Metzinger · Subjekt und Selbstmodell - Cogprints

Metzinger · Subjekt und Selbstmodell - Cogprints Metzinger · Subjekt und Selbstmodell - Cogprints

23.10.2012 Aufrufe

14 1. Kapitel gerade menschlichen Wesen in einer ganz besonderen Weise zu: Wir begrei fen uns selbst als geistige Wesen. Theorien des Geistes hat es nicht immer gegeben. In der abendländi schen Geistesgeschichte gab es so etwas wie einen Zeitpunkt der Ent deckung des Geistes. Mit der Entdeckung des nous in der Antike fand der Geist seinen Eingang in die Diskussionen der Philosophen. Seitdem hat er sie als Phänomen und als Problem immer wieder beschäftigt, er wurde zu einem beständigen topos des philosophischen Denkens im Okzident. In unserem Kulturkreis ist die Geschichte des Geistbegriffs die Geschichte einer Entwicklung von mythisch sinnlich konkreten Bedeutungsinhalten über eine personal christliche Interpretation bis hin zu einem abstrakt spe kulativ metaphysischen Sinn, der schließlich im Hegelschen System gipfelt. Es ist die Geschichte einer immer weiter fortschreitenden semantischen Differenzierung, in deren Verlauf der Begriff des Geistes zu einem der grundlegendsten philosophischen Konzepte überhaupt wurde. Heute befinden wir uns erneut auf dem Weg zu einer umfassenden Theorie des Geistes. Obwohl jedoch durch die beeindruckende Zunahme unseres empirischen Wissens bezüglich der physischen Entstehungsbedin gungen von Bewußtsein und Subjektivität zunächst berechtigte Hoffnun gen auf klar benennbare Erkenntnisfortschritte in der nahen Zukunft ge weckt werden, scheinen auf der anderen Seite die Komplexität, das Tempo und die Unübersichtlichkeit der Debatte in den Einzelwissen schaften diese Hoffnungen wieder zunichte zu machen.Außerdem breiten sich Befürchtungen aus, im Rahmen der geschilderten Entwicklung könnte es zu einer szientistischen Kolonisierung unserer Innenwelt kom men, in deren Verlauf unser lebensweltliches Selbstverständnis auf krän kende Weise ad absurdum geführt wird und an deren Ende der Reichtum und die Vielfalt unseres Innenlebens durch die Metaphern eines neuen materialistischen Jargons einplaniert werden. Trotzdem beginnt sich das neue Bild des Geistes bereits in ersten Umrissen abzuzeichnen und es wird auch deutlich, daß dieses Bild fundamentale Konsequenzen für un sere Anthropologie haben wird. Was ist die Rolle der Philosophie in einer solchen Situation? Philosophie des Geistes ist heute unter anderem ein metatheoretisches Projekt. Das heißt: Philosophie ist gegenwärtig häufig ein theoretisches Unternehmen zweiter Ordnung, eine Theorie über andere Theorien. Philosophie des Gei stes zu betreiben bedeutet, an einer Metatheorie der empirischen Psycholo gie, der Neuro und Kognitionswissenschaften zu arbeiten. Diese philoso phische Metatheorie sollte mindestens zweierlei leisten. Erstens erwarten wir uns von ihr eine Zusammenschau: Sie sollte die Fülle der vorläufigen Erkenntnisse ihrer Zeit in ein allgemeineresBild fassen können. Da empiri sche Erkenntnisse sich in einem geschichtlichen Fluß befinden, wird dieses Bild immer nur ein provisorisches Bild sein, eine vorläufige Darstellung, die jederzeit durch neue Entdeckungen revidiert werden kann. Dieses vor läufige synoptische Bild des Phänomens „Geist“ soll uns helfen bei der Beantwortung genereller philosophischer Fragen wie: Was ist das Wesen

Auf dem Weg zu einer neuen Theorie des Geistes 15 von Erkenntnis? Was bedeutet es, daß der Mensch ein geistiges Wesen ist? Wie haben wir uns die Beziehung zwischen körperlichen und geistigen Vorgängen zu denken? Gibt es einen unveränderlichen Wesenskern im Menschen? Zweitens besteht die gegenwärtige Aufgabe der Philosophie des Geistes darin, eine begrifflichen Kommentar zu den Entwicklungen der einzelwissenschaftlichen Theorien anzubieten. Dieser Kommentar muß die durch den empirischen Wissenszuwachs ausgelösten Veränderungen in unserem Weltbild widerspiegeln. Er tut dies zum Beispiel, indem er auf notwendig gewordene Revisionen unseres Geistbegriffs hinweist oder über flüssig gewordene Konzepte eliminiert und neue entwickelt. Das Projekt einer Theorie des Geistes besitzt einen Doppelcharakter. Das ist deshalb so, weil es sich in unserer Zeit notgedrungen aus empiri schen und metatheoretischen Anstrengungen zusammensetzt. Die Rolle der empirischen Forschung besteht darin, ein genaueres Verständnis der Rahmenbedingungen für das Entstehen psychischer Zustände zu erarbei ten: Sie muß die Mechanismen untersuchen, die der Entstehung von Be wußtsein zugrunde liegen. Ihr Ziel ist auf der einen Seite die Erarbeitung von kausalen Erklärungen, also von Erkenntnissen über Gesetzmäßigkei ten oder auch darüber, warum ein bestimmtes System gewisse psychologi sche Eigenschaften instantiiert. Die Rolle des metatheoretischen Kommen tars auf der anderen Seite besteht darin, eine begleitende Begriffsanalyse durchzuführen und die im Entstehen begriffene Theorie des Geistes in ihren jeweiligen Entwicklungsstadien auf innere Konsistenz zu überprüfen. Denn je besser wir unsere subjektive, innere Wirklichkeit und ihre Wech selwirkungen mit der objektiven, äußeren Wirklichkeit zu verstehen begin nen, um so engmaschiger und subtiler wird auch das Begriffsnetz sein müssen, das wir über diese beiden Wirklichkeiten werfen um sie doch niemals vollständig einzufangen. Die Anpassung dieses Netzes aus Begrif fen an eine rapide expandierende Datenmenge benötigt darum die begriffs wissenschaftliche Begleitung einer Philosophie des Geistes, die analytische Professionalität mit einem ernsthaften Erkenntnisinteresse und ideologi scher Ungebundenheit verbindet. Allerdings dürfen philosophische Diskurse eines solchen interdisziplinä ren Typs nicht parasitär an empirische Debatten angelagert werden und lediglich als Sprungbrett für ein analytisches l‘art pour l‘art dienen. Bisher waren es überwiegend analytische Philosophen des Geistes aus der angel sächsischen Tradition, die die wesentlichen Beiträge zum Aufbau einer gehaltvollen, postmetaphysischen Theorie des Geistes geliefert und die Diskussion durch ihre Dominanz geprägt haben. Und in manchen Fällen sind sie auch der oben angedeuteten Versuchung erlegen. Betrachtet man jedoch die theoretische Entwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg in diesem Bereich insgesamt, dann kann man die Fortschritte gegenüber früheren Stationen der Problemgeschichte kaum übersehen: Die Fragestellungen ha ben durch die deutlich wahrzunehmende Präzisierung eine starke Differen zierung erfahren. Das Niveau von Analysen und Antwortversuchen hat sich in der Folge stetig angehoben.

Auf dem Weg zu einer neuen Theorie des Geistes 15<br />

von Erkenntnis? Was bedeutet es, daß der Mensch ein geistiges Wesen ist?<br />

Wie haben wir uns die Beziehung zwischen körperlichen <strong>und</strong> geistigen<br />

Vorgängen zu denken? Gibt es einen unveränderlichen Wesenskern im<br />

Menschen? Zweitens besteht die gegenwärtige Aufgabe der Philosophie des<br />

Geistes darin, eine begrifflichen Kommentar zu den Entwicklungen der<br />

einzelwissenschaftlichen Theorien anzubieten. Dieser Kommentar muß<br />

die durch den empirischen Wissenszuwachs ausgelösten Veränderungen in<br />

unserem Weltbild widerspiegeln. Er tut dies zum Beispiel, indem er auf<br />

notwendig gewordene Revisionen unseres Geistbegriffs hinweist oder über<br />

flüssig gewordene Konzepte eliminiert <strong>und</strong> neue entwickelt.<br />

Das Projekt einer Theorie des Geistes besitzt einen Doppelcharakter.<br />

Das ist deshalb so, weil es sich in unserer Zeit notgedrungen aus empiri<br />

schen <strong>und</strong> metatheoretischen Anstrengungen zusammensetzt. Die Rolle<br />

der empirischen Forschung besteht darin, ein genaueres Verständnis der<br />

Rahmenbedingungen für das Entstehen psychischer Zustände zu erarbei<br />

ten: Sie muß die Mechanismen untersuchen, die der Entstehung von Be<br />

wußtsein zugr<strong>und</strong>e liegen. Ihr Ziel ist auf der einen Seite die Erarbeitung<br />

von kausalen Erklärungen, also von Erkenntnissen über Gesetzmäßigkei<br />

ten oder auch darüber, warum ein bestimmtes System gewisse psychologi<br />

sche Eigenschaften instantiiert. Die Rolle des metatheoretischen Kommen<br />

tars auf der anderen Seite besteht darin, eine begleitende Begriffsanalyse<br />

durchzuführen <strong>und</strong> die im Entstehen begriffene Theorie des Geistes in<br />

ihren jeweiligen Entwicklungsstadien auf innere Konsistenz zu überprüfen.<br />

Denn je besser wir unsere subjektive, innere Wirklichkeit <strong>und</strong> ihre Wech<br />

selwirkungen mit der objektiven, äußeren Wirklichkeit zu verstehen begin<br />

nen, um so engmaschiger <strong>und</strong> subtiler wird auch das Begriffsnetz sein<br />

müssen, das wir über diese beiden Wirklichkeiten werfen um sie doch<br />

niemals vollständig einzufangen. Die Anpassung dieses Netzes aus Begrif<br />

fen an eine rapide expandierende Datenmenge benötigt darum die begriffs<br />

wissenschaftliche Begleitung einer Philosophie des Geistes, die analytische<br />

Professionalität mit einem ernsthaften Erkenntnisinteresse <strong>und</strong> ideologi<br />

scher Ungeb<strong>und</strong>enheit verbindet.<br />

Allerdings dürfen philosophische Diskurse eines solchen interdisziplinä<br />

ren Typs nicht parasitär an empirische Debatten angelagert werden <strong>und</strong><br />

lediglich als Sprungbrett für ein analytisches l‘art pour l‘art dienen. Bisher<br />

waren es überwiegend analytische Philosophen des Geistes aus der angel<br />

sächsischen Tradition, die die wesentlichen Beiträge zum Aufbau einer<br />

gehaltvollen, postmetaphysischen Theorie des Geistes geliefert <strong>und</strong> die<br />

Diskussion durch ihre Dominanz geprägt haben. Und in manchen Fällen<br />

sind sie auch der oben angedeuteten Versuchung erlegen. Betrachtet man<br />

jedoch die theoretische Entwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg in diesem<br />

Bereich insgesamt, dann kann man die Fortschritte gegenüber früheren<br />

Stationen der Problemgeschichte kaum übersehen: Die Fragestellungen ha<br />

ben durch die deutlich wahrzunehmende Präzisierung eine starke Differen<br />

zierung erfahren. Das Niveau von Analysen <strong>und</strong> Antwortversuchen hat<br />

sich in der Folge stetig angehoben.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!