt eine ganz andere logische <strong>und</strong> psychologische Struktur.)<br />

Esgibt für jedes informationsverarbeitende System, das ein <strong>Selbstmodell</strong><br />

erzeugt, immer nur ein System, das sich mit Hilfe einer öffentlichen Spra<br />

che auf dieses <strong>Selbstmodell</strong> als internes beziehen kann. Sie können sich<br />

jederzeit auf das <strong>Selbstmodell</strong> von TM beziehen <strong>und</strong> aus der Perspektive<br />

der dritten Person eine beliebige Anzahl von Aussagen darüber machen,<br />

zum Beispiel: „Er scheint mir tatsächlich etwas verwirrt zu sein!“ Da es<br />

jedoch aus ihrer Perspektive immer schon eine externe Datenstruktur in<br />

einem physischen System bleibt, das nicht mit Ihnen identisch ist, können<br />

Sie sich niemals auf mein <strong>Selbstmodell</strong> <strong>und</strong> seine Zustände unter der Hin<br />

sicht der Internalität beziehen. Wenn Sie oder ich monologische Sätze des<br />

Typs „Ich bin gerade etwas verwirrt“ äußern, so tun wir dies immer in einer<br />

privilegierten Situation: Der Produzent oder Erzeuger beider Repräsentate<br />

des externen wie des internen, des propositionalen wie des analogen ,<br />

von denen das eine zur Referenz des anderen wird, sind identisch. Mit<br />

anderen Worten: Nur ich kann die semantische Verknüpfung von psycholo<br />

gischer Selbstbeschreibung <strong>und</strong> mentaler <strong>Selbstmodell</strong>ierung unter der Be<br />

dingung der Identität beider Repräsentationssysteme leisten. Nur ich kann<br />

mich unter dieser Bedingung als Sprecher auf einen Erlebenden beziehen.<br />

Daß dies so ist, wird nur wenigen von uns auf der Ebene theoretischer<br />

Reflexion deutlich. Ein mentales Modell dieser eigentümlichen Situation<br />

erzeugen wir jedoch alle, als psychologische <strong>Subjekt</strong>e erleben wir sie<br />

nämlich immer dann, wenn wir sie herbeiführen. Ich behaupte, daß es<br />

genau diese Asymmetrie zwischen innerem Erleben <strong>und</strong> theoretischem Ver<br />

ständnis ist, die dem Problem der <strong>Subjekt</strong>ivität mentaler Zustände zugrun<br />

deliegt. Im fünften Kapitel werde ich deshalb auf diesen Punkt noch einmal<br />

zurückkommen.<br />

Diese Arbeit ist ein Versuch, die Gr<strong>und</strong>linien eines neuen, naturalisti<br />

schen Begriffs des psychologischen <strong>Subjekt</strong>s anzubieten. Mein Ziel war<br />

deshalb, plausibel zu machen, wie das unter der Überschrift „<strong>Subjekt</strong>ivität“<br />

zusammengefaßte Bündel problematischer psychologischer Eigenschaften<br />

im Rahmen einer naturalistischen Theorie mentaler Repräsentation einem<br />

tieferen Verständnis zugeführt werden könnte, nämlich durch eine Analyse<br />

verschiedener Formen mentaler Modellierung, hauptsächlich Selbstmodel<br />

lierung. Bevor ich die eigentliche These der vorliegenden Arbeit formuliere,<br />

möchte ich einen letzten Versuch unternehmen, den Begriff des „Selbstmo<br />

dells“ in den Augen meiner Leser mit etwas mehr Gehalt zu füllen. Im<br />

nächsten Abschnitt wird es darum gehen, anzudeuten, daß dieser Terminus<br />

kein empirisch unplausibler Philosophentraum ist, sondern daß er sich<br />

tatsächlich zu einer vielfältigen Verankerung in empirischen Theorien des<br />

Selbstbewußtseins eignet.

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